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Recht auf Austritt aus der Europäischen Union? Anmerkungen zu Artikel 1-59 des Entwurfs eines Vertrages über eine Verfassung für Europa Author(s): Thomas Bruha and Carsten Nowak Source: Archiv des Völkerrechts, 42. Bd., 1. H., Europäische Union and Völkerrecht / European Union and Public International Law (März 2004), pp. 1-25 Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KG Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40775779 . Accessed: 15/06/2014 02:44 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Mohr Siebeck GmbH & Co. KG is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Archiv des Völkerrechts. http://www.jstor.org This content downloaded from 188.72.126.55 on Sun, 15 Jun 2014 02:44:45 AM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

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Recht auf Austritt aus der Europäischen Union? Anmerkungen zu Artikel 1-59 des Entwurfseines Vertrages über eine Verfassung für EuropaAuthor(s): Thomas Bruha and Carsten NowakSource: Archiv des Völkerrechts, 42. Bd., 1. H., Europäische Union and Völkerrecht /European Union and Public International Law (März 2004), pp. 1-25Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KGStable URL: http://www.jstor.org/stable/40775779 .

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Kurzabhandlungen zum Thema der völkerrechtlichen Aspekte des Entwurfs einer Verfassung für Europa

Recht auf Austritt aus der Europäischen Union? Anmerkungen zu Artikel 1-59 des Entwurfs eines Vertrages

über eine Verfassung für Europa

Dr. iur. Thomas Bruha Professor an der Universität Hamburg

Dr. iur. Carsten Nowak Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Hamburg

I. Rechtliche Bedeutung und politische „Offenheit" der Austrittsfrage

Ob die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft/Union durch einseitigen Akt oder einvernehmlich beendet werden darf, ist seit langem umstritten1. Die Frage wurde bereits für die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gestellt und unterschiedlich beantwortet2. Mit fortschreitender Vertiefung und Erweiterung des Integrationsprozes- ses wird sie in der Literatur immer wieder aufs neue aufgeworfen3. Sie

1 Prinzipielle Überlegungen zur Frage bereits bei Heinhard Steiger, Staatlichkeit und Überstaatlichkeit. Eine Untersuchung zur rechtlichen und politischen Stellung der Europäi- schen Gemeinschaften, 1966, S. 132 ff.; aus dem älteren Schrifttum ferner Pródromos Dag- toglou, Recht auf Rücktritt von den Römischen Verträgen?, in Festschrift Ernst Forsthoff 1972, S. 77 ff.; Gert Meier, Die Beendigung der Mitgliedschaft in der Europäischen Gemein- schaft, NJW 1974, S. 391 ff.; Alexander Gauland, Noch einmal: Die Beendigung der Mit- gliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft, NJW 1974, S. 1034 ff. 2 Nachweise bei Steiger (ebd.), S. 133 ff., 138 ff.; s.a. Karl Doehring, Die Wirkung des Zeitablaufs auf den Bestand völkerrechtlicher Regeln, Jahrbuch der Max-Planck-Gesell- schaft 1964, S. 81 ff. 3 Siehe in chronologischer Folge insbesondere Manfred Zuleeg, Der Bestand der Euro- päischen Gemeinschaft, in Gedächtnisschrift Christoph Sasse, Bd. 1, 1981, S. 55; Ulrich Everting, Sind die Mitgliedstaaten noch Herren der Verträge? Zum Verhältnis von Europäi- schem Gemeinschaftsrecht und Völkerrecht, in Festschrift Hermann Mosler, 1982, S. 173 ff., 183 ff.; Jürgen Schwarze, Das Völkerrecht in den innergemeinschaftlichen Rechtsbeziehun- gen, EuR 18 (1983), S. 1 ff., 14 ff.; Claus-Dieter Ehlermann, Mitgliedschaft in der Europäi- schen Gemeinschaft. Rechtsprobleme der Erweiterung, der Mitgliedschaft und der Verklei- nerung, EuR 19 (1984), S. 1 13 ff.; Ulrich Everling, Zur Stellung der Mitgliedstaaten der Eu- ropäischen Union als „Herren der Verträge", in Festschrift Rudolf Bernhardt, 1995, S. 1161 ff.; Friedemann Götting, die Beendigung der Mitgliedschaft der Europäischen

Archiv des Völkerrechts, Bd. 42 (2004), S. 1-25 © Mohr Siebeck - ISSN 0003-892-X

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2 Thomas Bruha • Carsten Nowak

lässt sich nicht ohne Erörterung der Grundfrage nach der Rechtsnatur des Zusammenschlusses der Mitgliedstaaten und der Finalität des Einigungs- prozesses beantworten4. Sieht man in der eingegangenen Verbindung ei- nen völkerrechtlichen Zusammenschluss souverän bleibender Staaten, der trotz der supranationalen Charakteristika der Gemeinschaft und des Ziels einer „immer engeren Union der Völker Europas"5 in seinem Grundver- hältnis als Koordinationsrechtsordnung zu verstehen ist6, so bemisst sich die Beantwortung der Frage nach den Grundsätzen und Regeln des Völ- kerrechts. Eine einvernehmliche Beendigung der Mitgliedschaft ist da- nach jederzeit als Änderung der Gründungsverträge möglich, ein einsei- tiger Austritt bei Vorliegen der völkerrechtlich anerkannten Vorausset- zungen der Vertragskündigung. Misst man dem Zusammenschluss der Mitgliedstaaten nach einer heute kaum noch vertretenen Meinung in sei- ner Gesamtheit einen bundesstaatlichen oder bundesstaatsähnlichen Cha- rakter7 bei - nicht zu verwechseln mit der Zuerkennung einzelner bund- staatsähnlicher Züge bzw. föderaler Grundsätze, denen die EU verpflich- tet ist8 - , so ist die Frage nach staatsrechtlichen Kriterien oder in Anlehnung an diese zu beantworten. Eine Beendigung der Mitgliedschaft ist danach grundsätzlich nicht möglich, es sei denn, die „Bundessatzung" sieht dies ausdrücklich vor9, oder es greift das im einzelnen umstrittene Sezessionsrecht gestützt auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker10. Weniger klar lässt sich die Frage beantworten, wenn man die Gemein-

Union, 2000; Arved Waltemathe, Austritt aus der EU - sind die Mitgliedstaaten noch souve- rän?, 2000; Karl Doehring, Einseitiger Austritt aus der EG, Festschrift Hartmut Schieder- mair,2001,S.695ff. 4 Siehe dazu im Überblick Peter-Christian Müller-Graff Verfassungsziele der EG/EU, in Manfred A. Danses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Loseblatt, Stand April 2003, A.I. Rz. 59 ff.

5 Artikel 1 Absatz 2 EU. 6 So insbesondere Werner Meng, Rz. 24 ff. zu Artikel 48 EU, in Hans von der Groeben/

Jürgen Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EUV/EGV-Kommentar, Bd. 1, 6. Aufl., 2003, der von einer „partikularvölkerrechtlichen Koordinationsrechtsordnung" (Rz. 25) spricht, welche den Geltungsgrund für die auf seiner Grundlage errichtete Subordinationsrechtsord- nung im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten und den Individuen bilde; ders., Das Recht der internationalen Organisation - eine Entwicklungsstufe des Völkerrechts, 1979, S. 177 ff.

7 Siehe insbesondere Carl Friedrich Ophüls, Grundzüge europäischer Wirtschaftsverfas- sune, ZHR 124 (1962), S. 136, 166. 8 Vgl. Artikel 23 Absatz 1 GG; dazu Manfred Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, S. 2846 ff.; ders., Rz. 43 zu Artikel 1 EG, in von der Groeben/ Schwarze (Anm. 6).

9 Bei den wenigen Austrittsklauseln in bundesstaatlichen Verfassungen, die genannt wer- den können (Artikel 72 der Verfassungen der ehemaligen UdSSR vom 7. Oktober 1977 und Teil I der Verfassung der früheren Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien), han- delte es sich eher um symbolische Bestimmungen. 10 Siehe dazu Stefan Oeter, Selbstbestimmungsrecht und Bundesstaat, in Hans-Joachim Heinze (Hrsg.), Selbstbestimmung der Völker - Herausforderung der Staatenwelt: zerfällt die internationale Gemeinschaft in Hunderte von Einzelstaaten?, 1997, S. 73 ff.; Thilo Marauhn, Anspruch auf Sezession?, ebd., S. 105 ff.

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Recht auf Austritt aus der Europäischen Union? 3

schaft als eine Staatenverbindung „sui generis" ansieht, die weder dem Staats- noch dem Völkerrecht zuzuordnen ist, sondern eine eigenständige Rechtsordnung herausgebildet hat, die nur der Entstehung nach völker- rechtlicher Natur ist. Auf der Grundlage dieser Meinungen11, von denen die sog. Gesamtaktstheorie Hans-Peter Ipsens am nachhaltigsten gewirkt hat12, kommt es für die Beantwortung der Frage darauf an, ob sich eine einseitige oder einvernehmliche Beendigung der Mitgliedschaft in der Ge- meinschaft mit deren besonderer Rechtsnatur und Zielen vereinbaren lässt. Damit ist man wieder auf die Grundfrage zurückgeworfen: Denn wenn die Gemeinschaft weder eine staatsrechtliche noch eine völker- rechtliche Verbindung ist13, was ist sie dann und welches sind ihre Ziele? Es verwundert daher nicht, dass eine ausdrückliche Regelung der Aus-

trittsfrage bislang keinen Einzug in die Gründungsverträge gefunden hat. Bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) trat die Frage nach Beendigungsmöglichkeiten der Mitgliedschaft hinter die getroffene zeitliche Begrenzung des Vertrages auf 50 Jahre zu- rück (Artikel 97 EGKS). Im Übrigen erlaubte die mit dem EGKS-Vertrag vorgenommene geniale Verknüpfung von funktionaler Integration und föderaler Perspektive (Schumann-Plan) das Beibehalten unterschiedlicher Ansichten zur Grundfrage der Rechtsnatur und Finalität der Gemein- schaft und sicherte damit die politische Akzeptanz des in die Zukunft „of- fen" gehaltenen Einigungsprozesses. Versuche, diese Offenheit dem Grunde nach zu beseitigen und die Gemeinschaft als supranationale Fö- deration zu konstituieren, scheiterten. So nur acht Monate nach Inkraft- treten des EGKS-Vertrages14 das von der Ad hoc Versammlung in Straß- burg vorgelegte Konzept einer politischen Gemeinschaft der europäi- schen Staaten: Artikel 1 des Entwurfs eines Vertrages über die Satzung der Europäischen Gemeinschaft vom 10. März 195315 (EPG) bestimmte, dass mit diesem Vertrag eine „Europäische Gemeinschaft übernationalen Cha- rakters" errichtet wird, die „unauflöslich" ist. Das assoziiert Bezüge zu historischen Vorbildern wie dem „unauflöslichen Verein" des Deutschen Bundes gemäß der Wiener Schlussakte von 1820 oder die deutsche Reichs- verfassung von 1871, die von einem „ewigen Bunde" sprach. Mit dem NichtZustandekommen des parallel ausgehandelten und bereits unter-

11 Siehe M üller-Graff YAnm. 4), Rz. 72 ff. 12 Siehe insbesondere Hans Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 58 ff.;

Gert Nicolaysen, Europarecht I. Die Europäische Integrationsverfassung, 2. Aufl. 2002, S. 71 ff.

