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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature „Die den Schrecken des Krieges kennen“
Günter Stüttgen und das ,Wunder vom Hürtgenwald'
Von Thomas Böhm
Redaktion: Tina Klopp
Produktion: Dlf 2019 Erstsendung: Freitag, 29.11. 2019, 20:10 Uhr Regie: Claudia Kattanek Es sprachen: Anke Zillich und Tom Jacobs Ton und Technik: Daniel Dietmann und Oliver Dannert
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© - unkorrigiertes Exemplar -
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1. Atmosphäre: Wannsee
2. O-Ton
Kopetzky: Ich sehe eine Bürgerkrieg-Situation. Ich sehe Menschen, die sich
durch nichts unterscheiden, außer durch ein Stück Stoff. Oder
durch ein Abzeichen. Die gleichermaßen verletzt sind. Von den
gleichen Waffen, auf die gleiche Weise... sind alles menschliche
Körper ... verletzt sind. Und die eine Gruppe von Menschen
geworden sind. Also dieses Lazarett hat sie zu Brüdern im
Schmerz gemacht. Und zeigt damit aber auch, dass eigentlich
jeder Krieg ein Bürgerkrieg ist. Der Mensch gegen den
Menschen... kann eigentlich gar keine Gegnerschaft darstellen.
Es gibt in der Politik Differenzen... Aber was hier geschehen ist,
ist eben ein Erkenntnismoment. Deswegen ist es auch so wichtig,
die Erinnerung daran aufrecht zu erhalten.
3. Ansage: Die den Schrecken des Krieges kennen
Günter Stüttgen und das „Wunder vom Hürtgenwald“
Feature von Thomas Böhm
4. Atmosphäre Wannsee
5. O- Ton
Kopetzky: Es war eigentlich so, dass ich auf der Suche war nach einem
Stoff über dem Zweiten Weltkrieg...
6. Sprecherin: August 2019. Der Schriftsteller Steffen Kopetzky ist nach
Berlin gekommen, um seinen neuen Roman
„Propaganda“ vorzustellen.
7. Atmosphäre Wannsee
8. O-Ton Kopetzky: und nicht recht wusste, wo ich anfangen sollte.
Dann habe ich einen Bekannten getroffen, einen ehemaligen
Bundeswehrsoldaten und Historiker. Und wir kamen so ins
Gespräch über militärische Leistungen und Besonderheiten und
herausragende Schlachten und so.
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9. Sprecherin: Kopetzky ist bekannt für seine Romane, die gründlich recherchierte
historische Ereignisse in Kontexte der Gegenwart stellen.
So erzählt er in seinem Buch „Risiko“, wie der deutsche Arabist Max von Oppenheim
im Ersten Weltkrieg einen Plan entwarf, um den Krieg für Deutschland zu gewinnen:
indem er die muslimischen Gruppen in den Kolonien der Briten und Franzosen zum
Heiligen Krieg aufstacheln wollte.
10. O-Ton Kopetzky: Dann kamen wir so ins Gespräch, und es ging eben um das
Problem, das die Vereinten Nationen oder die westlichen
Alliierten in Afghanistan haben, mit den paschtunischen
Talibanmilizen klarzukommen, die ihnen immer wieder
Niederlagen zufügen, die sie immer wieder in die Falle führen,
die ihnen immer wieder ein Schnäppchen schlagen.
11. Sprecherin: Als Ort für das Gespräch über seinen neuen Roman hat
Kopetzky das Literarische Colloquium am Wannsee
vorgeschlagen. Von hier aus blickt man auf die American
Academy, einen der vielen Orte, die die Amerikaner nach dem
Krieg in Berlin gestiftet haben – als Teil des kulturellen
Wiederaufbaus.
12.O-Ton Kopetzky: Und so kamen wir dann auf die Hürtgenwaldschlachten von
denen er mir erzählt hat. Das ist ein Stoff, der an jeder
Militärakademie der Welt gelehrt wird. Da geht es um
Verteidigungskampf, um den Aufbau von Verteidigungsstrukturen,
um Kommunikation, um Disziplin, um eine bestimmte Form von
Variationen im Abwehrkampf. Und da sind eben die
Hürtgenwaldschlachten herausragend. Die lernt man von
Pakistan bis Amerika... werden die durchgenommen bei den
Offizieren. Und dann habe ich gesagt: O.k., damit beschäftige ich
mich.
13. Atmosphäre Museum Hürtgenwald
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14. O-Ton Heckmann: Wenn Sie einen amerikanischen Veteranen im Gespräch
haben ... aber Sie werden nie mehr einen haben, genau wie ich...
15. Sprecherin: Dieter Heckmann betreibt zusammen mit 15 anderen
ehrenamtlichen Helfern das Museum Hürtgenwald in Vossenack.
16. O-Ton Heckmann: …. dann sag ich Ihnen mal, was sie mir gesagt haben. Die
ersten habe ich in den neunziger Jahren gesprochen. Ein
amerikanischer Veteran fragte mich: „Warum sagen sie immer
Huertgen Forest“?
Dann sagte ich: „Sie sind gut – das ist doch ihre Sprache.“
Sagt er: „Wir haben das nicht so genannt.“
Da wurde ich aufmerksam, auf sowas reagiere ich schnell, ganz
konzentriert. Ich sage: „Wer ist wir?“ Das tue ich bewusst, um
den Gesprächspartner zu öffnen.
„Meine Kameraden und ich. Wir nannten es anders. Wir nannten
es Dead Factory.“ Das habe ich mehrfach gehört.
Ich hab erst gedacht, das ist die Meinung eines Einzelnen. Nein.
Nach einigen Treffen, habe ich sie wieder gehabt, völlig andere
amerikanische ehemalige Soldaten... „Dead factory“.
17. Sprecherin: Steffen Kopetzky schildert in seinem Roman „Propaganda“ die
Ereignisse aus der Perspektive eines Erzählers namens John
Glueck. Glueck ist Leutnant der Abteilung für psychologische
Kriegsführung. Sein Großvater stammt aus Köln - jener Stadt, die
das Ziel des alliierten Vormarsches ist, der im Oktober 1944 in
der Eifel zum Stillstand kommt.
Glueck ist dabei, als die Soldaten der 28. Division in den
Hürtgenwald kommen; junge Männer, in drei Monaten zu
Soldaten ausgebildet. Viele von ihnen stammen aus
Pennsylvania, haben – wie Glueck – deutsche, mithin rheinland-
pfälzische Wurzeln, was auch in ihrer Sprache zum Ausdruck
kommt.
Kopetzky zeigt, wie ihnen der Kriegseinsatz zunächst wie ein
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großes Abenteuer erscheint. Kaum angekommen, durchsuchen
sie gefallene deutsche Soldaten nach Orden, um diese als
Erinnerungsstücke mitzubringen.
18. Vorleser:
Wir liefen etwa zwanzig Minuten, dann entdeckten wir
den unter zerfetzten Bäumen und auf herausgebombten
Schneisen liegenden Abschnitt des Schlachtfelds. Es war
schon merklich dunkel.
