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Europa nach der Krise

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Michael Heise

Europa nach der Krise

Die Währungsunion vollenden

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ISBN 978-3-642-54619-8 ISBN 978-3-642-54620-4 (eBook)DOI 10.1007/978-3-642-54620-4

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Springer Gabler© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektro-nischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Lektorat: Stefanie Brich, Ingrid Walther

Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier

Springer Gabler ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media www.springer-gabler.de

Michael HeiseAllianz SEMünchenDeutschland

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V

Vorwort

Die Krise hat auch Europas Denken verändert. Seit dem Zweiten Weltkrieg kannte die europäische Integration nur eine Richtung, das weithin akzeptierte Ziel war die „immer engere Union“. Die-ser Prozess verlief nicht immer geradlinig, aber niemand zweifelte ernsthaft an der Finalität des europäischen Projekts. Das griechi-sche Drama und die folgenden heftigen Finanzmarktturbulenzen haben diesen Glauben in Frage gestellt. Plötzlich war die Desinte-gration Europas wieder eine echte und reale Gefahr, ein Rückfall in die politische Kleinstaaterei schien nicht länger undenkbar.

Es war ein notwendiger Weckruf zur rechten Zeit. Nach der Schaffung der Währungsunion und der erfolgreichen Osterwei-terung hatte sich ein wenig Selbstgefälligkeit in Europa breitge-macht. Der Integrationsprozess wurde mehr und mehr als ein Projekt der Eliten wahrgenommen, dessen Details von den Ex-perten im „Raumschiff Brüssel“ ausgehandelt werden. Die Bür-ger Europas verschwendeten dagegen nicht allzu viele Gedanken an Europa und seine Zukunft. Irgendwie schien das europäische Projekt und sein Versprechen von Frieden und Versöhnung im 20. Jahrhundert hängen geblieben zu sein. Was für einen Unter-schied eine Krise machen kann.

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VI Vorwort

Endlich haben wir die notwendige und intensive öffentliche Debatte über den Fortgang der europäischen Integration. Selbst Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts über das Klein-gedruckte der Europäischen Verträge oder die Instrumente der Europäischen Zentralbank werden zu Topnachrichten und in der Breite diskutiert, gar nicht zu reden von der wachsenden Zahl an Artikeln und Büchern, die sich wieder mit Europa beschäftigen. In diese Reihe gehört auch das Buch von Michael Heise, Ergebnis seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema als Chef-volkswirt der Allianz SE. Es unterscheidet sich in einem wich-tigen Punkt von vielen anderen Beiträgen: Es schließt die Kluft zwischen akademischer Analyse und praktischen, geschäftsrele-vanten Empfehlungen.

Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion hat eine herausgehobene Bedeutung für die politische und ökonomische Zukunft unseres Kontinents. Im Umgang mit der gemeinsamen Währung entscheidet sich, ob Europa erfolgreich seinen Platz im 21. Jahrhundert definieren kann. Dabei wird das globale Umfeld schwieriger: der Aufstieg neuer Mächte, die Alterung unserer Ge-sellschaften und der Klimawandel stellen gewaltige Herausforde-rungen dar. Um den europäischen Traum am Leben zu erhalten – der nicht nur von steigendem Wohlstand, sondern mehr noch von Nachhaltigkeit, sozialer Gerechtigkeit und Vielfalt handelt –, ist es notwendig, dass Europa als Ganzes neue Wege gemeinsamer Entscheidungsfindung und geteilter Verantwortung geht. Gelingt dies nicht, wird Europas Stimme aufhören, in der wirtschaftlichen und politischen Weltordnung von morgen Gehör zu finden. Und ohne internationale Bedeutung und Einfluss ist der schleichende Niedergang unvermeidlich. Natürlich bringt uns der Euro nicht automatisch dem Ziel einer politischen und fiskalischen Union näher. Aber die gemeinsame Währung hat zur Intensivierung der

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VIIVorwort

politischen Bemühungen auf diesem weiten und mühsamen Weg beigetragen. Und wie schon das alte chinesische Sprichwort sagt, jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt – und diesen Schritt hat Europa getan.

Michael Diekmann

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IX

Danksagung

Die Ideen und Schlussfolgerungen dieses Buches basieren auf vielen Jahren der laufenden Forschung in der Abteilung Eco-nomic Research und Corporate Development der Allianz SE in München, Frankfurt und London. Viele meiner Kollegen haben mich technisch und inhaltlich unterstützt. Zunächst möchte ich Anna Sophia Winter, Laura Pütz, Teresa Schill und Maximilian Müller danken, die bei der ersten englischen Auflage des Bu-ches als Praktikanten in meiner Abteilung beschäftigt waren und kompetent bei der Erarbeitung von Diagrammen, Tabellen und Textabschnitten behilflich waren. Besonders möchte ich Bianca Mittermeier für die Koordination danken. Von meiner Kollegin Ann-Katrin Petersen und den Kollegen Dr. Arne Holzhausen und Dr. Rolf Schneider habe ich viele inhaltliche Impulse bekommen. Alle etwaigen inhaltlichen Fehler liegen jedoch in meiner Verant-wortung.

Verschiedene Aspekte des Themas der Eurokrise und der Wäh-rungsunion wurden in einer Reihe von Vorlesungen und Semina-ren behandelt, die ich seit Beginn der Krise 2007/2008 an der Jo-hann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt in Kooperation mit Prof. Dr. Beatrice Weder di Mauro (Mainz) und Prof. Dr. Rainer Klump (Frankfurt) gehalten habe. Für sehr hilfreiche Hinweise

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X Danksagung

zur englischen Ausgabe bin ich in besonderer Weise Prof. Dr. Clemens Fuest, ZEW Mannheim, und Prof. Dr. P. J. J. Welfens, Wuppertal, dankbar. Das Buch versucht, in einer hoffentlich ver-ständlichen Art und Weise, technische und theoretische Frage-stellungen zu erläutern, und richtet sich damit an Leser, die nicht nur an den politischen Schlussfolgerungen, sondern auch an den zugrundeliegenden volkswirtschaftlichen Zusammenhängen in-teressiert sind. Deren Analyse ist notwendig, um mehr Klarheit in die Fülle der widersprüchlichen Argumente zu bringen, die öf-fentlich diskutiert werden. Während in einigen Kapiteln aktuelle Publikationen zitiert werden, ist es nicht der Anspruch des Bu-ches, einen umfassenden Überblick über die vielfältige Literatur zu den wirtschaftlichen Aspekten der europäischen Integration und der jüngsten Schuldenkrise zu geben. Dieses Buch ist in ers-ter Linie aus der Sicht eines Unternehmensökonomen geschrie-ben, der weniger die akademische als vornehmlich die unterneh-mensstrategische Perspektive zu behandeln hat.

Prof. Dr. Michael Heise

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XI

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung – Eine Krise höchster Komplexität � � � � � � 1

2 Der Weg zur Europäischen Währungsunion � � � � � � � � 5Literatur � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 19

3 Die Entstehung der Schuldenkrise � � � � � � � � � � � � � � � � 21Literatur � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 30

4 Die volkswirtschaftliche Bilanz des Euro – Wer profitiert? � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 314�1 Eine Weltwährung entsteht � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 334�2 Preisstabilität in der Eurozone � � � � � � � � � � � � � � � � � 364�3 Wachstumseffekte des Euro nicht eindeutig � � � � � 384�4 Der Euro verstärkt Handel und Kapitalverkehr

in der Währungsunion � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 414�5 Vorteile für den deutschen Export und die

Wirksamkeit von Reformen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 44Literatur � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 47

5 Eine Neubewertung der Kriterien für einen optimalen Währungsraum in Europa � � � � � � � � � � � � � � 495�1 Asymmetrische Schocks und

Anpassungsoptionen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 50

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XII Inhaltsverzeichnis

5�2 Offenheit der Wirtschaft und Diversifikation der Produktionsstruktur � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 52

5�3 Lohnflexibilität und Arbeitskräftemobilität � � � � � � 575�4 Kapitalmobilität � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 635�5 Finanzmarktintegration � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 675�6 Kohärenz in der Wirtschaftspolitik � � � � � � � � � � � � � 69Literatur � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 73

6 Versäumnisse der Finanzpolitik und der makroökonomischen Stabilisierung � � � � � � � � � � � � � � � 756�1 Der zahnlose Stabilitätspakt � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 776�2 Makroökonomische Ungleichgewichte � � � � � � � � � 83Literatur � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 94

7 Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen � � � � � � � � � � 977�1 Wege aus der Schuldenkrise – Wachstum

und Austerität � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 997�1�1 Die richtige Kombination aus

Konsolidierung und wachstumsorientierten Reformen � � � � � � � 99

7�1�2 Länderbeispiele für erfolgreiche Konsolidierung mit Reformen � � � � � � � � � � 104

7�1�3 Die Schuldenszenarien der Zukunft � � � � � � 1117�1�4 Basisszenario: Ausgabendisziplin,

niedrigere Risikoprämien und moderates Wirtschaftswachstum � � � � � � � � 114

7�1�5 Risikoszenario: Nachlassende Konsolidierungsbemühungen und schwaches Wirtschaftswachstum � � � � � � � � 114

7�1�6 Positives Szenario: Ausgabenzurückhaltung und stärkeres Wirtschaftswachstum � � � � � � � � � � 115

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XIIIInhaltsverzeichnis

7�1�7 Schuldenstabilisierung: Nur mit Entschlossenheit zu bewältigen � � � � � � � � � 116

7�2 Die Vermeidung makroökonomischer Ungleichgewichte � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 116

7�3 Integrationsfortschritt Bankenunion � � � � � � � � � � � 1217�4 Der Euro 2024 – Ein Rückblick � � � � � � � � � � � � � � � � 124

7�4�1 Neue Institutionen und multiple Geschwindigkeiten � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 128

7�4�2 Fiskalpolitische Regeln mit Biss � � � � � � � � � 1347�4�3 Makroökonomische Stabilisierung,

Bankenaufsicht und Strukturreformen � � � 136Literatur � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 138

8 Krisenmanagement muss Reformanreize setzen � � � � 1418�1 Preisniveaustabilität und verlässliche

Rahmenbedingungen für langfristige Investitionen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 143

8�2 Die Vergemeinschaftung von Schulden in der Eurozone � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 149

8�3 Die Lernkurve des Krisenmanagements � � � � � � � � 1558�4 Geeignete Wege des Krisenmanagements und

neue Finanzierungsinstrumente � � � � � � � � � � � � � � � 1588�5 Warum nicht die Eurozone umbauen? � � � � � � � � � � 164Literatur � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 168

9 Schlusswort � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 169Literatur � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 172

Sachverzeichnis � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 173

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XV

Abkürzungsverzeichnis

AQTIV Aktivieren, Qualifizieren, Trainieren, Investieren, Vermitteln

BIP BruttoinlandsproduktBIZ Bank für Internationalen Zahlungsausgleichca. circaCAGR Compound Annual Growth Rate (Durchschnittli-

che jährliche Wachstumsrate)COM/KOM Commission/KommissionEFSF European Financial Stability FacilityEFSM European Financial Stabilisation MechanismEFWZ Europäischer Fonds für Währungspolitische Zusam-

menarbeitEGKS Europäische Gemeinschaft für Kohle und StahlEIB Europäische InvestitionsbankEIP Excessive Imbalance ProcedureERCD Economic Research and Corporate DevelopmentESFS European System of Financial SupervisionESM European Stability MechanismESRB European Systemic Risk BoardEU Europäische UnionEuGh Europäischer GerichtshofEUR EuroEuratom Europäische Atomgemeinschaft

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XVI Abkürzungsverzeichnis

EWE/ECU Europäische Währungseinheit/European Currency Unit

EWG Europäische WirtschaftsgemeinschaftEWI Europäisches WährungsinstitutEWS Europäisches WährungssystemEWU Europäische WährungsunionEZB Europäische ZentralbankFDI Foreign Direct InvestmentG7 Group of Sevenggü. gegenüberGLF Greek Loan FacilityHVPI Harmonisierter VerbraucherpreisindexIIF Institute for International FinanceIWF Internationaler WährungsfondsKPM KorrekturmaßnahmenplanLTRO Longer-Term Refinancing OperationsMFIs Monetäre FinanzinstituteMio. MillionenMPC Monetary Policy CommitteeMrd. MilliardenNRPs Nationale ReformprogrammeOECD Organisation for Economic Co-operation and Develop-

ment (Organisation für wirtschaftliche Zusammen-arbeit und Entwicklung)

OMT Outright Monetary Transactionsp. a. per annoPSI Private Sector Involvement (Privatsektorbeteiligung)S. SeiteSE Societas EuropaeaSKPs Stabilitäts- und KonvergenzprogrammeSMP Securities Market ProgrammeSUERF Société Universitaire Européenne de Recherches

Financières

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XVIIAbkürzungsverzeichnis

TARGET Trans-European Real-time Gross Settlement Express Transfer System

TZ TextzifferUK United KingdomuqM umgekehrte qualifizierte MehrheitUS United StatesUSD US-DollarWKM WechselkursmechanismusVPI Verbraucherpreisindexz. B. zum Beispiel

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1

Einleitung – Eine Krise höchster Komplexität

M. Heise, Europa nach der Krise, DOI 10.1007/978-3-642-54620-4_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

1

Seit der inzwischen legendären Rede des EZB-Präsidenten Ma-rio Draghi im Juli 2012 in London herrscht Erleichterung an den Finanzmärkten. Das Schlimmste dürfte wohl überstanden sein. Diese Entspannung sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die europäischen Institutionen und die Regierungschefs der Europäischen Union noch vor gewaltigen Herausforderungen stehen, um die Funktionsfähigkeit der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion sowie ihre Widerstandfähigkeit gegenüber Schocks zu erhöhen. Trotz der verbesserten Bedingungen für die Staatsfinanzierung an den Kapitalmärkten bleibt die Situation hochgradig komplex. In vielen Ländern der Eurozone kann von einer Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen noch keine Rede sein, da Rezession und schwaches Wachstum die Länder in ihren Konso-lidierungsbemühungen zurückwerfen. Einige Strukturreformen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit sind umgesetzt wor-den, aber weitere Reformen stehen noch aus. Die Arbeitslosigkeit ist in vielen Ländern dramatisch angestiegen und überschreitet 25 % in Spanien und Griechenland. In dieser Situation stoßen politische Reformen im Bereich der Arbeitsmarktregulierung oder der Sozialsysteme schnell auf Widerstand und provozieren Demonstrationen in den Straßen. Radikale politische Kräfte be-kommen Rückenwind. Jenseits dieser Probleme auf nationaler Ebene stehen die Regierungschefs der EU auch vor der Aufgabe,

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2 1 Einleitung – Eine Krise höchster Komplexität

das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der EU und der EWU wiederherzustellen, damit sich in Zukunft Krisen dieses Aus-maßes nicht wiederholen. Das ist keine leichte Aufgabe, da die Kohäsion in der Union der 28 nachzulassen beginnt. Nationale Interessen laufen auseinander, in Großbritannien wird über einen Austritt aus der EU diskutiert. Spannungen gibt es auch innerhalb der EWU, etwa zwischen den Ländern, die finanzielle Transfers leisten oder die Risiken von Staatsschulden ihrer Partnerländer übernehmen sollen, und jenen, die die Unterstützung empfan-gen und manchmal leise, manchmal lauter nach mehr Solidari-tät rufen. Es gibt große Meinungsunterschiede im Hinblick auf die richtige Balance zwischen Maßnahmen der Konsolidierung und der Wachstumspolitik: Wie viel bittere Medizin in Form von staatlicher Sparpolitik und Lohnzurückhaltung muss eingenom-men werden, um wieder gesund zu werden? Und wie viel Solida-rität sind die Steuerzahler der stabilen Länder bereit zu leisten, ohne dass die europäische Integration in Gefahr gerät? Die Pro-blemlagen sind also komplex, und da ist es nicht überraschend, dass die Polarität der Meinungen größer wird und auch radikalere Anti-Euro-Parteien in den nationalen und europäischen Wahlen immer besser abschneiden.