13 Stephan Breitenmooser, Die Europäische Union zwischen Völkerrecht und Staatsrecht, ZaöRV55(1995),S.951ff. 14 Am 23. Juli 1952. ° Text in Jürgen Schwarze/Roland Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa. Von der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union, 1984, S. 397 ff.

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4 Thomas Bruha • Carsten Nowak

zeichneten Vertrages über eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG), die in den politischen Rahmen der EPG eingebettet werden sollte, war auch dieses als zu ehrgeizig empfundene Projekt endgültig hinfällig. Nach der Ablehnung des EVG-Vertrages durch die französische Natio- nalversammlung am 30. August 1954 wurden keine Anstalten mehr ge- macht, das EPG/EVG-Projekt weiter zu verfolgen16. Statt dessen kehrte man zum Modell der funktionalen Integration zu-

rück, ausgedehnt auf den Gesamtbereich der Wirtschaft. Bei den Römer Verhandlungen über die Gründung einer Europäischen Wirtschaftsge- meinschaft (EWG) wurde die Frage einer Regelung der Beendigung der Mitgliedschaft in der Gemeinschaft eingehend erörtert17. Vorgeschlagen wurde sowohl eine zeitliche Begrenzung der Gemeinschaft nach dem Mo- dell des EGKS-Vertrages wie auch die Aufnahme einer expliziten Aus- trittsklausel18. Beides fand in den Vertragsverhandlungen nicht die erfor- derliche Zustimmung. Vielmehr einigte man sich auf die bis heute gültige Formel: „Dieser Vertrag gilt auf unbegrenzte Zeit" (Artikel 240 EWG, jetzt Artikel 312 EG, sowie wortgleich Artikel 208 EAG und Artikel 51 EU). Der dahinter stehende Kompromiss zwischen den föderalistischen Protagonisten eines „unauflöslichen Bundes" und den Befürwortern eines „freien Austrittsrechts" aus der (Wirtschafts-) Gemeinschaft drängt sich unter den Umständen und angesichts der zeitlichen Nähe zum Entwurf der Ad-hoc-Versammlung auf19. Auch im weiteren Verlauf der Integration blieb die Frage eines Aus-

trittsrechts aus der Gemeinschaft virulent und tauchte als politische Dro- hung20 oder als Vorschlag zur Fortentwicklung der Gründungsverträge21 verschiedentlich wieder auf. Zu einer entsprechenden Klarstellung oder Änderung der Verträge in die eine oder andere Richtung kam es aber nicht. Dafür sorgte auch nicht die berühmte Passage des Deutschen Bun- desverfassungsgerichts in der Maastricht-Entscheidung vom 12. Oktober 1993: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ... auch nach dem Inkrafttreten des Unions-Vertrags Mitglied in einem Staatenverbund, dessen Gemeinschaftsgewalt sich von den Mitgliedstaa- ten ableitet und im deutschen Hoheitsbereich nur kraft des deutschen Rechtsanwendungs-

16 Thomas Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, S. 11 f. 17 Meinhard Hilf, Rz. 8 zu Artikel 240 EG, in Hans von der Groeben/ Jochen Thiesing/

Claus-Dieter Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EUVEG-Vertrag, Bd. 5, 5. Aufl. 1997. 18 Hilf (ebd.); näher zu den Vorschlägen betreffend Artikel 240 des EWG-Vertrages

Sergio Neri/H. Speri, Traité instituant la Communauté économique européenne, Travaux préparatoires, Luxembourg 1960.

19 So auch Hilf (ebd.). 20 Siehe die bei Hilf (ebd.), in Anm. 17 genannten Beispielsfälle (Griechenland, Großbri- tannien) sowie den Text der berüchtigten „Callaghan-Rede" des damaligen britischen Außenministers im EG-Ministerrat am 1. April 1974, Europa- Archiv 1974, D 345 ff.; weitere Beispiele bei Waltemathe (Anm. 3), S. 22 ff.

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Recht auf Austritt aus der Europäischen Union? 5

befehls verbindlich wirken kann. Deutschland ist einer der , Herren der Verträge', die ihre Gebundenheit an den ,auf unbegrenzte Zeit" geschlossenen Unionsvertrag ... mit dem Wil- len zur langfristigen Mitgliedschaft begründet haben, diese Zugehörigkeit aber letztlich durch einen gegenläufigen Akt auch wieder aufheben könnten. Geltung und Anwendung von Europarecht in Deutschland hängen von dem Rechtsanwendungsbefehl des Zustim- mungsgesetzes ab. Deutschland wahrt damit die Qualität eines souveränen Staates aus eige- nem Recht und den Status der souveränen Gleichheit mit anderen Staaten i.S. des Art. 2 Nr. 1 der Satzung der Vereinten Nationen ... ,"22

In ihrer sibyllinischen Mehrdeutigkeit lässt die Formulierung zwar nicht eindeutig erkennen, ob der Bundesrepublik Deutschland ein nur einver- nehmlich oder auch einseitig durchsetzbares Recht auf Austritt zustehe23. Jedoch deuten der Gesamtzusammenhang24 sowie spätere Äußerungen des Berichterstatters der Entscheidung25 auf letzteres hin. Dies verschaffte der „Austrittsdebatte" zwar eine unerwartete Aktualität26. Man sah aber keinen Anlass, den mit dem überholten Etikett der „Souveränität"27 ver- brämten „Austrittsvorbehalt" auf den Verhandlungstisch der folgenden Regierungskonferenzen (Amsterdam, Nizza) zu bringen. Die Austritts- frage blieb politisch „offen". Das Fehlen einer klaren vertraglichen Rege- lung ließ den Grunddissens unberührt.

21 Ein Recht, die Union unter „fairen Bedingungen zu verlassen", war bereits in einem frühen Entwurfsstadium des „Spinelli-Entwurfs" einer Verfassung für Europa von 1984 ent- halten (damaliger Artikel 10). Siehe die Ausführungen des dänischen MdEP und Mitglied des Verfassungskonvents Jens-Peter Bonde in der Sitzung des Konvents vom 25. April 2003 (http:www.european-convention.eu. int). Hinweise auf weitere Vorschläge für eine Aus- trittsklausel bei Jürgen Zimmerling, Rz. 10 zu Artikel 312 EG, in Carl-Otto Lenz/Klaus- Dieter Bor char dt (Hrsg.), EU- und EG-Vertrag, Kommentar, 3. Aufl. 2003.

22 BVerfGE89, 155O90). 23 Siehe zu entsprechenden Versuchen, die Aussagen des BVerfG auf ein einverständ-

liches Ausscheiden aus der Gemeinschaft zu beschränken, Doris König, Das Urteil des Bun- desverfassungsgerichts zum Vertrag von Maastricht - ein Stolperstein auf dem Weg in die europäische Integration?, ZaöRV 54 (1994), S. 17 ff., 33 ff. m.w.N.; Carl Otto Lenz, Der Ver- trag von Maastricht nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, NTW 1993, S. 3038 f. 24 Jochen Abr. Frowein, Das Maastricht-Urteil und die Grenzen der Verfassungsgerichts- barkeit, ZaöRV 54 (1994), S. 1 ff., 5 {{.-Juliane Kokott, Deutschland im Rahmen der Europäi- schen Union - zum Vertrag von Maastricht, AöR 119 (1994), S. 207 ff., 223 ff. (beide die Ent- scheidung kritisierend); zustimmend Udo di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998; Peter M. Huber, Maastricht - ein Staatsstreich?, 1993, S. 40 f. 25 Paul Kirchhof, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in Peter Hom- melboff/ Paul Kirchhof (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994, S. 1 1 ff., 18.

26 Zuleeg (Anm. 8), Rz. 15 zu Artikel 1 EG. 27 Zweifelnd, ob die Frage nach der Souveränität der EU-Mitgliedstaaten überhaupt noch

Bedeutung besitzt, Zuleeg, (ebd.), Rz. 8; die Verwendbarkeit des Souveränitätskonzepts in der Gemeinschaft ablehnend auch Stefan Oeter, Vertrag oder Verfassung: Wie offen lässt sich die Souveränitätsfrage halten?, in Thomas Bruha/ Joachim Jens Hesse/ Carsten Nowak (Hrsg.), Welche Verfassung für Europa?, 2001, S. 243 ff.; einen Wandel der Staatlichkeit in Europa zum nicht-souveränen Staat sowie einen Bedeutungsverlust der Souveränität im Völkerrecht konstatiert auch Juliane Kokott, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ih- res Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, Referat gehalten auf der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Hamburg vom 1. bis 4. Oktober 2003, Thesen 4 und 23.

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6 Thomas Bruha • Carsten Nowak

II. Die Austrittsklausel des Artikel 1-59 des Verfassungsentwurfs

Angesichts der bisherigen politischen Behandlung der Austrittsfrage muss es deshalb überraschen, dass der von den Staats- und Regierungs- chefs der EU eingesetzte „Konvent zur Zukunft Europas" („Verfassungs- konvent") die Idee einer vertraglichen Regelung eines Austrittsrechts er- neut aufgegriffen hat. Ein entsprechender Vorschlag wurde erstmals im Strukturentwurf des Konventspräsidiums vom 28. Oktober 200228 ge- macht. Dort stieß er zunächst auf die entschiedene Ablehnung der „Inte- grationisten", fand jedoch mehr und mehr Akzeptanz im Plenum des Konvents29. Es folgte eine erste Ausformulierung im Vorentwurf des Prä- sidiums vom 2. April 200330, die jedoch noch nicht konsensfähig war. Im Vorentwurf vom 24./26. Mai 2003 fand sich dagegen bereits eine der jetzi- gen Vorschrift entsprechende Bestimmung31. Abgesehen von einer gering- fügigen sprachlichen Änderung32 hat sie unverändert Eingang in den dem Präsidenten des Europäischen Rates am 18. Juli 2003 in Rom überreichten Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa (Verfassungs- entwurf)33 gefunden. Unter der Überschrift „Freiwilliger Austritt aus der Union" findet sich die Klausel in Teil 1, Titel IX (Zugehörigkeit zur Union) des Entwurfs und nicht etwa dort, wo man sie nach den üblichen Techniken der Gestaltung völkerrechtlicher Verträge vermuten würde, nämlich bei den Allgemeinen und Schlussbestimmungen (Teil IV). Die in Artikel 59 des Teils 1 (Artikel 1-59) getroffene Regelung lautet:

Artikel 59: Freiwilliger Austritt aus der Union (1) Jeder Mitgliedstaat kann gemäß seinen internen Verfassungsvorschriften beschließen,

aus der Europäischen Union auszutreten. (2) Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem Europäischen Rat seine Absicht

mit; dieser befasst sich mit der Mitteilung. Auf der Grundlage der Leitlinien des Euro- päischen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen über die Modalitäten des Austritts aus und schließt es, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen die- ses Staates zur Union berücksichtigt wird. Das Abkommen wird nach Zustimmung des Europäischen Parlaments vom Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit im Namen der Union geschlossen. Der Vertreter des austretenden Mitgliedstaats nimmt weder an den diesen Mitgliedstaat betreffenden Beratungen noch an der diesbezüglichen Beschlussfassung des Europäi- schen Rates oder des Ministerrates teil.

28 CONV 369/03, S. 17, Text in EuGRZ 29 (2002), S. 666 ff. 29 Thomas Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union - Der Entwurf des Europäischen Konvents (2. Teil), DVBl. 2003, S. 1234 ff., 1242.