Was hier vor wenigen Tagen geschehen war, ü̈berstieg
damals noch unsere Vorstellungskraft. Was Granaten
anrichteten, die hundert Jahre alte Fichten zu einem
Splitterregen zerfetzten, der alles niedermähte, was sich unter
ihm aufhielt. Die Panik, die Baumscharfschützen auslösen
können oder sorgsam angelegte Tretminenfelder. Und
schließlich der Kampf Mann gegen Mann, im dichten Unterholz,
in einem grotesk unübersichtlichen Kleingebirge.
Wer sich hier auskannte, war immer im Vorteil. Dies war
der Hürtgenwald. Ein grimmer deutscher Wald. Und es waren
die letzten, aber auch die kampferfahrensten Truppen
der Wehrmacht, die ihn gegen uns verteidigten.
Ich folgte zwei unbekümmerten Privates, die wie alte
Freunde wirkten. Sie hatten die Karabiner hinten umgeschnallt
und liefen umher wie Kinder, die Schnecken oder
Pilze sammeln. Nachdem sie schon das eine oder andere
vom Boden aufgelesen hatten, wurden sie plötzlich richtig
fündig.
Der schlammige, halbgefrorene Waldboden leistete einigen
Widerstand, und so zerrten sie mit vereinten Kräften
an etwas, das sie als Arm eines Angehörigen der deutschen
Wehrmacht ausgemacht hatten. Schwer zu sagen, wie der
Landser getötet worden war. Die Ketten eines schweren
Fahrzeugs, vielleicht eines Sherman-Panzers, hatten ihn
in der von Granat- und Mörsereinschlägen aufgewühlten
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Schneise tief in den Boden gedrückt.
Ich kann mich gut an die Namen der beiden Pennsylvanier
erinnern: Kirschfang und Showalter. Kirschfang stand
über den Toten gebeugt und zerrte zusammen mit seinem
Kameraden am nassgrauen Mantelstoff des linken Oberarms.
Er bekam die eiskalte, schlammüberzogene Hand des
Gefallenen zu fassen, berührte ihre schreckliche Teigigkeit,
dann packte er sie und zog, so fest er konnte. Mit einem
tiefen Seufzen gab die Erde den Brustkorb frei. Sie drehten
den Leichnam auf den Rücken. Der Arm des Landsers fiel
mit einem satten Schmatzen in den Schlamm. Kirschfang
zog keuchend eine Taschenlampe hervor. Ihr Lichtschein
huschte für einen kurzen Moment über das von einem
Stahlhelm bedeckte Haupt des Deutschen, und wir sahen
sein Gesicht. Oder was davon halt so übrig war.
Unterhalb der Nase war das meiste weg, kein Kiefer
mehr da, ein paar Zähne standen im hautlosen Knochenfleisch
heraus. Der Tote sah aus wie Red Skull persönlich.
Ein Schaudern überlief uns.
(...)
«Jessas Maria, was für ei Muckadatsch hätt dem die Fress
poliert», murmelte er, während er systematisch mit seinem
Messer einen Knopf nach dem anderen vom Mantel schnitt.
Wehrmachts-Uniformknöpfe wurden gesammelt.
Hätte ich dem allen nicht selber beigewohnt, ich hätte es
nicht für möglich gehalten. Ich war entsetzt und gebannt
gleichermaßen. Dies war tatsächlich der Ort, nach dem
Hemingway und ich gesucht hatten. Ich war angekommen.
19. Sprecherin: Wie in Kopetzkys Roman dargestellt, war auch Ernest
Hemingway in den Hürtgenwald gekommen. Der – so Kopetzky –
das eigene Erleben als Grundlage seiner Bücher brauchte.
20.Atmosphäre Wannsee
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21. O-Ton
Kopetzky: Er wollte eigentlich das amerikanische „Krieg und
Frieden“ schreiben. Und er suchte nach dem großen Fisch des
Zweiten Weltkrieges, den er würde beschreiben können. Und
tatsächlich wurde er dann aufmerksam auf das Geschehen
zuerst in der Schneifel, dann im Hürtgenwald. (...) Was er dort
aber gesehen hat, war die Death Factory, die Todesfabrik. Ein
Ort, an dem amerikanischen Soldaten verheizt wurden ohne
Gnade, ohne Rücksicht. Einer demokratischen Armee komplett
unwürdig. Und das, was er da gesehen hat, war für ihn letztlich
so unbeschreiblich, dass er dafür nur ein paar Märchen-
Metaphern gefunden hat. In seinem Roman „Durch die Wälder
und an den Fluss“ – gemeint ist natürlich durch den Hürtgenwald
und an den Rhein – schreibt er eben: „Und im Wald da sind die
Drachen.“ Damit meinte er natürlich die Wehrmacht. Die war den
jungen GIs, die da rein kamen, so unheimlich, so unverständlich...
Wie die das eigentlich machen, mit so einer
Materialunterlegenheit und nach vier Jahren Krieg dann immer
noch so eine Kampfkraft zu entwickeln, dass da bloß noch
Metaphern übrig geblieben sind. Er selber konnte dieses
Geschehen nicht beschreiben. Und er konnte nicht beschreiben,
was dahinter steckt. Das war ein neues Zeitalter, und für dieses
Zeitalter war Hemingway nicht mehr der richtige.
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22. Sprecherin: Die Kämpfe in der Eifel wurden zu der verlustreichsten Schlacht,
die amerikanischen Truppen im 2. Weltkrieg austrugen.
Sie waren nicht mit dem Terrain vertraut, rechneten nicht dem
Widerstand der Wehrmachtssoldaten, die – wie es der deutsche
Wehrmachtsoffizier Paul Brückner, der an der Schlacht beteiligt
war, es ausdrückte –, in dem Glauben handelten, „die Heimat
verteidigen zu müssen“.
Eine weitere Ursache für die Verluste der Amerikaner lag in der
Führungsstruktur, die der deutschen unterlegen war.
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23. O-Ton Kopetzky: Das Führungstheorem bei der Wehrmacht, da war es
eben so: der Offizier führt von vorne. D.h. er geht mit der
Mannschaft ins Gefecht und sieht dann jeweils, was geschieht,
und ist in der Lage, zu reagieren. Man nennt das „Führung durch
Auftrag“. Während bei den Amerikanern „Führung durch
Befehl“ war. Das sind eigentlich die beiden großen Konzepte, die
dagegen einander standen. (...) Bei den Amerikanern hieß es:
gehen Sie auf dem Weg XY diesen Hügel hoch.. Wenn der Weg
aber verstellt war, hatte er keine Alternative. Musste also den
Befehl ausführen, der irgendwo weit weg von einem General
oder von einem Oberst erlassen worden ist, der die Situation
zum Teil gar nicht kannte. Also die Führung bei den Amerikanern
war zum Teil blind (...) und deshalb kam diese Katastrophe im
Hürtgenwald zu Stande.