Natürlich hat die Schuldenkrise in der europäischen Wirt-schafts- und Währungsunion in vielen Ländern die Zahl der Menschen steigen lassen, die die Gemeinschaftswährung in ihrer jetzigen Form kritisch betrachten. Eine gemeinsame Währung wird als hinderlich angesehen, um für die schwächeren Länder Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen. Aus dieser Perspektive ist die Gemeinschaftswährung eher ein Hemmnis als ein Kata-lysator für die weitere europäische Integration. Sie schaffe poli-tische Konflikte zwischen europäischen Partnerländern, die teil-weise – man nehme Griechenland – über eine Fremdbestimmung durch die Troika klagen, und anderen – man nehme Deutschland –, die sich gegen eine Vergemeinschaftung von Schulden wehren,

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31 Einleitung – Eine Krise höchster Komplexität

die durch unsolide Haushaltspolitik in anderen Ländern entstan-den sind. Kritiker des Euro ziehen daraus den Schluss, dass die Währungsunion zumindest neu gestaltet werden müsse, um das gefährliche „Experiment“ einer Währung für so viele unterschied-liche und souveräne Nationalstaaten zu beenden. Europa werde auch ohne den Euro nicht scheitern.

In diesem Buch wird eine andere Richtung eingeschlagen. Ja, es gibt deutliche Zielkonflikte zwischen den Ländern der Wäh-rungsunion, aber sie müssen überwunden werden. Eine Auflö-sung des Euro ist keine Lösung. Sie würde horrende ökonomische und politische Kosten erzeugen und Jahrzehnte der Bemühungen um Integration und Kooperation in der Gemeinschaft in Gefahr bringen. Es würde zu einer Renationalisierung der Politik kom-men. Die zweitwichtigste Weltwährung würde verschwinden und die Länder, die hinter ihr stehen, würden in einer sich rapide ver-ändernden Weltordnung mit neuen politischen und ökonomi-schen Kräften weiter an Einfluss verlieren. Niemand – schon gar nicht die USA oder China – wartet darauf, dass 28 EU-Länder mit einer Vielzahl von Währungen und Meinungen ihre jeweiligen Positionen für die Weiterentwicklung der globalen Weltordnung einbringen. Weitere ökonomische und politische Integration hin-gegen ist von zentraler Bedeutung, um Europas Rolle in der Welt-wirtschaft und Weltpolitik zu sichern. Europäische Integration muss allerdings auf einem breiten öffentlichen und politischen Konsens basieren. Die Rettung des Euro ist für sich genommen kein hinreichendes Argument, um die Integration voranzutrei-ben. Vor allem nicht, wenn der politische Konsens dafür fehlt. Auf der anderen Seite bietet die Erfahrung der Krise auch die Chance, Schritte der politischen Integration einzuleiten, die in der Ver-gangenheit nahezu undenkbar gewesen wären. Die Krise kann einen Sprung in Richtung stärkerer fiskalpolitischer Kooperation, besserer Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene und einer angemessenen Reform der politischen Institutionen bewirken.

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4 1 Einleitung – Eine Krise höchster Komplexität

Die Politik ist auf diesem Weg in den letzten Jahren bereits große Schritte vorangekommen. Aber es gibt noch mehr zu tun – die Bedingungen für eine gut funktionierende Währungsunion sind noch nicht alle gegeben. Nach wie vor fehlen verschiedene Ele-mente einer „optimalen Währungsunion“ seit der Einführung des Euro im Jahr 1999. Insbesondere müssen klare und einklagbare Regeln für fiskalische Disziplin und für wirtschaftspolitische Zu-sammenarbeit geschaffen werden. Die Mitgliedsländer müssen ihre Verantwortung für die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen und die Stabilität ihrer makroökonomischen Entwicklung akzeptie-ren. Dieses Buch wird die notwendigen Elemente einer funktio-nierenden Währungsunion darlegen und die Gründe beleuchten, warum das System Funktionsschwächen aufwies und in so große Probleme hineingeraten ist. Die Analyse soll herausarbeiten:

• ErfolgeundMisserfolgederWährungsunion(Kap. 4)• Wichtige strukturelle Reformen zur Stabilisierung derWäh-

rungsunion (Kap. 5)• Wege,umfinanzpolitischeNachhaltigkeitzusichernundeine

stabile makroökonomische Entwicklung herzustellen (Kap.  6 und 7)

• DieBedeutungunddieWirksamkeitwachstumspolitischerRe-formen, die jede fiskalische Konsolidierung begleiten müssen (Kap. 7.1)

• Die angemessenen Instrumente des Krisenmanagements so-wie die hohen Kosten einer Restrukturierung der Eurozone (Kap. 8)

Vor diesem Hintergrund soll eine langfristige Perspektive für die Eurozone als Teil der EU herausgearbeitet werden (Kap. 7.4). Da-bei handelt es sich um eine normative Darstellung, nicht um eine Prognose, mit dem Ziel, einen Beitrag zu einer hoffentlich inten-siven öffentlichen Debatte über die Zukunft der EWU in der EU in den nächsten Jahren zu leisten.

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5

Der Weg zur Europäischen Währungsunion

M. Heise, Europa nach der Krise, DOI 10.1007/978-3-642-54620-4_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

2

7 Seit der unwiderruflichen Festlegung der Wechsel-kurse elf europäischer Länder am 1. Januar 1999 ist der Euro die offizielle Währung für 336 Mio. Menschen. Das BIP der heute 18 Länder umfassenden Eurozone sum-miert sich auf 9,6 Billionen € (2013) und liegt somit auf Platz 2 hinter den Vereinigten Staaten. Ein derartiges währungspolitisches Integrationsprojekt hat es in der Geschichte noch nicht gegeben. Die Gestaltung der Währungs- und Wirtschaftspolitik in der Währungs-union ist eine komplexe und einzigartige Aufgabe. Die Idee einer Gemeinschaftswährung ist tief in der euro-päischen Geschichte verankert. Während die frühen Vorschläge zur Einführung einer europäischen Gemein-schaftswährung vom Gedanken der politischen Einheit getrieben waren, hatten die ersten konkreten Schritte zur Währungsintegration das wirtschaftliche Ziel, Wech-selkursschwankungen zu beschränken und die Wäh-rungsbeziehungen zu stabilisieren. Dieses Ziel gewann nach der Auflösung des festen Wechselkurssystems von Bretton Woods und den starken Schwankungen des US-Dollar auf den Devisenmärkten weiter an Bedeutung. Dieses Kapitel stellt einen kurzen Abriss der Entstehung der Gemeinschaftswährung dar und zeigt auf, welche

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6 2 Der Weg zur Europäischen Währungsunion

Schritte zum Euro in seiner heutigen Gestalt geführt haben.1

1 Für tiefgehende und umfassende historische Analysen siehe James (2012) und Marsh (2009). Zusätzliche Informationen auch zu finden in Baldwin und Wyplosz (2009) und Europäische Union, EU (1995–2012).

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72 Der Weg zur Europäischen Währungsunion

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8 2 Der Weg zur Europäischen Währungsunion

Die Informationsseiten der EU-Kommission weisen darauf hin, dass eine europäische Gemeinschaftswährung bereits 1929 vom damaligen deutschen Außenminister erwogen wurde. Gustav Stresemann stellte vor dem Völkerbund am 9. September 1929 folgende Frage: „Wo bleibt in Europa die europäische Münze, die europäische Briefmarke?“ (European Commission 2012b). Stre-semann klagte über die Grenzen, die durch den Versailler Ver-trag entstanden waren und seiner Ansicht nach das Reisen und den Handel in Europa behinderten. Diese visionären Gedanken waren ihrer Zeit außergewöhnlich weit voraus; nur wenige Jahre nach Stresemanns Rede durchlebte Europa sein dunkelstes Ka-pitel. Die Tragödie des Zweiten Weltkriegs führte jedoch letzten Endes zur Gründung dreier europäischer Institutionen, aus denen

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92 Der Weg zur Europäischen Währungsunion

sich später die Europäische Union entwickeln sollte und die den Weg für die Gründung des Euro ebneten. Sechs Länder – Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Luxemburg und die Niederlan-de – gründeten am 18. April 1951 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Im März 1957 legten die Römischen Verträge zwischen diesen Ländern den Grundstein für die Euro-päische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom). Da das Bretton-Woods-System bereits existierte, stand die währungspolitische Koordinierung zunächst nicht im Fokus der EWG. Das änderte sich jedoch in den Jahren, als das Bretton-Woods-System auseinanderzubre-chen begann. Die Bemühungen der Währungsintegration lassen sich grob in drei Vorstöße unterteilen. Sie machen es leichter, den Ablauf der Ereignisse zu verstehen:

• Den ersten Vorstoß bildete der Barre-Bericht aus dem Jahr1969 mit dem Ziel einer Wirtschafts- und Währungsunion. Wenn auch diese erste Initiative nicht von Erfolg gekrönt war, so markiert sie doch den Beginn der Bemühungen um wäh-rungspolitische und wirtschaftliche Integration und spätere Vorstöße konnten Lektionen aus dieser Initiative ableiten.

• DerzweiteVorstoßerfolgte1979mitderGründungdesEuro-päischen Währungssystems (EWS) und der Europäischen Währungseinheit (EWE).

• DerdritteVorstoß,derspäter tatsächlichzurEinführungdesEuro führen sollte, begann mit dem „Bericht zur EWU in der Europäischen Gemeinschaft“ des Delors-Ausschusses 1989 (European Commission 2012a).

Noch vor diesen Bemühungen hatte der Europäische Rat 1964 eine engere Zusammenarbeit der Zentralbanken der Mitgliedsstaaten der EWG beschlossen, insbesondere auf dem Gebiet der inter-nationalen währungspolitischen Beziehungen. Mitgliedsstaaten

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10 2 Der Weg zur Europäischen Währungsunion

sollten sich vor Änderungen der Wechselkursparitäten gegensei-tig konsultieren. Bei ihrem Gipfel 1969 in Den Haag vereinbar-ten die Staats- und Regierungschefs auf Basis des Barre-Berichts ein neues Ziel der europäischen Integration, nämlich eine Wirt-schafts- und Währungsunion (EWU). Eine Arbeitsgruppe unter der Leitung des luxemburgischen Premierministers Pierre Werner erhielt den Auftrag, einen Bericht darüber zu erstellen, wie dieses Ziel bis 1980 erreicht werden könne. Gründe, nach währungspoli-tischer Stabilität und Kooperation zu streben, gab es viele. Für re-lativ kleine, offene europäische Volkswirtschaften war der Wech-selkurs eine Quelle von Störungen, denn hoch volatile nominale Wechselkurse wirkten sich in Form von Unsicherheit und Absi-cherungskosten negativ auf Handel und Investitionen aus. Vola-tile Wechselkurse behinderten die sich verstärkenden innereuro-päischen Handelsbeziehungen und erschwerten den Umgang mit integrierten Werteketten. Das Bretton-Woods-System mit dem Dollar als Ankerwährung geriet Ende der 60er Jahre in Schwie-rigkeiten, und die europäischen Staaten strebten nach größerer Unabhängigkeit von der Geldpolitik der Vereinigten Staaten. Die kontinuierliche Abwertung des Dollar sowie die expansive Geld-politik zur Finanzierung des Vietnamkriegs liefen europäischen Interessen immer stärker zuwider. Aus diesen Gründen zogen die EWG-Mitgliedsstaaten die Gründung einer Währungszone als realisierbare Alternative in Betracht, um stärkere währungspoli-tische Unabhängigkeit und Stabilität zu erzielen.