30 Artikel 46, Titel X: Die Zugehörigkeit zur Union, CONV 648/03. 31 Artikel 1-59, CONV 724/03, Text in EuGRZ 30 (2003), S. 315 ff. 32 Vgl. Anm. 34. 33 CONV 850/03, AB1.EU 2003 Nr. C 169, S. 1 ff.

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Recht auf Austritt aus der Europäischen Union? 7

(3) Die Verfassung findet auf den betroffenen Staat ab dem Tag des Inkrafttretens des Aus- trittsabkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der in Absatz 2 genannten Mitteilung keine Anwendung mehr, es sei denn, dass der Europäische Rat im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat beschließt, diese Frist zu verlängern.

(4) Ein Staat, der aus der Union ausgetreten ist und erneut Mitglied werden möchte, muss dies gemäß dem Verfahren des Artikels 57 beantragen.

Mit dieser Vorschrift soll ein einseitig wahrnehmbares und gemeinschafts- rechtlich durch keine inhaltlichen Voraussetzungen eingeschränktes Recht auf Austritt aus der EU geschaffen werden (Absatz 1), das nur durch die in Absatz 3 genannte Zweijahresfrist begrenzt wird. Das dort und in Absatz 2 Unterabsatz 1 Satz 2 und 3 angesprochene Austrittsab- kommen zwischen der Union und dem austrittswilligen Mitgliedstaat ist nicht als vertragliche Herbeiführung des Austritts zu verstehen. Zunächst sind es nicht die Mitgliedstaaten, die ein derartiges Abkommen unterein- ander schließen, sondern die jetzt ausdrücklich mit Rechtspersönlichkeit ausgestattete Union (Artikel 1-6). Diese handelt auf der Grundlage34 der Leitlinien des Europäischen Rates das Abkommen mit dem ausscheiden- den Mitgliedstaat aus und schließt es durch den mit qualifizierter Mehr- heit handelnden Ministerrat nach Zustimmung des Europäischen Parla- ments (Absatz 2, Unterabsatz 1). Der Vertreter des austretenden Mitglied- staates nimmt nicht an den betreffenden Beratungen und Beschlüssen im Europäischen Rat und im Ministerrat teil (Absatz 2, Unterabsatz 2). So- dann regelt das Abkommen nur die „Modalitäten des Austritts ..., wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union be- rücksichtigt wird" (Absatz 2 Unterabsatz 1 Satz 2). Rechtlich betrachtet steht das Abkommen also auf der Rechtsfolgenseite des einseitig bewirk- ten Austritts. Es bildet im Regelfall die aufschiebende Bedingung für des- sen Wirksamwerden, es sei denn, es vergehen nach Eingang der Austritts- erklärung mehr als zwei Jahre. In diesem Fall wird der Austritt automa- tisch am Stichtag des Ablaufs der Zweijahresfrist wirksam, falls nicht der Europäische Rat im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat be- schließt, die Frist zu verlängern (Absatz 3). Ein Mitgliedstaat, der austre- ten will, kann den gewünschten Erfolg also letztlich rechtlich erzwingen. Auf einen Konsens mit der Union ist er nicht angewiesen. Dem austreten- den Staat steht es frei, gemäß dem Verfahren des Artikels 1-57 erneut die Mitgliedschaft zu beantragen (Absatz 4). Es muss also ein dem bisherigen Artikel 49 EU entsprechender Vertrag mit allen Mitgliedstaaten geschlos- sen werden, welcher des einstimmigen Beschlusses des Ministerrates und der Zustimmung des Europäischen Parlaments sowie der Ratifikation durch alle Vertragsstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschrif- ten bedarf (Artikel 1-57 Absatz 2). Einen Anspruch auf Eröffnung von

34 Im Vorentwurf vom 24726. Mai 2003 (Anm. 31) hieß es noch „im Lichte" der Leit- linien.

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8 Thomas Bruha • Carsten Nowak

Beitrittsverhandlungen hat der rückkehrwillige „Ex-Mitgliedstaat" eben- so wenig wie ein erstmals die EU-Mitgliedschaft beantragender Staat35.

III. Die Austrittsklausel im Lichte des gegenwärtigen Gemeinschaftsrechts

Die vorgeschlagene Austrittsklausel führt eine dem Wirtschaftsvölker- recht und dem Recht der internationalen Organisationen bekannte freie Kündigungsmöglichkeit36 und damit eine EU-Mitgliedschaft auf Wider- ruf ein. Sie bricht mit dem bisherigen Konzept einer auf einen immer en- geren Zusammenschluss der europäischen Staaten und Völker angelegten Union. Hinweise darauf, dass ein Recht zum freien Austritt aus der Ge- meinschaft schon bisher bestand - so das Konventspräsidium in seinen Erläuterungen zu Absatz 3 des Artikels 1-59 -

„Das Präsidium ist der Auffassung, dass der Austritt eines Mitgliedstaates aus der Union nicht vom Abschluss eines Austrittsabkommens mit dieser abhängig gemacht werden kann, da nach Ansicht vieler das Austrittsrecht besteht, auch wenn es keine ausdrückliche Bestim- mung hierüber gibt."37

sind verfehlt. Nach keiner der oben genannten drei Theorieansätze zur Rechtsnatur und Finalität der Gemeinschaft ist ein Recht anzuerkennen, diese aus beliebigem Grund zu verlassen. Das ergibt schon eine rein völ- kerrechtliche Betrachtung der Austrittsfrage, soweit man denn das Völ- kerrecht überhaupt im Rahmen der Gemeinschaft für anwendbar hält38. Auch im Völkerrecht ist vom Grundsatz des pacta sunt servanda (Artikel 26 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge - WVK - vom 23. Mai 1969)39 auszugehen. Vor dem Hintergrund dieses Prinzips ist die in Artikel 54 WVK getroffene Regelung zu sehen, der zufolge die Be- endigung eines Vertrages oder der Rücktritt einer Vertragspartei von der getroffenen Vereinbarung nur nach Maßgabe der Vertragsbestimmungen oder durch Einvernehmen aller Parteien erfolgen kann. Ein Vertrag, der wie die geltenden Gründungsverträge der Gemeinschaft keine Bestim- mung über Beendigung, Kündigung oder Rücktritt enthält, unterliegt ge-

35 Siehe zu den damit verbundenen Fragen Thomas Bruha/Oliver Vogt, Rechtliche Grundfragen der EU-Erweiterung, VRÜ 1997, S. 477 ff.

36 Siehe etwa Artikel XV des Übereinkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisa- tion (WTO) vom 15. April 1994 (BGBl. 1994 II, S. 1625) und Artikel 127 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) vom 2. Mai 1992 (ABl.EG 1994 Nr. L 1, S.3Ì.

37 Kommentar zu Absatz 3 des Artikel 1-59 in der Fassung vom 24726. Mai 2003 (Anm. 31). 38 Dagegen insbesondere Evening, Festschrift Mosler (Anm. 3), S. 183; Schwarze (Anm. 3), S. 33 ff.; Ehlermann (Anm. 3), S. 124; Hilf (Anm. 17), Rz. 6 m.w.N. zum Meinungsstand. 39 BGBl. 1985 II, S. 926.

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Recht auf Austritt aus der Europäischen Union? 9

maß Artikel 56 WVK nur der Kündigung oder dem Rücktritt, wenn (aus anderen Gründen) feststeht, dass die Vertragsparteien dies zulassen woll- ten40, oder wenn sich ein Kündigungs- oder Rücktrittsrecht aus der Natur des Vertrages ergibt. Gelingt dieser Nachweis nicht, ist im Völkerrecht eine einseitige Vertragsbeendigung nur unter den engen Voraussetzungen außerordentlicher Kündigungsgründe zulässig, insbesondere wegen er- heblicher Vertragsverletzung einer anderen Partei (Artikel 60 WVK), we- gen nachträglicher Unmöglichkeit der Erfüllung (Artikel 61 WVK) und wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage - clausula rebus sic stantibus - (Artikel 62 WVK). Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Maastricht-Urteil

keinesfalls einem freien Austrittsrecht aus der Gemeinschaft das Wort ge- redet. Die oben wiedergegebene Passage muss im Kontext der Aussagen des Gerichts zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer Beteiligung Deutschlands an der Wirtschafts- und Währungsunion gesehen werden. Die aus verfassungsrechtlichen Gründen für geboten erklärte Option ei- ner Aufhebung der Mitgliedschaft durch einen „gegenläufigen Akt" ist vor dem Hintergrund eines möglichen Scheiterns der Währungsunion formuliert worden. So sollen die Vorgaben des Vertrages „ - als ultima ra- tio - beim Scheitern der Stabilitätsgemeinschaft . . . einer Lösung aus der Gemeinschaft nicht entgegenstehen"41. Die Entscheidung besagt nicht, dass die Mitgliedschaft in der Union jederzeit und aus welchen Gründen auch immer aufgegeben werden könne42. Diese also auch vom Bundesver- fassungsgericht geteilte Meinung, dass es kein Recht auf freien Austritt aus der Gemeinschaft gibt, wird nicht dadurch widerlegt, dass kein Mit- gliedstaat faktisch daran gehindert werden kann, die Gemeinschaft zu ver- lassen. Politik und Recht sind zu unterscheiden43. Ein gegen das Gemein- schaftsrecht verstoßender Austritt bleibt auch rechtswidrig, wenn er nicht zu verhindern ist44. In der bisherigen Diskussion über die Austrittsfrage ist daher auch nur

darüber gestritten worden, ob ein Austritt aus der Gemeinschaft aus- nahmslos unzulässig ist oder unter bestimmten Voraussetzungen als

40 Siehe als Beispiel die „Interpretative Erklärung" in der Kommission I zu Artikel 108 UN-Charta, angenommen durch das Plenum der Gründungskonferenz, nach der trotz Nichtvorliegen einer UN- Austrittsklausel kein Mitgliedstaat gezwungen sei, der Organisa- tion weiterhin anzugehören, wenn ohne seine Zustimmung eine Änderung der Charta vor- genommen wurde, welche seine mitgliedschaftlichen Rechte und Pflichten in einer als unak- zeptabel empfundenen Weise verändern. Siehe Wolfram Karl/Bernd Mützelburg/Georg Witschet, Rz. 43 f. zu Artikel 108, in Bruno Simma (Hrsg.), The Charter of the United Na- tions. A Commentary, 2 Aufl. 2002.

41 BVerfGE 89, 155 (204). 42 Darauf weist zurecht Doehring hin (Anm. 3), S. 696. ** Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 143 f. 44 Everling Festschrift Mosler (Anm. 3), S. 184; Nicolaysen (Anm. 12), S. 158; Peters (ebd.).

