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Westfalen in der eisenzeit

Jürgen gaffrey, eva CiChy und Manuel zeiler

Grabwesen

Geburt und Tod, anfang und ende sind die wichtigsten ereig­

nisse für jede menschliche existenz. Da sie eintritt in und

ausscheiden aus der Gemeinschaft bedeuten, werden sie

nahezu überall und zu allen Zeiten von riten begleitet.

so wenig sich der säugling selbst Geburtsurkunde, beschnei­

dung oder Taufe aussucht, so wenig bestimmt der Verstorbe­

ne selbst darüber, wie nach dem Tod mit ihm verfahren wird.

auch wenn er seinen „letzten willen“ geäußert haben mag,

entscheiden doch die Hinterbliebenen darüber, ob dieser

auch respektiert wird. Gräber sind daher kein spiegel des

Lebens des Verstorbenen. sie sind in erster Linie ein spiegel

der lebenden Hinterbliebenen in ihren riten und normen im

Umgang mit dem Verstorbenen.

Von diesem spiegel sind aber gleichsam nur scherben über­

liefert, denn dem archäologen ist in den Grabfunden nur ein

kleiner, im boden über die Zeiten konservierter ausschnitt

dieser riten zugänglich. waschungen, aufbahrung, Gebete,

Klagelieder, Gedächtnisfeiern und vieles mehr mag es ge­

geben haben – es bleibt uns aber praktisch unzugänglich.

Asche zu Asche – Bestattungssitten

wenn die Gemeinschaft den Verstorbenen symbolisch ent­

lässt, kann das zum beispiel durch eine Veränderung des

(ursprünglichen?) Zustands des Leichnams ausgedrückt

werden. In nordwestdeutschland war es von der jüngeren

bronzezeit bis in die Völkerwanderungszeit allgemein üblich,

den Leichnam auf dem scheiterhaufen zu verbrennen.

bestattungen unverbrannter Körper wie in Petershagen­Ilse

(Kr. Minden­Lübbecke) ( seite 166 f.) oder in netphen­Deuz

(Kr. siegen­wittgenstein) ( seite 228 f.) haben keine Vorläu­

fer in der jeweiligen region. sie bleiben während der eisenzeit

vereinzelte ausnahmen, die zumindest mittelbar die ankunft

fremder Personen anzeigen.

Gräber – SpieGel der noch lebenden

bestattungsarten der eisenzeit. 1: Urnengrab; 2: Leichenbrandnest/Knochenlager; 3: brandschüttungsgrab; 4: brandgrubengrab.

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ausschnitt aus dem Originalplan des Quadratgrabenfriedhofs Heek­nienborg „wext“ von 1937.

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wie schon in der vorausgehenden jüngeren bronzezeit wird

während der frühen und mittleren eisenzeit der aus dem

scheiterhaufen ausgelesene, sorgfältig gereinigte Leichen­

brand in einer kleinen Grabgrube entweder in einer Urne

(aus Ton) oder in einem behältnis aus vergänglichem (organi­

schem) Material bestattet. In letzterem Fall sind in der regel

nur die brandreste als kompaktes „Leichenbrandnest“ bzw.

„Knochenlager“ überliefert. In der mittleren eisenzeit treten im

westlichen westfalen zunehmend brandschüttungsgräber in

erscheinung. bei diesen wird der ausgelesene Leichenbrand

ebenfalls in einer Urne oder als Knochenlager bestattet, in

die Grabgrube wird jedoch zusätzlich scheiterhaufenasche

gefüllt. In Ostwestfalen bildet das flächendeckende aufkom­

men von brandschüttungsgräbern und brandgruben zu

beginn der späten eisenzeit eine markante Zäsur. nicht uner­

wähnt bleiben soll, dass brandschüttungsgräber in gerin ge­

rem Umfang auch schon vor der mittleren eisenzeit auftreten,

was vielleicht als Hinweis auf Zuwanderung einzelner oder

kleiner Gruppen zu sehen ist. so fällt zum beispiel bei einem

für die region völlig ungewöhnlichen früheisenzeitlichen

brandschüttungsgrab des Friedhofs Minden­Päpinghausen

„specken“, Grab F 24 (Kr. Minden­Lübbecke) auf, dass die

Urne auf der schulter mit einem flächigen Dekor aus einge­

glätteten rillen verziert ist, wie es sonst in Mittel­ und Ost­

deutschland geläufig ist.

