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Representations and ContextsA Transdisciplinary Journal of International Relations

and Cultural Studies Gegründet 2011 | ISSN: 2193-7176

Herausgegeben von Anke Bartels und Britta Krause Meine Verlag Magdeburg

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Ursachen und Auswirkungen von Respekt und Missach-tung auf das politische Geschehen. Die deutsch-britischen

Beziehungen zur Kaiserzeit

Lena Jaschob

Die diplomatischen Beziehungen zwischen dem Deutschen Kaiserreich und Großbri-tannien während der Regentschaft Wilhelms II. waren geprägt von einem komplizierten

Beziehungsgefüge sowohl auf der privat-dynastischen wie auch auf der politischen Ebene. Insbesondere wenn es zu Konflikten kam, die beide Ebenen betrafen, kam es zu teils

heftigen Auseinandersetzungen, die die Beziehungen der beiden Staaten stark belasteten. Respektvolles oder missachtendes Verhalten wurde vielfach aufgegriffen und zum Anlass für weitere Komplikationen genommen. Diesem komplexen Gefüge von realpolitischem Machtkalkül und subjektiven Respekts- oder Missachtungserfahrungen wird in diesem

Artikel nachgegangen. An ausgewählten politischen und privaten Ereignissen wird gezeigt, welchen Stellenwert die zwischenmenschliche Ebene in den diplomatischen Beziehungen

hatte und welche Auswirkungen von diesem Verhalten ausgingen.

Schlagworte: Deutsches Kaiserreich, diplomatische Beziehungen, Respekt und Missachtung

Zitationsvorschlag: Jaschob, Lena 2012: Ursachen und Auswirkungen von Respekt und Missachtung auf das politische Geschehen. Die deutsch-britischen Beziehungen zur Kaiserzeit. In: Representations and Contexts 1:1–23 [http://www.wissens-werk.de/index.php/rac/article/viewFile/98/90].

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Einleitung

„Wir müssen verlangen, daß der deut-sche Missionar und der deutsche Un-ternehmer, die deutschen Waren, die deutsche Flagge und das deutsche Schiff in China geradeso geachtet wer-den wie diejenigen anderer Mächte. (Lebhaftes Bravo.) Wir sind endlich gern bereit, in Ostasien den Interes-sen anderer Großmächte Rechnung zu tragen, in der sicheren Voraussicht, daß unsere eigenen Interessen gleich-falls die ihnen gebührende Würdigung finden. (Bravo!) Mit einem Worte: Wir wollen niemand in den Schatten stel-len, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne. (Bravo!) In Ostasi-en wie in Westindien werden wir be-strebt sein, getreu den Überlieferungen der deutschen Politik, ohne unnötige Schärfe, aber auch ohne Schwäche un-sere Rechte und unsere Interessen zu wahren. (Lebhafter Beifall.)“ (Bernhard von Bülow 1897)

Mit dieser Rede im deutschen Reichstag leitete der Staatssekretär des Auswärtigen Bernhard von Bülow am 6. Dezember 1897 eine neue Ära der deutschen Politik ein. Der Wunsch, als Weltmacht anerkannt und res-pektiert zu werden, wurde von nun an zur obersten Prämisse der politischen Akteure. Dies hatte insbesondere Auswirkungen auf das deutsch-britische Verhältnis, welches in diesem Artikel unter den Aspekten von Respekt und Missachtung untersucht wer-den soll. Die deutsch-britischen Beziehun-gen in der Ära des Wilhelminismus waren geprägt vom deutschen Weltmachtstreben und ab 1900 auch zunehmend von der sich entwickelnden Flottenrivalität; das Ver-hältnis war aber nicht so eindeutig und klar definiert, wie es auf den ersten Blick scheint. Das Deutsche Kaiserreich, de facto

der schwächere Partner, sah sich in vielen Fällen als überlegen an und handelte aus einem Selbstverständnis heraus, bereits einen Weltmachtstatus zu haben. Jedoch schwankte die deutsche Außenpolitik stän-dig zwischen einem englandfreundlichen Kurs und einer offenen Konfrontation. Re-spekt und Missachtung waren elementarer Bestandteil dieses Beziehungsgefüges; be-sonders Missachtungserlebnisse wirkten sich unmittelbar auf die deutsche Politik aus und beeinflussten die diplomatischen Beziehungen maßgeblich.Insbesondere der Deutsche Kaiser war an-fällig für Respektsbekundungen und Miss-achtungserfahrungen; er reagierte häufig sehr heftig und emotional auf die Behand-lung, die ihm von britischer Seite – sowohl von der politischen Führung wie auch von seiner dynastischen Verwandtschaft1 – entgegen gebracht wurde. Aufgrund seiner exponierten Stellung im deutschen Regie-rungssystem, konnte er so direkt auf die deutsche Politik einwirken. Aber auch das politische Personal signalisierte mit seinem Verhalten gegenüber Großbritannien, wie wichtig ein respektvoller Umgang für die diplomatischen Beziehungen war. Dieser Artikel will die ambivalenten deutsch-bri-tischen Beziehungen aufzeigen und heraus-arbeiten, wie wichtig die Faktoren Respekt und Missachtung im deutsch-britischen Beziehungsgeflecht waren. Der Fokus liegt dabei auf der politischen Ebene, die je-doch eng verknüpft ist mit dem Deutschen Kaiser. Auch die deutsche Öffentlichkeit spielte in diesem dreipoligen Beziehungs-geflecht eine wichtige Rolle. Sie wird hier im Rahmen dieses Artikels jedoch nicht ei-genständig betrachtet; verwiesen sei dazu auf die Arbeiten von Dominik Geppert (Geppert 2007) oder auch Steffen Bender

1 Kaiser Wilhelm II. war ein Enkel von Queen Vic-toria. Seine Mutter, Prinzessin Victoria, war eine Tochter der britischen Königin.

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(Bender 2009). Ebenfalls nicht betrachtet wird die britische Seite, in diesem Artikel sollen zunächst die Ambivalenzen in den deutsch-britischen Beziehungen aus deut-scher Perspektive aufgezeigt werden.In der Literatur zum deutsch-britischen Verhältnis vor dem Ersten Weltkrieg spie-len Faktoren wie Respekt und Missach-tung eher eine untergeordnete Rolle. Für Paul M. Kennedy (Kennedy 1980) sind es vor allem ökonomische Faktoren, die den deutsch-britischen Gegensatz verschärfen. Volker Ullrich (Ullrich 2007) und Klaus Hildebrand (Hildebrand 1995) weisen zwar auf die Komplexität des Verhältnisses hin, führen dies aber primär auf ein politisch ungeschicktes Kalkül und die Inkonsis-tenz der deutschen Außenpolitik zurück. Respekts- und Missachtungserfahrungen klingen zwar an, werden aber nicht als systematisches Erklärungsmuster wahrge-nommen. Die Literatur zu Kaiser Wilhelm II. konzentriert sich sehr stark auf die schil-lernde Persönlichkeit des Monarchen. John Röhl (Röhl 2001) betont die exponierte Stellung des Kaisers im politischen System und weist ihm dadurch einen sehr hohen Stellenwert im Machtgefüge zu. Am ande-ren Extrem findet sich die Kaiserbiografie von Hans-Ulrich Wehler (Wehler 1988): Wehler weist dem Kaiser nur eine unterge-ordnete Position im System zu. In der neue-ren Forschung wird eher eine vermittelnde Position eingenommen. Christopher Clark (Clark 2008) zum Beispiel betrachtet in sei-ner Kaiserbiografie die Stellung des Deut-schen Kaisers im System, er verweist dabei auf die unterschiedlichen Wirkbereiche des Kaisers und fügt sie zu einem reflektierten Gesamtbild zusammen.Die Werke zu Anerkennung und Respekt von Axel Honneth (Honneth 2003), Tho-mas Lindeman (Lindemann 2010) und Erik Ringmar (Lindemann/Ringmar 2011) ver-

weisen auf die Wichtigkeit von persönli-chen Erfahrungen auf den Entscheidungs-prozess. Durch erfahrenen Respekt oder Missachtung verändern sich die Hand-lungsbedingungen der Akteure. Dieser Ansatz hat bisher noch wenig Beachtung in der Forschung zum Deutschen Kaiserreich gefunden. In diesem Artikel wird diese Forschungslücke aufgegriffen. Ausgewähl-te Ereignisse der deutsch-britischen Be-ziehungen werden unter Berücksichtigung der Anerkennungstheorie beleuchtet und ein neuer Erklärungsansatz für die wech-selhafte Beziehung der beiden Staaten wird präsentiert.Bislang mangelt es noch an einer breiten Konzeptionalisierung von Respekt und Missachtung für die IB. Einen ersten Ansatz dazu hat Reinhard Wolf (Wolf 2008) vor-geschlagen. Respekt versteht er in Anleh-nung an Robin S. Dillon(Dillon 2007) und Thomas Hill (Hill 1998) als Streben nach angemessener Beachtung2 (Wolf 2008: 10). Das Gefühl, sich angemessen oder unan-gemessen behandelt zu fühlen, kann dabei sehr subjektiv sein. Entscheidend für die Erfahrung von Respekt oder Missachtung ist die Selbstwahrnehmung des Akteurs; unterscheidet sich seine Selbstwahrneh-mung stark von der Fremdwahrnehmung kann sich beispielsweise das Gefühl miss-achtet zu werden verstärken. Wolf leitet seinen Respektsbegriff vor allem aus der Anerkennungstheorie und der Philoso-phie3 ab (Wolf 2008). Auswirkungen von

2 Zu dieser angemessenen Beachtung gehört die Beachtung der physischen Präsenz, der sozialen Bedeutung, der Standpunkte, Ideen und Wer-te, der Interessen und Bedürfnisse, der Leistun-gen, Fähigkeiten, Verdienste und Vorzüge und der Rechte (Wolf 2008: 10). Wenn diese Beachtung nicht gewährt wird, fühlt sich ein Akteur mis-sachtet. Dies kann auch schon der Fall sein, wenn er in Teilen nicht beachtet wird.