In ihrem finalen Bericht vom Oktober 1970 entwarf die so-genannte Werner-Gruppe einen schrittweisen Plan für die Um-setzung der angestrebten Wirtschafts-und Währungsunion bis 1980. Die Einführung einer europäischen Gemeinschaftswäh-rung galt dabei zwar als langfristiges Prozessergebnis, doch vor-rangige Ziele waren die vollständige Liberalisierung des Kapital-verkehrs, die vollständige Konvertierbarkeit der Landeswährun-gen sowie die Festlegung von Wechselkursen. Um diese Ziele zu

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112 Der Weg zur Europäischen Währungsunion

erreichen, empfahl die Werner-Gruppe den Mitgliedsstaaten, ihre Wirtschaftspolitik besser zu koordinieren und Regeln für Nationalhaushalte zu erstellen. Obwohl die Mitgliedsstaaten die von der Werner-Gruppe empfohlenen Maßnahmen verabschie-deten, mangelte es doch am Willen, konkrete Schritte zu ergrei-fen. Schließlich scheiterte der Werner-Plan aufgrund der einset-zenden Finanzmarktturbulenzen. Im August 1971 schlossen die Vereinigten Staaten unilateral das Gold-Fenster und verkündeten, dass der Dollar fortan nicht mehr in Gold konvertierbar sei. Die daraus resultierende Abwertung bescherte den Inhabern von US-Dollar Verluste. Der endgültige Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems im Jahr 1973 durchkreuzte schließlich die Pläne für die Währungsunion in Europa, denn diese tiefgreifende Än-derung des Wechselkurssystems führte zu Instabilitäten auf den Devisenmärkten und stellte eine hohe Belastung für die Paritäten zwischen den europäischen Währungen dar. Steigende Ölpreise verstärkten diese Belastung noch und lösten eine Reihe unter-schiedlicher politischer Reaktionen in den Mitgliedsstaaten aus.

Im März 1972 hatten sich die sechs Gründungsmitglieder der EWG zur Zusammenarbeit entschieden, um so eine Stabilisierung der Wechselkurse durch die sogenannte „Schlange im Tunnel“ und die Gründung des Europäischen Fonds für Währungspoliti-sche Zusammenarbeit (EFWZ) im Jahr 1973 herbeizuführen. Der Währungsschlangen-Mechanismus sollte sicherstellen, dass sich die Währungen der Mitgliedsstaaten innerhalb einer bestimmten Schwankungsbreite gegenüber dem Dollar bewegten, und band somit die EWG-Währungen aneinander mit dem Ziel, die inner-europäischen Handelsbeziehungen zu stabilisieren. Die neuen Mitgliedsstaaten Großbritannien, Dänemark und Irland traten dem Mechanismus ebenfalls bei. Der „Tunnel“ legte bestimm-te Bandbreiten für Schwankung gegenüber dem Dollar fest; die „Schlange“ beschreibt das kontrollierte Floaten der Währungen gegenüber dem Dollar innerhalb dieser Bandbreiten. Jedoch setz-

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ten die anhaltende Dollarschwäche, unterschiedliche wirtschafts-politische Ansätze der Mitgliedsstaaten und die Ölkrise diesem Mechanismus schnell ein Ende: Innerhalb von zwei Jahren stie-gen fast alle Mitglieder aus dem Mechanismus aus. Fehlende währungspolitische Disziplin und der Wunsch, Wachstums- und Beschäftigungsanreize zu schaffen, waren die Gründe, die Län-der ursprünglich zum Beitritt bewogen hatten. Aus genau densel-ben Gründen schieden Länder aber auch aus dem Europäischen Währungssystem wieder aus, je nachdem was ihnen in ihrer je-weiligen Situation vorteilhafter erschien. So verließ Frankreich das System gleich zweimal – erstmals im Jahr 1974 und dann im Jahr 1976, nachdem es vorübergehend wieder beigetreten war. Italien und Schweden verfolgten ebenfalls ihren eigenen Kurs. Nachdem nicht einmal die erste Phase erfolgreich abgeschlossen werden konnte, waren die zweite und dritte Phase des Werner-Plans ebenfalls hinfällig. Der Tunnel hatte sich nicht nur aufgrund des frei schwankenden Dollar-Wechselkurses nach Aufhebung des Goldstandards im Jahr 1971 aufgelöst, auch die „Schlange“ hatte keinen Bestand, da sich die Mitgliedsstaaten nicht an den Mechanismus hielten. Die Folge war eine Währungszone mit der Deutschen Mark als Ankerwährung, wobei insbesondere kleinere Länder (wie Dänemark oder die Beneluxstaaten) der Geldpolitik der Deutschen Bundesbank folgten, die ihre Unabhängigkeit von politischen Interessen und ihre Verpflichtung auf Geldwertstabili-tät erfolgreich demonstriert hatte.

Den zweiten Versuch, endlich eine Wirtschafts- und Finanz-union mit stabilen Wechselkursen zu schaffen, unternahmen im März 1979 der französische Staatspräsident Giscard d’Estaing und der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt mit der Gründung des Europäischen Währungssystems (EWS). Der Europäische Rat hatte im Juli 1978 die grobe Ausrichtung des EWS verabschiedet und beschlossen, dass es alle Währungen der EWG umfassen und auf einer Europäischen Währungseinheit (EWE) basieren solle,

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die eine tragende Säule für das Systems bilden würde. Des Wei-teren sah das neue System feste, aber anpassungsfähige Wechsel-kurse vor, die Regeln unterworfen waren, die mindestens genauso streng wie die der „Schlange“ sein sollten. Obwohl es ebenfalls die Schaffung und Aufrechterhaltung der Währungsstabilität zum Ziel hatte, sollte es auch zu engeren wirtschaftlichen Konvergen-zen zwischen den Mitgliedsstaaten führen. Mit Ausnahme Groß-britanniens beteiligten sich alle Mitgliedsstaaten. Als Benchmark für die Berechnung von Wechselkursen sollte die EWE einen neu geschaffenen Kreditmechanismus zwischen den Mitgliedsstaaten darstellen und die Deutsche Mark zumindest symbolisch als euro-päische Währung ersetzen. Die EWE war der gewichtete Durch-schnitt der beteiligten Währungen, wobei die Mark anfangs 33 % und der Franc 20 % dieser virtuellen Korbwährung ausmachte. Die einzelnen Währungen konnten innerhalb einer Bandbreite von +/− 2,25 % der bilateralen Kurse schwanken, basierend auf der Berechnung der EWE. Italien wurde eine Schwankungsbrei-te von 6 % zugestanden. Interventionsregelungen basierten auf diesen bilateralen Kursen, nicht auf den zentralen Paritäten zur EWE. Das System geriet jedoch schon bald unter Druck, als der zweite Ölpreisschock im Jahr 1979 zu einem Aufwärtsdruck bei der Inflation und somit zu restriktiven währungspolitischen Maß-nahmen der Bundesbank führte, bei denen alle EWS-Mitglieder mehr oder weniger nachziehen mussten, um ihre Wechselkurse innerhalb der engen Bandbreiten zu halten. Zunehmende Span-nungen führten zu unzähligen Anpassungen der Wechselkurse bis in die frühen 90er Jahre. Trotz dieser Schwierigkeiten war die Gründung des EWS der Wendepunkt für die europäische Wäh-rungsintegration.

Zeitgleich mit der zunehmenden monetären Integration führte der EU-Rat 1985 das Binnenmarktprogramm ein und verabschie-dete 1987 die Einheitliche Europäische Akte, die die Einführung eines Markts ohne Binnengrenzen bis 1992 vorsah. Im Juni 1988

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verabschiedete der Europäische Rat eine Richtlinie über die voll-ständige Liberalisierung des Kapitalverkehrs und verschrieb sich dem Ziel einer schrittweisen Realisierung der Wirtschafts- und Währungsunion. Ein Ausschuss der Präsidenten der nationalen Zentralbanken, dessen Vorsitz Jacques Delors – damals Präsident der Europäischen Kommission – innehatte, erhielt die Aufgabe, konkrete Schritte zur Realisierung einer solchen Union zu ana-lysieren und vorzuschlagen. Der daraus resultierende Delors-Be-richt empfahl eine dreistufige Wirtschafts- und Währungsinteg-ration. Der Bericht wurde im April 1989 veröffentlicht und im Juni 1989 vom Europäischen Rat in Madrid verabschiedet. Dies ist von Bedeutung, da es oft heißt, die Zustimmung zum Euro sei der Preis, den die Regierung Kohl für die deutsche Einheit gezahlt habe. Die Möglichkeit der Wiedervereinigung war jedoch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Delors-Reports noch nicht vorhersehbar, so dass viele der damaligen politischen Entschei-dungsträger diesem Argument widersprochen haben. Anderer-seits wurden jedoch die internationalen Verträge zum Euro erst in den Jahren nach dem Delors-Bericht erarbeitet, und die deutsche Position in diesen Verträgen wurde zweifellos durch die Wieder-vereinigung beeinflusst. Die Einführung des Euro war ein Signal an alle Partner, dass das wiedervereinigte Deutschland – bereit, die D-Mark als Symbol seines wirtschaftlichen Erfolgs und Teil der deutschen Identität zu opfern – ein wesentlicher, untrennba-rer Teil von Europa werden würde.

Im Jahre 1989 begann die Europäische Kommission mit Pha-se 1, der Einführung von Maßnahmen zur Abschaffungen aller Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs bis Juli 1990, wie im Delors-Bericht ausgeführt. Für den zweiten und dritten Schritt war jedoch ein neues institutionelles Rahmenwerk erforderlich. Zu diesem Zweck hielt der Europäische Rat im Dezember 1989 eine zwischenstaatliche Konferenz ab, die die Vertragsanpassun-gen identifizieren sollte, die für das rechtliche Rahmenwerk der

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endgültigen Einführung der EWU notwendig waren. 1991 ver-handelten die Staatsregierungen gemeinsam die wirtschaftliche, monetäre und politische Union. Dieser Prozess führte schließlich zum Vertrag von Maastricht über die Europäische Union, den die Staatschefs im Dezember 1991 beschlossen, am 7. Februar 1992 unterzeichneten und schließlich am 1. November 1993 ratifizier-ten. Dieser Vertrag bereitete den Weg für das Europäische System der Zentralbanken, die Gründung der Europäischen Zentralbank (EZB) im Jahr 1998 und die Definition ihrer Aufgabe. Der Ver-trag von Maastricht sah in einem dritten Schritt die Festsetzung von Wechselkursen für eine Gemeinschaftswährung vor – spä-testens im Jahr 1999. Die Bedingungen für die Einführung der neuen Währung erforderten u. a. die Einhaltung zweier Kriterien für einen stabilen Haushalt: Haushaltsdefizite sollten 3 % des BIP nicht übersteigen, selbst in konjunkturschwachen Zeiten, und die Staatsschulden sollten unterhalb der Schwelle von 60 % des BIP bleiben. Weitere zu erfüllende Konvergenzkriterien waren Teue-rungsraten, die maximal 1,5 % über dem Durchschnitt der drei stabilsten Länder liegen durften, Langfristzinsen, die den Durch-schnitt der drei Länder mit den niedrigsten Zinsen um nicht mehr als 2 % übertreffen durften, sowie eine spannungsfreie Teilnahme am Wechselkursmechanismus für mindestens zwei Jahre vor Ein-führung der Gemeinschaftswährung.

Ehe mit Phase 2 begonnen werden konnte, mussten jedoch der neue Wechselkursmechanismus (WKM) und das Europäi-sche Währungssystem 1992 einer weiteren Krise widerstehen. Die deutsche Wiedervereinigung und hohe deutsche Zinsen destabili-sierten den WKM, weil die restriktive Geldpolitik der Deutschen Bundesbank für die anderen Mitgliedsländer ungeeignet war. Italien hatte nicht nur mit einer Abschwächung der Konjunktur, sondern auch mit finanzpolitischen Problemen zu kämpfen. Mitte September 1992 wurde klar, dass die aktuelle Parität der Lira nicht länger aufrechterhalten werden konnte. Am 13. September sank

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der Wert der italienischen Lira um 7 %. Am Folgetag erreichte die Lira jedoch sofort wieder ihre neue WKM-Grenze, wogegen das britische Pfund aufgrund sich verstärkender Spekulation ebenfalls unter Druck geriet. Am 16. September, dem Schwarzen Mittwoch, fiel das britische Pfund unter seine WKM-Grenze und die Bank of England kündigte den Ausstieg von Sterling aus dem WKM an. Am selben Tag entschied sich Italien gegen weitere Interven-tionen und verließ ebenfalls den WKM. Diese Krise machte die Verletzbarkeit des WKM offensichtlich und führte später zur Ein-führung eines neu angepassten Wechselkursmechanismus (WKM II) und zur Ausweitung der Interventionsspannen auf 15 %.

Während der zweiten Phase von 1994 bis 1998 übernahm das Europäische Währungsinstitut (EWI) die Aufgaben des ehema-ligen Europäischen Fonds für Währungspolitische Zusammen-arbeit (EFWZ) und des Ausschusses der Präsidenten der Zentral-banken. Es war verantwortlich für die Förderung und Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Zentralbanken und die Koordination der Geldpolitik, verfügte jedoch über keine eigenen währungspolitischen Kompetenzen. Im Prinzip sollte es die Grundlagen für die Einführung einer gemeinsamen Geldpoli-tik und stabile Preise in der Währungsunion in Phase drei schaf-fen. Um dieses Ziel zu erreichen, war die größere Konvergenz der Wirtschaftspolitik erforderlich. Außerdem mussten die nationa-len Zentralbanken erst unabhängig werden, ehe mit Phase 3 be-gonnen werden konnte. Im Dezember 1995 beschloss das EWI, die Gemeinschaftswährung „Euro“ zu nennen und sie mit Beginn der dritten Phase am 1. Januar 1999 einzuführen. Schon im De-zember 1996 wurde das Design der Euro-Banknoten, die am 1. Januar 2002 in Umlauf gebracht werden sollten, der Öffentlichkeit vorgestellt.

Bei seiner Tagung in Madrid im Jahr 1995 entschied der EU-Rat, 1999 die dritte Phase mit unwiderruflich festgelegten Wech-selkursen einzuläuten. Deutschen Forderungen, den Vertrag von

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Maastricht durch einen Stabilitäts- und Wachstumspakt zu ergän-zen, wurde entsprochen. Der Pakt wurde aufgesetzt und schließ-lich im Juni 1997 verabschiedet. Er sollte die Fiskaldisziplin in den Mitgliedsstaaten der Wirtschafts- und Währungsunion sicher-stellen. Es gab noch Änderungen, aber im Mai 1998 wurde der Pakt letztlich ratifiziert. Das Europäische Parlament hatte bereits im Februar 1996 entschieden, dass „im Falle eines übermäßigen Defizits eines Mitgliedsstaats (…) die allgemeine wirtschaftliche Situation zu berücksichtigen sei“. Dadurch wurde die 3 %-Regel zwar flexibler, aber potenziell auch willkürlicher (European Com-mission 2012c). Das war ein frühes Indiz dafür, dass sich der Sta-bilitäts- und Wachstumspakt nicht so wirkungsvoll erweisen wür-de wie ursprünglich erhofft (siehe Kap. 6.1).