In südwestfalen bleiben Urnen und Knochenlager bis zum

ende der eisenzeit vorherrschend. beispielhaft hierfür ist die

Hunderte Jahre genutzte nekropole netphen­Deuz (Kr. sie­

gen­wittgenstein) ( seite 228 f.). Insgesamt überwiegen

einzelbestattungen bei weitem, vereinzelt lassen sich bei

der anthropologischen analyse des Leichenbrandes aber

Doppelbestattungen nachweisen, bei denen die Leichen­

brände zweier Personen gemeinsam beigesetzt wurden.

In der nördlichen Hälfte von westfalen kommt es um 300 v.

Chr., wohl unter ostkeltischem einfluss, zu einem neuen Phä­

nomen in der bestattungssitte. statt der beisetzung des ge­

reinigten Leichenbrandes wird nun oft ein Teil des Leichen­

Urne mit beigefäß aus dem früheisenzeitlichen brandschüttungsgrab F 24 in Minden­Päpinghausen „specken“.

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brandes regellos zusammen mit resten des scheiterhaufens

in eine Grube gefüllt (brandgrubengrab). Möglicherweise

steht jetzt weniger die beerdigung als vielmehr die Verbren­

nung selbst im Mittelpunkt des Totenritus. neben brandgru­

bengräbern bleiben brandschüttungsgräber aber weiterhin

üblich. beide Grabformen sind in Ostwestfalen typisch für die

späte eisenzeit, sie kommen aber regional und zeitlich unter­

schiedlich häufig vor. Ihre anteile auf den Friedhöfen – nicht

etwa eine Kartierung der einzelnen Grabformen wie es die

ältere Forschung versuchte – helfen, regionale Gruppen zu

unterscheiden. so überwiegen zum beispiel in der eilshauser

Gruppe bei weitem die brandgrubengräber, in der Oberems­

gruppe dagegen brandschüttungsgräber ( seite 35 ff.).

bemerkenswert ist, dass die brandschüttungs­ und vor allem

brandgrubengräber oft viel weniger Leichenbrand enthalten,

als üblicherweise zu der Zeit nach einer Verbrennung auf dem

scheiterhaufen zu erwarten wäre (ca. 1,2–3 kg). Im brand­

grubenfriedhof von Petershagen­Lahde (Kr. Minden­Lübbe­

cke) enthalten über 50 % der brandgrubengräber weniger als

40 g Leichenbrand, oft noch viel weniger. an erklärungsversu­

chen für dieses Phänomen hat es nicht gemangelt. so wurde

erwogen, ob die reste einer Leichenverbrennung auf mehre ­

re Gruben verteilt worden sein könnten. In der Tat findet sich

hierfür ein beleg in westerkappeln (Kr. steinfurt) ( seite

213). Die beiden Grabgruben in westerkappeln sind sichtlich

aufeinander bezogen. allerdings dürfte es sich kaum um ei­

nen regelfall handeln, der auch ohne entsprechenden Lage­

bezug übertragen werden kann. sonst hätte man vielleicht

häufiger bruchstücke derselben beigabe (zum beispiel von

Keramik oder Trachtbestandteilen) auf mehrere Gruben ver­

teilt gefunden. auch bei der anthropologischen Untersuchung

der Leichenbrände hätten sich zumindest gelegentlich

anhaltspunkte ergeben müssen.

ein anderes erklärungsmodell sieht in den brandgrubengrä­

bern scheiterhaufenreste, aus denen der Leichenbrand

schon mehr oder weniger sorgfältig ausgelesen wurde. wo

dieser bestattet wurde, ob am Ort – zum beispiel direkt auf

der alten Oberfläche – oder anderswo, bleibt offen. einen

(ersten) Hinweis könnte hier ein Knochenlager aus der spät­

eisenzeitlichen siedlung von Minden­Päpinghausen (Kr. Min­

den­Lübbecke) geben, das über eine 14C­analyse in das

3. Jahrhundert v. Chr. datiert wurde. Zumindest in diesem Fall

wurde der Leichenbrand letztlich in die siedlung mitgenom­

men, während die scheiterhaufenreste auf dem Friedhof

geblieben sein dürften.