24. Sprecherin: Am 2. November 1944 beginnt die Allerseelenschlacht in den
engen, bewaldeten Tälern der Eifel, entlang der Flusses Kall.
Die Frontlinie wechselt ständig, bald ist der Wald übersät mit
Verletzen und Leichen. John Glueck bietet sich ein entsetzlicher
Anblick:
25. Vorleser: Was sich uns dann, als wir schließlich das Kampfgebiet der
Schlacht um die Kallbrücke herum betreten konnten, langsam
zeigte, war aufwühlend und todtraurig zugleich. Die
schwere Artillerie beider Seiten hatte hineingeschossen,
Panzer, Panzerabwehrkanonen, Panzerfäuste, Bazookas,
Maschinengewehre, Handgranaten, Gewehre, Pistolen waren
abgefeuert worden. Schließlich der Kampf Mann gegen
Mann, mit dem Messer. Mit bloßen Händen. Jeder hatte
gekämpft, umgeben von Nacht, Waldnebel, Ruß, Rauch,
den dampfenden Gedärmen und abgerissenen Gliedmaßen
gefallener Kameraden. Jeder für sich allein. Wurde verletzt,
blieb liegen. Und begann, nach Hilfe zu rufen, so gut er
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noch konnte. Help me!, klagten die Bergarbeiter aus Centralia
und Hilfe, bitte, die Grundschullehrer aus Düren. Als
die Sonne aufging, zeigte sich das ganze Ausmaß des
Schreckens, die unzähligen Verwundeten und Verletzten – jeder
einzelne ein Bild des Jammers.
26. Sprecherin: In dieser Situation vollzieht sich das, was amerikanische
Militärhistoriker „Das Wunder vom Hürtgenwald“ nennen. In
dessen Mittelpunkt steht ein 25jähriger, in Düsseldorf geborener,
deutscher Arzt im Range eines Hauptmanns: Günter Stüttgen.
27.O-Ton Stüttgen: Amerikaner und Deutschen hatten das Gefühl: Wir sind
beide hier in einer Situation, die gleichartig ist. Wir waren mit
unserem Überleben... waren wir sozusagen in der Balance.
28. Sprecherin: So erzählt Stüttgen selbst – in der einzigen bekannten Aufnahme,
in der er über die Ereignisse im Hürtgenwald spricht. Sie wurde
aufgenommen für ein Zeitzeugen-Portal, das heute vom Haus
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland betrieben wird.
29. O-Ton Stüttgen : Und deswegen sind wir zu den Amerikanern mit einer
weißen Fahne hin gegangen... sie waren auf der anderen Seite
des Flusses, der Kall... und haben dann versucht eine technische
Lösung zu entwickeln.
30. Sprecherin: Stüttgen handelte mit Zustimmung seines
Regimentskommandeurs Oberst Rösler.
31. O-Ton Heckmann: Er war auf dem Gefechtsstand seines Regiments… Auf
der Höhe oben bei Schmidt am Gerstenhof und dort soll seinen
Chef zu ihm gesagt haben: „Stüttgen begeben Sie sich mal ins
Kalltal.“ Da gibt es Kontakte zwischen Amerikanern und uns; um
die Versorgung von Schwerverwundeten. Und das ist der Weg,
den Stüttgen dann macht...
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32. O-Ton Stüttgen:…... und ich bat ihn dafür zu sorgen, dass das die Artillerie von
der Urfttalsperre aufhörte für die nächste Zeit. Für zweieinhalb
Stunden. Und die Amerikaner sagten, das könnten sie auch. Und
dann hat er die Situation entwickelt, die Chancen wurde
wahrgenommen. Als auf einmal die Artillerie wieder bei uns
einschlug, dann wussten wir, dass irgendetwas nicht verstanden
worden war. Dann war die eigenartige Situation... meine
amerikanischen Kollegen und die amerikanischen Offiziere... wir
lagen alle zusammen, aufeinander gepfercht in Deckung und
mussten diesen Feuerüberfall über uns ergehen lassen.
Aber aus diesem gemeinsamen Erlebnis hatte sich dann ein
Konzept entwickelt, wie man doch... vielleicht hier nur kleinere
Feuerpausen, die von der unteren Ebene, nicht von Seiten der
Führung der Militärkräfte, sondern aus den unteren Reihen sich
entwickelte, dass man die dahin schließlich brachte, dass
Waffenstillstände oder Feuerpausen hier eingebaut werden
konnten und das ging.
Der Hauptmann mochte nicht viel älter sein als ich,
33. Sprecherin: beschreibt John Glueck in Kopetzkys Roman seinen Eindruck
von Stüttgen.
34. Vorleser: vielleicht ein, zwei Jahre, aber was für ein Autoritätsunterschied
war da zwischen uns. Natürlich, er war Arzt,
hatte also schon ein anspruchsvolles Studium hinter sich ge-
bracht, Medizin, die Lehre vom menschlichen Körper, seiner
Krankheiten und Verletzungen und wie man diese
diagnostizierte, behandelte und womöglich heilte. Er war mit
diesem Studium in den Krieg des Deutschen Reichs gegen
nahezu alle seine Nachbarländer und noch darüber hinaus
gezogen, gezogen worden, er war ein Mitglied der erst
erobernden, dann dagegenhaltenden, schließlich – jetzt – mit
letzter Kraft sich verteidigenden großen Armee, der in der
Militärgeschichte einzigartigen Wehrmacht. Und er war ein
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Träger, das sah ich erst relativ spät, als wir schon fast am
Ziel waren, des Eisernen Kreuzes, des Ordens, der seit den
Zeiten der Hohenzoller’schen Kaiser verliehen wurde; ein
Tapferkeitsorden, den nur bekam, wer wirklich im Feld
gestanden hatte. Man trug ein Band im Knopfloch, das seinen
Besitz anzeigte.
35. Sprecherin: So wie es nur eine Tonaufnahme von Stüttgen über den
Hürtgenwald gibt, existiert auch nur ein journalistischer
Artikel über sein Wirken in der Allerseelenschlacht, der auf der
persönlichen Begegnung mit Stüttgen beruht. Verfasst hat ihn
Guido Heinen, im Jahre 2001 als stellvertretender Ressortleiter
Innenpolitik bei der Tageszeitung Die Welt. Er fuhr mit Stüttgen
in den Hürtgenwald.
36. Atmo Heinen-Büro
37. O-Ton Heinen: Das ist natürlich einfach Reporterpflicht. Mit Verlaub: Wenn Sie
eine historische Figur für den Leser erarbeiten wollen, dann
gehört dazu die Begegnung, aber es gehört natürlich auch
idealerweise die Begegnung dazu an dem Ort, dem Kairos, an
dem er gewirkt hat. Und deshalb habe ich gesagt, gehst du mal
mit ihm dahin.
38. Sprecherin: Es stellt sich heraus, dass Stüttgen seit dem Zweiten Weltkrieg
nie wieder an die Orte der Allerseelenschlacht zurückgekehrt ist.