Am 2. Mai 1998 verkündete der Rat der Europäischen Union, dass elf Mitgliedsstaaten die Kriterien für die Teilnahme an der dritten Phase – und damit für die Einführung der Einheitswäh-rung am 1. Januar 1999 – erfüllten. Diese elf Länder waren Öster-reich, Belgien, Finnland, Frankreich, Deutschland, Luxemburg, Irland, Italien, die Niederlande, Spanien und Portugal. Für diese Entscheidung musste jedoch das 60 %-Verschuldungskriterium äußerst flexibel interpretiert werden, d.  h., Länder über dieser Verschuldungsgrenze konnten dem Kriterium trotzdem entspre-chen, solange sie zumindest Fortschritte auf dem Weg zu einem niedrigeren Schuldenstand aufwiesen. Sonst hätten Österreich, Belgien, Irland, Italien, die Niederlande, Portugal und Spanien die Eintrittsbedingungen nicht erfüllen können. Deutschland hat-te im Jahr 1997, das zur Bewertung herangezogen wurde, eben-falls einen Schuldenstand von leicht über 60 %. Zusammen mit den Präsidenten der nationalen Zentralbanken legten die Finanz-minister der entsprechenden Mitgliedsstaaten dann fest, dass die bilateralen Wechselkurse vom Mai 1998 als endgültige Umrech-nungssätze für den Euro herangezogen würden. Mit der Ernen-nung des Präsidenten, des Vizepräsidenten und der vier zusätz-

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lichen Mitglieder des EZB-Vorstands wurde die EZB am 1. Juni 1998 offiziell gegründet. Seitdem machen die EZB und die na-tionalen Zentralbanken das Eurosystem aus, das die gemeinsame Geldpolitik formuliert und festlegt.

Der 1. Januar 1999, der Tag der endgültigen Festlegung der of-fiziellen Wechselkurse der ehemaligen Nationalwährungen und der Einführung einer gemeinschaftlichen Geldpolitik durch die EZB, markiert den offiziellen Beginn der dritten und letzten Pha-se des Prozesses hin zur Wirtschafts- und Währungsunion. Die haushaltspolitischen Regelungen wurden verbindlich und jedes Mitgliedsland, das diesen Regeln nicht entspräche, sollte – zumin-dest theoretisch – mit Strafen rechnen.

Ehe die neue Währung schließlich den Bürgern Europas am 1. Januar 2002 ausgehändigt wurde, trat Griechenland 2001 der Eurozone bei, so dass die Eurozone zum Zeitpunkt der Verteilung der ersten Euronoten und -münzen 12 Mitgliedsstaaten umfass-te. Danach wurden Slowenien 2007, Zypern und Malta 2008, die Slowakei 2009, Estland 2011 und Lettland 2014 ebenfalls Mitglie-der. Wie im Vertrag zur Europäischen Union vorgesehen, müssen alle EU-Mitgliedsstaaten den Euro irgendwann einführen. Nur Großbritannien, Dänemark und – vorerst auch – Schweden ha-ben Nichtbeteiligung verhandelt. Die restlichen Mitgliedsstaaten haben die Konvergenzkriterien allerdings noch nicht erfüllt. Des-halb sind nicht alle EU-Mitgliedsstaaten auch Teil der Eurozone, sondern „nur“ 18. Das Projekt Europäische Währungsunion ist allerdings ein fortlaufender Prozess und noch lange nicht abge-schlossen.

Die verschiedenen Versuche einer Währungsintegration zei-gen, dass Fortschritte sprunghaft, nicht gleichmäßig erfolgten. Zu unterschiedlich waren die Ansichten der einzelnen Länder. Einerseits befürworteten die „Monetaristen“, hauptsächlich ver-treten durch Frankreich, stärkere Wechselkursstabilität als Treib-satz für mehr Integration und Konvergenz. Andererseits betonten

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19Literatur

die „Ökonomen“, vor allem in Deutschland, wie wichtig es als Vo-raussetzung für eine Wirtschafts- und Währungsunion sei, erst Konvergenz und politische Integration zu erreichen (Issing 2008). Dementsprechend sprach sich die deutsche Regierung unter Kanzler Kohl für eine vorangehende engere politische Union aus, doch dem stellte sich Frankreichs Präsident Mitterand entgegen. Diese Kontroverse ist nicht nur für ein Verständnis der Konflikte in der Vergangenheit auf dem Weg zu monetärer Integration un-erlässlich. Sie spielt auch in der aktuellen Kontroverse um eine engere Fiskal- und politische Union eine Rolle (siehe Kap. 7.3).

Literatur

Baldwin R, Wyplosz C (2009) The economics of European integration. McGraw-Hill, New York

European Commission (2012a) EMU: a historical documentation – EMU story

European Commission (2012b) EMU: A historical documentation – historical documentation of EMU and the euro. Kapitel 1

European Commission (2012c) EMU: A historical documentation – chronology of decisions

European Union (1995–2012) Towards a single currency: a brief history of EMU

Issing O (2008) Der Euro: Geburt – Erfolg – Zukunft. C.H. Beck, Mün-chen

James H (2012) Making the European Monetary Union. Harvard Uni-versity Press, Cambridge

Marsh D (2009) Blood, gold and the euro: the politics of the new global currency. Yale University Press, London

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Die Entstehung der Schuldenkrise

M. Heise, Europa nach der Krise, DOI 10.1007/978-3-642-54620-4_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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7 Die Staatsschuldenkrise der Eurozone wird häufig als direkte Konsequenz der globalen Finanzmarktkrise angesehen, die mit dem Zusammenbruch des Mark-tes für zweitrangige Hypothekenkredite in den USA 2008 und 2009 begann. Offenkundig hat die Finanz-marktkrise die öffentlichen Budgets stark belastet. Not-wendige Kapitalzuschüsse für Banken, der Verlust an Steuereinnahmen und höhere Ausgaben aufgrund der „großen Rezession“ in 2009 rissen tiefe Löcher in die öffentlichen Budgets der Euroländer. Kreditfinanzierte Konjunkturprogramme taten in den allermeisten Län-dern ein Übriges, um die Schuldenprobleme, die schon vor der Krise beachtlich waren, weiter zu verschärfen. Aber dies ist nur ein Teil der Geschichte. Um ein vollstän-diges Bild von den Gründen der Staatsschuldenkrise zu bekommen, muss man in die Zeit vor der Euro-Einfüh-rung zurückblicken.

Der Einführung des Euro ging eine verhältnismäßig starke nach unten gerichtete Konvergenz der Zinsen in den potenziellen Mit-gliedsländern voran (vgl. Abb. 3.1). Die Finanzierungsbedingun-gen für die Regierungen der jeweiligen Länder verbesserten sich rasant. Die Banken in der Eurozone nutzten den Vorteil eines großen einheitlichen Währungsmarktes, expandierten über die

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Grenzen hinweg und steigerten das Kreditangebot an Unter-nehmen und private Haushalte. Viele Länder hatten nie zuvor dermaßen niedrige Kreditzinsen erlebt. Die Schuldenaufnahme beschleunigte sich und das Wachstum wurde durch kreditgetrie-bene Ausgaben für Konsum, privaten Wohnungsbau und unter-nehmerische Investitionen beschleunigt. Die öffentlichen Haus-halte profitierten durch stark steigende Steuereinnahmen in der Wachstumsphase, die bis etwa 2001 dauerte, sie taten aber wenig, um das Ausgabewachstum zu begrenzen. Trotz des Wirtschafts-booms misslang es den damals elf EWU-Ländern, einen ausgegli-chenen öffentlichen Haushalt im Jahre 2000 zu erzielen. Sie ver-säumten es, die guten Jahre zu nutzen, um ihre Staatsverschuldung zu reduzieren, die auch in 2000 noch immer 69 % des BIP betrug und damit klar über der Maastricht-Grenze von 60 % lag. Mit dem Zerbersten der sogenannten „New Economy“-Blase an den welt-weiten Aktienmärkten, den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001 und dem nachfolgenden Krieg in Afghanistan und im Irak änderte sich die Situation dramatisch. Die Weltwirt-schaft rutschte in eine Rezession, die die öffentlichen Finanzen belastete und in vielen Ländern, einschließlich Deutschlands und Frankreichs, eine Neuverschuldung von über 3 % in Relation zum BIP zur Folge hatte. Unter der Leitung von Duisenberg senkte die EZB ihre Leitzinsen, so wie es auch andere große Notenbanken taten. Mit der allmählichen Stabilisierung der Volkswirtschaften und sehr niedrigen Zinsen belebte sich die Kreditnachfrage er-neut. Es entwickelte sich ein Boom an den Finanzmärkten, der eine enorme Verschuldung und äußerst gefährliche makroöko-nomische Ungleichgewichte in einigen Euroländern entstehen ließ (siehe Kap. 6.2). Die Situation der öffentlichen Finanzen ver-besserte sich in den Jahren des Booms, aber keines der Länder erreichte tatsächlich nennenswerte Überschüsse im öffentlichen Budget, die angemessen gewesen wären, um den kreditgetrie-benen Anstieg der Wirtschaftsaktivität zu stabilisieren und die

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Schuldenlast der öffentlichen Hand entscheidend zu reduzieren. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt hatte seinen Biss verloren, nachdem Deutschland und Frankreich im Jahre 2003 den Pakt relativiert hatten. Dass die staatlichen Defizite und Schulden in den Jahren starken Wachstums nicht energischer bekämpft wor-den waren, rächte sicher bitter mit dem Absturz vieler Volkswirt-schaften und dem Beginn der großen Rezession in 2009. Diese Wirtschaftskrise brachte die tiefer liegenden Schuldenprobleme vieler Regierungen wieder schlagartig ans Tageslicht, die in den Jahren des Booms nur verdeckt gewesen waren.

Das Entstehen der Euro-Staatsschuldenkrise ist also mehr als nur die Folge der Bankenkrise nach der Lehmann-Pleite. Eine we-sentliche Rolle kommt auch den niedrigen Zinsen zu, die in den Jahren des Booms zu gewaltigem Schuldenaufbau führten. Die Märkte für Staatsanleihen übten keine disziplinierende Wirkung aus, Investoren übersahen und vernachlässigten die Risiken, die sich in den Boom-Jahren aufgebaut hatten. Länder wie Griechen-land, Portugal oder Irland, die bereits in den Jahren 2005 und 2006 erhebliche Fehlentwicklungen aufgewiesen hatten, konnten an den Märkten zu ähnlichen Bedingungen wie die deutsche Re-gierung Kapital aufnehmen. Offenbar hatte das starke Wachstum in diesen Ländern die Investoren im Hinblick auf finanzielle Risi-ken kurzsichtig werden lassen. Es waren die Jahre niedriger Zin-sen, und Investoren suchten Rendite. Schon kleine Zinsvorteile peripherer Euroländer waren ausreichend, um die Nachfrage von Banken und institutionellen Investoren nach den Staatsanleihen dieser Länder zu stimulieren. Während diese Staatsanleihen über-wiegend in den Bilanzen der Investoren verblieben, gab es in an-deren Finanzmarktsegmenten eine Verlagerung von Risiken in in-transparente und nicht regulierte Anlagevehikel (Special Purpose Vehicles). Kreditmittel waren reichlich vorhanden und die Ver-schuldungsquoten von Banken, aber auch von nicht finanziellen Unternehmen und privaten Haushalten stiegen auf breiter Front.

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Dies hätte ein klares Alarmsignal für Investoren sein müssen, da Finanzmarktkrisen typischerweise von exzessiver Kreditaufnah-me angekündigt werden (Schularick und Taylor 2009). Und so geschah es auch diesmal. Die Krise setzte in 2008/2009 ein, als Vermögenspreise weltweit fielen und die Vorstellung, dass es ne-gative Korrelationen gibt, also manche Vermögenswerte steigen, während andere im Wert verfallen, über Bord geworfen werden musste. Alle wichtigen Vermögensklassen schienen im Gleich-schritt zu fallen, und den hohen aufgenommenen Krediten stan-den keine entsprechenden Werte gegenüber. Die Kapitalbasis der Banken erodierte und die Stabilität des gesamten Finanzsystems geriet in Gefahr. Banken verkauften Aktiva in fallenden Märkten, um ihre Risiken zu begrenzen. Sie verminderten das Angebot an Kredit und verschärften somit die Finanzierungsschwierigkeiten der öffentlichen Hand (Welfens 2012).