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1 0 Thomas Bruha • Carsten Nowak

rechtmäßig angesehen werden kann. Der Rechtsprechung des EuGH, welche für die Konkretisierung und Fortbildung des Gemeinschaftsrechts eine überragende Bedeutung hat45, wird man ein prinzipielles Austritts- verbot entnehmen können46. Auch wenn sich der EuGH nie ausdrücklich zu der Frage geäußert hat, so hat er doch erkennen lassen, dass er die Mit- gliedschaft in der Gemeinschaft als rechtlich unumkehrbar ansieht. In ei- ner Reihe von Entscheidungen, welche die supranationale Identität und Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts geprägt haben, hat der EuGH dieses sukzessive vom Völkerrecht abgesetzt. Zunächst mit dem Urteil Van Gend & Loos vom 5. Februar 1963: Auf die Frage, ob Artikel 12 des damaligen EWG-Vertrages (jetzt Artikel 25 EG) unmittelbare Wirkung zugunsten Einzelner im Recht der Mitgliedstaaten entfalte, führt der EuGH aus „dass dieser Vertrag mehr ist als ein Abkommen, das wechselseitige Verpflichtungen zwi- schen den vertragsschließenden Staaten begründet. [...] Aus alledem ist zu schließen, dass die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind."47

Wenig später wurde das Gemeinschaftsrecht im Urteil Costa/E.N.E.L. vom 15. Juli 1964 endgültig vom Völkerrecht gelöst, wobei das Gericht insbesondere auch auf die „unbegrenzte Geltungsdauer" des EWG-Ver- trages abgestellt hat „Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die bei seinem Inkrafttreten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist. Denn durch die Gründung einer Gemeinschaft auf unbegrenzte Zeit, die mit eigenen Organen, mit der Rechts- und Geschäftsfähigkeit, mit internationaler Handlungsfähigkeit und insbeson- dere mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Über- tragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft herrührenden Ho- heitsrechten ausgestattet ist, haben die Mitgliedstaaten, wenn auch auf einem begrenzten Gebiet, ihre Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist."48

und zu dem Schluss kam: „Aus alledem folgt, dass dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechts- quelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten in- nerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Ge- meinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll. Die Staaten haben somit . . . eine endgültige Beschränkung ihrer Hoheitsrechte bewirkt."49

45 Statt vieler vgl. Gil Carlos Rodriguez Iglesias, Der Gerichtshof der Europäischen Ge- meinschaften als Verfassungsgericht, EuR 27 (1992), S. 225 ff. 46 So auch Everlinç, Festschrift Mosler (Anm. 3), S. 184.

47 EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (25) -Van Gend & Loos. 48 EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1269) - Costa/E.N.E.L. 49 EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1270 f.) - Costa/E.N.E.L.

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Recht auf Austritt aus der Europäischen Union* 1 1

In späteren Entscheidungen wird diese „Endgültigkeits-Formel" wieder- holt und zum Teil variiert, etwa im Urteil Kommission/Italien („endgülti- ge Beschränkung ihrer Souveränitätsrechte)"50 oder in der Entscheidung Simmenthai II („Effektivität der Verpflichtungen, welche die Mitglied- staaten nach dem Vertrag vorbehaltlos und unwiderruflich übernommen haben")51. Schließlich hat der EuGH den Unterschieden des Gemein- schaftsrechts gegenüber dem Völkerrecht noch dadurch einen besonderen Akzent verliehen, dass er den Gründungsverträgen ungeachtet ihrer völ- kerrechtlichen Form einen verfassungsmäßigen Charakter beigemessen hat52. Am prägnantesten ist dies im ersten EWR-Gutachten vom 14. De- zember 1991 zum Ausdruck gekommen: „Dagegen stellt der EWG-Vertrag, obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Überein- kunft geschlossen wurde, nichtsdestoweniger die Verfassungsurkunde einer Rechtsgemein- schaft dar. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs haben die Gemeinschaftsver- träge eine neue Rechtsordnung geschaffen, zu deren Gunsten die Staaten in immer weiteren Bereichen ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben und deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch deren Bürger sind [...]. Die wesentlichen Merkmale der so verfassten Rechtsordnung der Gemeinschaft sind ihr Vorrang vor dem Recht der Mitglied- staaten und die unmittelbare Wirkung zahlreicher für die Staatsangehörigen und für sie selbst geltender Bestimmungen".53

Diese auch vom Deutschen Bundesverfassungsgericht dem Grunde nach gebilligte Anerkennung einer Doppelnatur der Gründungsverträge als formal völkerrechtliche Vereinbarungen und Verfassungsnormen im ma- teriellen Sinne54 deckt sich mit den Grundannahmen der oben genannten Gesamtaktstheorie55. Nach Ansicht deren Vertreter erschöpft sich das Völkerrecht im Zustandekommen der Gründungsverträge. Darüber hi- naus gebe es für seine Anwendung im Mitgliedschaftsverhältnis „keinen Raum"56. Eine einseitige Beendigung der Mitgliedschaft nach den in den

50 EuGH, Rs. 48/71, Sie. 1972, 529 (Rz. 5/10) - Kommission/Italien. 51 EuGH, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629 (Rz. 17/18) - Staatliche Finanzverwaltung/S.p.A.

Simmenthai. 52 Siehe bereits Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339 (Rz. 23) - Partie écologiste „Les Verts'VEuro-

päisches Parlament. 53 EuGH, Gutachten 1/91, Slg. 1991, 1-6079 (6102) - EWR I; siehe auch EuGH, Rs. C-

453/99, Slg. 2001, 1-6297 (Rz. 19) - Courage/Crehan, wonach „der EG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen hat, die in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenom- men worden und von den nationalen Gerichten anzuwenden ist. Rechtssubjekte dieser Rechtsordnung sind nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen, denen das Gemeinschaftsrecht Pflichten auferlegt, aber auch Rechte verleihen kann. Solche Rechte ent- stehen nicht nur, wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch auf Grund von eindeutigen Verpflichtungen, die der EG-Vertrag dem Einzelnen wie auch den Mitgliedstaa- ten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt"; siehe zu diesem Urteil Carsten Nowak, EuZW2001,S.717ff. 54 Vgl. BVerfGE 22, 293 (296): „Der EWG-Vertrag stellt gewissermaßen die Verfassung dieser Gemeinschaft dar."

35 Anm. 12. 56 Hilf (Anm. 17), Rz. 9; siehe ferner die Nachweise in Anm. 38.

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12 Thomas Bruba • Carsten Nowak

Artikeln 54 ff. WVK kodifizierten völkerrechtlichen Grundsätzen kom- me nicht in Betracht. Daraus wird teilweise auf ein absolutes Austrittsver- bot geschlossen57, vereinzelt sogar im Fall eines im Allgemeinen für zuläs- sig erachteten einvernehmlich bewirkten Austritts58. Mehrheitlich wird aber ein auf extreme Ausnahmefälle beschränktes Austrittsrecht anhand der ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschafts- rechts gefordert, unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen für die Schaffung einer Gemeinschaft auf unbe- grenzte Zeit und die ausschließliche Regelung von Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten nach Maßgabe der Verträge59. Als derartige „Extrem- fälle"60 werden die objektive oder unter Umständen subjektive Unmög- lichkeit zur Verwirklichung der Vertragsziele genannt. Lassen sich diese endgültig nicht erreichen und zerfallen die zunächst gemachten Fort- schritte auf allen Gebieten, so soll ein einseitiges Austrittsrecht gegeben sein61. Das gleiche ließe sich denken für den Fall interner, auch revolu- tionärer Umwälzungen der Verfassungsstruktur eines Mitgliedstaates. In solchen Fällen käme nach Erschöpfung aller gemeinschaftsrechtlichen Mittel neben einem Ausschluss des betreffenden Mitgliedstaates auch der gemeinsame Austritt der Vertragstreuen Mitgliedstaaten in Betracht62. Auch die Befürworter eines völkerrechtlich gegebenen Rechts auf ein-

seitigen Austritt aus der Gemeinschaft machen dieses im allgemeinen vom Vorliegen strenger Bedingungen abhängig, denen zufolge ein Austrittsfall praktisch nur schwer vorzustellen ist. Zunächst besteht weitgehende Übereinstimung, dass die Gründe der Vertragsverletzung einer anderen Partei oder der nachträglichen Unmöglichkeit der Erfüllung gemäß Arti- kel 60 und 61 WVK nicht geltend gemacht werden können. Denn für der- artige Fälle stehen die spezifischen Vorschriften des Rechtsschutzes und der Rechtsdurchsetzung in der Gemeinschaft zur Verfügung (insbesonde- re Artikel 226 bis 228 EG) sowie eine Reihe von Schutz- und Notstands- klauseln, von denen bei Beeinträchtigung gewisser vitaler Interessen oder bei wirtschaftlich bedingter Nichterfüllung vertraglicher Pflichten Ge- brauch gemacht werden kann (z.B. Artikel 31 Absatz 3, Artikel 59, Arti- kel 95 Absatz 5, Artikel 134 Absatz 1 Satz 2 EG). Im Zusammenhang mit der anstehenden Erweiterung der Gemeinschaft auf 25 Mitgliedstaaten sind sogar neue Typen von Schutzklauseln im Gemeinschaftsrecht instal-

57 Steiger (Anm. 1), S. 138 ff.; Ipsen (Anm. 12), S. 101; Nicolaysen (Anm. 12), S. 157; Göt- ting (Anm. 3), S. 144; a.A. Waltemathe (Anm. 3), S. 90 ff. Weitere Nachweise zum Meinungs- stand bei Zuleeg (Anm. 8), Rz. 15.

58 So Steiger (ebd.), S. 133 ff. m.w.N. Siehe zum neueren Meinungsstand Hilf (Anm. 17), Rz. 7, Anm. 12, sowie Zuleeg (Anm. 8), Rz. 17.

59 Hilf (Anm. 17), Rz. 9; ähnlich Evening, Festschrift Bernhardt (Anm. 3), S. 1175 f. 60 //¿//(ebd.). 61 //¿//(ebd.), Rz. 12 m.w.N. 62 //¿//(ebd.), Rz. 14 m.w.N.; ähnlich Zuleeg (Anm. 8), Rz. 15.

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Recht auf Austritt aus der Europäischen Union ? 13

liert worden63. Wenn überhaupt, so kommt unter den Kündigungsgrün- den nach der Wiener Vertragsrechtskonvention allein der Wegfall der Geschäftsgrundlage gemäß Artikel 62 WVK in Betracht. Dies wird über- wiegend für den Fall einer nachhaltigen Verletzung der verfassungsrecht- lichen Homogenitätsstandards gemäß Artikel 6 Absatz 1 EU durch an- dere Mitgliedstaaten und auch insoweit nur als „ultima ratio" in Betracht gezogen64. D.h. die vertraglich insoweit vorgesehenen Schutz- und Sank- tionsmechanismen, insbesondere die in Artikel 7 EU vorgesehene Mög- lichkeit der Suspendierung von Mitgliedschaftsrechten der Vertragsbrü- chigen Staaten, müssen ausgeschöpft worden sein. Unter diesen Voraus- setzungen ist ein auf Artikel 62 WVK gestützter Kündigungsfall (eher wäre an einen Ausschluss zu denken) „schwer vorstellbar"65. Auch die vom Bundesverfassungsgericht reklamierte Rücktrittsmöglichkeit in Fäl- len des Verfehlens der vertraglichen Ziele, die von Teilen der Literatur auch auf Kompetenzüberschreitungen der Gemeinschaftsorgane ausge- dehnt wird66, lässt sich unter Anlegung der vom Gericht selbst gesetzten Maßstäbe67 nur als äußerstes Mittel im Fall eines eklatanten und dauerhaf- ten Versagens der Gemeinschaft bzw. Überschreitens ihrer Befugnisse rechtfertigen. Auf den Streit, ob sich der Verfassungsvorbehalt des BVerfG überhaupt mit dem Gemeinschaftsrecht verträgt (was aus dessen bzw. der Sicht des EuGH zu verneinen ist)68, soll hier nicht näher einge- gangen werden. Im Verfassungsverbund69 der Europäischen Union kann diese Frage letztlich nicht ohne die Zugrundelegung gewisser Grundan- nahmen über die Legitimationsquellen und den Geltungsgrund des Ge- meinschaftsrechts beantwortet werden70.