39. O-Ton Heinen: Er hat auch überlegt, ob er mit mir dahin gehen möchte, weil er
sagte, er kann nicht kontrollieren, was wieder hochkommen ?.
Und wenn man mal dort ist, und mit jemanden dort hergeht, der
40,45 Jahre davor dort im Graben oder in den Löchern gelegen
hat, dann sieht man es ja auch erst. Wenn Sie da als Wanderer
durchgehen, sehen Sie einen Eifler Wald. Einen Eifler
Mischwald. Sie sehen dann vielleicht oben auf den Höhen noch
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übriggeblieben Bunker von Panzerabwehrkanonen
oder mittlerer Artillerie, aber das ist alles sehr weit weg. Wenn
sie mit einem dort hindurchgehen wie Doktor Stüttgen, in dem
dann plötzlich die Erinnerungen wieder hoch kommt…
Und der nicht die Bilder, sondern Bewegungen real werden
lässt… der war damals ja auch schon älter… Und wie er dann
plötzlich anfing behände und leichtfüßig über diesen Bach… Der
Bach war damals die Markationslinie für die Soldaten, der
Bach war das Proble… dann auf dem gegenüberliegenden Hang
wieder hoch zu laufen, und zu zeigen: Hier haben wir eine kleine
Verletztensammelstelle eingerichtet, da war das nachgelagerte
Lazarett. Das war schon sehr bewegend.
Zumal er selber damit rang, mit seiner Erinnerung… Und auch
mit der Frage: Möchte er das eigentlich erzählen. Möchte er das
wieder hochkommen lassen?
40. Sprecherin: Mehrfach gelingt es Stüttgen im November 1944 mit seinen
amerikanischen Counterparts Feuerpausen auszuhandeln, in
denen die Toten geborgen und die Verwundeten gepflegt werden
können. Dabei versorgt Stüttgen amerikanische wie deutsche
Soldaten gleichermaßen. Günter Heinen, dessen Großvater
ebenfalls Arzt in der Wehrmacht war, kann sich Stütgens
Verhalten gut erklären.
41. O-Ton Heinen: Er war natürlich diese Arztgeneration der vierziger Jahre, der
Dreißigerjahre, die häufig Medizin studieren, im Kontext auch mit
humanistischer Bildung. Das hat mich auch wieder an meinen
Großvater erinnert, der natürlich Griechisch konnte, Hebräisch,
und so weiter… Also das war sozusagen das Menschenbild des
Mediziners damals war das, was wir heute „ganzheitlich“ nennen
würden. Auf eine eigene, ganz unprätentiöse Art. Und es war
natürlich auch etwas, das den Menschen in seiner Verstrickung
sah, wenn er das Böse tat. Und deshalb konnten sie auf eine
ganz besondere Art Ärzte sein im Krieg. Ich glaube diese
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humanistische Perspektive ist eine der Grundlagen gewesen,
also bei ihm war es christlicher Humanismus, zu sagen: „Es gibt
eben links und rechts dieses Bächleins, was da unten fließt,
keine Deutschen und Amys, sondern nur Menschen mit
abgetrennten Oberarmen, und mit Schüssen im Bauch. Und
deshalb sammel’ ich die ein. Das machen Sie dann, wenn Sie
sozusagen den Menschen als Menschen sehen.“
42. Vorleser:
(...) während an anderen Stellen im Hürtgenwald
der Kampf tobte, wurden im improvisierten Lazarett des
Dr. Stüttgen Innereien wieder in Bauchhöhlen zurückgedrückt,
verletzte Augen verbunden, Brüche geschient
und nebenher vom Chefarzt ein knappes Dutzend Sanis
beider Armeen dirigiert. Die letzten Medikamente, Verbandszeug
und Material gingen dabei drauf. Mitten in einer
der schrecklichsten Schlachten gab es einen Raum der
Menschlichkeit. Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht
lang. Und der German Doctor schaffte es, noch einen weiteren
Tag herauszuhandeln.
43. Sprecherin: John Glueck macht Günter Stüttgen ein Versprechen:
44. Vorleser: Im Behandlungszelt brannte Licht. Dr. Stüttgen saß auf
einer Art auf klappbarem Jägersitz, hatte sich offenbar gerade
die Hände gewaschen und deshalb trotz der Kälte die
Hemdsärmel noch aufgekrempelt. Er versuchte, ein klobiges,
hölzernes Pfeifchen zu entzünden, aber die Streichhölzer
waren feucht. Ich zog mein Zippo aus der Tasche, ließ
es aufschnappen und reichte es ihm. Er hielt die Pfeife ganz
schräg über die Flamme, was komisch aussah, produzierte
ein paar angenehm duftende Wölkchen und strahlte über
das ganze, bärtige Gesicht. Er schmauchte ein paar selige
Züge. Ach, diese Tabakraucher … alles Romantiker.
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«Oberleutnant Glueck», sagte er dann, «diese Schlacht
ist geschlagen. Wird Zeit für Sie zu gehen, Sie alter Kölner.
Ja, da staunen Sie, das höre ich hundert Meter gegen den
Wind.»
«Meinen kölschen Akzent? Echt?»
«Ja, und wie.»
«Stammt von meinem Opa.»
Ich denke nicht, dass mir irgendjemand sonst, auch noch
ohne es zu ahnen, jemals so ein schönes Kompliment gemacht
hatte. Ich hätte ihn umarmen mögen. Aber das ging
natürlich nicht.
«Überhaupt danke … was Sie hier getan haben, Herr
Doktor. Großartig. Mit jemandem wie Ihnen kann man
nicht untergehen. Ich verspreche Ihnen, bei allem, was ich
habe und bin, was ich liebe und schätze, dass die Welt von
Ihnen erfahren wird. Sie sind ein wahrer Held, Herr Hauptmann.
45. Sprecherin: Die tatsächlichen Gespräche zwischen Stüttgen und den
amerikanischen Soldaten im Lazarett drehten sich jedoch um
andere Inhalte.
46. O-Ton Stüttgen:
Die 28. Division, die kam aus Pennsylvania… Aus Philadelphia.
Und in dem Schulenglisch, das wir damals hatten.... Und wir
haben auch politische Gespräche geführt. Ich werde in meinem
Leben nie vergessen: Ich hatte einen amerikanischen Flieger,
der abgeschlossen war, zu versorgen und da war gerade die
Wahl des amerikanischen Präsidenten. Der Roosevelt wurde
noch mal gewählt. Und man frug so: „Warum habt Ihr den
Roosevelt noch mal gewählt?“ Wir waren ja erzogen, das waren
ja die Informationen, die waren ja politisch eindeutig. Und er
guckte mich an – und das hat mich wahnsinnig auch für die
nächste Zeit beeindruckt - der guckte mich an, als wenn ich nicht
ganz dicht wäre. Und sagte: „Peoples Choice.“ Wahl des Volkes.
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Ja… Und er guckte mich an… Als wenn er sagen wollte: was
seid ihr eigentlich für eigenartige Menschen?