Trotz der dramatischen Auswirkungen der Finanzmarktkrise blieben die Risikoeinschätzungen der Finanzmärkte im Hinblick auf die Staatsanleihen der Eurozone bis etwa Mitte des Jahres 2010 recht moderat. Erst dann begannen die Risikoprämien für Staatsanleihen einiger Euro-Mitgliedsländer deutlich zu steigen, zunächst langsam, dann schneller. Der Grund war ein histori-scher Strandspaziergang von Angela Merkel und Nikolas Sarko-zy im schönen Deauville, Frankreich. In diesen Stunden des 18. Oktober wurde eine weitreichende Vereinbarung ausgehandelt. Die deutsche Kanzlerin akzeptierte das französische „Non“ im Hinblick auf automatische Sanktionsmechanismen im Stabili-täts- und Wachstumspakt für notorische Schuldnerstaaten und der französische Präsident rückte von seiner Position ab, einen Schuldenschnitt für private Investoren in griechischen Staatsan-leihen auszuschließen, um einen Flächenbrand an den Kapital-märkten zu verhindern. Deutschland hatte eine Beteiligung von privaten Investoren (PSI: Private Sector Involvement) wiederholt gefordert, da sich die Steuerzahler in Deutschland gegen den so-

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genannten „Bail-out“ – praktisch eine Schuldenübernahme – für Griechenland auflehnten, die letztlich private Banken und andere Investoren vor Verlusten bei ihren eigenen Investments schützte. Der erste, bald folgende Versuch, private Investoren an den Kos-ten der Griechenlandrettung zu beteiligen, bestand darin, Banken und Versicherer zu verpflichten, Rückzahlungen des griechischen Staates erneut in griechische Anleihen zu investieren (Roll-over). Die Idee dabei war, ein sogenanntes Kreditereignis, also eine of-fenkundige Insolvenz des Staates Griechenland, zu vermeiden, um Panik an den Märkten mit weitreichenden Notverkäufen von Staatsanleihen und plötzlicher Kapitalflucht zu verhindern. In-des wurde in zahlreichen kurzfristig einberufenen Sitzungen mit Wirtschaftsprüfern und Investoren klargestellt, dass jede Form des Roll-over angesichts erheblicher Marktabschläge auf neue Griechenlandanleihen einen signifikanten Abschreibungsbedarf in den Bilanzen nach sich ziehen würde und somit durchaus als Kreditereignis gelten könne. So wurde auch von der Politik letzt-lich akzeptiert, dass ein Forderungsverzicht privater Investoren stattfinden müsse. Zunächst wurde ein Kapitalschnitt von 21 % des sogenannten Gegenwartswertes der Staatsanleihen anvisiert. Es wurde erwogen, alte Staatsanleihen Griechenlands durch neue zu ersetzen, die eine lange Laufzeit und wesentlich geringere Zinssätze aufweisen. Durch die Diskontierung dieser niedrigen Zinszahlungen mit dem höheren Marktzins für alte griechische Anleihen wurde ein Wertverzicht von 21 % berechnet. Es wurde jedoch sehr schnell offenkundig, dass ein Abschlag von 21 % viel zu niedrig war, um eine signifikante Verbesserung der griechi-schen Schuldendynamik zu erreichen. Die Verhandlungen zwi-schen privatem und öffentlichem Sektor gingen also weiter, die Höhe des Forderungsverzichts wurde schrittweise erhöht und er-reichte schließlich den Wert von ungefähr 75 % (wiederum ba-sierend auf einer Gegenwartswertrechnung), als die Verhandlun-gen im Januar 2012 beendet wurden. Der öffentliche Sektor hatte

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einen erheblichen Einfluss auf das Ergebnis der Verhandlung, da er für die neu auszugebenden griechischen Staatsanleihen eine Sicherheit in Form von EFSF-Anleihen anbot. EFSF-Bonds wur-den durch die European Financial Stability Facility emittiert, die in 2011 geschaffen worden war, um ein Überschwappen der Krise von einem Land auf andere Länder zu verhindern. Durch die Ver-einbarung konnte der griechische Schuldenstand um insgesamt 107 Mrd. € (das entspricht rund 30 %) abgesenkt werden.

Die Verhandlungen über einen griechischen Schuldenschnitt hatten erhebliche Kollateraleffekte auf andere Märkte. Die Risiko-prämien auf Staatsanleihen anderer Länder stiegen in dieser Zeit sukzessive an; für Irland und Portugal erreichten sie mehr als 10 % bis Mitte 2011 und in den folgenden Monaten stiegen sie in Portu-gal sogar noch weiter an. Die grundsätzlichen Bedenken, die der französische Präsident geäußert hatte und die auch von der EZB und einigen nationalen Zentralbanken geteilt wurden, erwiesen sich als berechtigt. In Zeiten der Unsicherheit oder, wie auch englische Zeitungen titelten, „der Angst“ auf den Finanzmärkten kann ein expliziter Schuldenschnitt auf vormals als sicher geltende Anleihen einen schockartigen Rückzug von Investoren auf ande-ren Märkten bewirken, wo ein ähnliches Kreditereignis befürchtet wird. Dies war im Zuge des Griechenland-Schuldenschnitts beob-achtbar und daher wurde die sogenannte Privatsektorbeteiligung vielfach als der größte Fehler des Krisenmanagements bezeichnet. Die Probleme für andere hochverschuldete Länder waren in der Tat beachtlich und scheinen diese kritische Bewertung zu recht-fertigen. Allerdings lässt sich im Rückblick der Entwicklungen einwenden, dass ein Schuldenschnitt auf griechische Staatsanlei-hen ohnehin unvermeidbar gewesen wäre, weil sich die Situation Griechenlands viel schlechter entwickelte, als damals angenom-men wurde. Die wirtschaftliche Geschichtsschreibung wird sich mit diesen Fragen sicher noch beschäftigen. Ein Lektion lässt sich daraus aber schon heute ableiten. Es bedarf klarerer Regeln und

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eines effizienten Managementprozesses im Falle staatlicher In-solvenzen. Notwendige Maßnahmen müssen viel schneller ent-schieden werden und nicht in einer breiten öffentlichen Debatte. Zudem sollten Umschuldungen nicht alleine im privaten Sektor stattfinden. Gibt man den Anleihebeständen der öffentlichen Hand nachträglich eine Seniorität, wird dies die Flucht der pri-vaten Investoren aus kritisch betrachteten Ländern eher noch be-schleunigen.

Die Insolvenz des griechischen Staates erzeugte einen Bruch in der Bewertung von Staatsanleihen als Vermögensanlageklasse. Investoren bewerteten Staatsanleihen der Eurozone nicht länger als risikofreie Anlageform, sondern als Anlage mit potenziellem Ausfallrisiko. Das Risikobewusstsein an den Finanzmärkten wur-de durch die Befürchtung akzentuiert, dass die Politik versuchen werde, einen überproportionalen Anteil von Forderungsausfällen auf private Gläubiger abzuwälzen. Diese Befürchtung wurde ge-nährt durch die Verteilung der Lasten im Rahmen der griechi-schen Umschuldung, aber sie ruhte auch auf politischen Debatten über eine Seniorität öffentlicher Forderungen, die im Zuge von Rettungsaktionen durch den EFSF und später den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) als dauerhafte Einrichtung geführt wurden. Die Klassifikation von Staatsanleihen als ausfallgefähr-dete Anlage kann zu einem systemischen Problem werden, wenn die potenziellen Verluste auf solche Anleihen die Risikotragfä-higkeit des Finanzsystems übersteigen. Im Falle größerer Staats-anleihemärkte wie Italien oder Spanien kann dieser Punkt recht schnell erreicht werden. Selbst ein 50 %iger Schuldenschnitt auf diesen beiden Märkten wäre größer gewesen als das Überschuss-kapital finanzieller Institutionen, also das Kapital, das sie über das regulatorische Minimum hinaus halten. Verschlechtert sich die Forderungsqualität von Staatsanleihen, verschlechtert sich auch die Bonität von Banken und anderen Finanzinstitutionen. Es gibt also eine negative Rückkopplung zwischen staatlichen Schulden-krisen und dem Finanzsystem an sich. Werden Finanzinstitutio-

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nen aufgrund ihrer Bestände an Staatsanleihen kritischer bewer-tet, müssen sie versuchen, diese Bestände zu reduzieren. Der Ver-kaufsdruck führt zu sinkenden Kursen der Staatspapiere – also steigenden Zinsen – und verschärft daher die Probleme für die Wirtschaft und die öffentlichen Finanzen. Für ein effektives Kri-senmanagement ist es daher entscheidend, die gefährliche Rück-kopplung zwischen Banken- und Staatsschuldenrisiken wirksam zu begrenzen. Aus diesem Grund wurden im Sommer 2012 zwei Entscheidungen getroffen, die die Krisenmanager mit wirksame-ren Instrumenten ausstatten, um die Selbstverstärkungseffekte einer Krise in den Griff zu bekommen. Zum einen beschloss der Europäische Rat die Errichtung einer Europäischen Bankenunion mit einem europäischen Aufsichtsorgan unter dem Dach der EZB und einem Restrukturierungsfonds, der aus Bankenabgaben ge-speist werden und zur Verfügung stehen soll, wenn in einer Kri-se Banken abgewickelt oder rekapitalisiert werden müssen (siehe Kap.  7.3). Die zweite Entscheidung wurde von der EZB getrof-fen, als sie nach der inzwischen berühmten Rede von Präsident Mario Draghi in London ankündigte, dass sie unter bestimmten Bedingungen Staatsanleihen unbegrenzt aufkaufen könne, soweit die betreffenden Länder einen Hilfsantrag beim ESM stellen und sich damit einem Reformzwang unterwerfen (OMT-Programm). Die EZB griff zu dieser außergewöhnlichen und sehr weitrei-chenden Maßnahme, um die zunehmende Fragmentierung der Finanzmärkte in der Eurozone zu beenden, die bereits zu stark divergierenden Zinsen für öffentliche und private Schuldner in der Währungsunion geführt hatte. Die EZB sah in dieser Situation die Durchwirkung ihrer geldpolitischen Impulse auf die Real-wirtschaft als ineffektiv an. Die Ankündigung der EZB hat, ins-besondere in Deutschland, massive Kritik hervorgerufen und ein Verfahren beim Bundesverfassungsgericht ausgelöst. Man kann aber nicht bestreiten, dass die Entscheidungen vom Sommer 2012 maßgeblich dazu beitrugen, die Spannungen in der Eurozone zu

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vermindern und das Vertrauen in die Stabilität in der Eurozone wieder zu festigen. Die Risikoprämien für Staatsanleihen sind seit Mitte 2012 kontinuierlich gesunken und dies, obwohl das Inst-rument der Staatsanleihekäufe nicht eingesetzt wurde, sondern alleine durch den Ankündigungseffekt wirkte.

Literatur

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Welfens PJJ (2010) Transatlantic banking crisis: analysis, rating, policy issues. Springer, Heidelberg

3 Die Entstehung der Schuldenkrise

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Die volkswirtschaftliche Bilanz des Euro – Wer profitiert?

M. Heise, Europa nach der Krise, DOI 10.1007/978-3-642-54620-4_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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7 Der größte Erfolg des Euro – ein Zahlungsmittel für mehr als 330 Mio. Menschen – ist zweifellos, dass er sich als eine stabile Währung mit sehr niedriger Inflation und einem hohen Außenwert entwickelt hat. Der Euro wird weltweit nachgefragt und ist nach dem US-Dollar die zweitwichtigste Weltreservewährung. Die Stabilität des Euro hat zahlreiche Drittländer veranlasst, ihre Wäh-rungen an den Euro zu binden. Auch dies ist ein klarer Pluspunkt in der Eurobilanz. Schwieriger zu beurteilen ist dagegen der Einfluss des Euro auf das wirtschaftliche Wachstum in der Währungsgemeinschaft im Ganzen und für einzelne Mitgliedsländer. Bis zum Jahre 2008 trug der Euro offensichtlich dazu bei, das Wachstum in Ländern wie Spanien, Griechenland und Irland maß-geblich zu beschleunigen. Die in 2009 einsetzende Krise hat jedoch den Großteil der Produktions- und Einkom-mensgewinne wieder zunichte gemacht. Es ist wissen-schaftlich nicht festzustellen, ob das Wachstum seit der Einführung des Euro insgesamt stärker oder schwächer gewesen wäre, wenn man den Euro nicht eingeführt hätte. Wahrscheinlich ist, dass Deutschland, das sich in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts noch in einer Phase der Konsolidierung und wirtschaftspolitischer

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Reformen befand, vom Euro insgesamt profitiert hat. Deutschlands Reformen konnten auch deswegen nach-haltige Wirkung entfalten, weil die deutsche Wettbe-werbsfähigkeit durch einen in den Anfangsjahren noch relativ schwachen Außenwert des Euro unterstützt wurde. Auf der anderen Seite scheinen die Euro-Mit-gliedsländer, die in den Jahren 2011 und 2012 in eine tiefe Staatsschuldenkrise abglitten, zu den Verlierern des Euro zu gehören, auch wenn sie in den Jahren vor der Krise eine erhebliche Wachstumsbeschleunigung erfahren hatten. Allerdings ist es sehr wahrscheinlich, dass sich nach der aktuellen Krise wieder eine positivere Entwicklung ergibt, wenn die Länder der Währungs-gemeinschaft ihre Reformen konsequent fortsetzen. Wachstum und Beschäftigung werden sich dann wie-der verbessern und die Momentaufnahme der Krise verblassen lassen. Klarer als die Gesamtauswirkungen des Euro auf das wirtschaftliche Wachstum lassen sich einige direkte ökonomische Vorteile für die Unterneh-men und die privaten Haushalte benennen. Die Trans-aktionskosten für international tätige Unternehmen sind gesunken, Handelsströme zwischen den Mitglieds-ländern der Währungsgemeinschaft haben sich positiv entwickelt und die Integration der Finanzmärkte hat die Kapitalkosten für die Unternehmen insgesamt gemin-dert. Die Eliminierung von Wechselkursrisiken, nied-rigere Transaktions- und Finanzierungskosten haben die Ströme an Direktinvestitionen zwischen den Euro-ländern deutlich steigen lassen. So hat sich beispiels-weise der Bestand an deutschen Direktinvestitionen in den Partnerländern Frankreich, Italien und Spanien seit 1999 mehr als verdoppelt.