63 Siehe Artikel 38 und 39 der zum Beitrittsvertrag vom 16. April 2003 gehörenden „Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Repu- blik und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge", ABl.EU 2003 Nr. L 236, S. 33 ff. 64 Siehe etwa Matthias Pechstein, Rz. 17 zu Artikel 49 in Rudolf Streinz (Hrsg.), EUV7 EGV, Kommentar, 2003.

65 Pechstein (ebd.), m.w.N. 66 Doehring (Anm. 3), S. 698 ff. 67 Näher hierzu m.w.N. Gert Nicolay sen/ Carsten Nowak, Teilrückzug des BVerfG aus

der Kontrolle der Rechtmäßigkeit gemeinschaftlicher Rechtsakte: Neuere Entwicklungen und Perspektiven, NTW 2001, S. 1233 ff. 68 Gert Nicolaysen, Der Streit zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Euro- päischen Gerichtshof, in Br uh a/ H esse /Nowak (Anm. 27), S. 91 ff. 69 Dazu Ingolf Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, WDStRL 60 (2001), S. 163 ff.; ders., Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 31 (1996), S. 27 ff..; ders., Die Verfassungsfrage aus rechtswissenschaftlicher Sicht, in Bruha/ Hesse/Nowak (Anm. 27), S. 19 ff. 70 Diesen Dissens im Ergebnis sogar für juristisch unauflösbar haltend Markus Heintzen, Die „Herrschaft" über die Europäischen Gemeinschaftsverträge - Bundesverfassungsge-

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1 4 Thomas Bruha • Carsten Nowak

IV. Die Austrittsklausel im Kontext des Verfassungsentwurfs

Die vorgeschlagene Austrittsklausel ist geeignet, der Gemeinschaft ein verändertes Gesicht zu geben. Im verfassungsrechtlichen Prozess der Herausbildung identitätsbildender Elemente der Union71 setzt sie einen neuen Akzent. Die Kodifizierung eines freien Austrittsrechts markiert im Regelfall die Grenze zwischen einer völkerrechtlichen Staatenverbindung und einem Bundesstaat72. Die Frage, ob ein solches Recht auch in einer föderalen Verfassungsordnung besteht, bildet gewissermaßen deren „neuralgischen Punkt"73. Von ihm kann nicht nur die Interpretation ande- rer Verfassungsbestimmungen abhängen, sondern im Extremfall sogar die Existenz der Föderation. Mit entsprechenden Hinweisen auf die funda- mentalen Unterschiede zwischen einer völkerrechtlichen und einer staats- rechtlichen Staatenverbindung wird die Klausel daher auch von jenen be- grüßt, die in der Qualifizierung der Gemeinschaft als Staatenverbund durch das Bundesverfassungsgericht nicht nur eine normative Moment- aufnahme, sondern zugleich ein nach gegenwärtigem Recht nicht über- schreitbares Integrationsniveau sehen. So trägt Artikel 1-59 des Verfas- sungsentwurfs nach Peter M. Huber „erfreulicherweise" dem Umstand Rechnung, dass „das Kündigungsrecht bzw. die Austrittsmöglichkeit [...] als eines der wesentlichen Kriterien für die Abgrenzung zwischen Staa- tenverbund und Bundesstaat" erscheine, und dass ein Staat „nur mit ei- nem Kündigungs- bzw. Austrittsrecht [...] noch in der Lage" sei, „über seine Zukunft, die seiner Bevölkerung und die seines Territoriums selbst- und letztverantwortlich zu entscheiden."74 Umgekehrt zählt Jürgen Schwarze die Regelung des Artikel 1-59 zu den „ausgesprochen kritisch zu beurteilenden Punkten des Entwurfs" und verweist darauf, dass sich

rieht und Europäischer Gerichtshof auf Konfliktkurs?, AöR 119 (1994), S. 564 ff.; Josef Isen- see, Vorrang des Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte - offener Dissens, in Joachim Burmeister (Hrsg.), Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 1239 ff. 71 Siehe hierzu Armin von Bogdandy und Stefan Korioth, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht, WDStRL 62 (2003), S. 1 56 ff.; 1 1 7 ff.; Eckart Pache, Integration durch Verfassungsrecht, DVBl. 2002, S. 1 154 ff.; Thomas Bruha, The EU- Convention and European Identity, in ders./Bojana Vrcek/ Andreas Graf Wass von Czege (Hrsg.), Croatia on the Path to the EU: Political, Legal and Economic Aspects, Europa-Kol- lee-Hambure, Discussion Paper 1/2003, S. 7 ff.

72 Peter M. Huber, Das institutionelle Gleichgewicht zwischen Rat und Europäischen Parlament in der künftigen Verfassung für Europa, EuR 38 (2003), S. 574 ff., 591. 73 Siehe den Beitrag von Olivier Jouan] an in Georg Kreis (Hrsg.), Der Beitrag der Wissen- schaften zur künftigen Verfassung der EU, Basler Schriften zur europäischen Integration Nr. 66, 2003, S. 12 ff., 16. 74 Huber (Anm. 72). Siehe auch Jouanjan (Anm. 73), demzufolge die vorgeschlagene Austrittsklausel „die ,Staatenverbund'-Konstruktion des Bundesverfassungsgerichts im Maastricht-Urteil zu bestätigen" scheine. Ein Austrittsrecht aus der EG mit dem Wesen des Staates als Gefahren- und Schicksalsgemeinschaft begründend bereits Doehring (Anm. 3), S. 700.

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Recht auf Austritt aus der Europäischen Union? 1 5

die bisherige Regelung einer Vertrags geltung auf unbegrenzte Zeit ohne ein ausdrückliches Austrittsrecht „in der Geschichte der Europäischen Gemeinschaften bewährt habe"75. In der Tat wirkt es geradezu paradox, ausgerechnet in dem Moment, in

dem die vertraglichen Grundlagen der Gemeinschaft gemäß Artikel 1-1 Absatz 1 des Verfassungsentwurfs

Artikel 1 : Gründung der Union

(1) Geleitet von dem Willen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas, ihre Zu- kunft gemeinsam zu gestalten, begründet diese Verfassung die Europäische Union, der die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele über- tragen. Die Union koordiniert die diesen Zielen dienende Politik der Mitgliedstaaten und übt die ihr von den Mitgliedstaaten übertragenen Zuständigkeiten in gemeinschaft- licher Weise aus."

formell auf die Stufe einer Verfassung gehoben werden sollen (was in der französischen Bezeichnung des Verfassungsvertrages als „Traité insti- tutant la Constitution" noch deutlicher wird)76, ein Recht auf freien Aus- tritt aus der Union einzuführen. Entsprechend hat auch der Vertreter der niederländischen Regierung im Konvent Gijs de Vries77 in der Debatte vom 25. April 2003 die Ablehnung der Klausel durch seine Regierung be- gründet: „We do not agree with the exit clause for both reasons of principle and practical reasons. In terms of reasons of principle, an exit clause does not belong in this Constitution because it would change the character of the Union. It would change the Union into a mere intergo- vernmental organisation - a mere union of States that you can leave at any time.

There is a crucial difference between the International Postal Union and the European Union. The European Union is not just a Union of States; it is also a Union of peoples. To reconcile these peoples and to unite them in a common political union is the essence of Euro- pean integration. We are not just creating a common market, an economic organisation that you can join or leave at will; we are creating a political union. That is why the founding fa- thers of the Union did not include an exit clause in the Treaty and that is why Jean Monnet said: ,Nous ne coalisons pas des états, nous unissons des hommes."78

Dem Grundtenor dieser Äußerungen - rhetorische Überzeichnungen können unberücksichtigt bleiben - wird man zustimmen müssen. Die vorgeschlagene Austrittsklausel entzieht dem bisherigen Gemeinschafts- recht ein wesentliches Element, auf dem die konstitutionelle Deutung und Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts durch Rechtsprechung und Li-

75 Jürgen Schwarze, Ein pragmatischer Verfassungsentwurf - Analyse und Bewertung des vom Europäischen Verfassungskonvent vorgelegten Entwurfs eines Vertrags über eine Verfassung für Europa, EuR 38 (2003), S. 535 ff., 558 f.; ders., Guest Editorial: the Conven- tion's Draft Treaty establishing a Constitution for Europe, CMLRev. 40 (2003), S. 1037 ff., 1041.

76 Daraufweist louanian (Anm. 73), S. 15 ausdrücklich hin. 77 Seit Oktober 2002. 78 Siehe hierzu die in Anm. 21 genannte Internetadresse.

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1 6 Thomas Bruha ■ Carsten Nowak

teratur beruht79. Darüber wird man sich auch nicht mit dem Hinweis hin- weg täuschen können, dass in Artikel IV-9 des Verfassungsentwurfs an der Regelung festgehalten wird, dass der Vertrag (über die Verfassung) „auf unbegrenzte Zeit" gilt. Durch die rechtlich eröffnete Möglichkeit ei- nes jederzeitigen Austritts erhält diese Bestimmung einen anderen Gehalt. Sie wird auf die Negation einer fest vereinbarten Vertragszeit reduziert. Meinhard Hilf hatte der gleichlautenden Bestimmung in Artikel 240 EG noch den „Programmsatz der Unauflöslichkeit der Gemeinschaft" ent- nommen, der mit zunehmender Integrationsdichte zu einem Rechts- grundsatz der Unauflöslichkeit - und nicht nur zeitlichen Unbegrenztheit - der Gemeinschaft erstarke80. Dieser Deutung wird mit der vorgeschla- genen Austrittsklausel der Boden entzogen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Verfassungsvertrag an ver-

schiedenen anderen Stellen „eine Sprache spricht", welche die Rolle der Mitgliedstaaten in der Gemeinschaft zu stärken scheint81. So steht im oben zitierten Eingangsartikel 1-1 des Verfassungsentwurfs Fortschritten in der Perspektive der „überstaatlichen Deutung" der Gemeinschaft (Abstellen auf den Integrationswillen der Staaten und Bürgerinnen und Bürger Eu- ropas in Satz l)82 die im Gegenzug erfolgende Betonung entgegen, dass es die Mitgliedstaaten sind, die der Union Zuständigkeiten zur Verwirkli- chung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen haben. Auf derselben Linie dieser „neuen Vertragssprache" liegt auch die Formulierung in Satz 2 des Artikels, wenn dort von der Koordinierung der diesen Zielen dienenden Politik der Mitgliedstaaten durch die Union die Rede ist. Das erweckt As- soziierungen mit zurecht kritisierten Äußerungen in der Literatur83. Der nachfolgende Hinweis auf die Ausübung der (von den Mitgliedstaaten übertragenen) Zuständigkeiten „in gemeinschaftlicher Weise" (engl. Fas- sung: „in the Community way") ist sicherlich mehr als ein „Lippenbe- kenntnis"84. Er ist jedoch nicht geeignet, den generellen Eindruck zu schmälern, dass mit Artikel 1 die Rolle der Mitgliedstaaten als Verantwor- tungs- und Legitimationsbasis der Gemeinschaft herausgestellt werden

79 Siehe die Verweise auf die unbegrenzte Geltungsdauer der Verträge in den oben ge- nannten Entscheidungen des EuGH, insbesondere im Urteil Costa/E.N.E.L. (Anm. 48).