Sonderbare Praktiken – Sonderbestattungen?

Unverbrannte menschliche Knochen eisenzeitlichen alters

wurden in sauerländischen Höhlen zusammen mit asche,

verkohltem Getreide und Gefäßscherben gefunden. Ging die

ältere Forschung noch davon aus, dass es sich bei den Höh­

lenfunden um Opfer handele, gilt heute die Deutung als be­

stattungsplätze im weiteren sinne als wahrscheinlicher (

seite 195 ff.). bemerkenswert ist, dass seit der älteren eisen­

zeit keine vollständigen skelette, sondern nur skelettteile in

die Höhlen gebracht wurden. Möglicherweise sind die Toten

zunächst an einem anderen Ort bestattet worden und erst

nach ihrer skelettierung wurden Teile der Gebeine in den Höh­

len niedergelegt. Dies klingt aus heutiger sicht ungewöhnlich.

allerdings ist für die eisenzeit des keltischen Kulturraums

vielfach nachgewiesen, dass ebensolche Praktiken vollzogen

wurden.

auch im Umfeld von Gewässern wurden einzelne Gebeine an­

getroffen. so soll in der aue des Körnebachs bei Kamen (Kr.

Unna) unter einem importierten Dolch mit prunkvollem bron­

zegriff das schädeldach eines Kindes gelegen haben, welches

über eine 14C­analyse in die frühe eisenzeit datiert werden

konnte ( seite 175). ein weiterer, ebenso in die frühe eisen­

zeit datierter schädel eines 20–30 Jahre alten Mannes

stammt aus der seseke bei Kamen­westick (Kr. Unna). eisen­

zeitliche skelettreste sind auch aus anderen Gewässern be­

kannt, etwa aus der emscher bei Castrop­rauxel­Ickern (Kr.

recklinghausen) sowie der ems bei emsdetten (Kr. steinfurt)

und warendorf­neuwarendorf (Kr. warendorf). auf dem

Mooropferplatz in Hille­Unterlübbe (Kr. Minden­Lübbecke)

( seite 188) wurden ebenfalls einzelne unverbrannte Men­

schenknochen festgestellt. Liegt hier auch der Gedanke an

Opferhandlungen nahe, so bleiben uns doch die Hintergründe

dieser Funde letztendlich verschlossen.

Urnen – mehr als Totenbehältnisse?

als Urnen dienen in der regel größere Tongefäße. Manchmal

wird aber auch eine zeitlich oder regional typische auswahl

von Gefäßen erkennbar, die möglicherweise nicht zufällig

und absichtslos ist, sondern symbolische Hintergründe und

Lebenskonzepte ausdrücken sollte.

während der frühen und mittleren eisenzeit werden in der

westfälischen bucht und in Ostwestfalen häufig geraute,

fassförmige Vorratsgefäße als Urnen ausgewählt. Da es sich

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eiserne Lanzenspitze und Lanzenschuh aus den brandgrubengräbern

F 14 und F 11 in bielefeld­Jöllenbeck.

hierbei wahrscheinlich um Vorratsgefäße für Getreide handelt

und zu dieser Zeit in anderen regionen miniaturisierte Getrei­

despeicher als Urnen aufkommen, liegt die Vermutung nahe,

dass hier der menschliche Tod symbolisch mit dem neues

Leben schaffenden saatgut des Getreides gleichgesetzt

wurde. entsprechendes ist nicht nur uns (Joh. 12, 24: „wahr­

lich, wahrlich ich sage euch: es sei denn, dass das weizen­

korn in die erde falle und ersterbe, so bleibt‘s allein; wo es

aber erstirbt, so bringt es viele Früchte“), sondern weltweit

vielen Gesellschaften vertraut, deren Lebensgrundlage der

Getreideanbau bildet.