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334.1 Eine Weltwährung entsteht

Viele Sichtweisen gibt es zu der Frage, welche Länder der Wäh-rungsunion vom Euro am meisten profitiert haben. Da sehr vie-le ökonomische Faktoren die Entwicklung von Wachstum und Beschäftigung beeinflussen, ist die Bedeutung der Währung für sich genommen schwer zu eruieren. Im folgenden Kapitel wer-den einige Argumente präsentiert, aber ein Warnhinweis ist er-forderlich. Das Herausarbeiten von Vor- und Nachteilen einer Euro-Mitgliedschaft ist eine kontrafaktische Analyse. Niemand weiß, wie sich einzelne Länder der Währungsunion in den letz-ten 14 Jahren entwickelt hätten, wenn sie ihre nationalen Wäh-rungen beibehalten hätten. Die Ökonomie kann keine klinischen Tests durchführen, bei denen die tatsächliche Entwicklung eines Mitgliedslandes in der Währungsunion mit einer identischen Kontrollgruppe von Ländern verglichen wird, die nicht einer Währungsunion angehören (Bofinger 2012, S. 152). Möglich ist es allerdings zu überprüfen, ob die volkswirtschaftlich erwarteten Vorteile einer Währungsunion für die einzelnen Mitgliedsländer beobachtbar sind. Zu nennen wären insbesondere folgende: In-tensivierung von Handelsbeziehungen und internationalen Kapi-talströmen aufgrund stabiler Wechselkurse, höhere Preistranspa-renz und daher mehr Wettbewerb, geringere Transaktionskosten und eine Integration der Finanzmärkte, die niedrigere Kapital-kosten für die Unternehmen nach sich zieht und die Währung zu einer internationalen Handels- und Anlagewährung werden lässt. Diese Effekte werden letztendlich auch Wachstum und Beschäfti-gung stimulieren.

4.1 Eine Weltwährung entsteht

Wie sieht die Bilanz des Euro vor diesem Hintergrund aus? Einer sehr dynamischen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bis zum Jahre 2009 folgte die Schuldenkrise in der Eurozone, die einen

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Großteil der Beschäftigungsgewinne und Einkommenssteigerun-gen in den Jahren des Wachstums zunichtemachte. Ein Erfolg des Euro bleibt gleichwohl über die gesamte Periode seiner Existenz erhalten: die Tatsache dass der Euro, ein Transaktionsmittel für 330 Mio. Menschen, eine Währung mit hoher Kaufkraft im Inne-ren und einem starken Wechselkurs gegenüber anderen Währun-gen geblieben ist. Der Euro ist mit Abstand die zweitwichtigste Weltwährung hinter dem US-Dollar. Der Anteil von Euro in den Portfolien internationaler Zentralbanken wird nach wie vor auf rund 25 % geschätzt, nur geringfügig weniger als in der Zeit vor der Krise (vgl. Abb. 4.1). Trotz der Krise ist der Wechselkurs des Euro gegenüber dem Dollar weitaus höher als zum Zeitpunkt sei-ner Einführung (vgl. Abb. 4.2).

Abb. 4.1 Währungszusammensetzung der weltweiten Devisenreser-ven. *) Anteil an globalen, dem IWF nach Währung offengelegten Devi-senreserven (Disclosed Reserves). **) Nicht nach Währung offengelegte Devisenreserven (Undisclosed Reserves). (Quelle: IWF-Datenbasis zu den Komponenten der internationalen Devisenreserven (COFER))

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Die Auswirkungen des Euro reichen weit über die Grenzen der Mitgliedsländer hinaus. Angesichts der Größe des Euroraums und der Stabilität der Währung haben zahlreiche Nachbarländer ihre Währungen an den Euro gebunden. Die Schweiz, die weder Mitglied der Eurozone noch der EU ist, nutzt den Euro als Re-ferenzwährung. Fünf EU-Länder (Dänemark, Bulgarien, Litauen, die Tschechische Republik und Rumänien) haben ihre Währun-gen eng an den Euro gebunden, teilweise durch sogenannte „Cur-rency Boards“, bei denen der Umlauf der eigenen Währung vom Zustrom von Eurodevisen abhängig gemacht wird. Andere Län-der wie Kosovo oder Kroatien, die eine Mitgliedschaft in der EU anstreben, orientieren sich ebenfalls am Euro. Des Weiteren gibt es eine größere Zahl afrikanischer Länder, die ihre Währung fest an den Euro gebunden haben. Für sie wurde der frühere franzö-sische Franc als Ankerwährung durch den Euro ersetzt. Weitere Länder orientieren ihre Wechselkurspolitik an Währungskörben, die den Euro umfassen. Dazu gehört die Russischen Föderation, die dem Euro einen Anteil von 45 % im Währungskorb zubilligt.

Der Euro bleibt stark – Außenwert und Dollarkurs –

Abb. 4.2 Der Euro bleibt stark – Außenwert und Dollarkurs. Die Gra-fik bildet den nominalen effektiven und bilateralen Wechselkurs des Euro ab. (Quelle: EcoWin)

4.1 Eine Weltwährung entsteht

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4.2 Preisstabilität in der Eurozone

Das Ausmaß an Preisstabilität in der Eurozone wird vor allem in einer längerfristigen Perspektive deutlich. Noch in den frühen 90er Jahren herrschte in vielen der heutigen Euroländer gefähr-lich hohe Inflation. Doch schon vor Einführung des Euro began-nen die Inflationsraten sich auf das niedrigere Niveau der stabilen Länder einzupendeln (vgl. Abb. 4.3). Bekanntlich war ein hohes Maß an Preisstabilität ja auch eine der Aufnahmebedingungen für die Mitgliedschaft im Euro-Club. Genauer gesagt, verlangte das Kriterium für Preisniveaustabilität, dass Aufnahmekandidaten zur Währungsunion im Jahre vor der Beurteilung eine Inflations-rate von höchstens 1,5 Prozentpunkten über der durchschnittli-chen Rate der drei preisstabilsten Länder vorweisen durften. Die

Abb. 4.3 Konvergenz der Inflationsraten im Zuge der Einführung des Euro. (Quellen: EcoWin, Berechnungen Allianz)

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374.2 Preisstabilität in der Eurozone

Preisniveausteigerungsraten sind auch nach der Einführung des Euro sehr moderat geblieben. Der etwas stärkere Preisanstieg in den Jahren 2011 und 2012 war vor allem steigenden Rohstoffprei-sen und sogenannten administrativen Preiserhöhungen zuzurech-nen, die vom Staat veranlasst werden. Dabei handelte es sich unter anderem um Mehrwertsteuererhöhungen oder steigende Gebüh-ren für öffentliche Leistungen, die in krisengeschüttelten Ländern notwendig wurden. Die positive Entwicklung der Preisstabilität seit Einführung des Euro beschränkte sich nicht auf die über viele Jahre inflationsgewöhnten Länder des Südens. Auch in Deutsch-land herrschte nach der Einführung des Euro eine höhere Preis-stabilität als in den zehn oder zwanzig Jahren davor (vgl. Abb. 4.4). Bei all diesen Vergleichen ist sicherlich einzuräumen, dass die Dis-inflation der letzten Jahrzehnte auch ein globales Phänomen war, das auf steigenden Wettbewerbsdruck durch die neue Konkurrenz der Schwellenländer zurückging, aber auch im internationalen Vergleich ist die Stabilitätsbilanz des Euro eindeutig positiv.

Abb. 4.4 Niedrigere Inflationsraten auch in „stabilen“ EWU-Ländern. Durchschnittliche Verbraucherpreisinflation vor (1990–1998) und nach Einführung des Euro (1999–2013). (Quellen: EcoWin, Berechnungen Allianz)

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4.3 Wachstumseffekte des Euro nicht eindeutig

Während die Erfolge des Euro im Hinblick auf die interne und ex-terne Stabilität als Weltwährung recht eindeutig sind, ist es weit-aus schwieriger, seine Folgen für das wirtschaftliche Wachstum in der Währungsunion im Ganzen und in einzelnen Mitgliedslän-dern zu bestimmen (vgl. Abb. 4.5 und 4.6). In den Jahren bis 2008 gelang es Ländern wie vor allem Spanien, Griechenland und Ir-land, beeindruckende Wachstumsraten der wirtschaftlichen Leis-tung und der Beschäftigung zu erzielen. Die ersten neun Jahre der Währungsunion brachten eine starke Konvergenz der Arbeitslo-senraten in der Gruppe der Mitgliedsländer (Estrada et al. 2012). Der wesentliche Grund für diese Entwicklung lag darin, dass vor-malige Hochzins-Länder einen starken Rückgang des Zinsniveaus erfuhren. Die Einführung des Euro drückte die Zinsen vor al-lem auch die inflationsbereinigten Zinsen für viele Länder der

Abb. 4.5 Wirtschaftswachstum: Hohe Divergenz. Index 1999 = 100. (Quellen: EcoWin, Berechnungen Allianz)

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Eurozone bis zum Jahr 2008 auf ein sehr niedriges Niveau (vgl. Abb. 4.7). Sowohl die staatlichen Finanzierungskosten wie auch die Zinskonditionen für private Kreditnehmer wie Unternehmen und private Haushalte sanken im Geleitzug.

Während Irland, Spanien und Griechenland boomten, befand sich Deutschland in den Jahren von 1999 bis etwa 2007 in einer Phase ausgeprägter Wachstumsschwäche. Seit dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahre 2009 ist allerdings der Wachstumsvorsprung der genannten Länder gegenüber Deutschland wieder weitgehend zusammengeschmolzen. Der Wachstumsschub in den ersten acht Jahren des Euro-Zeitalters erwies sich als trügerisch, da er auf ex-zessiver Kreditexpansion und starken Lohnerhöhungen in diesen Ländern basierte, die ihre Wettbewerbsfähigkeit letztlich ero-dieren ließen. Da der starke Kreditzyklus und die überzogenen

Abb. 4.6 Beschäftigungswachstum: Hohe Divergenz. Saisonbereinigt, Index 2000 Q1 = 100. (Quellen: EcoWin, Berechnungen Allianz)

4.3 Wachstumseffekte des Euro nicht eindeutig

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Lohnsteigerungen korrigiert werden mussten, ist es kaum mög-lich, eindeutige Gewinner und Verlierer zu nennen.

Auch in Bezug auf die größeren Volkswirtschaften der Eurozo-ne, Deutschland, Frankreich und Italien, fällt eine klare Aussage anhand der Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts schwer. Seit der Einführung des Euro konnten sich alle drei Volkswirt-schaften nur moderat verbessern; erst in den Jahren seit der Krise ist die Wachstumsdynamik in Deutschland größer als in Frank-reich und Italien, die bis 2008 einen deutlichen Vorsprung aufwie-sen. Sinnvoller als eine Gesamtbetrachtung der Wachstumsaus-wirkungen des Euro ist daher eine Analyse, inwieweit die erwarte-ten direkten Vorteile einer Währungsunion zu beobachten waren.

Abb. 4.7 Entwicklung realer Zinssätze. Nominale Zinssätze auf 10-jährige Staatsanleihen, korrigiert um die HVPI-Inflationsrate. Im Vorfeld und nach der Schaffung der Eurozone fielen die Realzinsen in den Peripherieländern deutlich und stärker als die Realzinsen in den Kernländern. (Quellen: EcoWin, Reuters, Nationale Statistikämter und Allianz-Berechnungen)

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414.4 Der Euro verstärkt Handel und Kapitalverkehr …

4.4 Der Euro verstärkt Handel und Kapitalverkehr in der Währungsunion

Da die allgemeine Wachstumsdynamik einer Volkswirtschaft von zahlreichen Faktoren abhängt, wird man den Einfluss des Euro schwerlich isolieren können. Schaut man allerdings auf die direk-ten Auswirkungen der gemeinsamen Währung für die Mitglieds-länder der Währungsunion, so bleiben einige Vorteile klar er-kennbar. Zunächst hat der Euro währungsbedingte Transaktions-kosten für Geschäfte innerhalb der Eurozone beseitigt. Darüber hinaus hat er kostspielige Wechselkurs-Absicherungsgeschäfte mit Nicht-Euroländern überflüssig gemacht, da der Euro ver-mehrt als Fakturierungswährung verwendet wurde. Diese Fakto-ren haben Einsparungen im Handel mit Waren, Dienstleistungen und Kapital erbracht. Ein neueres Arbeitspapier der IWF-Mit-arbeiter Lama und Rabanal zeigt, dass in ruhigeren Zeiten, also Phasen ohne Finanzmarktkrisen, niedrigere Handelskosten in einer Währungsunion erhebliche Wohlfahrtsgewinne entstehen lassen. „Wo Länder ihre geldpolitische und wechselkurspolitische Selbstbestimmung aufgeben, überkompensiert die Handelsaus-weitung in einer Währungsunion die Wohlfahrtskosten größe-rer makroökonomischer Schwankungen“ (Lama und Rabanal 2012, S.  6). Hinzu kommt, dass verbesserte Preistransparenz in einer Währungsunion die Wettbewerbsintensität sowohl auf Gü-termärkten als auch Dienstleistungsmärkten erhöht. Geringere Transaktionskosten und mehr Wettbewerb führen zu einer effi-zienteren Nutzung der vorhandenen Ressourcen und stimulieren Handel, Wachstum und Beschäftigung. In einem Bericht der EU-Kommission zu den ersten zehn Jahren des Euro wird festgestellt, dass die Handelsströme für ein Drittel des euroweiten BIP ver-antwortlich waren, während es zehn Jahre zuvor lediglich 25 % gewesen seien und Schätzungen zeigten, dass die Beseitigungen

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der Wechselkursschwankungen bis zur Hälfte dieses Anstiegs er-klären kann (European Commission 2008).

Im Hinblick auf den Kapitalverkehr innerhalb der Eurozone gibt es viele Beispiele, wie Unternehmen ihre Produktion in an-deren Mitgliedsländern der Währungsgemeinschaft aufgebaut haben. Man nehme etwa die Investitionen deutscher Automobil-hersteller und Automobilzulieferer in Spanien oder die Strategie französischer, spanischer und italienischer Banken, die nach der Euro-Einführung in hohem Umfang in anderen Mitgliedsstaa-ten investiert haben. Angeregt wurden solche Investitionen auch durch die Beseitigung der Währungsrisiken sowie durch geringe Transaktions- und Finanzierungskosten (siehe auch Kap. 5). Bei geringeren Transaktionskosten wird das Zerlegen von Produk-tionsprozessen rentabler und in der Folge steigen die sogenannten vertikalen Direktinvestitionen, bei denen im Ausland beispiels-weise nur in eine bestimmte Vorleistungsproduktion investiert wird. Dadurch steigt der Handel etwa mit Vorleistungsproduk-ten, was den Aufbau vollumfänglicher Produktionsfazilitäten in den Absatzländern (horizontale Direktinvestitionen) entbehrlich macht. In ihrem Bericht über die zehnjährige Bilanz der Wäh-rungsunion weist die Europäische Kommission darauf hin, dass die meisten Studien eine positive Auswirkung des Euro auf die Direktinvestitionen im Euroraum in der Höhe von 14–36 % schät-zen (Petroulas 2006; Sousa und Lochard 2011). Andere Studien ermitteln eine Umlenkung von Direktinvestitionen zu Lasten der Nicht-Euro-/EU-Mitglieder in die Eurozone hinein (European Commission 2008, S.  35; Petroulas 2006; Sousa und Lochard 2011; Taylor 2007). Betrachtet man die Direktinvestitionen am Beispiel Deutschlands, zeigt sich ein Anstieg des Kapitalbestands von deutschen Unternehmen in Frankreich, Italien und Spanien schon im zweiten Jahr nach Einführung des Euro um nicht we-niger als 30 % (Ende 2000). Im Gesamtzeitraum seit 1999 haben sich die deutschen Direktinvestitionsbestände in diesen Ländern

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– aber das gilt auch für die Währungsgemeinschaft im Ganzen – mehr als verdoppelt.