3 Der anerkennungstheoretische Ansatz ist von Axel Honneth (2003) entwickelt worden. Er syste-matisiert Hegels Überlegungen zur Anerkennung

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Respekts- oder Missachtungserfahrungen können dann zum Beispiel gesteigerte oder abnehmende Kooperationsbereitschaft, übermäßige Freude oder Wut sein.Respekts- beziehungsweise Missachtungs-erfahrungen hatten große Auswirkungen auf die politischen Akteure und Entschei-dungsprozesse im Kaiserreich. Besonders deutlich treten sie in den diplomatischen Beziehungen zu Großbritannien auf, denn Großbritannien war als etablierte Welt-macht der wichtigste europäische Akteur für das Deutsche Kaiserreich. Um selbst als Weltmacht wahrgenommen und res-pektiert zu werden, musste Großbritan-niens Vormachtstellung in Frage gestellt werden und gleichzeitig konnte nur durch die britische Anerkennung Deutschlands als Weltmacht dieser Status auch objektiv hergestellt werden. Das deutsche Verhalten gegenüber Großbritannien lässt sich nicht mit rein rationalen oder sicherheitspoliti-schen Annahmen erklären, die subjektiven Erfahrungen der deutschen Akteure be-einflussten die politische Strategie und der Wunsch nach dem Status einer Weltmacht wurde zum bestimmenden Ziel der deut-schen Politik.Um den Einfluss von Respekt und Missach-tung auf den politischen Entscheidungs-prozess aufzuzeigen, wird sowohl die pri-vate Ebene – die dynastischen Beziehungen Kaiser Wilhelms II. mit Großbritannien – als auch die politische Ebene – die Kontak-te der beiden Regierungen – untersucht. Zum einen wird so die Verschränkung der privaten mit der politischen Ebene sicht-bar, zum anderen wird die Kommunalität der Ereignisse deutlich. Aus der Sekundär-literatur und aus Primärquellen werden die einzelnen Ereignisse beleuchtet und Aussa-

der eigenen Rechte durch Andere und entwickelt diesen zu seiner Anerkennungstheorie weiter. Als philosophische Grundlage des Respektsbegriffs ist Immanuel Kant (1995) zu nennen.

gen gewonnen, die darauf schließen lassen, dass Respekt und Missachtung einen nicht zu unterschätzenden Faktor in den deutsch-britischen Beziehungen darstellen.Der Artikel gliedert sich in zwei große Be-reiche: die private und die politische Ebene. Der Abschnitt über die private Ebene be-schäftigt sich mit der Rolle des Kaisers in den deutsch-britischen Beziehungen. An einzelnen Ereignissen wird seine Launen- und Sprunghaftigkeit gegenüber seiner britischen Verwandtschaft und Großbri-tannien aufgezeigt. Der zweite Bereich zur politischen Ebene gliedert sich in vier Un-terabschnitte. Der erste Abschnitt befasst sich mit dem Konflikt um die Burenrepub-liken. Das Krügertelegramm von 1896 und die Bundesrath-Affäre 1899/1900 bilden hier den Mittelpunkt der Untersuchung. Im zweiten Abschnitt werden die kolonialen Ambitionen des Deutschen Kaiserreichs und die Bündnissondierungen mit Groß-britannien betrachtet, hier liegt der Fokus auf den verschiedenen deutsch-britischen Vertragsverhandlungen und den geschei-terten Bündnissondierungen. Die Marok-kokrisen 1905 und 1911 sind Gegenstand des dritten Unterabschnitts. Abschließend wird auf die deutsche Flottenpolitik einge-gangen, die ein, wenn nicht sogar das zen-trale Thema der deutsch-britischen Bezie-hungen war.

Das deutsch-britische Verhältnis im Zeitalter des Wilhelminismus

Nach der Thronbesteigung Wilhelms II. 1888 und der Entlassung Otto von Bis-marcks als Reichskanzler 1890 begann eine neue Ära der deutschen Politik. Wilhelm II. wollte „sein eigener Kanzler sein“ (Clark 2008: 57) und sein persönliches Regiment drückte sich mehr und mehr in allen Po-litikbereichen aus. Besonders das Verhält-nis zu Großbritannien war von diesem

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Anspruch und den außenpolitischen Leit-vorstellungen des Deutschen Kaiserreichs geprägt. Auf der einen Seite durchlebte der Kaiser eine wechselhafte Beziehung – von tiefer Abneigung bis hin zu großer Bewunderung – zu Großbritannien. Auf der anderen Seite war die deutsche Au-ßenpolitik nach Bismarck geprägt von der Vorstellung, dass das Deutsche Kaiser-reich als aufstrebende Macht sich gegen Großbritannien durchsetzen müsse – not-falls mit allen Mitteln. Dieses ambivalente Verhältnis spiegelt sich auf zwei Ebenen wieder: die familiär-dynastischen Bezie-hungen der beiden Herrscherhäuser und die politisch-diplomatischen Beziehungen der beiden Staaten. Beide Ebenen weisen große Berührungspunkte auf, besonders die Launen und Empfindungen des Kaisers gegenüber der britischen Politik und seiner Verwandtschaft wirken sich auf das poli-tische Geschehen aus, aber auch die poli-tische Führung mischte sich massiv in die familiären Angelegenheiten ein.

Das deutsch-britische Verhältnis aus familiärer Sicht

Besonders auf der familiären Ebene lassen sich keine Kontinuitäten im deutsch-briti-schen Verhältnis finden. In seiner Kindheit und Jugend kam Kaiser Wilhelm II. intensiv mit den Ideen des britischen Liberalismus in Berührung, seine Eltern wollten aus ihm einen liberalen Herrscher nach britischem Vorbild machen. Nach seiner Militärzeit, während der er mit der Familie Bismarck in engeren Kontakt kam, veränderte sich seine Haltung gegenüber dem britischen Regierungssystem jedoch stark: Wilhelm entwickelte sich mehr und mehr zu einem konservativen Reaktionisten, der das libe-rale britische Modell kategorisch ablehnte (Clark 2008). Dies blieb jedoch nicht die einzige Wendung in seinem Verhalten; bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs im Som-

mer 1914 schwankte der Kaiser stetig zwi-schen euphorischen Gefühlen gegenüber Großbritannien, besonders nach seinen vielen privaten Aufenthalten und Staats-besuchen, und tiefer Abneigung, weil er sich in seiner Position als Deutscher Kai-ser nicht ausreichend gewürdigt und aner-kannt fühlte.Dies zeigt sich bereits im Jahr seiner Thronbesteigung bei seinem Besuch des österreichisch-ungarischen Kaisers Franz Joseph im Sommer 1888 in Wien. Zur gleichen Zeit hielt sich auch sein Onkel, der Prince of Wales, in Wien auf. Wilhelm II. wollte jedoch nicht, dass neben ihm als Kaiser noch ein Kronprinz vom öster-reichisch-ungarischen Königshaus emp-fangen wurde, weil er befürchtete, dann nicht mehr die ihm als Kaiser zustehende ungeteilte Aufmerksamkeit zu bekommen (Massie 1993: 136 ff.). Letztendlich musste der Prince of Wales für die Dauer des Auf-enthalts des Deutschen Kaisers die Stadt verlassen. Dieses Verhalten Wilhelms II. führte nicht nur zu einer privaten Verstim-mung seines Onkels, sondern es hatte auch direkte staatspolitische Folgen: Queen Vic-toria weigerte sich ihren regierenden Enkel nach Großbritannien einzuladen. Solange Wilhelm II. sich nicht beim Prince of Wales entschuldigte, war es ihr unmöglich, ihn zu empfangen (Röhl 2001: 105). Erst nach einer heftigen Intervention des britischen Premierministers Lord Salisbury entschied sich die Queen Wilhelm II. zu empfangen, jedoch nicht in London sondern auf ihrem Landsitz auf der Isle of Wight. Obwohl ihm ein ihm zustehender Empfang in London verweigert wurde, freute sich Kaiser Wil-helm II. maßlos über die Einladung seiner Großmutter (Röhl 2001: 116 f.). Kurz vor diesem nun geplanten Besuch in Groß-britannien wurde Kaiser Wilhelm II. die britische Admiralsuniform verliehen. Die

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britische Führung erhoffte sich davon poli-tisch erfreuliche Wirkungen, die dann auch nicht ausblieben. Während des Besuches war von der Missstimmung nichts mehr zu spüren und auch politisch sandte der Kaiser eindeutige Signale zur Zusammen-arbeit der beiden Staaten aus; die diploma-tische Situation entspannte sich so für das Deutsche Kaiserreich und auch von den anderen Kontinentalmächten wurde die Entspannung im deutsch-britischen Ver-hältnis positiv aufgenommen (Röhl 2001: 128 ff.). Bereits in dieser kurzen familiären Episode zeigt sich das sprunghafte Verhal-ten Wilhelms II. Besonders durch die Ver-leihung von militärischen Würden ließ sich der Kaiser positiv beeinflussen – ein Mittel, welches die britische Politik noch mehrfach anwenden sollte. Diese Demonstration der Anerkennung Wilhelms II., gepaart mit dem herzlichen Empfang, führte bei ihm zu einem Meinungsumschwung gegenüber seinen britischen Verwandten. Auch wird an dieser Episode die Verschränkung der familiären Befindlichkeiten mit der Politik deutlich. Der Kaiserbesuch wurde politisch genutzt und instrumentalisiert, um die di-plomatische Lage für das Deutsche Kaiser-reich zu verbessern.In ähnlicher Weise lassen sich auch der pri-vate Besuch Kaiser Wilhelms II. im Som-mer 1890 und der erste offizielle Staatsbe-such im Juli 1891 einordnen. Hier wurde Wilhelm II. ebenfalls jeweils mit überaus großer Freundlichkeit empfangen, wäh-rend seines Staatsbesuchs 1891 gefiel ihm besonders der herzliche Empfang durch das britische Volk (Röhl 2001: 405 ff.). Wil-helms II. positive Stimmung gegenüber Großbritannien wurde von Politikern auf beiden Seiten genutzt, um sich diploma-tisch anzunähern und so die Beziehun-gen zu entspannen. 4 Eine erste ernsthafte