47. Sprecherin:
Erst im Februar 1945, nachdem auch die Ardennenoffensive
gescheitert war, endeten die Kämpfe im Hürtgenwald.
Stüttgen, der mittlerweile an einem anderen Kampfabschnitt
tätig war, übergab ein ganzes Lazarett kampflos in die Hand der
anrückenden Alliierten und wurde dafür in Abwesenheit zu Tode
verurteilt.
48. Atmo Museum
49. O-Ton Heckmann:
Ich war sehr jung, 13 oder 14. Mit dem CVJM kam ich zum
ersten Mal in den Hürtgenwald. Ich hatte keine Ahnung von den
Vorgängen. Ich sah zum ersten Mal: diese abgebrannten und
vernichteten Wälder. Die waren noch in den Fünfzigern… Und
alle 100 m hing so ein Schild… Meinen Vater zu fragen, an so
einem Abend, das war sinnlos. Der hätte da kein Wort drüber
verloren.
50. Sprecherin: Im Friedensmuseum in Vossenack wird die
Geschichte der Hürtgenwaldschlacht erzählt. Beim
Rundgang durch das Museum bleibt Dieter Heckmann vor Fotos
eines Mannes stehen, der wie eine Komplementärfigur zu Günter
Stüttgen erscheint: Julius Erasmus. Kümmerte sich Stüttgen
während des Krieges um die Verletzten, so barg Julius Erasmus
nach dem Krieg die Leichen, die im immer noch vermimten Wald
herumliegen. Heckmann zeigt auf eine Gruppe von Fotos.
51. O-Ton Heckmann: Das sind Bilder, die wir erst vor wenigen Jahren aus privater
Hand bekommen haben. Da oben ist er. Er hat mit vier, fünf
Mitarbeitern in der ersten Nachkriegsphase über 1500
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deutsche Soldaten im Jutesäcken registriert… 52
entstehen erst die beiden Friedhöfe… Die lagen auf dem
Dorffriedhöfen und 46 lagen sie noch in den Wäldern…
Und er hat sie, die Reste von Menschen, bestattet. Und
hat versucht, Registrierungen zu nehmen.
Er hat gewohnt in einer Baracke am späteren Soldatenfriedhof.
Die Entstehung des Soldatenfriedhofs hat er
auch noch mitgemacht… Übrigens: Der Friedhof in
Vossenack ist eingeweiht worden in der Anwesenheit des
ersten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland:
Professor Theodor Heuss. Das ist auch deutsche
Geschichte.
52. Sprecherin: Die Bergung der Leichen muss eine entsetzliche Arbeit gewesen
sein. Was hat Julius Erasmus dazu bewegt?
53. O-Ton
Heckmann: (...) das ist eine Verpflichtung, ich würde sagen eines
ehemaligen Soldaten, und jetzt könnte man wieder das Wort
einbringen, das so furchtbar von den Nationalsozialisten
missbraucht worden ist: „Das sind Kameraden von mir.“
Das ist er, das ist eigentlich dieser Schatten, das ist eigentlich
das bekannteste Bild.
54. Sprecherin: Das Foto zeigt den Schatten eines Mannes mit schwerem
Rucksack.
Er hat eine große Schaufel geschultert, in der anderen Hand hält
er einen Stock. Der Schattenmann hält den Kopf gesenkt, wirkt,
als stünde er – „Der Totengräber von Vossenack“ in andächtiger
Trauer.
55. O-Ton
Heckmann Das hat Jahrzehnte nur existiert.
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(...) und er hat aktiv mit der deutschen
Kriegsgräberfürsorge zusammen gearbeitet, und ist so
gut bis auf diese Aufnahme aus der Geschichte raus.
56.
Sprecherin: „Aus der Geschichte raus“, ist auch Günter Stüttgen, zumindest
aus der deutschen. Er selbst ging nie mit der Geschichte an die
Öffentlichkeit, verdiente sich auf anderen Feldern Meriten.
1962 kehrte er in die Eifel zurück.
57. O-Ton
Heinen: Weil er in einer nahezu kamikaesken Aktion eine
große Pockenepidemie in der Region analysiert, diagnostiziert
und mit seinem medizinischen Wissen versucht hat zu
bekämpfen... auch wieder an der Front. Zu einer Zeit also, wo
die hygienischen und Schutzmaßnahmen ganz andere
waren. Er ist mitten reingegangen in die Dörfer, die unter der
Krankheit zu leiden hatten.
58.
Sprecherin: Stüttgen erkrankt selbst an der aus Indien eingeschleppten
Krankheit, wird aber wieder gesund. Die durch seinen Einsatz
besiegte Pockenepidemie gilt als die letzte ihrer Art in
Deutschland.
In den kommenden Jahrzehnten macht Stüttgen eine
beeindruckende medizinische Karriere, seine
Forschungen machen ihn zu einem international hochangesehen
Dermatologen.
Er wird Chefarzt der Universitätshautklinik und Poliklinik im
Berliner Rudolf Virchow-Krankenhaus, ist geschätzt für seinen
liberalen Führungsstil.
Seine Universitätsvorlesungen gelten als höchst unkonventionell,
wie es in einem Nachruf auf Stüttgen heisst: „Hier war er ganz
der intellektuelle, der mit flottem Witz und Charme die
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Studierenden zu unkonventionellem Denken aufrief und
begeisterte.“
Kollegen erinnern sich daran, dass er beim Anblick bestimmter
Wunden davon sprach, dass diese aussahen wir
Schussverletzungen im Zweiten Weltkrieg. Doch auf seine
Kriegserlebnisse ist er nie zu sprechen gekommen.
59. Atmosphäre Wannsee
60. O-Ton
Kopetzky: Ich glaube, dass er seine Arbeit als Arzt und Wissenschaftler viel
wichtiger fand, als in der Vergangenheit rumzukramen. Also er
hat das getan; er hat den Menschen da geholfen, wie er das
immer tun würde, weil er ein Arzt war durch und durch. Das
glaube ich. Ein Arzt im menschlichen Sinne. Eine hippokratische
Existenz.
Und er wollte da keinen Wind drum machen. Weil er war, glaube
ich, nicht interessiert an Ruhm. Er war an Medizin interessiert, an
Forschung, kranken Leuten zu helfen… Und er wusste, wenn er
sich selbst damit brüsten würde, was würde dabei rauskommen?
Keine Ahnung. Einige würden ihn vielleicht anfeinden, andere
würden ihn feiern… Das war überhaupt nicht sein Naturell.
61. Sprecherin: Diese Einschätzung teilt Guido Heinen aufgrund seiner
persönlichen Begegnung mit Stüttgen im Jahre 2001.
62. O-Ton Heinen: Ich habe damals einen Arzt getroffen. Er war einfach nur Arzt.
Und er war es auf eine Art und Weise… Unprätentiös, dass
selbst seine Geschichte, die damals schon fast 50 Jahre alt war,
lebendig wurde. Und er ist als Arzt jemand gewesen, der kaum
über sich selbst reden konnte und wollte.