80 Hilf (Anm. 17),Rz.5 81 Kritisch zu den gewissen Akzentverschiebungen im Verfassungsentwurf auch Jan Klabbers/Päivi Leino, Death by Constitution? The Draft Treaty Establishing a Constitution for Europe, German Law Journal 4 (2003), Heft 12 vom 1. Dezember 2003 (http:// www.germanlawjournal.com). 82 Siehe hierzu Ingolf Pernice ■, Verfassung der Europäischen Union. Bemerkungen zu den Artikel-Enwürfen des Präsidiums des Verfassungskonvents, WHI Paper 3/03, S. 3 (http:// www.whi-berlin.de).

83 Vgl. etwa Kirchhof (Anm. 25), S. 12, demzufolge sich in der EU „unabhängige und sou- veräne Staate zusammenschließen, um einige ihrer Befugnisse und insoweit ihre Souveräni- tät gemeinsam auszuüben". Kritisch dazu Zuleeg (Anm. 8), Rz. 20.

84 So aber Klabbers/Leino (Anm. 81), Rz. 16.

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Recht auf Austritt aus der Europäischen Union f 17

soll. Zugleich wird das integrationistische Bekenntnis zum Ziel einer „im- mer engeren Union der Völker Europas" aus dem Eingangsartikel des Vertrags (zur Zeit Artikel 1 Absatz 2 EU) herausgenommen und auf einen eher bescheidenen Platz in der Präambel verwiesen (Erwägung 4).

V. Subjektivrechtliche Dimension der Austrittsklausel

Vor dem Hintergrund dieser veränderten Vertragssprache wirkt die vor- geschlagene Austrittsklausel des Artikel 1-59 jedoch nicht nur objektiv- rechtlich identitätsverändernd. Sie ist auch geeignet, den gegenwärtigen Schutz der Unternehmen und Bürger der Gemeinschaft gegen einen will- kürlichen Entzug der ihnen eingeräumten Rechte zu beeinträchtigen. Die unmittelbare Begründung subjektiver Rechte (und Pflichten) für Private und Unternehmen durch das Gemeinschaftsrecht ist eines seiner hervor- stechendsten Merkmale und ein wesentlicher Grund für den bisherigen Erfolg der Integration. Indem nach dem oben Gesagten ein Austritt aus der Gemeinschaft nach gegenwärtigem Recht grundsätzlich nicht zulässig ist, sondern allenfalls in den genannten „extremen Ausnahmefällen", kön- nen sich die Bürger und Wirtschaftsakteure der Gemeinschaft in ihrer be- ruflichen und privaten Planung auf die ihnen gewährten Freiheiten des Binnenmarktes und zunehmend auch grundrechtliche Garantien einstel- len. Bei Eingriffen können Schadensersatzansprüche entstehen85. Ob dies auch für den Fall eines rechtswidrigen Austritt eines Staates aus der Ge- meinschaft gilt, hängt davon ab, welche Folgen man einem solchen Schritt für das Mitgliedschaftsverhältnis beimisst. Sieht man im Austritt gewis- sermaßen einen „Urakt" staatlicher Souveränität, wäre das Mitglied- schaftsverhältnis aus der Warte des innerstaatlichen Rechts beendet. Die „Brücke" - um die berühmte Metapher des Berichterstatters der Maas- tricht-Entscheidung zu verwenden - über die das Gemeinschaftsrecht in das nationale Recht „einfließt", wäre „gesperrt" oder gar „abgebro- chen"86. Das würde zwar an der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit des Aus- tritts nichts ändern. Die Folgen wären jedoch nach dem zum Verhältnis Völkerrecht - staatliches Recht entwickelten Grundsätzen zu bestim- men87. Das heißt, der betroffene Staat hätte nach außen hin für den Ver- stoß gegen die völkerrechtlichen (sie!) Gemeinschaftsverträge einzuste- hen und wäre insoweit auch gegebenenfalls schadensersatzpflichtig. Diese

85 Everlinç, Festschrift Bernhardt (Anm. 3), S. 1171. 86 Kirchhof (Anm. 25), S. 13 f.; ders., Die Gewaltbalance zwischen staatlichen und euro- päischen Organen, JZ 1998, S. 965 ff.

Siehe dazu und zu den „gemäßigten" monistischen oder dualistischen Theorien im Überblick Philip Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, in Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 2. Aufl. 2001, S. 87 ff., 104 ff.

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1 8 Thomas Bruha • Carsten Nowak

Rechtsfolgen griffen aber nicht unmittelbar ins innerstaatliche Recht durch88. Geht man dagegen wie hier davon aus, dass die Mitgliedstaaten nur gemeinsam als „pouvoir constituant" handelnd über das Gemein- schaftsrecht „verfügen" können, wäre einem gegen das Gemeinschafts- recht verstoßenden einseitigen Austritt die Annerkennung auch im be- troffenen Mitgliedstaat zu versagen. Ob das faktisch durchgesetzt werden kann, steht auf einem anderen Blatt. Nach der hier vertretenen Meinung stünden den Bürgern und Unter-

nehmen im Fall eines unzulässigen Austritts aus der Gemeinschaft also prinzipiell Schadensersatzansprüche nach den vom EuGH entwickelten Grundsätzen zu. Nach der staatshaftungsrechtlichen Rechtsprechung des EuGH, die im berühmten Francovich-Urteil ihren Anfang nahm89 und in den vergangenen Jahren über die Fallgruppe der pflichtwidrigen NichtUmsetzung von EG-Richtlinien hinaus schrittweise sowohl auf mitgliedstaatliche Zuwiderhandlungen gegen die EG-Grundfreiheiten90 als auch auf Verstöße mitgliedstaatlicher Gerichte gegen die in Art. 234 Absatz 3 EG geregelte Vorlagepflicht91 übertragen worden ist, haben die Mitgliedstaaten für die ihnen zurechenbaren Schäden infolge eines ge- meinschaftswidrigen Verhaltens einzustehen, wenn die verletzte Rechts- norm dem Einzelnen subjektive Rechte zu verleihen bezweckt, wenn der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und wenn zwischen dem jeweiligen Verstoß und dem entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusam- menhang besteht.92 Da die bei einem einseitigen Austritt eines Mitglied-

88 Ob die Vertreter der These, dass es sich beim Gemeinschaftsrecht um eine „partikular- völkerrechtliche Koordinationsrechtsordnung" handelt, zu diesem Ergebnis kämen, scheint nicht gewiss zu sein. So vertritt Meng (Anm. 6), Rz. 32, 36 die Meinung, dass die Mitglied- staaten selbst gemeinsam handelnd nicht unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht in Rechte „Dritter" eingreifen dürften. Dazu werden auch die Rechte der Privaten und Unter- nehmen gezählt. Entsprechenden Vereinbarungen sei ungeachtet ihrer etwaigen Völker- rechtskonformität die Anerkennung zu versagen. Wie die Rechtslage jedoch ist, wenn ein Mitgliedstaat einseitig die „Koordinationsrechtsordnung" der Gründungsverträge kündigt, auf denen die gemeinschaftliche „Subordinationsordnung" beruht (Rz. 25), wird nicht dis- kutiert. Siehe zur Frage, ob ein vertragsbrüchig ausgeschiedener Mitgliedstaat auf Dauer weiterhin zum Verband gehört, auch Zuleeg (Anm. 8), Rz. 15 m.w.N.

89 EuGH, verb. Rs. C-6 u. 9/90, Slg. 1991, 1-5357 ff. - Francovich u.a. 90 Vgl. nur EuGH, verb. Rs. C-46 u. 48/93, Slg. 1996, 1-1029 tt. - Brasserie du pêcheur. 91 EuGH, Urt. vom 30.9.2003, Rs. C-224/01, noch nicht in der amtl. big. verofrentlicht =

EuZW 2003, S. 718 ff. - Köhler; mit Anm. Walter Ohwexer, EuZW 2003, S. 726 ff. Im Schrifttum ist die gemeinschaftsrechtlich begründete Staatshaftung für derartige Zuwider- handlung kurz zuvor noch verneint worden, vgl. Bernhard W. Wegener, Staatshaftung für die Verletzung von Gemeinschaftsrecht durch nationale Gerichte?, EuR 37 (2002), S. 785 ff.

92 Neben den in Anm. 89-91 erwähnten Urteilen vgl. hierzu EuGH, Rs. C-392/93, big. 1996, 1-1631 (Rz. 38 ff.) - British Telecom; EuGH, Rs. C-5/94, Slg. 1996, 1-2553 (Rz. 24 f.) -

Hedley Lomas; EuGH, verb. Rs. C-178, 179, 188 u. 190/94, Slg. 1996, 1-4845 (Rz.20ff.) - Dillenkofer u.a.; EuGH, verb. Rs. C-283, 291 u. 292/94, Slg. 1996, 1-5063 (Rz. 47 ff.) - Den- kavit u.a.; EuGH, verb. Rs. C-94 u. 95/95, Slg 1997, 1-3969 (Rz. 46 ff.) - Bonifaci u.a.; EuGH, Rs. C-302/97, Slg. 1999, 1-3099 (Rz.58f.) - Konle; EuGH, Rs. C-150/99, Slg. 2001, 1-493 (Rz. 36 ff.) - Lindöpark; m.w.N. vgl. A. von Bogdandy, Rz. 123 ff. zu Artikel 288 EGV, in

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Recht auf Austritt aus der Europäischen Union ? 1 9

Staats auf dem Spiel stehenden EG-Grundfreiheiten dem Einzelnen sub- jektive Rechte verleihen93, müssen im Lichte der bisherigen Francovich- Rechtsprechung des EuGH die für die Durchsetzung dieses gemein- schaftsrechtlichen Anspruchs zuständigen Gerichte des austretenden Mitgliedstaats dem Einzelnen im Falle eines eingetretenen oder unmittel- bar bevorstehenden Schadens letztlich einen „angemessenen" - auch den entgangenen Gewinn umfassenden - Ersatz zusprechen. Auf Grund der Vielzahl potentiell Geschädigter würde dieser eine „astronomische" Höhe erreichen und damit den von den Gerichten nicht anzuerkennen- den Austritt aus der Gemeinschaft auch tatsächlich unmöglich machen. Dieser Aufgabe dürfen sich die zuständigen nationalen Gerichte, die in ihrer Funktion als „Gemeinschaftsgerichte im weiteren Sinn" für den Schutz und die Durchsetzung subjektiver Gemeinschaftsrechte zu sor- gen haben94, im Falle eines einseitigen (gemeinschaftswidrigen) Austritts „ihres" Mitgliedstaats nicht entziehen. Mit der vorgeschlagenen Austrittsklausel dürfte auch der äußerst effek-

tive Schutz gegen gemeinschaftsrechtswidrige Beeinträchtigungen sub- jektiver Rechtspositionen durch Erhebung von Staatshaftungsansprüchen hinfällig werden. Das wäre nur dann nicht der Fall, wenn man in einer wohl nicht mehr vertretbaren Überdehnung der Lehre von der fehlenden Eigenschaft der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge"95 auch auf den vorliegenden Verfassungsentwurf anwenden würde. Bekanntlich hat der EuGH in dem bereits oben angesprochenen ersten EWR-Gutachten96 Anstoß zu einer Diskussion gegeben, ob dem Gemeinschaftsrecht eine dem Artikel 79 Absatz 3 GG vergleichbare ungeschriebene Grenze der Änderung der Gründungsverträge entnommen werden könne97. Die Fra-

Eberhard Grahitz/ M einhard Hilf "(Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union - Kommen- tar, Bd. II, Losebl. (Stand: 4/2003); Martin Gellermann, Rz. 37 zu Artikel 288 EGV, in Streinz (Anm. 64); S. Lageard, Rz. 43 ff. zu Artikel 288 EGV, in Lenz/ Borchardt (Anm. 21). 93 Zuletzt bestätigt in EuGH, Urt. vom 30.9.2003, Rs. C-224/01, noch nicht in der amtl. Sie. veröffentlicht (Rz. 103) = EuZW 2003, S. 718 ff., 725 -Köhler.