4 Die positive Grundhaltung des Kaisers wurde

Wendung im deutsch-britischen Verhält-nis zeichnet sich während des Kaiserbe-suchs 1895 ab. Das aufdringliche Verhalten Kaiser Wilhelms II. und die Unruhe und Unzuverlässigkeit der deutschen Politik rief in Großbritannien das Gefühl hervor, dass sich das Deutsche Kaiserreich gegen Großbritannien stellen würde, wenn es nicht mit entsprechendem Respekt behan-delt werden würde (Röhl 2001: 863). Hier zeigt sich erneut die Verschränkung zwi-schen der politischen und der familiären Ebene. Das kaiserliche Verhalten verstärkt den Eindruck, den die deutsche Politik auf Großbritannien macht und trägt so dazu bei, dass sich die Spannungen im deutsch-britischen Verhältnis wieder verstärken. Sein Streben nach Anerkennung bei seiner britischen Verwandtschaft verband sich hier mit den politischen Forderungen nach angemessener Behandlung und wirkte di-rekt in die Politik hinein.Der Englandaufenthalt Kaiser Wilhelms II. anlässlich des Todes von Queen Victoria im Januar 1901 führte zu einem erneuten Umschwung in Wilhelms II. Verhältnis zu Großbritannien. Durch sein mitfühlendes Verhalten gelingt es Wilhelm II. den bei seiner Verwandtschaft verlorenen Respekt wiederzuerlangen. Sein Besuch, der bis über die Begräbnisfeierlichkeiten hinaus andauerte, hinterließ deutliche Spuren: nicht nur seine britische Verwandtschaft sondern auch das britische Volk erkann-te die Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit in seinem Verhalten an (Massie 1993: 306 ff.). Der Kaiser tritt nun intensiv für ein deutsch-britisches Bündnis ein, sehr zum

von der Politik aufgegriffen, um beispielsweise Verhandlungen über Kolonialgebiete oder Wirt-schaftsfragen voranzubringen. Die positiven Si-gnale des Kaisers wurden von deutschen und britischen Politikern aufgegriffen, um die diplo-matische Freundschaft der beiden Nationen zu betonen und zu stärken (Reinermann 2001: 94 ff.).

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Missfallen des Reichskanzlers Bülow und seiner Regierung, die solch ein Bündnis mit aller Macht zu verhindern versuchten. Auch hier zeigt sich wieder die enorme Verstrickung der privaten mit der politi-schen Ebene. Wilhelms II. Verhalten führt zu einer erheblichen Entspannung der pri-vaten Situation. Dies wollte der Kaiser auch politisch nutzbar machen, um die Bünd-nisgespräche voran zu treiben. Die deut-sche politische Führung wollte aber genau das verhindern und die Bündnisgespräche scheitern lassen. Der wiedergewonnene Respekt für den Kaiser führt bei Wilhelm II. regelrecht zu einer Englandeuphorie, die jedoch keine politischen Konsequen-zen hatte, weil vor allem Bülow versuchte den politischen Einfluss des Kaisers so ge-ring wie möglich zu halten. Die bis dahin schleppend geführten Bündnisgespräche scheitern jedoch endgültig im Dezember 1901 an grundsätzlichen Differenzen der beiden Staaten (Lappenküper 1994: 54).Diese positive Haltung des Kaisers gegen-über Großbritannien hielt jedoch nicht lange an. Mit der Thronbesteigung des Prince of Wales ändert sich das Verhältnis der beiden Herrscherhäuser. Bereits wäh-rend des Besuchs des Deutschen Kaisers anlässlich des Geburtstags König Edwards VII. im November 1902 zeigte sich eine Abkühlung im deutsch-britischen Verhält-nis. Der neue britische König legte keinen besonderen Wert auf ein gutes Verhält-nis zu Kaiser Wilhelm II. und er trat auch nicht besonders vehement für eine gute politische Zusammenarbeit der beiden Staaten ein (Reinermann 2001: 247 ff.). Das kühle, angespannte Verhältnis der beiden Herrscher, welches sich noch aus ihren Auseinandersetzungen bei Segelregatten und ähnlichem speiste, sollte sich bis zum Tode Edwards VII. 1910 nicht verändern. Die kurzen positiven Episoden während

diverser Englandbesuche des Kaisers, wäh-rend derer er erneut mit einer enormen Herzlichkeit empfangen wurde, änderten nichts an den sich stetig verschlechternden familiären und vor allem auch politischen Beziehungen (Reinermann 2001).Bereits an dieser kleinen Auswahl von familiären Ereignissen lassen sich die Schwierigkeiten und Ambivalenzen des deutsch-britischen Verhältnisses aufzeigen. Die schwer durchdringbare Verbindung zwischen politischer und privater Sphäre, gepaart mit dem Anerkennungsbedürfnis des Kaisers führte zu diesem wechselvollen Verhältnis des Kaisers zu Großbritannien. Die verschiedenen Launen des Kaisers las-sen sich nur teilweise mit den politischen Ereignissen in Einklang bringen. Die deut-sche Politik versuchte die Befindlichkeiten des Kaisers so weit als möglich aus der Po-litik gegenüber Großbritannien heraus zu halten, über seine Position innerhalb des politisches Apparates gelang es ihm jedoch, Einfluss auf die deutsche Außenpolitik zu nehmen. Trotz dieser Versuche, den Ein-fluss des Kaisers auf außenpolitischen Ent-scheidungen so gering wie möglich zu hal-ten, lassen sich im Anerkennungsbedürfnis des Kaisers und dem politischen Streben nach Respekt und Anerkennung als Welt-macht einige Parallelen aufzeigen.

Die politische Ebene des deutsch- britischen Verhältnisses

Auf der politischen Ebene lassen sich fünf große Themenkomplexe bestimmen, die die deutsch-britischen Beziehungen ge-prägt haben: der Konflikt um die Burenre-publiken, die kolonialen Ambitionen und Bündnissondierungen, die Marokkokrisen 1905 und 1911 und die Flottenpolitik. Im Folgenden soll auf alle fünf Bereiche ein-gegangen werden (die kolonialen Ambitio-nen und die Bündnissondierungen werden

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gemeinsam betrachtet), denn zum einen wird daran deutlich, wie vielschichtig die Beziehungen der beiden Staaten waren und zum anderen lassen sich Kontinuitäten und Politikwechsel aufzeigen. Das deutsche Streben nach Anerkennung als Weltmacht und der Wunsch als ebenbürtiger Partner akzeptiert zu werden, ziehen sich durch alle Themen; diese deutschen Ambitio-nen spiegeln sich in der Politik gegenüber Großbritannien und sind ein einender Fak-tor, den es zu betrachten gilt.

Der Konflikt um die Burenrepubliken

Als Reaktion auf den bewaffneten Einfall von Leander Starr Jameson in die Buren-republik Transvaal Ende 1895, welcher von der Burenrepublik vereitelt werden konnte, schickte Kaiser Wilhelm II. am 3. Januar 1896 ein Glückwunschtelegramm an Pau-lus Krüger, den Präsidenten des Transvaal (Hildebrand 1995: 179 f.):

„Ich spreche Ihnen Meinen aufrichti-gen Glückwunsch aus, dass es Ihnen, ohne an die Hilfe befreundeter Mächte zu appellieren, mit Ihrem Volke gelun-gen ist, in eigener Tatkraft gegenüber den bewaffneten Scharen, welche als Friedensstörer in Ihr Land eingebro-chen sind, den Frieden wiederherzu-stellen und die Unabhängigkeit des Landes gegen Angriffe von außen zu wahren.“ (Kaiser Wilhelm II. 1896)

Dieses Telegramm mit eindeutig antieng-lischer Stoßrichtung verschlechterte die deutsch-britischen Beziehungen nachhal-tig (Hildebrand 1995: 181). Das Telegramm war zwar an den Präsidenten des Transvaal adressiert, gerichtet war es aber auch ein-deutig an die britische Regierung: ihr sollte vor Augen geführt werden, dass man so mit dem Deutschen Kaiserreich nicht umge-hen konnte. Was waren die Beweggründe

der deutschen Führung sich so klar gegen Großbritannien zu positionieren und wie reagierten die deutsche und britische Öf-fentlichkeit auf diese Provokation?Für den Kaiser war der Überfall von Jame-son ein willkommener Anlass, der briti-schen Führung eine Lektion zu erteilen. Anfänglich gingen der Kaiser und die deut-sche Führung davon aus, dass die britische Regierung hinter dem bewaffneten Über-fall auf den Transvaal steckte. Diese distan-zierte sich jedoch schnell von dem Vorge-hen Jamesons und war so nur noch mehr irritiert über die deutsche Reaktion. Für die deutsche Führung stellte das Krügerte-legramm jedoch schon einen Kompromiss dar; Kaiser Wilhelm war anfänglich sogar zu einem Krieg gegen Großbritannien be-reit (Hildebrand 1995: 179 f.). Seiner Mei-nung nach sollten die bindungsunwilligen Briten in ihrer Überheblichkeit gedämpft werden (Reinermann 2001: 146); das Deut-sche Kaiserreich wollte seinem Anspruch als Weltmacht gerecht werden und mili-tärische Stärke demonstrieren. Als Alter-native zum Krieg wurde eine Kontinental-liga gegen Großbritannien diskutiert; der deutsche Botschafter in Großbritannien, Paul von Hatzfeldt, wurde angewiesen, wenn nötig seinen Pass zurück zu geben. Die deutsche Führung wollte mit diesem Schritt Großbritannien demonstrieren, wie sehr die Inselmonarchie auf die Hilfe des Deutschen Kaiserreichs angewiesen war und sie so zum formellen Beitritt zum Dreibund bewegen. Die Idee, dem Präsi-denten des Transvaals ein Glückwunsch-telegramm zu schicken, geht letztendlich auf den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Adolf Marschall von Bieberstein, zurück. Mit diesem Kompromissvorschlag gelang es, den Krieg gegen Großbritanni-en abzuwenden, die Verschlechterung der deutsch-britischen Beziehungen konnte