63. Sprecherin: Zu diesem Zeitpunkt wurde jedoch schon über Stüttgen
gesprochen. Nicht in Deutschland. Sondern in den USA.
Dort war in den 1980er Jahren Militärshistorikern bei der
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Aufarbeitung der Hürtgenwaldschlacht in den Schilderungen der
Soldaten die wiederholte Erwähnung des „German doctor“
aufgefallen, um den herum bald der Begriff des „Miracle of
Huertgen Forest“ – das Wunder im Hürtgenwald geprägt wird.
Es dauert aber noch einige Jahre, bis Günter Stüttgen als „The
German Doctor“ identifiziert werden kann.
1996 wird er für seinen „Akt der Humanität gegenüber dem
Feind“ im Capitol in Harrisburg ausgezeichnet.
Aus diesem Anlass entsteht das Gemälde „A time for healing“.
Es zeigt eine Szene aus der Allerseelenschlacht: den
Verbandsplatz, auf dem die schwerverwundeten
deutschen und amerikanischen Soldaten behandelt werden, vor
dem Hintergrund des fast schwarzen Waldes. Im Zentrum des
Bildes, die Betrachtenden anblickend: Günter Stüttgen.
Im Friedensmuseum in Vossenack hängt eine Kopie.
Dort hat es Dieter Heckmann einmal zusammen mit
Günter Stüttgen angeschaut, als dieser das Museum besuchte.
64.
O-Ton Heckmann: Und zu diesem Bild hat er gesagt:
„Alles sehr zusammengedrängt…“
„Aber es hat stattgefunden?“, frage ich.
„Ja natürlich hat es so stattgefunden. Aber nicht so zusammen
gedrängt wir hier. Und wissen Sie: die Amerikaner lieben so
etwas. Deshalb ist es eine Geschichte geworden. Es war nur
eine von vielen… Aber sie ist sehr bekannt geworden… Aber
wissen Sie, Herr Heckmann: lassen Sie sie doch, die
Amerikaner. Es ist eine andere Mentalität.“
65.
Sprecherin: Auch Guido Heinen kennt „A time for healing“, das – wie
Steffen Kopetzky es beschreibt – eine „Bürgerkrieg-Situation“
zeigt: Verletzte Menschen, die in einem Lazarett zu „Brüdern im
Schmerz“ geworden sind. Als Heinen mit Stüttgen ins
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Museum kommt, geht Stüttgen kommentarlos an dem Bild vorbei.
66. O-Ton
Heinen: Er hat sich wahnsinnig gefreut, das war erkennbar.
Aber wissen Sie, das war nicht so eine Freude:“
In meinem Land bin ich über Jahre hin weg verkannt worden und
jetzt machen die das mal.“ Sondern es war andersrum… Er
hat mir immer gesagt: „Ich habe etwas getan, was ich tun musste
und das war erst mal keine Geschichte. Und dann habe ich mich
gefreut, dass es für die Amys eine Geschichte war.“ Aber er hat
sich niemals über ein Defizit beklagt.
67. Sprecherin: Mit dem Begriff des „Wunders“ konnte Stüttgen nichts
anfangen.
68. O-Ton
Heinen: Und er hat gesagt: „Ja, wenn wir von Wunder reden, dann nicht
von dem, was wir gemacht haben, sondern von dem, was
passiert ist.“ Also wenn zum Beispiel ein Penicillintransport
durchgekommen ist, mit dem sie nicht mehr gerechnet haben…
Und er hatte dann so lauter eigentlich banale Sachen aus dem
Alltag… Schmerzmittel oder einer hat einen Steckschuss
überlebt, den er eigentlich aufgegeben hatte. Wohl nicht mehr
die Kraft hatte, chirurgisch einzugreifen. Und irgendwie hat er
es geschafft oder so… Und dass er sagt: die Wunder waren
immer klein.
69. O-Ton: Applaus
Atmosphäre Lesung Kopetzky
70.
Sprecherin: 2. September 2019. Die Premierenlesung von Steffen Kopetzkys
Roman moderiert Deutschlands bekanntester Literaturkritiker
Denis Scheck. Am Rande der Veranstaltung erzählt Scheck von
21
seiner Bekanntschaft mit dem amerikanischen Schriftsteller Kurt
Vonnegut.
71.
O-Ton Scheck: Das war einer der berührendsten Momente… Wir haben uns
mehrfach getroffen. Kurt Vonnegut war ein Kettenraucher. ich
brachte ihm immer eine Stange duty free seiner
Lieblingszigarettenmarke Pall Mall mit. Er hat dann meistens
während des Gesprächs ein Päckchen davon aufgeraucht.
(...) Und er stellte sich auf die Treppe und wir kamen ins
Gespräch und er fing an zu singen. Und er sang mir die Lieder
seiner Kindheit vor. Deutsche Volkslieder. „Warum ist es am
Rhein so schön?“ „Die Loreley.“ Und andere Lieder. In perfektem
Deutsch. Natürlich mit deutsch-amerikanischen Akzent.
72.
Sprecherin: Vonneguts Eltern waren aus dem Münsterland in die USA
eingewandert.
Als Soldat war Vonnegut bei der Landung der Alliierten in der
Normandie dabei, geriet dann in deutsche Kriegsgefangenschaft
und wurde nach Dresden verschleppt, wo er Zeuge der
Bombardierung der Stadt im Februar 1945 wurde. Dieser
Erfahrung liegt Vonneguts Roman „Slaughterhouse Five“ –
„Schlachthof 5“ zugrunde.
73.
O-Ton Scheck: Es gibt so eine Urzene der amerikanischen
zeitgenössischen Literatur, das ist Kurt Vonnegut. Der
den Menschen als Spielball absurder, stochastischer, blind
waltender Schicksalsmächte darstellt. Der die berühmte Antwort
auf die Frage: „Warum geschieht all dies Unheil?“ ... Hiob... gibt:
„Es gibt kein Warum.“
22
74.
Sprecherin: Vonnegut musste bei der Bergung der verkohlten und
eingeschrumpften Leichen aus den Dresdner Häusern mithelfen.
75.
O-Ton Scheck: Von Menschen die nur noch 50,60 cm groß waren… Ein
unglaubliches Grauen. Er versucht das zu formulieren, er
versucht das irgendwie auf dem Papier zum Ausdruck zu
bringen. Und er schafft es nicht weil er – wie er im Vorwort zu
(...) Schlachthof fünf erklärt –: Man über ein Massaker nichts
Vernünftiges aussagen kann. Und erst als er eine zerbrochene
Form findet, nämlich die Idee eines Menschen, der sein Leben
in zeitlichen Spasmen lebt. Billy Pilgram ist der Held dieses
Romans, der sein Leben nicht konsekutiv, nicht linear, von heute
auf morgen auf übermorgen lebt, sondern in der Zeit hin und her
springt … Das hat ihn so befreit, künstlerisch, dass er seine
Erfahrungen, die Kriegserfahrung in einem Roman ausdrücken
konnte. Denn genau so stochastisch und sinnlos, wie dieser an
temporalem Schluckauf leidende Held Billy Pilgram, so kam ihm
die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs vor.