Kostbare, aus bronzeblech getriebene Gefäße, wie die an der

wende von der bronze zur eisenzeit entstandene amphore

von Gevelinghausen ( seite 57 f.) sowie zylindri sche ge­

rippte oder konische glattwandige eimer ( seite 209) der

mittleren eisenzeit, dienten in ihren südlichen Herkunftsregi­

onen als behälter für rauschgetränke bei festlichen Trinkge­

lagen. In westfalen sind sie durchweg importiert, sehr selten

und wurden hier zuletzt als Urnen verwendet. wie vielfache

reparaturen zeigen, wurden diese Gefäße über weite stre­

cken von Hand zu Hand weitergegeben und oft lange verwen­

det. sie hatten so eine eigene bewegte Geschich te und waren

in nordwestdeutschland wohl mindestens ebenso kostbar

wie in ihren südlichen Herkunftsregionen. nur wenige wurden

in einem solchen Gefäß beigesetzt, mit dem wohl nicht allein

die Hoffnung auf ein Fest im Jenseits, sondern auch reich­

tum und ansehen der bestattenden Familie ausgedrückt wer­

den sollte.

In der späten eisenzeit und Übergangszeit kommen nach

elbgermanischem brauch pokalartige Tonsitulen als Leichen­

brandbehälter auf, die wegen des kleineren Fassungsvermö­

gens vielleicht Trinkgefäße für einzelne Personen waren. aus

dem Mittelrheingebiet und der wetterau strahlt in der späten

eisenzeit nach südwestfalen die sitte aus, den Leichenbrand

in schüsseln zu bestatten, die im Leben als essgeschirr ge­

dient haben könnten.

Grabbeigaben – Gaben oder der Rest vom Fest?

Größere Grabbeigaben sind während der frühen bis mittleren

eisenzeit unüblich. In der frühen eisenzeit fügt man dem

sorgfältig ausgelesenen Leichenbrand gelegentlich eine un­

verbrannte nadel oder ein kleines Tongefäß hinzu. seit der

mittleren eisenzeit werden Trachtgegenstände und schmuck

zunehmend auf dem scheiterhaufen mitverbrannt und gelan­

gen in seltenen Fällen als bruchstücke bzw. schmelzreste in

Urnen und Knochenlager. Ob auf dem scheiterhaufen eine rei­

chere ausstattung verbrannt und nur nicht ausgelesen wurde,

wissen wir nicht. erst als brandschüttungs­ und brandgru­

bengräber in weiten Teilen westfalens während der mittleren

eisenzeit einzug halten und die scheiterhaufenreste mit in

die Grabgrube gegeben werden, wird eine größere Fülle von

beigaben erkennbar: Keramikgefäße, Fibeln, ringschmuck,

Glasperlen, bisweilen sogar wagenbestandteile wie Ösen­

stifte ( seite 168 f.). waffen bleiben jedoch seltenste aus­

nahmen, allein aus bielefeld­Jöllenbeck sind brandgruben

mit Lanzenspitze und ­endbeschlag (sogenannter Lanzen­

schuh) bekannt. anders als zuvor sind diese beigaben

meist nur in einzelnen Fragmenten vorhanden, angebrannt,

durchgeglüht oder bis zur Unkenntlichkeit verschmolzen.

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Dass man in nordwestdeutschland gerade die Gräber von Frauen in fortgeschrittenem alter am

reichsten mit beigaben ausstattete, wurde für die späte bronze­ und frühe eisenzeit schon vor

Längerem herausgearbeitet, bestätigte sich unlängst bei der Untersuchung der Leichenbrände

des Friedhofs von Harsewinkel (Kr. Gütersloh) auch für die jüngeren Phasen der eisenzeit (

seite 211 f.) und könnte auch für das reiche Frauengrab von Hiddenhausen­eilshausen (Kr. Her­

ford) ( seite 58 und 210) zutreffen, sofern die anthropologische bestimmung dieses unter­

mauert. Die Mehrheit der Gräber enthält aber bis auf den Leichenbrand und – wenn überhaupt –

der Urne, weiterhin so gut wie nichts.