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aber nicht abgewendet werden (Röhl 2001: 874 f.).Besonders heftig fielen die Reaktionen auf das Krügertelegramm in der britischen Presse aus und auch in der deutschen Pres-se verschärfte sich der antienglische Ton erheblich (Bender 2009: 28). Langfristig manifestierten sich hier Handlungsmus-ter in der Presselandschaft, die zur stetig wachsenden Anglo- bzw. Germanophobie beitrugen (Geppert 2007: 114) und somit auch das politische Verhältnis der beiden Staaten nachhaltig beeinflussten. Die bri-tische Führung, insbesondere Premier-minister Salisbury, war nicht sonderlich überrascht vom Verhalten des Kaisers, das Krügertelegramm führte jedoch zu erhebli-chen familiären Auseinandersetzungen mit Queen Victoria. Die britische Königsfami-lie fühlt sich von Kaiser Wilhelm II. per-sönlich beleidigt: Queen Victoria tadelte Wilhelm in einem Brief scharf und dieser versuchte mit einem äußerst unterwürfig formulierten Brief die Wogen zu glätten5 (Röhl 2001: 879 ff.). Die familiären Ausei-nandersetzungen ließen sich noch relativ zügig ausräumen, die politischen Folgen wogen erheblich schwerer. Auf der briti-schen Seite führte das anmaßende Verhal-ten des Deutschen Kaiserreichs zu einer ersten Annäherung zwischen Großbritan-nien und Frankreich; Salisbury nutzte die Gelegenheit, die laufenden Kolonialver-handlungen mit dem Deutschen Kaiser-reich noch weiter hinaus zu zögern und die Mittelmeerentente auslaufen zu lassen (Reinermann 2001: 175). Von der deut-schen Führung wurde die antienglische Stimmung dazu genutzt, die Flottenpolitik

5 Die familiären Auswirkungen des Krügertele-gramms sind sehr ausführlich beschrieben bei John C.G. Röhl (2001) und Christopher Clark (2008). Besonders interessant ist der Briefwech-sel zwischen Queen Victoria und Kaiser Wilhelm II., in dem das Verhältnis der beiden Monarchen deutlich wird.

zu forcieren6 (Hildebrand 1995: 180). Die heftige Reaktion der Öffentlichkeit auf das angeblich missachtende Verhalten der bri-tischen Politik und Öffentlichkeit wird von der deutschen Führung instrumentalisiert.Bis zum Ausbruch des zweiten Burenkriegs 1899 veränderte sich die Stimmung in der britischen Öffentlichkeit nicht. Insbeson-dere der Kaiser war heftigen Angriffen aus-gesetzt; er wurde als „William the Witless“ oder „Bumptious Billy of Berlin“ (Reiner-mann 2001: 180) betitelt. Die politischen Beziehungen der beiden Staaten hatten sich aber aufgrund vereinzelter Kolonialabkom-men etwas beruhigt. Während des Krieges verhielt sich das Deutsche Kaiserreich neu-tral, sehr zur Freude der britischen Politik (Reinermann 2001: 185). Die deutsche Öf-fentlichkeit und Presse stand eindeutig auf der Seite der Buren, die politische Neutra-lität lässt sich auf die strategischen Interes-sen der deutschen Führung zurück führen; durch ihr neutrales Verhalten versperrte sich die deutsche Führung nicht den Weg zu geheimen Bündnisverhandlungen mit Großbritannien. Des Weiteren war sie nicht an einer kriegerischen Auseinandersetzung zu diesem Zeitpunkt interessiert, weil das Deutsche Kaiserreich keine realistischen Siegchancen gegen Großbritannien hatte (Bender 2009: 138 f.; Nasson 2010). Die Po-sition der Regierung stieß in der deutschen Öffentlichkeit auf Unverständnis: die Pres-se war davon überzeugt, dass die Buren auch deutsche Interessen gegen die Briten verteidigen. Sie legte den Neutralitätskurs der Regierung als Schwäche aus, welche zu einer Demütigung Deutschlands durch Großbritannien führen würde (Bender 2009: 144). Dieser öffentliche Druck hat-te jedoch keinerlei Auswirkungen auf das

6 Die aufgeheizte Stimmung in der deutschen Öf-fentlichkeit bereitete den Weg für das erste Flot-tengesetz 1897. Auf diese Problematik wird in ei-nem späteren Abschnitt genauer eingegangen.

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politische Handeln, die Neutralität wurde unverändert beibehalten. Hier zeigt sich, dass das politische Handeln viel stärker von strategischen Überlegungen abhing als von Stimmungen oder Empfindungen Ein-zelner oder der Öffentlichkeit.Auf eine ernsthafte Probe wurde die deut-sche Neutralität erst zum Jahreswechsel 1899/1900 gestellt. Die britische Marine hatte nach Kriegsausbruch ihre Seekont-rollen verschärft, um die Versorgungswege der Buren zu kappen. Durch diese Maß-nahme wurden im Dezember 1899 und im Januar 1900 auch drei deutsche Postschiffe aufgebracht und auf Konterbande hin un-tersucht. Reichskanzler Bülow beauftragte den deutschen Botschafter in London der Sache nachzugehen; die Reaktion der Bri-ten ließ jedoch auf sich warten und so ver-schärfte die deutsche Seite den diplomati-schen Ton, um Kooperationsbereitschaft von den Briten zu erzwingen. Dies gelang jedoch nicht und Bülow empfand das briti-sche Verhalten angesichts der bestehenden politischen Beziehungen als rücksichtslos (Bender 2009: 189). Er fasste es als Miss-achtung der deutschen Politik auf und diese reagierte darauf mit einer Verschär-fung der eigenen Flottenpolitik. Auch in der Presse schlug die Bundesrath-Affäre7 hohe Wellen, es wurde sogar zu Vergel-tungsmaßnahmen gegen Großbritanni-en aufgerufen. Dieses angespannte Klima wurde von der deutschen Führung propa-gandistisch genutzt, um die Notwendigkeit einer robusten Flotte mit außenpolitischen Zwischenfällen zu legitimieren. Zu diesem Zweck wurde auch die Vorlage des Zweiten Flottengesetztes vorgezogen und schon im Januar 1900 dem Reichstag vorgelegt. Of-fiziell wurde die Krise am 16. Januar 1900 beigelegt, Großbritannien erfüllte sämtli-

7 Die diplomatische Krise wurde nach dem ersten aufgebrachten Schiff, der Bundesrath, benannt (Reinermann 2001: 205).

che deutsche Forderungen. Im Reichstag und in der Presse wurde der Vorfall jedoch noch weiter diskutiert und das Verhalten Großbritanniens scharf angegriffen: eine „mehrhundertjährige Politik der Verge-waltigung schwächerer Nationen“ (Ben-der 2009: 199) wurde befürchtet. Nur mit größten Anstrengungen gelang es Bülow, die Eskalation zu verhindern (Bender 2009: 187 ff.).Sowohl das Krügertelegramm wie auch die Bundesrath-Affäre zeigen, wie fragil und ambivalent das deutsch-britische Ver-hältnis war. Während beim Krügertele-gramm die familiären Auswirkungen sehr stark ausgefallen sind, lassen sich bei der Bundesrath-Affäre eindeutige politische Konsequenzen aufgrund des demütigen-den britischen Verhaltens erkennen. Beide Zwischenfälle hatten direkte Auswirkun-gen auf die deutsche Flottenpolitik und führten zu einer Verschärfung des deutsch-britischen Gegensatzes. In beiden Fällen spielte die Presse und Öffentlichkeit eine verstärkende Rolle: die antienglische bzw. antideutsche Berichterstattung engte den Handlungsspielraum der Politik ein und sie führte insbesondere auf deutscher Seite dazu, dass das britische Verhalten als ext-rem missachtend und demütigend aufge-fasst wurde. Trotz der deutschen Neutra-lität und durchaus erfolgreich verlaufenen Vertragsverhandlungen verschlechterte sich die Beziehung der beiden Staaten zu-nehmend; dies ist gerade für die beiden geschilderten Fälle auch auf die subjektive Erfahrung von Missachtung zurück zu füh-ren und nicht so sehr auf die zwar vorhan-denen, aber eigentlich lösbaren politischen Vorfälle (Kennedy 1980).

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Die kolonialen Ambitionen und Bündnissondierungen

Das Abschließen von Verträgen, welche dem Deutschen Kaiserreich Einflusssphä-ren oder Wirtschaftsinteressen sicherten, war ein zentraler Bestandteil der deut-schen Politik unter Kaiser Wilhelm II. Otto von Bismarck hatte sich lange Zeit ge-gen ein deutsches Kolonialreich gewehrt, doch ab Mitte der 1880er Jahre fing auch das Deutsche Kaiserreich an zu expan-dieren (Kennedy 1980: 169 ff.). Ein erster wichtiger Baustein der Kolonialpolitik war der Tausch von Sansibar gegen Helgoland 1890. Nach dem Sturz von Bismarck war das Misstrauen im Ausland bezüglich der deutschen Kolonialpolitik groß; der neue Reichskanzler Leo von Caprivi signalisier-te jedoch schnell Kompromissbereitschaft, war er doch besonders an einer engen Zu-sammenarbeit mit Großbritannien inte-ressiert.8 Der britische Premier Salisbury erkannte die Situation und schlug einen Gebietstausch vor: die britische Insel Hel-goland sollte gegen Sansibar, Uganda, Witu und Somalia eingetauscht werden (Paul von Hatzfeldt 1890). Besonders interessant ist die Tatsache, dass Kaiser Wilhelm II. per-sönlich an der Ausarbeitung des Vertrages mitgewirkt hat; er wollte in diesem Tausch einen Baustein der allgemeinen Annähe-rung an Großbritannien sehen (Clark 2008: 169 f.). In der Öffentlichkeit wurde das Abkommen zunächst positiv aufgefasst, jedoch kamen rasch Stimmen auf, die in dem Abkommen einen Prestigeverlust für das Deutsche Kaiserreich und sich als „ge-demütigte Macht dritten Ranges“ (Canis

8 Nach der Nichtverlängerung des Rückversiche-rungsvertrags mit Russland gleich zu Beginn der Amtszeit Caprivis war die außenpolitische Situa-tion des Deutschen Kaiserreichs angespannt: das von Bismarck gesponnene Bündnissystem verlor an Wirkung und eine Isolation Deutschlands galt es zu verhindern (Ullrich 2007: 184).