76. Sprecherin: Temporärer Schluckauf, zeitliche Spasmen – Vonnegut
fand eine literarische Darstellungsform für die Traumatisierung
durch die Kriegserfahrung.
Ein Schriftsteller, der wie Hemingway im Hürtgenwald war,
suchte einen anderen Ausweg: J.D. Salinger, der dort die Arbeit
an seinem später weltweit erfolgreichen Roman „Der Fänger im
Roggen“ begann. Die Geschichte eines 16jährigen, der durch
New York läuft, getrieben vom Gefühl des Angewidert-Seins in
einer verlogenen und scheinheiligen Welt.
23
77.
O-Ton Kopetzky: Was er freilich geschrieben hat, in seinen Erzählungen und auch
in „Der Fänger im Roggen“ sind natürlich zutiefst verstörte,
traumatisierte Leute. In der Erzählung „Ein guter Tag für
Bananenfisch“ zum Beispiel begeht ein Kriegsveteran
Selbstmord in einer eigentlich idyllischen Ferienszene und man
merkt: Der bringt es nicht fertig, darüber zu sprechen, was er
erlebt hat – und das war Salinger, der wurde auch im
Hürtgenwald traumatisiert.
Ja, er war halt bei der Vierten Division, das war dann die
Schlacht nach der Allerseelenschlacht. Und er hat genau das
gleiche erlebt. Er hat erlebt, wie die US Soldaten angerannt sind
und wie sie zurückgeschlagen worden sind unter höchsten
Verlusten. Und er hat erlebt wie die amerikanische Militärführung
komplett ratlos war.
78.
Sprecherin: Für Steffen Kopetzky stellte sich beim Schreiben seines
Romans nicht nur die Frage nach der Darstellung des Krieges,
sondern auch die Frage: Wieviel Raum sollte Günter Stüttgen
darin einnehmen?
79.
O-Ton Kopetzky: Man hätte sagen können: Ja, das ist ein Roman über Stüttgen,
der wird dann gesucht und gefunden… Nein, ich wollte eigentlich
aus ihm einen Inspirator machen. Eine Figur, die meinen Helden
zu einer ganz bestimmten Handlung antreibt. Ein Vorbild. Einen
deutschen Offizier, der ein Vorbild für einen amerikanischen
Offizier wird. Und letztlich ist es so, ich wollte auch nicht über die
Wehrmacht schreiben, sondern ich wollte über die Amerikaner
schreiben. Ich wollte eigentlich über den Zweiten Weltkrieg aus
amerikanischer Perspektive schreiben. Und über die Entwicklung
Amerikas bis zum Vietnamkrieg. Ich wollte letztlich damit eine
ganz andere Dimension eröffnen. Und da hat Stücken, dieser
24
deutsche Doktor, eine eher mythische Rolle. Eine Heldenfigur
Rolle, die, wenn man nur darüber schreibt, hätte man die
vielleicht wieder kleiner machen müssen. Und so ist er extrem
strahlend. Oder wie eine Art von humanitärer
Siegfried.
80.
Sprecherin: Aus diesem Grunde taucht Günter Stüttgen nur in wenigen
Szenen ins Kopetzkys Roman auf. Konsequent, wie Denis
Scheck findet.
81.
O-Ton Scheck: Ich rechne es ihm hoch an, dass er ihn nicht zur?
Hauptfigur seines Romans machte. Das wäre vielleicht die
Vorgehensweise eines Schriftstellers wie Bernhard Schlink, oder
sowas gewesen. Beim Schreiben gilt die gute Regel, die schon
Faulkner ausgegeben hat: Kill your Darlings! Und so bleibt für
diese Figur eben nur die Rolle einer Nebenfigur…
82.
Sprecherin: Wäre aber nicht ein Roman, der ausführlich das Leben von
Günter Stütten schildert, eine Möglichkeit gewesen, an dessen
humanitäre Heldentat zu erinnern?
83.
O-Ton Scheck: Ich glaube ja nicht an eine moralische Läuterung durch Literatur,
wenn ich ehrlich bin. Hemingway sagt, wer eine Botschaft hat,
soll zum Telegrafenamt gehen. Nun gibt es keine
Telegrafenämter mehr… Es ist eine Geschichte – genau wie die
Geschichte der gemeinsam Weihnachten feiernden deutschen
und englischen Soldaten im Ersten Weltkrieg –, die wenn sie
nicht stimmt, so ist sie doch gut erfunden. Die natürlich ein
Lichtlein in einem selbst anzündet. Man will ja an das Gute im
Menschen glauben, inmitten dieses Infernos. Und eigentlich ist
25
es eine Urerzählung: Wenn wir uns zurück erinnern an die Ilias,
die einen zehnjährigen Krieg schildert... dann geht es letzten
Endes um die Leiche Hectors. Priamos, der Vater fordert die von
Achill ein. Und der verweigert ihm zunächst diese Leiche. Aber er
wächst dann, Gott sei Dank, über sich hinaus und Priamos erhält
das Recht, diesen geschundenen Leichnam zu holen. Und das
ist das selbe, was diese Geschichte in mir in der Form des
Chirurgen, der Amerikaner und Deutsche behandelt auf dem
Schlachtfeld, auslöst.
84.
Sprecherin: Eine ganze Seite umfasste der Artikel, den Guido Heinen 2001
für Die Welt schrieb. Der Artikel – der seit seinem Erscheinen
frei im Internet zugänglich ist und bei Suchanfragen mit den
Stichwörtern „Hürtgenwald“ und „Stüttgen“ schnell auftaucht,
löste damals wie heute keine Reaktionen aus.
85.
O-Ton Heinen: Sie sind der erste, der mich jetzt, nach 18 Jahren, auf diesen
Artikel anspricht. Es gab eine Reaktion in der Konferenz, wie so
Journalisten sind, am nächsten Tag, Blatt Kritik, gelungen… Aber
es gab nichts.
86.
Sprecherin: Passt Stüttgen wohlmöglich nicht in unser Geschichtsbild?
87.
O-Ton Heinen: Das drängte sich mir damals natürlich auf, dieser Gedanke.
Sagen wir es mal so: ich weiß ja auch gar nicht, ob es unser
Geschichtsbild gibt. Oder ob wir (...) uns nicht der Tatsache
stellen müssen, dass die Geschichte, die von zig Millionen
Menschen erlebt wurde, und erlitten wurde, also ein solcher
Krieg, ein solcher Weltkrieg, natürlich atomisierte
Erfahrungshorizont bedingt. Und vielleicht ist man so damit
26
beschäftigt, groß überwölbende Geschichtsbilder, neudeutsch
Narrative zu bedienen, dass das einzelne vielleicht keinen Platz
hat.
Das weiß ich nicht.
Sprecherin: Heinen hat mit Stüttgen auch über die Kriegswahrnehmung des
einzelnen Soldaten gesprochen.