94 Zu dieser bedeutsamen Funktion nationaler Gerichte vgl. Carsten Nowak, Das Ver- hältnis zwischen zentralem und dezentralem Individualrechtsschutz im Europäischen Ge- meinschaftsrecht - Verwirrspiel zwischen Wechselwirkung und Beziehungslosigkeit, EuR 35 (2000), S. 724 ff.; Gil Carlos Rodríguez Iglesias, Der EuGH und die Gerichte der Mit- gliedstaaten - Komponenten der richterlichen Gewalt in der EU, NTW 2000, S. 1889 ff. 95 Siehe insbesondere Everling Festschrift Bernhardt (Anm. 3). 96 Anm. 53.

97 Dies bejahend/ L. da Cruz Vilaça/N. Piçarra, Y-a-t-il des limites matérielles à la révisi- on des traités instituant les communautés européennes?, CDE 1993, S. 3 ff., 26; dies vernei- nend vgl. hingegen Pechstein (Anm. 64), Rz. 3 zu Artikel 48 EUV; diesbezüglich zwischen (nicht änderungsfesten) positivrechtlichen und (änderungsfesten) überpositiven fundamen- talen Menschenrechten unterscheidend vgl. Peters (Anm. 43), S. 442 ff.; ähnlich Hans-Hol- ger Herrn feld, Rz. 8 zu Artikel 48 EUV, in Jürgen Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000; siehe zum Ganzen m.w.N. jüngst auch Andreas von Arnauld, Normenhierarchien innerhalb des primären Gemeinschaftsrechts - Gedanken im Prozess der Konstitutionalisierung Euro- pas, EuR 38 (2003), S. 191 ff.

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20 Thomas Bruh a • Carsten Nowak

ge ist auch für den Verfassungsentwurf relevant. Mit der Neugründung der Union, welche die Rechtsnachfolge der bisherigen EG und EU antre- ten soll (Artikel IV-2 und 3 Verfassungsentwurf), können sich die Mit- gliedstaaten nicht den geltenden Vorschriften über die Vertragsänderung entziehen98. Das gilt gleichermaßen für das Verfahren wie etwaige mate- rielle Grenzen der Vertragsänderung. Die entscheidende Passage im ers- ten E WR- Gutachten lautet: „Artikel 238 bietet jedoch keine Grundlage für die Errichtung eines Gerichtssystems, das Artikel 164 E WG- Vertrag und allgemeiner die Grundlagen der Gemeinschaft selbst beein- trächtigt. Aus denselben Gründen könnte eine Änderung dieser Bestimmung in dem von der Kommission angesprochenen Sinne die Unvereinbarkeit des Gerichtssystems des Abkom- mens mit dem Gemeinschaftsrecht nicht beseitigen".99

Unter Hinweis auf das zweite EWR-Gutachten vom 10. April 1992 wer- den diese Ausführungen von Teilen der Literatur jedoch auf Änderungen des Primärrechts im Rahmen von Assoziierungsvereinbarungen be- schränkt. Dazu wird auf den in diesem Gutachten geäußerten Satz

„Die Zuständigkeiten, die der EWG-Vertrag dem Gerichtshof einräumt, können nur im Rahmen des im Artikel 236 EWG-Vertrag vorgesehenen Verfahrens geändert werden".100

abgestellt. Die insoweit vorgetragenen Gründe sind nicht „wasserdicht", vermögen jedoch vom Ergebnis her zu überzeugen101. Es würde den Ge- danken der Loslösung des Gemeinschaftsrechts von seiner völkerrechtli- chen Grundlage überstrapazieren, wenn man aus einem obiter dictum des EuGH prinzipielle Grenzen der Vertragsänderungsbefugnis der Mit- gliedstaaten ableiten würde. Das mag allenfalls für Eingriffe in den Kern- bereich der verfassungsstaatlichen Homogenitätsprinzipien gemäß Arti- kel 6 EU anders sein102. Den Mitgliedstaaten die Befugnis abzusprechen, dem Integrationsprozess gemeinschaftlich handelnd eine andere Richtung zu geben als bislang und die Gemeinschaft mehr als Interessen- denn Schicksalsgemeinschaft zu deuten, dürfte aber zu weit gehen. Es gibt kei- nen Rechtsgrundsatz der Irreversibilität der erreichten Integration103. Je- denfalls wären hier endgültig die Grenzen der Regelungsfähigkeit des Rechts gegenüber der Politik erreicht. Das schließt nicht aus, dass ein nach Inkraftsetzung des vorgeschlagenen Artikels 1-59 erfolgender rechtmäßi- ger Austritt aus der EU Ersatzansprüche nach enteignungsrechtlichen

98 Zutr. Meng ( Anm. 6), Rz. 1 1 5 zu Artikel 49 EUV, m.w.N. zum Streitstand im Schrift- tum.

99 EuGH, Gutachten 1/91, Slg. 1991, 1-6079 (Rz. 71 f) - EWR I. 100 EuGH, Gutachten 1/92, Slg. 1992, 1-2821 (Rz. 32) - EWR II. 101 Siehe dazu neuestens auch Meng (Anm. 6), Rz. 67 f. zu Artikel 48 EUV. 102 Näher dazu Meng (ebd.), Rz. 60 tt.; Peters (Anm. 43), S. 442 tt.; temer vgl. U. Becker,

EU-Erweiterung und differenzierte Integration, 1999, S. 64 ff. 103 Meng (Anm. 6), Rz. 62, 64; a.A. wohl Evening, Festschrift Bernhardt (Anm. 3),

S. 1171 und Steiger (Anm. 1),S. 135.

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Recht auf Austritt aus der Europäischen Union? 2 1

Grundsätzen auslösen könnte. Dazu müssten aber durch hoheitliche Ge- nehmigungen, Lizenzen und dergleichen begründete individualisierbare Rechtspositionen betroffen sein104. Ein genereller Entschädigungsan- spruch bei Schritten der „De-Integration" kann nicht anerkannt werden.

VI. Abschließende Beurteilung

Eine Beurteilung der vorgeschlagenen Austrittsklausel des Artikel 1-59 des Verfassungsentwurfs muss überwiegend negativ ausfallen. Versuchen, die Regelung zu „verharmlosen" oder gar als Erschwerung der bisherigen Austrittsmöglichkeiten „anzupreisen"105, ist zu widersprechen. Die Bera- tungen im Konvent haben deutlich erkennen lassen, dass jegliche mate- rielle Begrenzung des vorgeschlagenen Austrittsrechts nicht die Zustim- mung des Plenums fand. So wurde insbesondere vorgeschlagen, das Aus- trittsrecht auf den Fall von Änderungen der künftigen Verfassung zu beschränken, die ein Mitgliedstaat mit zu tragen nicht bereit ist106. Diese Regelung, die dem ungeschriebenen Grundkonsens der Vertragsparteien zu Artikel 108 UN-Charta geähnelt hätte, war jedoch nicht konsensfähig und hätte angesichts der Beibehaltung des Einstimmigkeitsprinzips für die Vertragsänderung (Artikel IV- 7) im Verfassungsentwurf auch weniger Sinn gemacht als in der UN-Charta, in der das Einstimmigkeitsprinzip in- soweit nicht gilt (Artikel 108 f. UN-Charta). Selbst der Verweis auf das nationale Verfassungsrecht in Absatz 1 des Artikels 1-59 des Verfassungs- entwurfs ist noch dadurch entschärft worden, dass man den ursprünglich vorgeschlagenen Zusatz „unter Einhaltung seiner internen Verfassungs- vorschriften" durch die Regelung „gemäß seinen internen Verfassungs- vorschriften" ersetzt hat107. Und sogar diese Formulierung sollte nach dem Vorschlag des Sekretariats der im Dezember zunächst einmal ge- scheiterten Regierungskonferenz der gegenwärtigen und künftigen Mit-

104 Siehe zu den damit verbundenen verfassungsrechtlichen Fragen im Überblick Peter Badura, Staatsrecht, 3. Aufl. 2003, S. 210 ff.; zur Dogmatik des gemeinschaftlichen Eigen- tums- und Entschädigungsrechts Bernhard W. Wegener, Wirtschaftsgrundrechte, in Dirk Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2003, S. 108 ff., sowie Chris- tian Callies, Eigentumsgrundrecht, ebd., S. 381 ff. (jeweils m.w.N.). 105 Oppermann ( Anm. 29, 1. Teil, S. 1 1 65 ff.), S. 1 1 68, dort Anm. 1 8 sieht den Sinn des Ar- tikels nicht darin, den Staaten den Austritt aus der EU zu erleichtern, sondern „einem aus- trittswilligen Staat in einem längerem, geregelten Verfahren die volle Bedeutung eines sol- chen Schrittes vor Augen zu führen".

106 Änderungsanträge Lamassoure und de Villepin, siehe das Papier des Konventssekreta- riats CONV 672/03 vom 14. April 2003 (16.04), Übersicht über die Änderungsvorschläge betreffend die Zugehörigkeit zur Europäischen Union: Entwürfe für die Artikel von Titel X des Teils I (Artikel 43 bis 46). 107 Siehe CONV 724/03 (Anm. 31), S. 349.

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gliedstaaten ersatzlos gestrichen werden108. In der Begründung hieß es, dass der Verweis auf das nationale Verfassungsrecht so verstanden werden könnte, als wenn die Union dessen Einhaltung zu prüfen hätte109. Das lässt es als noch schwieriger erscheinen, materielle Bedingungen in die Austrittsklausel hinein zu interpretieren. Wenn überhaupt, ergäben sich diese aber nach Einfügung des Artikel 1-59 in die Verfassung ausschließ- lich aus nationalem Recht110. Damit trägt das vorgeschlagene Austrittsrecht Forderungen Rechnung,

wie sie schon seit längerem von verschiedenen Seiten erhoben werden. Der Kreis der Befürworter ist ausgesprochen heterogen. So stammen die Forderungen nach einem freien Austrittsrecht zum Teil einfach aus dem Lager der „Europagegner", welche „verlorene Schlachten" bei der Ent- scheidung über den Eintritt in die Gemeinschaft durch einen Austritt aus dieser revidieren wollen. Diese Gefahr besteht zwar auch unabhängig von einer vertraglichen Austrittsklausel. Diese ist jedoch geeignet, die Argu- mente der Gegner der Integration zu stärken und immer wieder Anstöße zu Mitgliedschaftsdebatten in der EU zu geben. Auf diese Gefahr hat be- reits der zuvor zitierte Vertreter der niederländischen Regierung hinge- wiesen. Im unmittelbaren Anschluss an das obige Zitat führte er aus:

„But the practical reason for not having the clause is that it would be highly destabilising, both politically and economically. It would open up the threat of a constant debate about EU membership, a constant threat of referendums in various Member States which could se- riously undermine also the credibility of the euro. Let us imagine what would happen in in- ternational financial markets if there were a repeated or sustained debate in major Member States of the Union about EU membership. What would that do for the stability of the euro?"111

Den Vorzügen, welche die „Plakatierung" einer Austrittsklausel für die Entscheidung über einen Beitritt zur EU haben mag112, stehen also schwer kalkulierbare Risiken gegenüber. Diese Risiken sind auch bei den insbesondere von wirtschaftswissen-

schaftlicher Seite für die Schaffung eines EU-Austrittsrechts vorgebrach- ten Argumenten113 zu bedenken. Insbesondere aus wirtschaftstheoreti-

108 CIG 4/03 vom 6. Oktober 2003 (16.10), Regierungskonferenz 2003 - Redaktionelle und juristische Anmerkungen zu dem Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Eu- ropa - Basisdokument, S. 126.