Grabbauten – Erinnerungsorte in der Landschaft

schon seit dem endneolithikum sind Hügel mit Kreisgräben und Pfostensetzungen bekannt. In

der jüngeren bronzezeit sind in der westfälischen bucht, vereinzelt auch bis an die weser man­

nigfaltige Grabeinhegungen, insbesondere Gräben in schlüssellochform verbreitet. In der eisen­

Hiddenhausen­eilshausen: auswahl von beigaben aus dem reich ausgestatteten Frauengrab F 1250. 1–2: Drahtfi­

beln vom Mittellatèneschema; 3: bügelplattenfibel; 4: reparierter Gürtelhaken; 5: Hängebrosche vom „Typ babilonie“;

6: segelohrring mit hellblauer Glasperle.

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zeit erscheinen weiterhin Kreisgräben, oft mit einer Öffnung

nach südosten. Typisch für das westliche Münsterland und

die Tecklenburger region sind rechteckgräben, die sich oft

wie kleine Parzellen aneinander schließen ( seite 206 ff.).

Unabhängig davon erscheinen in der späten eisenzeit in

südwestfalen rechteckige Grabeinfriedungen mit Trocken­

mauern (Grabgärten) ( seite 203 f.). Hier handelt es sich

offensichtlich um einflüsse aus der wetterau und dem

Lahngebiet, wo solche rechteckigen Grabgärten verbreitet

sind.

bei den Kreis­ oder rechteckgräben westfalens ist damit zu

rechnen, dass der Grabenaushub dazu verwendet wurde, Hü­

gel über den beisetzungen aufzuwerfen. neben dieser durch­

aus praktischen Funktion dürften die Gräben aber vor allem

eine rituelle oder rechtliche Grenze der Gräber markiert ha­

ben: sie trennten, ebenso wie die Mauern der Grabgärten, die

welt der Lebenden von der der Toten.

In unbeackertem wald­ oder wiesengelände hat sich noch

eine größere Zahl von eisenzeitlichen Hügelgräbern erhalten.

Für die frühe bis mittlere eisenzeit nordostwestfalens sind

sogenannte Familienhügel charakteristisch, in denen meh­

rere Gräber in der Hügelschüttung verteilt sind, deren beiset­

zungsart oder ausstattung keine sozialen Unterschiede der

bestatteten erkennen lässt.

Überall dort, wo ein über viele Generationen sichtbares Grab­

monument errichtet wurde, muss davon ausgegangen wer­

den, dass hier die fortdauernde Präsenz der Toten im Ge­

dächtnis der Lebenden als wichtig erachtet wurde. Gräber von

ahnen – und seien es nur fiktive – könnten besitzansprüche

auf Land untermauert haben. Hügelgräber waren so bedeut­

sam, dass selbst viel ältere Monumente des endneolithikums

oder der mittleren bronzezeit zu einem Kristallisationspunkt

für die anlage eines neuen, jungbronze­ oder eisenzeitlichen

Friedhofs werden konnten ( seite 214 f.).

Nekropolen – Städte der Toten

Im Gegensatz zu den meisten siedlungen, die zumeist aus

kleinen Gehöften und möglicherweise auch nur über wenige

Generationen bestanden, konnten Friedhöfe erheblich länger

belegt werden. wenn bereits eine kleine Gemeinschaft von

Lebenden über mehr als ein Jahrtausend standorttreu einen

bestattungsplatz nutzte, entstand eine große und viele Hun­

derte von Gräbern umfassende nekropole, im wörtlichen sinn

eine Totenstadt.

bestattungssitten auf dem Gräberfeld Petershagen­Ovenstädt.

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wie bei einer stadt der Lebenden können die Dauer, Größe,

Topografie und entwicklung einer nekropole viel über histo­

rische und soziale Prozesse verraten.