1999: 61) sahen. Aufgrund des öffentlichen Drucks war eine weitere Annäherung an Großbritannien ausgeschlossen, verstärkt wurde dies noch durch britisch-französi-sche Kolonialverhandlungen, an denen das Deutsche Kaiserreich nicht beteiligt wurde und sich im Nachgang des Gebietstausches enttäuscht und gereizt zeigte (Wipperfürth 2004: 77). Besonders das Gefühl, von Groß-britannien nicht angemessen behandelt worden zu sein spielte hier eine große Rol-le, denn eigentlich war der Gebietstausch vorteilhaft für das Deutsche Kaiserreich.Einen weiteren kolonialen Streitfall stellte Samoa 1898/99 dar. Bereits seit 1879 stand die Inselgruppe Samoa unter Munizipal-verwaltung Großbritanniens, der USA und des Deutschen Kaiserreichs. 1898 eskalierte die Situation jedoch, weil es zu einem Streit um die Oberherrschaft der drei Mächte kam. Mit dem Samoavertrag 1899 wurden die Streitigkeiten offiziell beigelegt, die USA bekamen Ost-Samoa, das Deutsche Kaiserreich West-Samoa und Großbritan-nien zog sich aufgrund der angespannten Situation im Burenkrieg ganz aus Samoa zurück. Obwohl das Deutsche Kaiserreich seine Position behaupten konnte, fühlte sich die deutsche Führung von Großbritan-nien düpiert und nicht ausreichend unter-stützt (Hildebrand 1995: 207). Besonders Kaiser Wilhelm II. war von der britischen Führung enttäuscht und machte dies in einem Brief an seine Großmutter, Queen Victoria, deutlich:

„[…] Lord Salisbury cares for us no more than for Portugal, Chile, or the Patagonians, and out of this impres-sion the feeling has arisen that Germa-ny was being despised by his Govern-ment, and this has stung my subjects to the quick. This fact is looked upon as a taint to the national honor and to their feelings of self-respect. […] If this sort

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of high-handed treatment of German affairs by Lord Salisbury´s Government is suffered to continue, I am afraid that there will be a permanent source of misunderstandings and recrimina-tions between the two nations, which may in the end lead to bad blood. […] Lord Salisbury´s Government must learn to respect and treat us as equals; as long as he cannot be brought to do that, people over here will remain dis-trustful, and a sort of coolness will be the unavoidable result. […] I can as-sure you there is no man more deeply grieved and unhappy than me ! and all that on account of a stupid island [Sa-moa, Anm.d.Verf.] which is a hairpin to England compared to the thousands of square miles she is annexing right and left unopposed every year.” (Kaiser Wilhelm II. 1899)

Die privaten Unstimmigkeiten konnten schnell beigelegt werden, das kaiserliche Misstrauen Lord Salisburys gegenüber blieb jedoch bestehen und auch die deutsche Po-litik zeigte sich reservierter. Der Kaiser be-tont besonders das unangemessene Verhal-ten Salisburys Deutschland gegenüber und streicht heraus, dass Deutschland ein wich-tiger Partner für Großbritannien ist. Soll-te dies von der britischen Führung nicht entsprechend ausgedrückt werden, dann werde die deutsche Reaktion entsprechend heftig ausfallen. Die Vermischung von Sachfragen mit Empfindungen ist typisch für den Kaiser, aber auch die sich darauf-hin abkühlenden deutsch-britischen Bezie-hungen lassen darauf schließen, dass dieses Gefühl der unangemessenen Behandlung politische Auswirkungen hatte.Die Venezuelakrise 1902/03 ist eine weitere Episode in den sich abkühlenden deutsch-britischen Beziehungen. Venezuela kam seinen Zahlungsverpflichtungen nicht

mehr nach und so beschlossen Großbritan-nien, Italien und das Deutsche Kaiserreich gemeinsam gegen Venezuela vorzugehen (von Fiebig Hase 1997: 527). Das Bündnis zwischen Großbritannien und dem Deut-schen Kaiserreich muss als reines Zweck-bündnis aufgrund der stark angespannten Lage verstanden werden. Die Verbündeten griffen ab 7. Dezember 1902 die venezola-nische Flotte an und machten sie kampf-unfähig. Am 18. Dezember 1902 nahmen sie den venezolanischen Vermittlungsvor-schlag an, welcher unter Führung der USA im Februar 1903 zur Beilegung des Kon-flikts führte (von Fiebig Hase 1997: 538 f.). Die Tragfähigkeit des deutsch-britischen Bündnisses erwies sich als nicht sehr sta-bil, während der Friedensverhandlungen schwenkte Großbritannien auf die Seite der USA um und fiel dem Deutschen Kai-serreich so politisch in den Rücken. Das Deutsche Kaiserreich fühlte sich von die-sem Vorgehen zurückgesetzt und nicht als gleichberechtigter Bündnispartner be-handelt. Der Schwenk Großbritanniens ist darauf zurück zu führen, dass die USA für Großbritannien politisch zu wichtig waren, als dass sie sie vor den Kopf hätten stoßen können, das Deutsche Kaiserreich wurde geopfert, um die britische Position gegen-über den USA nicht zu gefährden (Wipper-fürth 2004: 183).An diesen drei ausgewählten Beispielen wird bereits deutlich, wie empfindlich die deutsche Politik, der Kaiser und die Öf-fentlichkeit auf Großbritannien reagierten. Selbst wenn zunächst ein diplomatischer Erfolg zu verzeichnen war, wie vor allem im Samoa-Abkommen, fühlten sich der Kaiser, die Regierung und auch die Öffent-lichkeit nicht adäquat behandelt oder über den Tisch gezogen. Besonders die Äuße-rungen des Kaisers bezeugen dieses Gefühl der Erniedrigung: er spricht das aus, was

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weite Teile der Bevölkerung empfinden. Etwas vielschichtiger ist das Verhalten der politischen Führung zu werten. Auch hier lassen sich immer wieder Hinweise auf Missachtungserfahrungen finden, jedoch werden diese häufig vom politischen Kal-kül überdeckt und treten so nicht offen zu Tage, weil man seine grundsätzliche Bünd-nisfähigkeit nicht leichtfertig aufs Spiel set-zen wollte.Die deutsche Politik schwankte während der Herrschaft Wilhelms II. ständig zwi-schen dem Versuch ein tragfähiges, offi-zielles Bündnis mit Großbritannien abzu-schließen, welches die Anerkennung als Weltmacht endgültig gesichert hätte, und einer Politik der kleinen Schritte, um Groß-britannien Schritt für Schritt enger an das Deutsche Kaiserreich zu binden. Beispiel-haft für diese Politik der kleinen Schritte seien hier der Angolavertrag von 1898 und das Jangtse-Abkommen von 19009 erwähnt. Im Zuge von deutsch-britischen Bündnis-sondierungen gelang es, einige Abkommen zu schließen, welche deutsche Interessen – vor allem wirtschaftlicher Natur – sicherten und so zu einer kurzfristigen Entspannung des Verhältnisses beitrugen (Ullrich 2007: 203). Dies wurde erneut kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs versucht, als Bünd-nisverhandlungen endgültig gescheitert waren. In diesem Zusammenhang wurden unter anderem ein Abkommen über die Aufteilung portugiesischer Kolonien 1913 und das Bagdadbahn-Abkommen 1914 ge-schlossen. Mit diesen beiden beispielhaft ausgewählten Abkommen versuchte das Deutsche Reich eine endgültige Isolation in Europa zu verhindern und aus der Ein-

9 Mit beiden Abkommen sicherte sich das Deut-sche Reich Rechte im portugiesischen Koloni-algebiet bzw. in China. Die Verhandlungen zum Angola-Vertrag sind u. a. nachzulesen bei Rolf Pe-ter Tschapek (2000), das Jangtse-Abkommen ist nachzulesen bei Paul von Hatzfeldt (1900).

kreisung auszubrechen (Wipperfürth 2004: 187; Ullrich 2007: 231 f.). Jedoch scheiter-ten auch diese entspannungspolitischen Versuche, von Großbritannien als gleich-berechtigter Partner anerkannt zu werden. Allgemeine Differenzen, insbesondere im Hinblick auf die Flottenpolitik, verhinder-ten eine Annäherung und den Abschluss eines Bündnisses. Hinzu kommt noch die Bündnisentwicklung in Europa, welche zu einer schrittweisen Isolation und Einkrei-sung Deutschlands führte und so alle Welt-machtpläne utopisch werden ließ.Ab 1898 war es verstärkt zu britisch-deut-schen Bündnissondierungen gekommen, die mit einigen Unterbrechungen erst mit der Haldane-Mission 1912 endgültig scheiterten. Den ersten ernst zu nehmen-den Versuch während der Regentschaft Wilhelms II. unternahm der britische Ko-lonialminister Joseph Chamberlain 1898. Dieser Vorschlag stieß beim Deutschen Kaiser und der politischen Führung jedoch zunächst nicht auf offene Ohren: Bülow ging nicht davon aus, dass das Deutsche Kaiserreich sich binden müsse, weil der an-glo-russische Gegensatz ihm unüberwind-lich schien (Ullrich 2007: 202). Besonders Bülow tat alles dafür, um die Bündnisver-handlungen zu verschleppen und den Kai-ser davon abzuhalten auf einer seiner Eng-landreisen politisch aktiv zu werden und vorschnell ein Bündnis zu schließen (Win-zen 2003: 96 f.). In der Folgezeit kam es im-mer wieder zu Vorstößen Chamberlains, die jedoch durch geschicktes Taktieren der deutschen Führung – man forderte immer mehr Gebiete und Konzessionen – unter-bunden wurden. Im Dezember 1901 ka-men die Gespräche vorerst endgültig zum Erliegen, da Großbritannien sich langsam an Frankreich annäherte und das Deutsche Kaiserreich erst mit seiner ihrer Meinung nach ausreichend großen Flotte von einem