Die Analyse der volkswirtschaftlichen Auswirkung des Euro darf nicht außer Acht lassen, dass in den 15 Jahren der Währungs-union ein dramatischer Wandel in der Weltwirtschaft stattgefun-den hat: Mit dem Aufstieg der Schwellenländer sind deren An-teile am weltwirtschaftlichen Ergebnis rasch gestiegen und haben den Anteil der alten industriellen Welt sinken lassen. Der Handel mit und die Direktinvestitionen in Schwellenländern sind für die Industrieländer immer wichtiger geworden. Es kann daher nicht überraschen, dass der Handel von Euroländern mit Nicht-Euro-ländern noch schneller gewachsen ist als der Handel innerhalb der Währungsunion. Gleichwohl ist richtig, dass der Intra-Euro-Han-del in Relation zum BIP in den meisten Euroländern seit der Ein-führung der Gemeinschaftswährung gestiegen ist (vgl. Abb. 4.8). Auch dieser Befund deutet darauf hin, dass die gemeinsame Wäh-rung die Handelsströme zwischen den beteiligten Ländern inten-

Abb. 4.8 Intra-EWU-Handel steigt. Handel mit EWU-Ländern, Waren und Dienstleistungen, Summe von Importen und Exporten in % des BIP. (Quelle: Eurostat)

4.4 Der Euro verstärkt Handel und Kapitalverkehr …

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siviert hat. Allerdings gibt es Unterschiede von Land zu Land. In Deutschland und in Österreich ist der Handel mit EWU-Ländern in Relation zum BIP ganz erheblich gestiegen, in Spanien dagegen zurückgegangen.

Die Frage aber bleibt, welche Länder denn besonders vom Euro profitiert haben. Die Einschätzungen dazu gehen in den einzel-nen Ländern des Euro deutlich auseinander und sorgen für kon-troverse Diskussionen. Eine wissenschaftlich fundierte Antwort ist kaum möglich, da keine Vergleiche mit einem „Nicht-Euro-Szenario“ möglich sind. Aber es gibt einige plausible Argumente.

4.5 Vorteile für den deutschen Export und die Wirksamkeit von Reformen

Das Meinungsbild über die potenziellen Gewinner und Verlierer des Euro hat sich im Zeitablauf gründlich verändert. Bis 2008 gal-ten diejenigen Länder als klare Gewinner, die mit der Einführung der neuen Währung kräftige Zinssenkungen und starkes kredit-getriebenes Nachfragewachstum verzeichneten. Heute befinden sich diese Länder in der Konsolidierungsfalle und müssen für die hohe Schuldenaufnahme der Vergangenheit bezahlen (insbeson-dere Griechenland, Irland, Italien, Spanien, Portugal). Deutsch-land dagegen sah in den ersten Jahren des Euro eher wie ein Ver-lierer aus. Es gab nur schwaches Kredit- und Nachfragewachstum und das Land hinkte den Wachstumsraten anderer Länder hinter-her. In der größten Volkswirtschaft des Euroraums gab es ange-sichts hoher Arbeitslosigkeit Druck auf Löhne und andere Kosten und es wurden schmerzhafte Arbeitsmarkt- und Sozialreformen umgesetzt. Deutschland galt bis Mitte des letzten Jahrzehnts als „kranker Mann Europas“ und wurde als eine Belastung für die Wirtschaftsaktivität in der gesamten Gemeinschaft angesehen. Diese Wahrnehmung hat sich seit der Finanz- und Wirtschafts-

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krise 2008 und 2009 dramatisch geändert. Deutschland ist auf einen Wachstumskurs zurückgekehrt. Die Konsolidierung der öf-fentlichen Defizite und moderate Lohn- und Kostenerhöhungen zahlen sich nun in besserer Wettbewerbsfähigkeit und in Beschäf-tigungsgewinnen aus.

In den Tagen der D-Mark waren „angebotspolitische Maßnah-men“ zur Verbesserung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit wie-derholt von kräftigen Abwertungen anderer Handelspartner und einer Aufwertung der D-Mark in ihrer Wirkung abgeschwächt oder wettgemacht worden. Mit der Einführung des Euro änder-te sich das schlagartig: Etwa zwei Fünftel des deutschen Exports wurden nicht mehr durch Wechselkursschwankungen beeinflusst. Eine verbesserte Wettbewerbsfähigkeit deutscher Anbieter führte zu steigenden Exporten und besseren Exporterlösen im europäi-schen Markt. Dies löste jedoch keine unmittelbare Aufwertung des Euro aus (er lag bis April 2013 unter seinem Anfangsniveau), da sein Außenwert eben nicht allein von Deutschland, sondern von der Stärke oder der Schwäche der Eurozone im Ganzen bestimmt wird. Ein verhältnismäßig niedriger Wechselkurs des Euro gegen-über Drittwährungen unterstützte die Genesung der deutschen Wirtschaft, die Reformen konnten durchwirken. Deutschlands Anteil am Welthandel blieb so – im Gegensatz zu den Verlusten fast aller anderen Industrieländer – seit Einführung des Euro mehr oder weniger stabil. Die Unternehmen konnten sich trotz steigenden Wettbewerbsdrucks durch Konkurrenten aus Schwel-lenländern auch dank des Euro gut behaupten. In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts kam es dann zu eindrucksvollen Entwick-lungen: Die Zahl der Arbeitslosen, die bei Beginn der Währungs-union bei 4,1 Mio. gelegen hatte und bis Mitte des Jahrzehnts auf 5 Mio. gestiegen war, fiel auf 2,9 Mio. zurück. Und die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland ist um nicht weniger als 2,4 Mio. seit der Einführung des Euro gestiegen. Nach zwei Jahrzehnten

4.5 Vorteile für den deutschen Export …

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der Massenarbeitslosigkeit hat Deutschland nunmehr eine der niedrigsten Arbeitslosenraten in der Gruppe der Industrieländer.

Diese Wahrnehmung der Vorteile Deutschlands vom Euro hat sich im Laufe der Zeit verbreitet. Allerdings sind aus volkswirt-schaftlicher Sicht zwei Relativierungen erforderlich (Mayer 2012). Der niedrige Außenwert einer Währung bietet zwar auf der einen Seite einen Impuls für höhere Exporte und besseres Wachstum, er bedeutet auf der anderen Seite aber auch einen Verlust an Real-einkommen in dieser Wirtschaft. Eine Abwertung bedeutet, dass mehr exportiert werden muss, um eine bestimmte Menge an Im-porten zu bezahlen. Die Kaufkraft über Auslandsgüter sinkt und damit die Wohlfahrt einer Gesellschaft. Zu bedenken ist auch, dass ein hoher Außenwert einer Währung langfristig nicht ne-gativ sein muss, weil Volkswirtschaften sich an den Wechselkurs anpassen können. Starke Währungen setzen den Unternehmens-sektor unter Druck, die Produktivität zu steigern und innovativ zu bleiben. Sonst drohen Marktanteilsverluste. Eine starke Währung ist aber auch ein Anreiz für die Unternehmen, ihre Produktion in kostengünstigen Standorten im Ausland auszuweiten und glo-bale Beschaffungsstrategien zu verfolgen. Diese Anpassungsstra-tegien können die Unternehmen langfristig wettbewerbsfähiger machen, wobei das kurzfristige Risiko nicht zu leugnen ist, dass weniger Arbeitsplätze im Inland als im Ausland aufgebaut wer-den. Einige Aspekte relativieren also die vielfach vermuteten Vor-teile einer schwachen Währung als Exportmotor. Sie geben Anlass zur Vorsicht in der Bewertung der positiven Effekte des Euro für Deutschland. Es gab eindeutig Vorteile für Exporte und Welt-marktanteile, aber langfristig sind eben auch Nachteile in Form von niedrigen realen Einkommen und einer Verlangsamung des Produktivitätswachstums in den Blick zu nehmen.

Im Gegensatz zu Deutschland erscheinen die „Krisenländer“ der letzten Jahre, die in eine schwere Rezession geraten und deren Refinanzierungskosten zeitweise dramatisch angestiegen sind, als

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Verlierer der gemeinsamen Währung. Aber auch diese Moment-aufnahme dürfte irreführend sein. Die Strukturreformen, die in-zwischen eingeleitet sind, und die Verminderung von Defiziten im öffentlichen, privaten und im außenwirtschaftlichen Bereich werden das Wachstumspotenzial dieser Länder mittelfristig wie-der signifikant verbessern. In einigen Jahren werden sie höchst-wahrscheinlich in einer weitaus besseren Verfassung sein, um den Herausforderungen der Globalisierung zu begegnen. Indizien da-für sind bereits im Jahre 2014 zu erkennen (siehe Kap. 6.2). Die wirtschaftlichen Anfangserfolge im Zeitalter des Euro und die niedrigen Zinsen hatten den Reformdruck in vielen Ländern er-heblich gemindert. Bleiben sie nunmehr auf Reformkurs – auch wenn das kurzfristig schmerzhaft ist – dann werden die Vorteile des Euro auch in diesen Ländern schon bald wieder sichtbar wer-den.

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Literatur

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Eine Neubewertung der Kriterien für einen optimalen Währungsraum in Europa

M. Heise, Europa nach der Krise, DOI 10.1007/978-3-642-54620-4_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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7 Die Krise der letzten Jahre scheint die Befürchtungen vieler Euro-Kritiker zu bestätigen, dass die Gruppe der EWU-Mitgliedsländer einfach zu heterogen ist und alles andere als eine optimale Währungsunion darstellt. Am Höhepunkt der Krise wurde die Kritik immer lauter vorgetragen. Mit bitterer Ironie stellte etwa ein Invest-mentmanager fest, dass nahezu willkürliche Länder-gruppierungen eine bessere Währungsunion abgeben würden als die Eurozone – z. B. eine Rekonstruktion des ottomanischen Reiches von ungefähr 1800 oder alter-nativ alle Länder, deren Namen mit dem Buchstaben M beginnen (Cembalest 2012).

Erfreulicherweise steht es um die Sache nicht ganz so schlecht. Obwohl es tiefgreifende Unterschiede zwischen den Mitgliedslän-dern des Euroraums gibt, sind einige der Kriterien für eine Wäh-rungsgemeinschaft durchaus erfüllt. So handelt es sich bei der Gruppe der EWU-Länder um Volkswirtschaften mit einem ho-hen Offenheitsgrad und einer hinreichend diversifizierten Wirt-schaftsstruktur, die sie vor einseitigen, sogenannten asymmetri-schen Schocks schützt. Lohnflexibilität und Arbeitskräftemobi-lität, zwei weitere Kriterien für eine optimale Währungsunion, waren in den Anfangsjahren des Euro sicher nicht hinreichend

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gegeben, aber die Sachlage hat sich hier inzwischen merklich ge-ändert. Das Ausmaß an Finanzmarktintegration und die Intensi-tät des Kapitalverkehrs sind ebenfalls wichtige Bedingungen für einen monetären Zusammenschluss. Hier wurden schon in den ersten Jahren des Euro rasante Fortschritte erzielt, allerdings hat sich seit dem Ausbruch der Schuldenkrise die nationale Segmen-tierung der Finanzmärkte wieder verstärkt. Grund ist die Rück-besinnung von Investoren auf nationale Vermögenswerte und ein massiver Rückgang des grenzüberschreitenden Kreditgeschäfts. Das größte Manko für eine funktionsfähige Währungsunion war aber zweifellos der Mangel an Konvergenz in der Wirtschaftspoli-tik. In vielen Ländern wurde weder fiskalischen Risiken noch ma-kroökonomischen Ungleichgewichten wie übermäßiger Kredit-expansion, allzu starken Lohnsteigerungen und Leistungsbilanz-defiziten entgegengewirkt. In einer Währungsunion ist es nicht möglich, solchen Entwicklungen durch nationale Zinspolitik oder Wechselkursveränderungen zu begegnen. Sie müssen von vorn-herein verhindert werden. Das ist nicht geschehen. Offenbar gab es ein mangelndes Verständnis im Hinblick auf die ökonomischen Mechanismen, die in einer Währungsgemeinschaft wirksam sind. Aus diesem Grunde sind verbindlichere Regeln für die Fiskalpoli-tik und eine stärkere Überwachung makropolitischer Entwicklun-gen durch Innovationen wie den Fiskalpakt oder das Verfahren gegen makroökonomische Ungleichgewichte äußerst bedeutsam. Aber es muss sich noch erweisen, ob sie strikt umgesetzt werden. Das wird entscheidend sein.