Die eisenzeitlichen Gräberfelder westfalens sind aber bislang

dahingehend kaum systematisch untersucht. Dies mag vor

allem daran liegen, dass viele lediglich in kleinen, zufälligen

ausschnitten bekannt wurden und nur wenige umfassend

publiziert sind.

so können im Folgenden nur einige häufig wiederkehrende

Phänomene benannt werden. In der nördlichen Hälfte west­

falens sind einige Gräberfelder über erstaunlich lange Zeit,

zum Teil über mindestens ein Jahrtausend belegt, wogegen

beispielsweise einzelgräber neben einem einphasigen Gehöft

oder lediglich einphasige Gräberfelder deutlich seltener sind.

Innerhalb der großen nekropolen ist durch die Zeit hindurch

häufig eine räumliche Verlagerung des bestattungsareals –

eine sogenannte Horizontalstratigrafie – erkennbar, wofür

das Gräberfeld von warendorf­neuwarendorf (Kr. warendorf)

ein gutes beispiel bietet ( seite 216 f.).

Der Friedhof von warendorf ist auch insofern topografisch in­

teressant, als er von einem alten weg durchquert wird. einer­

seits gruppieren sich die Gräber längs des weges, anderer­

seits gliedert er das Gräberfeld auch, da sich die jüngsten

Gräber nur südlich des weges finden. In anderen Fällen war

offenbar das Geländerelief für die wahl und die entwicklung

des bestattungsplatzes ausschlaggebend. so wurden in

westerkappeln (Kr. steinfurt) ( seite 213) zunächst die

höchsten und damit weithin sichtbaren bereiche belegt,

während die jüngeren bestattungen in den noch freien räu­

men zunehmend tiefer am Hang angelegt wurden.

bemerkenswert ist, dass sich gelegentlich in einem Gräber­

feld mehrere bestattungen zu kleineren Gruppen zusammen­

schließen, wie es zum beispiel am Gräberfeld von erndte­

brück­birkefehl (Kr. siegen­wittgenstein) zu erkennen ist (

seite 226 f.). Gerne möchte man hierin Familien im weitesten

sinne, Haus­ oder Hofgemeinschaften erkennen, doch sind

auch andere Möglichkeiten denkbar und es mangelt meist an

anthropologischen auswertungen, die die Palette der Mög­

lichkeiten einschränken könnten. Von besonderer bedeutung

ist hier der Friedhof von Petershagen­Ovenstädt (Kr. Minden­

Lübbecke), wo sich die bestattungen nach unterschiedlichen

kulturellen Traditionen gruppieren. Die eine Gruppe (a) wurde

in verzierten Gefäßen bestattet, die für die nienburger

Gruppe des nordwestdeutschen Tieflandes charakteristisch

sind. eine andere Gruppe (b) bestattete man hingegen in

unverzierten Gefäßen, wie man sie auch im ravensberger

Hügelland antrifft. In dem archäologisch und anthropologisch

exzellent untersuchten Friedhof von Harsewinkel (Kr. Güters­

loh) zeigte sich, dass Kinder in kleinen Gruppen bestattet

wurden ( seite 211 f.).

wie auf den vorigen seiten skizziert, bieten die Gräber beson­

ders vielfältige Untersuchungsmöglichkeiten und es stellen

sich komplexe Fragen. Die antworten werden kaum je eindeu­

tig sein, sondern lassen sich oft nur grob eingrenzen, wobei

mehrere nebeneinander bestehen bleiben können. Doch sind

die Gräber wohl für viele archäologen ein bevorzugtes For­

schungsfeld, weil sie vielleicht den unmittelbarsten Zugang

zum eisenzeitlichen Menschen bieten.

Daniel Bérenger / Jürgen Gaffrey / Bernhard Sicherl / Manuel

Zeiler

Literatur: bérenger 1989; bérenger 2000a; bérenger 2000c; Jockenhövel 1995;

rüschoff­Thale 2004; scheelen 2013.

westerkappeln „Im Paradies“: Viereckgräben im nördlichen Teil des

Gräberfeldes.

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