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Bündnis profitieren würde (Wipperfürth 2004: 147 f.; Winzen 2003: 100). Während dieser Annäherungsversuche kam es, wie oben beschrieben, zu einigen lokalen Ab-kommen, die dazu führten, dass die diplo-matischen Beziehungen nicht vollständig abgebrochen wurden. An dieser ersten Epi-sode der Bündnissondierungen lässt sich die Überheblichkeit des Deutschen Kai-serreichs gegenüber Großbritannien gut erkennen. Die deutsche Führung ging da-von aus, dass Großbritannien vielmehr auf Deutschland angewiesen sei, als Deutsch-land auf Großbritannien – eine fatale Fehl-annahme, denn sie leistete so selbst einen großen Beitrag zur anglo-französischen Entente von 1904. Ebenso hielt sich hart-näckig die Annahme, dass Großbritannien sich aufgrund der historischen Disposition niemals mit Frankreich oder Russland ver-binden werde und so das Deutsche Kaiser-reich der einzige und natürliche Bündnis-partner für Großbritannien sei. Dies führte zu der völlig fehlkalkulierten Annahme in der deutschen Führung, dass sie immer mehr von Großbritannien fordern kön-ne und nur lange genug warten brauche, um die Maximalforderungen in einem für Deutschland äußerst günstigen Bündnis zu manifestieren. Hier zeigt sich deutlich, dass die deutsche Führung und der Kaiser davon ausgingen sind schon als Weltmacht agieren zu können – eine Überhöhung des eigenen Status, die sich bitter rächen soll-te.1909 kam es im Zuge der kollidierenden Flottenpolitiken und der sich abzeichnen-den Isolation Deutschlands zu erneuten Annäherungsversuchen. Reichskanzler Bethmann Hollweg suchte gezielt die Zu-sammenarbeit mit Großbritannien: er forderte von Großbritannien umfassende außenpolitische Zugeständnisse bis hin zu einer Neutralitätserklärung, anbieten

konnte und wollte er allerdings wenig. Ins-besondere Alfred von Tirpitz, Staatssekre-tär des Reichsmarineamtes und Vordenker der deutschen Flotte, war zu keinerlei Zu-geständnissen in Belangen der Flotte bereit (Hildebrand 1995: 251 ff.). Großbritan-nien lehnte diesen utopischen Vorschlag ab, ohne hinreichende Zugeständnisse in Flottenfragen war ein Bündnis für Groß-britannien wertlos und würde die mitt-lerweile anderweitig geschlossenen Ver-träge unterlaufen (Ullrich 2007: 224). Die Verhandlungen verliefen wie in der ersten Phase der Bündnissondierungen sehr zäh und erst durch den Einsatz des Hamburger Reeders Albert Ballins und des Londoner Bankiers Sir Ernest Cassel kam wieder Be-wegung in die Verhandlungen, die dann in der Haldane-Mission 1912 kulminier-ten (Hildebrand 1995: 254 ff.). Einen Tag vor der Ankunft des britischen Kriegsmi-nisters und Deutschlandkenners Haldane verkündete Kaiser Wilhelm II. jedoch eine neue Flottennovelle und belastete damit die Verhandlungen stark. Haldane signa-lisierte dennoch großes Interesse an einer Verständigung und schürte damit bei der deutschen Führung die Hoffnung, ein um-fassendes, zu ihren Gunsten ausfallendes Bündnis mit Großbritannien abschließen zu können. Zu dieser erhofften Einigung kam es jedoch nicht, weil das britische Kabinett auf Zugeständnissen in der Flot-tenfrage bestand und die deutsche Politik nicht erkannte, dass sie in der unterlegenen Position waren (Ullrich 2007: 230).Ähnlich wie in der ersten Phase der Bünd-nissondierungen fühlte sich das Deutsche Kaiserreich in einer überlegenen Position, dies zeigt sich an den maßlos übertriebe-nen Forderungen gegenüber Großbritanni-en und der mangelnden Kooperations- und Kompromissbereitschaft. In der zweiten Bündnissondierungsphase war das Bild je-

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doch nicht mehr so eindeutig. Ließen vor allem Tirpitz und die Militärs keine Zu-geständnisse zu, so sah die Situation bei Bethmann Hollweg anders aus. Er hatte die prekäre diplomatische Situation für das Deutsche Kaiserreich erkannt und wollte mit seinem Vorstoß die Isolation Deutsch-lands durchbrechen, dazu war er durchaus zu Zugeständnissen bereit. Es gelang ihm jedoch nicht, ausreichend Unterstützer für seine Politik zu gewinnen, vor allem der Kaiser fehlte ihm als Unterstützer. Für Großbritannien bestand keine Notwendig-keit, ein Bündnis mit dem Deutschen Kai-serreich abschließen zu müssen, sie hatten sich durch die Entente und die Annähe-rung an Russland abgesichert, und auch das anmaßende Verhalten der deutschen Seite führte nicht dazu, dass sich die bri-tische Führung dazu veranlasst sah, ein Bündnis, welches als Respektsbekundung auf deutscher Seite gewertet worden wäre, einzugehen10. Die deutsche Selbstüber-schätzung verstärkte die gemachten Miss-achtungserfahrungen und führte zu einer noch deutlicheren Respektseinforderung von Großbritannien.

Die Marokkokrisen 1905 und 1911

Beide Marokkokrisen waren für das Deut-sche Kaiserreich Statusfragen; die deutsche Politik wollte in beiden Fällen versuchen die gegen sie geschlossenen Bündnisse aufzubrechen und die drohende Isolation abzuwenden (Murray 2011). In beiden Fäl-

10 Erschwert wurde die Situation noch zusätzlich durch das zerrüttete Verhältnis zwischen den bei-den Monarchen, welches eine private Verständi-gung, mit der auf die Politik hätte eingewirkt wer-den können, unmöglich machte. Das Verhältnis von Wilhelm II. zu seinem Onkel Edward VII. war schon vor der Thronbesteigung Edwards stark be-lastet (Reinermann 2001: 257). Die persönliche Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit und so sahen beide Monarchen keinen Anlass positiv auf die Bündnissondierungen Einfluss zu nehmen.

len waren sie damit nicht erfolgreich: die erste Marokkokrise führte zu einer Inten-sivierung der Entente Cordiale zwischen Großbritannien und Frankreich, die zweite Marokkokrise besiegelte die deutsche Iso-lation auf dem Kontinent.Die erste Marokkokrise 1905 wurde durch Frankreichs, Versuch ganz Marokko unter französischen Einfluss zu bringen ausge-löst. Das Deutsche Kaiserreich fühlte sich übergangen und bestand auf der Einbe-rufung einer internationalen Konferenz zur Klärung des Status von Marokko. Mit der Landung Kaiser Wilhelms II. in Tan-ger am 31. Mai 1905 wollte das Deutsche Kaiserreich symbolisieren, dass eine Kon-fliktlösung nur mit Zustimmung Deutsch-lands möglich sei und seiner Forderung Nachdruck verleihen (Wipperfürth 2004: 205). Die Konferenz von Algeciras fand im Januar 1906 unter großer internationaler Beteiligung statt, endete jedoch mit einer schweren diplomatischen Niederlage für das Deutsche Kaiserreich (Schulz 2009: 273). Es gelang der deutschen Diplomatie weder die Entente Cordiale zu entzweien noch ein Signal der deutschen Stärke aus-zusenden. Das Deutsche Kaiserreich hatte überhaupt keine kolonialen Interessen an Marokko, es wollte die Situation nutzen, um Prestigepolitik zu betreiben und um als zu respektierende Weltmacht aufzu-treten. Mit ihrem Hauptziel, Frankreich zu demütigen und die Entente Cordiale obso-let werden zu lassen, sollte gleichzeitig die Legitimation für weitere Flottenrüstung geschaffen werden (Ullrich 2007: 206 f.). Keines der Ziele wurde erreicht, in Bezug auf die Entente Cordiale führte das deut-sche Verhalten sogar zu einer noch engeren Verbindung der beiden Vertragspartner (Reinermann 2001: 287). Das Auswärtige Amt stufte den Ausgang der Konferenz als „eine große Depression über den Nieder-

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gang unserer Machtstellung“ ein und Bü-low brach im Reichstag zusammen, so dass er für mehrere Wochen arbeitsunfähig war (Wipperfürth 2004: 219).Ähnlich desaströs endete auch die zweite Marokkokrise 1911 für das Deutsche Kai-serreich. Nachdem Frankreich mit seinem Vorgehen in Marokko die Algeciras-Akte gebrochen hatte, wollte das Deutsche Kai-serreich dafür mit Kolonialgebieten ent-schädigt werden. Die deutsche Führung entsandte das Kanonenboot ‚Panther‘, um den Gebietsforderungen für das Deutsche Kaiserreich die nötige Ernsthaftigkeit zu verleihen (Schulz 2009: 278): „Wir kön-nen uns als Großmacht nicht entgegen ge-schriebenen Verträgen von französischem Übermut in unseren Rechten kränken las-sen“ (Alfred von Kiderlen-Wächter 1911). Ähnlich wie in der ersten Marokkokrise sollte mit dieser Prestigepolitik die En-tente Cordiale gebrochen werden und ein Gebietsgewinn für Deutschland heraus springen. Insbesondere Großbritannien reagierte jedoch äußerst feindselig auf die deutsche Provokation, in seiner Rede im Mansion House brachte Lloyd George ein-deutig zum Ausdruck, dass Großbritannien an der Seite Frankreichs stehe und notfalls auch kämpfen werde. Dies stellte eine of-fene Drohung an das Deutsche Kaiserreich dar und besiegelte die diplomatische Nie-derlage (Ullrich 2007: 227). Die Reaktion des Kaisers darauf war eindeutig:

„[…] the speech of Lloyd-George was as provocative an affront to German honor as was the telegram of Napoleon III, which precipitated the Franco-German War. Other personages at the table expressed the view that Germany ought to have gone to war with Eng-land to avenge Lloyd-George´s insult. Not having done so, the consequent humiliation would leave its sting for

many a year.” (Geppert 2007: 287)

Der Kaiser und auch die deutsche Politik und Öffentlichkeit fühlte sich von Groß-britannien in der deutschen Ehre verletzt; dies führte dazu, dass sich die Vorstellung des bevorstehenden großen Krieges weiter manifestierte und die Flottenrüstung legi-timiert wurde (Ullrich 2007: 228 f.). Im Er-gebnis verfestigte die zweite Marokkokrise die Entente Cordiale noch weiter und die deutsche Isolation und Einkreisung trat nun offen zu Tage (Reinermann 2001: 409). Der französische Bruch der Algeciras-Akte legitimierte das deutsche Vorgehen in der zweiten Marokkokrise, jedoch vermisch-ten sich außenpolitische Faktoren schnell mit dem Wunsch nach Prestige und Zuge-winnen. Die deutsche Prestigepolitik und Geltungssucht scheiterte in beiden Krisen, durch das aufdringliche und anmaßende deutsche Verhalten verschlechterte sich die diplomatische Situation für das Deut-sche Kaiserreich erheblich, insbesondere das Verhältnis zu Großbritannien wurde so stark belastet, dass ein Bündnis für die nächste Zeit nahezu ausgeschlossen war.

Flottenpolitik

Mit der Ernennung Alfred von Tirpitz´ zum Staatssekretär des Reichsmarineamtes 1897 war der Admiral in einer politischen Funktion, die es ihm ermöglichte, seine umfangreichen Flottenpläne umzusetzen. Rückhalt hatte er dafür sowohl beim Kai-ser, ein ausgewiesener Flottenenthusiast, als auch bei Reichskanzler Bülow, der nach Gesprächen mit Tirpitz im August 1897 ebenfalls auf den Kurs der Flottenrüstung gegen Großbritannien eingeschwenkt war (Winzen 2003: 70). In seinen Planungen war Großbritannien der gefährlichste Geg-ner auf See für das Deutsche Kaiserreich, dem wollte er eine starke deutsche Hoch-seeflotte entgegensetzen, um das Deutsche

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Kaiserreich zu einer Weltmacht und bünd-nisfähig für Großbritannien zu machen (Hobson 2004: 227 ff.). Für den Kaiser und weite Teile der Öffentlichkeit war eine akti-ve Flottenpolitik eine Frage der nationalen Ehre, mit einer starken Flotte konnte man aus der kontinentalen Enge ausbrechen und der Welt den deutschen Weltmachtan-spruch demonstrieren (Hildebrand 1995: 201). Die häufig gebrauchte Argumentati-on, eine starke Schlachtschiffflotte zu benö-tigen, um die deutschen Kolonien zu schüt-zen und auszubauen, stand von Anfang an auf tönernen Füßen; um seine Kolonialge-biete effektiv zu schützen, wäre eine sehr bewegliche Kreuzerflotte notwendig ge-wesen und nicht eine Schlachtschiffflotte, die überhaupt nicht die Reichweite besaß, um in die deutschen Kolonien vordringen zu können. Bereits bei dieser Entscheidung lässt sich der eigentliche Zweck der Flotte erkennen: sie sollte Großbritannien her-ausfordern und der Status einer Weltmacht sollte durch ihre Anerkennung gesichert werden (Ullrich 2007: 197). Mit der An-nahme des ersten Flottengesetzes 189811 wurde der erste kleine Schritt in Richtung Konfrontation mit Großbritannien gegan-gen. Neben der marinepolitischen Funkti-on der Flotte fungierte die jetzt einsetzende Expansion der Marine aber auch noch als einendes Element im Deutschen Kaiser-reich. Mit der Flotte wurden die Ideen von Weltherrschaft und uferloser überseeischer Expansion beflügelt und so wirkte die Flot-te in Deutschland genau wie in Großbri-tannien als nationsbildendes Element (Rü-ger 2007: 3); ein nicht zu unterschätzender Faktor in der weiteren Flottenpolitik der beiden Kontrahenten auf See.

11 Die genauen Bestimmungen und die Entwick-lungsgeschichten der Flottengesetze und –novel-len sind ausführlich nachzulesen bei Rolf Hobson (2004) und Michael Epkenhans (1991).

Im Zuge des Burenkriegs und der Aufbrin-gung der deutschen Postschiffe durch die britische Marine (s.o.) wurde die Vorlage des zweiten, eindeutiger gegen Großbri-tannien gerichteten Flottengesetztes vor-gezogen (Bender 2009: 195). Dieses wurde im Juni 1900 verabschiedet und sah eine massive Ausweitung des deutschen Flot-tenbaus und eine Verdoppelung der deut-schen Schlachtflotte vor. Kaiser Wilhelm II. war die antienglische Stoßrichtung der deutschen Flottenpolitik von Anfang an bewusst, er hoffte jedoch, dass Großbritan-nien die deutschen Leistungen respektvoll anerkennen werde und so dem Dreibund beitreten werde (Clark 2008: 185 f.). Nach außen hin sollte die offensiv antienglische Ausrichtung durch die Risikotheorie12 ver-borgen werden, in der internen Kommuni-kation war das Ziel der Flotte jedoch von Anfang an deutlich zu erkennen (Ullrich 2007: 197 f.).Mit der ersten Flottennovelle 1906 re-agierte das Reichsmarineamt auf die bri-tische Entwicklung des Dreadnoughten, eines Großkampfschiffes mit bis dahin ungekannter Feuerkraft und Panzerung. Die zweite Flottennovelle 1908 veränderte nichts an der Größe der deutschen Flotte, sie beschleunigte lediglich das Bautempo. In Großbritannien führten diese deutschen Entscheidungen 1904/05 und 1908/09 zu ‚navy scares‘ in der Presse und Öffent-lichkeit (Geppert 2007: 233). In der Presse wurden Bedrohungsvisionen geschürt, die in der Öffentlichkeit auf fruchtbaren Boden fielen und dazu führten, dass die britische

12 Die tirpitzsche Risikotheorie sieht vor, dass die deutsche Flotte gar nicht stark genug sein müsse, um die britische Marine vernichtend zu schlagen. Es würde ausreichen, wenn die deutsche Flotte der britischen Marine solch empfindliche Verlu-ste beibringen könnte, dass es für Großbritannien zu gefährlich wäre, in einem Kontinentalkrieg ge-gen Deutschland zu kämpfen (Ullrich 2007: 198).

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Regierung auch ihrerseits ihr Bautempo wieder erhöhte (Reinermann 2001: 358). Die von britischer Seite vorgebrachten Verhandlungsangebote, das Bautempo der Flotten zu verlangsamen und so den Boden für eine grundsätzlichere Annäherung der beiden Mächte zu schaffen, wurden von der deutschen Politik mehrfach zurückge-wiesen und vom Kaiser folgendermaßen kommentiert:

„Wenn England uns nur seine Hand in Gnaden zu reichen beabsichtigt unter dem Hinweis, wir müßten unsere Flot-te einschränken, so ist das eine boden-lose Unverschämtheit, die eine schwe-re Insulte für das Deutsche Volk und seinen Kaiser in sich schließt.“ (Kaiser Wilhelm II. 1908)

Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs gelang es nicht, sich mit Großbritannien zu verständigen. Jegliche Bündnisverhand-lungen scheiterten an dem deutschen Un-willen, seine Flottenrüstung zu begrenzen oder zu verlangsamen. War Reichskanzler Bethmann Hollweg durchaus zu Kompro-missen bereit – die außenpolitische Situ-ation war für das Deutsche Kaiserreich spätesten nach der zweiten Marokkokrise prekär – so weigerte sich Tirpitz auch nur ein wenig, Kompromissbereitschaft zu si-gnalisieren und ließ damit sämtliche Ver-handlungen scheitern (Hildebrand 1995: 275). Kaiser Wilhelm II., stark unterstützt durch den Kreis um Tirpitz, setzte seine unnachgiebige Haltung in Bezug auf die Flottenpolitik durch, war er doch in dem festen Glauben, mit seiner Schlachtflotte einen politischen und militärischen He-bel gegen Großbritannien in der Hand zu haben und das Deutsche Kaiserreich mit Hilfe der Flotte zur Weltmacht zu machen. Diese Alles-oder-Nichts-Politik litt von Anbeginn unter einem massiven Realitäts-

verlust (Ullrich 2007: 199), dennoch wurde sie bis in den Ersten Weltkrieg hinein wei-tergeführt. Sämtliche Versuche verschiede-ner deutscher Politiker, den Kaiser auf sei-ne Fehlannahmen aufmerksam zu machen, scheiterten und so wurde eine Annäherung zwischen dem Deutschen Kaiserreich und Großbritannien verhindert. Prestigesucht und Statusdenken verstellten den Blick für die durchaus mögliche Verständigung mit Großbritannien, die die deutsche Isolation und Einkreisung verhindern hätte können.