(...)Man darf nie vergessen, dass der Soldat immer nur
Ausschnitte sieht. Und mit diesen Ausschnitten im Herzen und in
der Erinnerung nach Hause geht. Und der Historiker später oder
der Kriegsberichterstatter, der sieht vielleicht größere
Zusammenhänge. Vielleicht auch der General. Aber dieses
Segmentielle … Das war ihm wichtig, und zwar auch vor dem
Hintergrund einer Bescheidenheit. Weil er gesagt hat: naja, ich
konnte auch nicht überall sein. Ich hätte meine Segmente gerne
auch noch 20 km nach Norden und 20 km nach Süden
verlängert. Aber ich hatte eben nur diese Mittel, die es gab.
88.
O-Ton Stüttgen: In diesen Feuerpausen haben deutsche und amerikanische
Sanitätssoldaten und Sanitätspersonal sich gemeinsam und
unabhängig von der jeweiligen Nationalität um die Versorgung
gekümmert und die Verwundeten dorthin gebracht, wo bereits
dafür alles vorbereitet war. Die Amerikaner hatten zum
Abtransport ihre kleineren Panzer bereitgestellt. Und bei uns
waren schon bereits die Bunker vorbereitet und die
Lastkraftwagen, die von dort aus in Gerstungen hier die
Verwundeten zur Urfttalsperre runterbrachten.
So war die Möglichkeit geworden, dass wir etwa so ein paar 100
Schwerverwundete in kürzester Zeit aus dem gesamten
Feuerbereich des Hürtgenwaldes evakuieren (...) konnten.
89.
Sprecherin: Heinen hat mit Stüttgen darüber gesprochen, wie
27
die Erfahrungen der Soldaten nach dem Krieg zur
Sprache kamen. Ob und wie sie Teil der
Erinnerungskultur wurden.
90.
O-Ton Heinen: Also die Frage sozusagen... wir haben das mal gestreift: Wie
entsteht gemeinsame Erinnerung? Bei den Teilnehmern? Wie
entsteht 50 Jahre später Erinnerung eines Volkes an ein
Ereignis, wenn die Teilnehmer weg sind? Und wie ernst nimmt
man sozusagen die Elemente von oral history? Was in alle
Richtungen mit Problemen behaftet ist. Für mich war die
Begegnung mit Doktor Stüttgen auch die erste Begegnung mit
einer Generation, die ich nicht zu sehr als schweigend
wahrgenommen habe, sondern als nicht gefragt. Ich hatte nicht
das Gefühl, dass meine Großeltern mit mir nicht reden wollten,
abgesehen von den normalen Segmentierungen, Optimierungen
der eigenen Lebenserinnerung, die jeder Mensch, glaube ich,
hat.
Sondern: wir haben nicht gefragt. Und wir haben ihnen zu wenig
Gelegenheiten gegeben, dass wir ihnen zuhören können. Und er
war der erste, mit dem man mal so intensiv reden konnte. Wenn
man sagt, dass ein Tag intensiv ist. Das ist halt die Frage… Er
war so intensiv, weil es eben ein Tag an seiner Mühle, in
seinem Waldstück war. Eben nicht nur am Schreibtisch.
91.
Sprecherin: Auch Dieter Heckmann weist auf Leerstellen in der Erinnerung
hin, die zwangsläufig aufgetreten sind:
92. O-Ton
Heckmann: Die Leute, die ich kennen gelernt habe, die hier
zurückgekommen sind in dieses völlig zerstörte Gebiet... die
Bevölkerung war evakuiert, die ersten kommen zurück März 45.
Und stehen vor dem totalen Nichts. Das müssen Sie auch immer
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jungen Menschen hier erzählen. Die können das einfach nicht
nachvollziehen. Das ist aber auch klar, wenn man es ihnen
nicht erzählt hat. Und die Menschen damals, die zurückkamen
und vor dem Nichts standen. Die hatten nichts zum
Fotografieren, da gab es keinen Bleistift und kein Stück Papier
und die hatten ganz andere Interessen: Aufbau, neues Leben,
dabei ist viel verschwunden. Und von diesen Menschen gibt es ja
kaum noch einen. Wenn Sie jetzt nachrechnen, die sind heute
mindestens 90,95 Jahre alt… Das ist das mindeste…
93. Sprecherin: Steffen Kopetzkys Anliegen ist erklärterweise das
Erinneren – an einen für ihn wesentlichen Aspekt.
94.
O-Ton Kopetzky: Ich hatte den Wunsch, meinen Zeitgenossinnen und
Zeitgenossen darzustellen, unter welchen
Opfern die Amerikaner Deutschland vom Faschismus befreit
haben.
Wir betrachten unser Land, unsere Geschichte als so
selbstverständlich… „Ja, da war der Zweite Weltkrieg, dann
kamen die Amerikaner, dann wurden wir westlich, bekamen eine
Demokratie, die Wirtschaft hat dann irgendwie… Weil wir so toll
sind… Die Wirtschaft hat dann Autos gebaut, wir wurden dann
eine tolle Wirtschaftsmacht“ – das ist alles irgendwie von selbst
gekommen, das war irgendwie selbstverständlich. Und nichts
davon ist selbstverständlich. Dass wir befreit wurden, war die
Leistung von Soldaten der Alliierten, die sich da geopfert haben,
geopfert wurden und an diese Zeit wollte ich erinnern.
95.
O-Ton Heinen: Es war für mich übrigens hinterher ein Auslöser, diese
Begegnung mit Doktor Stüttgen, in dem zentralen
Wehrmachtsarchiv in Wien die Akten meines verstorbenen
Großvaters anzufordern. Was ich übrigens vorher gar nicht
29
wusste… Jemand hat mir das erzählt… Sie bekommen die
kompletten Wehrmachtsakten, die sind alle noch da… Von fast
allen, ich glaube 19 Millionen Deutschen Soldaten, die es gab in
diesen sechs Jahren… Und da sehen Sie Marschbefehle,
Zeugnisse, Abläufe und so weiter… Das war sehr, sehr
interessant. Aber das war dann eher eine persönliche
Beschäftigung.
96.
Sprecherin: Wie hat Günter Stüttgen auf Guido Heinens Artikel reagiert?
97.
O-Ton Heinen: Er hat eine Woche später einen ganz kurzen Brief… Eine Karte
geschrieben. Wo er… Wenn ich mich richtig
erinnere, ich habe sie nicht mehr… Er geschrieben hat: „Danke
für diesen Tag. Und dafür, dass dieser Tag für andere jetzt auch
zugänglich ist.“ Das war der Tenor.
Absage
Die den Schrecken des Krieges kennen
Günter Stüttgen und das „Wunder vom Hürtgenwald“
Feature von Thomas Böhm
Es sprachen: Anke Zillich und Tom Jacobs
Ton und Technik: Daniel Dietmann und Oliver Dannert
Regie: Claudia Kattanek
Redaktion: Tina Klopp
Eine Produktion des Deutschlandfunks 2019.