109 Ebd., S. 127. 110 Die Verpflichtung auf das Staatsziel der Beteiligung Deutschlands an der europäischen Integration (insbesondere Präambel und Artikel 23 GG) steht einem freien Austrittsrecht entgegen; so auch Everling, Festschrift Bernhardt (Anm. 3), S. 1175 m.w.N.

111 Anm. 78. 112 In diesem Sinne Oppermann (Anm. 29), S. 1242: „Artikel 1-59 soll nicht Austrittswil-

ligkeit fördern, sondern vor allem den neuen EU-Staaten ihren Entschluss zum Beitritt er- leichtern, indem verdeutlicht wird, dass sie nicht in ein »Völkergefängnis* eintreten."

113 Siehe James M. Buchanan, Europe s Constitutional Opportunity, in h rank Vibert (Hrsg.), Europe's Constitutional Future, 1990, S. 6 ff.; Peter Bernholz, Kompetenzordnung

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Recht auf Austritt aus der Europäischen Union? 23

scher und konstitutionen-ökonomischer Sicht wird seit längerem für eine Entsprechung von freier „Entry-" und „Exit-Option" plädiert. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass „optimale Integrationsräume" nicht auf Dauer zu definieren sind, sondern in flexibler Anpassung an die Gescheh- nisse des Marktes sowie sonstige interne und externe Veränderungen ge- gebenenfalls neu zusammen zu stellen, fortzuentwickeln oder wenn nötig auch rückzuentwickeln sind. Das betrifft auch verfassungsrechtlich be- gründete Integrationsverbände. Ökonomen betrachten Verfassungen von Haus aus als Verträge, deren Zweck es ist, alle Vertragspartner besser zu stellen114. Wenn dieses Ziel verfehlt wird, müssen Verträge gegebenenfalls auch wieder gekündigt werden können. In einer mehr politischen Ziel- richtung wird in der Austrittsoption schließlich auch ein Schutzinstru- ment gegen überbordende Regulierungs- und Zentralisierungswünsche einer von entsprechenden Mehrheitsentscheidungen bedrohten Minder- heit der Mitgliedstaaten gesehen115. Abgesehen davon, dass derartige Argumente weitgehend die politische

Dimension der Integration ausblenden, kann ihnen auch ansonsten nicht gefolgt werden. Die Prämisse, dass eine notwendige Korrelation zwischen freier Eintritts- und Austrittsoption herzustellen sei, trifft genau genom- men nicht zu, da ohne Zustimmung aller Vertragspartner kein Beitritt er- folgen kann. Die Zuerkennung eines einseitigen Austrittsrechts verhält sich asymmetrisch zum Beitrittsverfahren116. Das eigentliche Gegenargu- ment ist aber ein wirtschafts- und integrationspolitisches: Mit zunehmen- der Integration sind die Volkswirtschaften der EU-Mitgliedstaaten derart eng verflochten, dass im beiderseitigen Interesse des austrittswilligen Mit- gliedstaates und der in der Union verbleibenden Staaten ein Integrations- plafond unterhalb der Schwelle der EU-Mitgliedschaft gefunden werden muss. Insbesondere ist ein Ersatz für die bisherigen Binnenmarktbezie- hungen zu schaffen, indem diese ganz oder zum Teil auf einer völkerver- tragsrechtlichen Grundlage weitergeführt werden117. Zunehmend gilt dies

und Systemwettbewerb in der Europäischen Union, in Thomas Bruha/Carsten Nowak (Hrsg.), Die Europäische Union nach Nizza: Wie Europa regiert werden soll, 2003, S. 85 ff., 87; Wolf Schäfer, Withdrawal Legitimised? On the Proposal by the Constitutional Conven- tion for the Right of Secession from the EU, Intereconomics 38 (2003), S. 182 ff.; m.w.N. D. Doering, Friedlicher Austritt - Braucht die Europäische Union ein Sezessionsrecht?, im In- ternet unter: www.cne.ore/oub odf/Doerine Friedlicher Austritt.ofd (dort Anm. 96V

114 Roland VaubeL in Kreis (Anm. 73), S. 48. 115 So insbesondere Schäfer (Anm. 113). 116 Peter-Christian Mü'ller-Graff Systemrationalität in Kontinuität und Änderung des Europäischen Verfassungsvertrags, Integration 26 (2003), S. 301 ff.

Als prominente Beispiele derartiger „Binnenmarktassoziierungen" seien das EWR- Abkommen (Anm. 36) sowie die bilateralen Verträge der EU mit der Schweiz genannt. Siehe dazu Thomas Bruha, Binnenmarktassoziierungen, in ders. / M einhard Hilf (Hrsg.), Perspek- tiven für Europa: Verfassung und Binnenmarkt, EuR Beih. 3/2002, S. 109 ff.; ferner, andere „Binnenmarktverflechtungen" miterfassend Waldemar Hummer, Die räumliche Erweite-

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auch für nicht-wirtschaftliche Bereiche wie den Zugang zu Ausbildungs- und Bildungseinrichtungen, den kulturellen Austausch, u.a. Diese Kom- pensation zu bewirken, ist der eigentliche Sinn des in Artikel 1-59 vorge- sehenen „Austrittsabkommens"118. Die vorgeschlagene Austrittsklausel lädt daher geradezu dazu ein, die aus guten Gründen nicht geschaffene Option von „Teilmitgliedschaften" in der Europäischen Gemeinschaft/ Union durch die Hintertür eines Austritts oder gegebenenfalls auch nur der Drohung mit ihr einzuführen. Damit wäre erstmals die Möglichkeit einer „rückschreitenden Differenzierung" geschaffen119, während das bis- herige Modell der „flexiblen Integration" auf eine „verstärkte Zusammen- arbeit" (Titel VII EU) und auch dies nur von einer Gruppe von minde- stens acht Staaten (Artikel 43 lit. g EU) beschränkt war. Die mit Artikel I- 59 Verfassungsentwurf eröffnete Austrittsoption ist ein Signal in die falsche Richtung.

Summary

Article I-59 of the Draft Treaty Establishing a Constitution for Europe, which was sub- mitted to the European Council in Rome on 18 July 2003, provides for a newly introduced right of the Member States to voluntarily withdraw from the Union. The present treaties on which the European Union is founded do not contain an explicit withdrawal clause. Whether, if, and under which circumstances a right to leave the Community exists accord- ing to general principles of law has been a disputed issue since the very beginning of the in- tegration process. The answer to the question depends upon the characteristics one is pre- pared to attach to the Community legal order. Those who perceive it as a sub-category of public international law derive a right to withdrawal from the principles expressed in the Vienna Convention on the Law of Treaties. Those who qualify Community law as an auto- nomous legal order or even attribute to the Community a state-like character tend to deny such a right or to accept it only under extremely narrow circumstances. Irrespective of these basic divergences of views, the common view is that the present treaties "concluded for an unlimited period" do not allow for a "free right" to withdraw, as would be possible under the proposed new provision.

The authors discuss critically the withdrawal clause contained in Article 1-59. After outlining the legal significance of the exit question, the authors show that until now this question has been treated as "politically open", meaning that the Member States have de- liberately abstained from clearly declaring a position on the matter or even regulating it commonly in a binding way (Chapter I). With the adoption of the new provision, the dis- puted exit option would become law. The right to withdrawal laid down in Article 1-59 is conditioned by certain time limitations and procedures. The aim of these procedures is to

rung des Binnenmarktes, in Armin Hatje (Hrsg.), Das Binnenmarktrecht als Daueraufgabe, EuRBeih. 1/2002, S. 75 ff.

118 Siehe auch die entsprechende Klarstellung zu Absatz 3 des Artikel 1-59 im Sekreta- riatspapier der Regierungskonferenz (Anm. 108), S. 127: „In der Praxis ist kaum vorstellbar, dass ohne ein Abkommen zwischen dem betreffenden Staat und der Union die Verfassung auf diesen keine Anwendung mehr findet (Rechte natürlicher Personen, Rechte von Unter- nehmen, usw.)." 119 So auch - in anderer Terminologie („Differenzierung nach auiSen ) -Jams A. tmma- nouilidis/ Claus Giering, In Vielfalt geeint - Elemente der Differenzierung im Verfassungs- entwurf, Integration 26 (2003), S. 454 ff., 465.

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Recht auf Austritt aus der Europäischen Union? 25

arrive at a joint solution and, in case withdrawal cannot be averted, the conclusion of a "withdrawal agreement". But such an agreement is not a necessary prerequisite to leave the Union nor constitutive of withdrawal. After a certain period of time has elapsed, with- drawal may also become effective in the absence of such an agreement, the purpose of which is primarily to regulate the future relations between the Union and the leaving Member State (Chapter II).

The article goes on to demonstrate that it may be argued that with the introduction of an explicit right to voluntary withdrawal, a piece of the Union's "constitutional identity" is taken away. In its well known jurisprudence clarifying the unique supranational charac- teristics of the Community legal order, the ECJ has repeatedly referred to the "unlimited duration" of the founding treaties and the "irreversible nature" of the limitation of the "sovereign rights" of the Member States (Chapter III). Taking further into account some other "new treaty language" in the Draft Constitution, accentuating the role of the Member States in the multilevel order of the Union (Chapter IV), it is concluded that the withdrawal clause might have a negative impact upon the further shaping of the Union's supranational identity.

Chapter V deals with the subjective dimension of the proposed withdrawal clause. Un- der the present regime, individuals and companies are protected against arbitrary decisions of the Member States to leave the Union without valid reasons. It is one of the greatest achievements and pivotal features of Community law that it confers rights (and obligations) directly upon private actors and companies and not only upon the States. According to the authors, illegal withdrawal from the Union would necessarily infringe upon such rights and would, thus, give rise to state liability according to the principles enunciated by the ECJ. Once the envisaged withdrawal clause becomes law, it could no longer be argued that with- drawal violates Community law. In that case, only national law might eventually provide some "safety net" in this regard.

In a final conclusion (Chapter VI), the authors argue against political attempts to play down the proposed withdrawal clause or even to sell it as an instrument to make withdrawal more difficult (through the time limitations and procedural requirements foreseen in Ar- ticle 1-59). Besides the aforementioned legal objections, they see a risk of the exit-option being misused by Member States to exert pressures of any kind and to arrive through the "back door" of leaving the Union (or at least by threatening to do so) at some kind of "diffe- rentiated integration" according to their particular interests (via the "withdrawal agree- ment" or even within the Community). For the first time in its history, the Community might be faced with wishes for "reverse differentiation", whereas until now only "progres- sive differentiation" in the form of enforced cooperation in accordance with Title VII of the EU-Treaty is foreseen under narrow conditions.

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