Fazit

Die deutsch-britischen Beziehungen in der Zeit des Wilhelminismus waren sehr am-bivalent. Gerade auf der familiären Ebene kam es in rascher Abfolge zu euphori-schen Ausrufen des Kaisers und Phasen mit dem Gefühl einer tiefen Demütigung. Besonders Kaiser Wilhelm II. war sehr an-fällig für übermäßige Ehrbekundungen, die ihm seiner Meinung nach als Kaiser auch zustanden, und Kränkungen, die ihn besonders hart trafen, weil sie nicht mit seiner Selbstwahrnehmung in Einklang zu bringen waren. Er vermerkte zwar positi-ve Erfahrungen, nahm sie aber dennoch als normal hin. Die negativen Vorfälle bezog er nicht nur persönlich auf sich, sondern er sah darin auch eine Erniedrigung des Deut-schen Kaiserreichs. Dies führte dazu, dass der Umgang mit diesen starken Gefühlen des Kaisers für seine Berater und Politiker zunehmend schwerer wurde; über weite Strecken seiner Amtszeit versuchte die po-litische Führung sich möglichst gegen sol-che Einflüsse abzuschirmen und den Kaiser vom außenpolitischen Tagesgeschäft fern zu halten.Auf der politischen Ebene ist das deutsch-britische Verhältnis nicht minder komplex, jedoch beruht es auf anderen Annahmen. Persönliche Kontakte, politische Fähigkei-

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ten und taktische Überlegungen bestimm-ten die Beziehungen; dies führte zu einer äußerst unsteten und inkonsequenten Po-litik, die im Nachhinein kaum zu entwirren oder zu verstehen ist. Es lassen sich jedoch einige Kontinuitäten nachweisen: die kon-sequent gegen Großbritannien gerichtete Flottenpolitik und die ständigen diploma-tischen Versuche, die Bündnisse gegen das Deutsche Kaiserreich aufzubrechen. In bei-den Fällen spielte das Sicherheitsinteresse des Deutschen Kaiserreichs eine Rolle, je-doch ist das Verhalten der politischen Ak-teure auch auf den Wunsch zurück zu füh-ren, als Weltmacht anerkannt zu werden und dementsprechend respektiert und ge-achtet zu werden; in beiden Fällen ist man sowohl an der Durchsetzung der eigenen Sicherheitsinteressen als auch an der Res-pektierung als Weltmacht gescheitert. Der deutsche Drang nach Anerkennung über-lagerte die rationalen Handlungsoptionen zum Teil stark und so wurden verschiedene Bündnisangebote wegen eines zu geringen Statusgewinns zurück gewiesen. Die Kom-promiss- und Kooperationsbereitschaft der deutschen Politik und des Kaisers war nicht in einem ausreichenden Maß vorhanden, die außenpolitische Situation konnte so nicht verbessert werden; stattdessen fühl-ten sich die verschiedensten Gruppen im-mer wieder gedemütigt, nicht ausreichend respektiert oder politisch übergangen und verhinderten so eine Einigung. Die Selbst-wahrnehmung des Kaisers, der politischen Führung und der Öffentlichkeit unterschied sich eklatant von der Fremdwahrnehmung. Es wurde vielfach davon ausgegangen, dass das Deutsche Kaiserreich bereits eine Welt-macht sei. Das britische Verhalten konnte dann nur als negativ wahrgenommen wer-den, weil die deutsche Selbstüberschätzung zu groß war. Das Erreichen eines Kompro-misses – und damit einer Stabilisierung der Situation – wurde zumindest phasenweise

von der Forderung, als Weltmacht respek-tiert und geachtet zu werden, überlagert. Besonders deutlich wird dies bei Verhand-lungen über Kolonialgebiete oder die Ab-sicherung von Wirtschaftsinteressen in Übersee. War man eigentlich zunächst mit dem Verhandlungsergebnis zufrieden, kippte die Stimmung rasch und man fühlte sich betrogen. Häufig folgte darauf eine ir-rationale Verschärfung des diplomatischen Tons oder der Politik, wie am Beispiel der Flotte gezeigt. Diese Ambivalenzen im Ver-halten lassen sich nicht auf einzelne Akteu-re zurück führen, sondern sind in der über-steigerten Selbstwahrnehmung zu suchen.Zwei besonders deutliche Beispiele für das deutsche Streben nach Status und Aner-kennung als Weltmacht sind die beiden Marokkokrisen. Das Deutsche Kaiserreich hatte keinerlei koloniale Interessen an Ma-rokko und dennoch mischte man sich in die Situation ein und trug so dazu bei, dass sich die außenpolitische Situation verschlech-terte. Von einem höheren Status oder aus-reichender Anerkennung war nach den diplomatischen Niederlagen nichts zu spü-ren. Das deutsche Verhalten wurde von den anderen europäischen Mächten oft nicht verstanden, weil es an Rationalität mangelte und kaum ein Ziel zu erkennen war.Wegen oder vielleicht sogar dank diesem unsteten und teilweise irrationalen politi-schen Handelns kam es jedoch auch immer wieder zu Phasen der politischen Annähe-rung zwischen dem Deutschen Kaiserreich und Großbritannien. Verwiesen sei hier zum Beispiel auf die deutsche Neutralität im Burenkrieg oder die zaghaften Versuche einer Entspannungspolitik mit Hilfe der Politik der kleinen Schritte unter Reichs-kanzler Bethmann Hollweg. Zwar führten Vorfälle im Burenkrieg zur Verschärfung der Flottenpolitik, doch die Neutralität si-cherte die zwar schleppend laufenden, aber

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durchaus abschlussfähigen Bündnisver-handlungen um die Jahrhundertwende. Die von Bethmann Hollweg eingeleitete Politik der kleinen Schritte war eindeutig eine Re-aktion auf die prekäre außenpolitische Lage des Deutschen Kaiserreichs, aber auch hier gab es die berechtigte Hoffnung auf eine Verständigung mit Großbritannien.Abschließend lässt sich sagen, dass das deutsch-britische Verhältnis weit davon entfernt war, sich in einer negativen Ab-wärtsspirale zu automatisieren. Der deut-sche Wunsch nach Anerkennung und Res-pekt zieht sich wie ein roter Faden durch die Politik, dieser wurde jedoch von Politiker zu Politiker und auch vom Kaiser ständig neu interpretiert. Die Chancen zur Verbes-serung der Beziehungen, die sich insbeson-dere vor Abschluss der Entente Cordiale eröffnet hatten, blieben jedoch ungenutzt. Die politische Selbstüberschätzung des Deutschen Kaiserreichs verstellte den Blick auf vorhandene Handlungsspielräume. Nachdem Großbritannien seine Politik der ‚Splendid Isolation‘ 1904 endgültig aufge-geben hatte, schwand der Handlungs- und Einigungsspielraum für das Deutsche Kai-serreich erheblich und eine Annäherung wurde immer unwahrscheinlicher.

Zur Autorin:

Lena Jaschob arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem DFG-Projekt „Res-pekt, Missachtung und die Bereitschaft zur internationalen Kooperation“ am Lehrstuhl von Prof. Reinhard Wolf an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie betreut eine Fallstudie zu den deutsch-britischen Beziehungen unter Kaiser Wilhelm II.Dieser Artikel wird im Rahmen einer Sachbei-hilfe für das DFG-Projekt „Respekt, Missachtung und die Bereitschaft zur internationalen Koope-ration“ (Geschäftszeichen WO 797/8-1) veröf-fentlicht.

Literatur

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Editorial BoardDr. Mala Pandurang (BMN College Mumbai)

Prof. Klaus Schlichte (Universität Bremen)Prof. RBJ Walker (Keele University and University of Victoria)

Prof. Dirk Wiemann (Universität Potsdam)

Board of ReviewersProf. Thorsten Bonacker (Universität Marburg)

Prof. Susanne Buckley-Zistel (Universität Marburg)Prof. Julia Eckert (Universität Bern)

Prof. Lars Eckstein (Universität Potsdam)Dr. Dietmar Fricke (Braunschweig)

Dr. Daria Isachenko (Universität Magdeburg)PD Dr. habil. Raj Kollmorgen (Universität Jena)

Dr. Jörg Meyer (Universität Hamburg)Dr. Mala Pandurang (BMN College Mumbai)Alexander Pistorius (Universität Magdeburg)

Prof. Klaus Schlichte (Universität Bremen)Prof. Anja Schwarz (Universität Potsdam)Dr. Alexander Veit (Universität Bielefeld)

Prof. Dirk Wiemann (Universität Potsdam)PD Dr. habil. Aram Ziai (Universität Hamburg)

Representations and Contexts versteht sich als interdisziplinärer Angelpunkt zwischen den Internationalen Be-ziehungen und den Kulturwissenschaften. Die bilinguale OpenAccess-Zeitschrift richtet sich an ein Publikum, das an innovativen, über die jeweiligen Disziplinen hinausgehenden Artikeln interessiert ist. Mit seiner inter-disziplinären und breit gefächerten Ausrichtung soll die Zeitschrift ein Forum für Diskussionen zu Entwicklun-gen in den Internationalen Beziehungen und den Kulturwissenschaften bieten und einen Raum für innovative, kritische und reflexive Ansätze und wissenschaftliche Kontroversen schaffen.Das thematische Spektrum der Aufsätze der Zeitschrift Representations and Contexts umfasst die gesamte Vielfalt der Arbeitsbereiche der Kulturwissenschaften und der Internationalen Beziehungen sowie vor allem deren Grenzen und Überschneidungen. Dementsprechend können Artikel der Bereiche Theorien der Inter-nationalen Beziehungen, Friedens- und Konfliktforschung, Nord-Süd-Beziehungen bzw. Entwicklungspolitik, internationale Kulturbeziehungen, Gender Studies, Postcolonial Studies, „Andere Moderne“ und Diaspora Stu-dies eingereicht werden.

Representations and Contexts would like to provide an interdisciplinary point of intersection between Inter-national Relations and Cultural Studies. The bilingual OpenAccess journal addresses a readership interested in innovative articles transcending the boundaries of their respective disciplines. Due to its interdisciplinary and broad orientation, the journal will provide a forum for the discussion of developments in International Relations as well as Cultural Studies and create a space for innovative, critical and reflexive approaches as well as scholarly controversy.The range of topics for the articles in the journal Representations and Context is meant to include the diversity of the fields explored in Cultural Studies and International Relations as well as, especially, their boundaries and points of intersection. Thus, articles can be submitted from various areas like Theories of International Rela-tions, Peace and Conflict Studies, North-South Relations and Development Policy, respectively, International Cultural Relations, Gender Studies, Postcolonial Studies, „Other Modernities“ or Diaspora Studies.


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