5.1 Asymmetrische Schocks und Anpassungsoptionen

Die asymmetrischen Schocks spielen in der Theorie der optima-len Währungsunion eine ganz wesentliche Rolle. Asymmetrische Schocks sind Störungen, die unterschiedliche Auswirkungen auf

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515.1 Asymmetrische Schocks und Anpassungsoptionen

die einzelnen Länder in einer Währungsunion haben. Reale Bei-spiele der vergangenen Jahre sind etwa die Öffnung Mittel- und Osteuropas nach dem Fall des Eisernen Vorhangs oder der rasante Aufstieg asiatischer Unternehmen in den 90er Jahren. Beide Vor-gänge haben die Weltmärkte stark verändert, insbesondere ha-ben sie etablierte Länder mit arbeitsintensiven Produktionslinien unter Wettbewerbsdruck gesetzt. In der Eurozone war dies z. B. in Portugal oder Italien deutlich zu beobachten, wo der neue Wett-bewerb aus Niedriglohnländern viele tradierte Branchen heraus-forderte. Wechselkursänderungen oder nationale Zinssenkungen sind in einer Währungsunion nicht verfügbar, um die Wirkung solcher Schocks auszugleichen. Andere Anpassungen müssen stattfinden: z.  B. Lohnänderungen, Produktivitätssteigerungen, Arbeitskräftewanderungen oder höhere Investitionen. Die Theo-rie der optimalen Währungsunion untersucht nun, welche Bedin-gungen oder Kriterien erfüllt sein sollten, damit die Länder einer Währungsunion durch solche asymmetrischen Schocks weniger gefährdet sind und diese ohne starke Beschäftigungs- und Ein-kommensverluste bewältigen können. Solche Länder werden von der Mitgliedschaft in einer Währungsunion profitieren.

Die verschiedenen Kriterien einer optimalen Währungsunion wurden in einer langen wissenschaftlichen Debatte herausge-arbeitet, die mit bahnbrechenden Arbeiten von Mundell, McKin-non und Kenen begann. Mundell (1961) betonte die Notwendig-keit von Faktormobilität als entscheidendem Kriterium für An-passungsfähigkeit in einer Währungsunion. McKinnon (1963) sah in dem Offenheitsgrad der Wirtschaft einen entscheidenden Faktor für die Vorteilhaftigkeit einer Währungsunion. Und Kenen (1969) unterstrich die Bedeutung einer diversifizierten Produkti-ons- und Exportstruktur, um die Wahrscheinlichkeit asymmet-rischer Schocks in einer Währungsunion zu mindern. Eine aus-geprägte Diversifikation der Produktionsstruktur verbessert die Widerstandsfähigkeit gegenüber asymmetrischen Schocks. Darü-ber hinaus ist es sinnvoll, wenn alle Länder einer Währungsunion

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52 5 Eine Neubewertung der Kriterien für einen …

eine ähnlich diversifizierte Struktur aufweisen. Diese und andere Kriterien werden im Weiteren kurz beleuchtet. Die Analyse gibt erste Hinweise auf wirtschaftspolitischen Handlungsbedarf in der Währungsunion.

5.2 Offenheit der Wirtschaft und Diversifikation der Produktionsstruktur

Das grundlegende Motiv eines Landes, einer Währungsunion beizutreten, ist es, Wechselkursschwankungen zu beseitigen, die Handelsströme und internationale Kapitalströme verzerren kön-nen. Für eine weitgehend geschlossene Volkswirtschaft wird dies keine besondere Relevanz haben. Aber je größer der Handels-sektor einer Volkswirtschaft, umso größer ist der Vorteil stabiler Währungsrelationen mit wichtigen Handelspartnern. Die meisten Mitgliedsländer des Euro weisen in der Tat einen hohen Offen-heitsgrad ihrer Volkswirtschaften aus. Sie sind in starkem Maße durch Handel verflochten. Wie Abb. 5.1 zeigt, haben alle Euro-Mitgliedsländer einen höheren Grad an Offenheit als die USA oder Japan. Auch wenn dieser Befund mit der kleineren Größe europäischer Volkswirtschaften zu tun hat, die naturgemäß mehr vom Handel abhängen, ist er eine gute Voraussetzung für eine funktionierende Währungsunion. Allenfalls in Griechenland war das Kriterium der Offenheit nicht so recht erfüllt. Obwohl Griechenland eine sehr kleine Volkswirtschaft ist, hat sie mit nur 55,5 % den niedrigsten Grad der Offenheit (definiert als Summe von Importen und Exporten in Relation zur gesamtwirtschaftli-chen Leistung), was deutlich unter dem Euro-Durchschnitt von 86,5 % liegt. Griechenland hatte keinen bedeutsamen Handels-sektor, als es in die Währungsunion eintrat, und es konnte auch während der Mitgliedschaft keinen wesentlichen Anstieg der Handelsbeziehungen erzielen.

Für die Vorteilhaftigkeit einer Währungsunion ist der Handels-anteil eines Landes mit den Partnerländern von besonderer Be-

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535.2 Offenheit der Wirtschaft und Diversifikation …

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deutung (vgl. Abb. 5.2 und 5.3). Beispielsweise betrug der Anteil an Waren und Dienstleistungen, die Deutschland in Partnerlän-der der EWU exportiert, immerhin 38 % der gesamten Exporte in 2011. Ebenso lag der Importanteil aus Ländern der Währungs-union in 2011 bei 38 % aller Importe. Slowenien, ein neues Mit-glied seit 2009, ist noch stärker mit den Euro-Partnerländern ver-woben: Die Exporte in andere EWU-Länder machten 56 % der gesamten Exporte Sloweniens aus und der Anteil an Importen aus anderen EWU-Ländern lag sogar bei 62 %. Auch für die Nieder-lande und Belgien sind Euro-Partnerländer die wichtigsten Märk-te (Eurostat-Daten).

Ein weiteres Kriterium für optimale Währungsräume, die Di-versifikation der Produktionsstrukturen innerhalb der Volks-wirtschaften, ist ebenfalls weitgehend erfüllt. Die Begründung für das Kriterium der Diversifikation von Produktionsstrukturen ist recht einfach: Man stelle sich vor, es gäbe ein Land mit einer hochgradigen Spezialisierung – eine Monokultur, die nur Autos produziert und alles andere importiert –, dann wird ein weltwirt-schaftlicher Einbruch der Nachfrage nach Autos (wie er in 2008 und 2009 zu beobachten war) diese Volkswirtschaft hart treffen. Sie wird dann einen flexiblen Wechselkurs oder nationale Zins-änderungen benötigen, um die rezessive Wirkung eines solchen Nachfrageschocks zu mindern. Das Land würde abwerten, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen und möglichst größere Anteile an einem schrumpfenden Markt zu erzielen. Ohne Währungsfle-xibilität wäre ein solches Land sehr stark von einem asymmetri-schen Schock betroffen. Betrachtet man die empirische Situation in der Eurozone, dann sind die Länder überwiegend stark diversi-fiziert und unter diesem Aspekt auch recht ähnlich. Die Risiken asymmetrischer Störungen sind daher nicht allzu groß (European Central Bank 2005). Ein Bericht der EU-Kommission fünf Jah-re nach Einführung des Euro kam zu dem Ergebnis, „dass sich die Muster der industriellen Spezialisierung und geografischen Konzentration innerhalb der Eurozone nur wenig geändert ha-

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575.3 Lohnflexibilität und Arbeitskräftemobilität

ben“ (European Commission 2004, S. 139). Während in der Spe-zialisierung der Produktion ein gradueller Anstieg seit den 70er Jahren zu verzeichnen sei, habe die Exportspezialisierung sogar noch etwas abgenommen, was vermutlich durch die zunehmende Bedeutung des intra-industriellen Handels erklärt werden kann (European Commission 2004). Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine Studie der Sektorspezialisierung der Europäischen Zentral-bank in 2004. Ihr Ergebnis war, dass die Produktionsstrukturen der Euroländer relativ ähnlich sind und tatsächlich sogar homo-gener als die Produktionsstrukturen in den Vereinigten Staaten von Amerika (European Central Bank 2004).

Selbst Länder mit einer relativ hohen wirtschaftlichen Spezia-lisierung, wie z. B. die Slowakei mit einem sehr hohen Anteil an Auto- und Autozulieferproduktion, konnten sich der Krise in 2009 verhältnismäßig gut anpassen. Die Slowakei war gerade der Eurozone beigetreten und insofern nicht mehr in der Lage, ihre Währung abzuwerten. Die Wirtschaft kontrahierte um 4,9 % in 2009, erholte sich aber schon im Jahr danach mit einem Anstieg von 4,2 % und einem weiteren Zuwachs von 3,3 % in 2011.

5.3 Lohnflexibilität und Arbeitskräftemobilität

Um bei einem plötzlichen Nachfragerückgang Arbeitslosigkeit und Beschäftigungseinbußen möglichst zu vermeiden, müs-sen entweder die Reallöhne oder andere Kosten sinken oder das Arbeitsangebot muss durch Migration in andere Länder vermin-dert werden. In der europäischen Währungsunion lassen sich zurzeit beide Mechanismen klar beobachten. Sowohl die Real-lohnflexibilität als auch die Arbeitskräftemobilität sind in den letzten Jahren kräftig gestiegen. Die starken Lohnsteigerungen der Boomjahre bis 2008 wurden in Ländern wie Griechenland, Irland und Spanien korrigiert. Erste Auswirkungen auf die Be-schäftigung sind erkennbar. In Deutschland ist die Situation eine

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58 5 Eine Neubewertung der Kriterien für einen …

andere. Die Lohnzurückhaltung und Lohnspreizung, die im letz-ten Jahrzehnt zu beobachten war, weicht wieder stärkeren Lohn-steigerungen. Zudem greift die Politik mit Mindestlohninitiativen stärker in die Lohnfindung ein.

Auch im Hinblick auf Arbeitskräftemobilität haben sich erheb-liche Änderungen im Zeitablauf ergeben. Bis zum Ausbruch der Schuldenkrise im Jahre 2010 zogen Ungleichgewichte an den na-tionalen Arbeitsmärkten kaum Migrationsströme zwischen den Mitgliedsländern des Euro nach sich. Viele Analysen wiesen auf den Unterschied zu den Vereinigten Staaten von Amerika hin, de-ren Staaten viel stärkere Arbeitskräftewanderungen verzeichnen. Gemäß Europäischer Kommission (2001) war die Mobilitätsrate von US-Bürgern in den 90er Jahren etwa zweimal so hoch wie die unter EU-Bürgern (European Commission 2001, S. 5). Dieser Unterschied sei zu erklären durch „verschiedene Faktoren, ein-schließlich kultureller und im Besonderen sprachlicher Barrieren, regulatorischer Hindernisse, unzureichender oder schwieriger Anerkennung von Qualifikationen und Kompetenzen und einer Alterung des Arbeitskräftepotenzials“. Eine Analyse der OECD in 2005 bestätigte eine relativ geringe Mobilität in den EU-Staaten im Vergleich zu den USA und den Ländern der asiatisch-pazi-fischen Region (OECD 2005). Im Laufe der Jahre wurden ver-schiedene Anstrengungen unternommen, um die Arbeitskräfte-mobilität zu verbessern, aber der Erfolg blieb begrenzt (European Commission 2011).

Mit dem Ende des Booms in den peripheren Ländern der Euro-zone und der folgenden starken Rezession ist die Arbeitskräfte-mobilität aber bemerkenswert angestiegen (vgl. Abb. 5.4 und 5.5). Die hohe Arbeitslosigkeit in den „Krisenländern“ erzeugt eine starke Abwanderung von Arbeitskräften. Ein extremes Beispiel ist Griechenland. Aber auch aus Portugal, Italien, Spanien und Ir-land sind viele Arbeitskräfte auf der Suche nach Beschäftigung ausgewandert. Nimmt man als Beispiel die Anzahl an Personen,

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595.3 Lohnflexibilität und Arbeitskräftemobilität

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die aus diesen Ländern nach Deutschland gekommen sind (hier-bei werden nur nicht-deutsche Nationalitäten erfasst), sieht man einen dramatischen Anstieg in den letzten drei Jahren. Umge-kehrt ist die Abwanderung aus Deutschland in diese Länder sehr stark zurückgegangen. Vielfach wird diese Entwicklung kritisch betrachtet, weil die rezessionsgeplagten Länder nun auch durch die Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte vermeintlich Scha-den nehmen. Dieses Argument kann allerdings nicht überzeugen. Was sollen qualifizierte Arbeitskräfte in ihren Heimatländern machen, wenn es dort keine Beschäftigungsmöglichkeiten für sie gibt? Arbeitslos bleiben oder Taxi fahren? Nein! Arbeitskräfte-mobilität ist in einer Währungsunion sehr wichtig, um temporäre Unterbeschäftigung abzufedern und dadurch die Sozialsysteme und die öffentlichen Haushalte zu stabilisieren. Sobald die rezes-sions- oder schuldengeplagten Volkswirtschaften sich erholen, werden sich die Wanderungsbewegungen umkehren und quali-fizierte Arbeitskräfte mit neuen Fähigkeiten und internationaler Berufserfahrung werden zurückkehren. Aus diesem Grund sollte Arbeitskräftemobilität keinesfalls behindert, sondern gefördert werden. Dazu kann die Politik einiges beitragen, denn die recht-lichen und sozialpolitischen Rahmenbedingungen sind nach wie vor ein Hindernis. Ein Beispiel möge das erläutern. Gehen wir aus von einem Baufacharbeiter, der in Belgien lebt und für eine hollän-dische Firma arbeitet, die in beiden Ländern Projekte abwickelt. Dieser Arbeiter unterliegt der sozialversicherungsrechtlichen Ge-setzgebung in Belgien, da er dort lebt und zu einem wesentlichen Teil arbeitet. Also muss das holländische Unternehmen belgische Sozialversicherungsbeiträge für die gesamte Entlohnung des Mit-arbeiters bezahlen. Das Einkommen des Arbeitnehmers wird da-gegen aufgespalten, je nachdem, wie viele Tage er prozentual in Belgien und in den Niederlanden gearbeitet hat, und unterliegt dann getrennt der Besteuerung. Im Hinblick auf arbeitsrechtli-che Auseinandersetzung könnte der Arbeitnehmer selbst wählen,

5.3 Lohnflexibilität und Arbeitskräftemobilität

Page 75: Europa nach der Krise ||

62 5 Eine Neubewertung der Kriterien für einen …

ob er belgisches oder niederländisches Recht auf seinem Vertrag zur Anwendung kommen lassen möchte (European Trade Union Confederation 2011). Dieses Beispiel zeigt, dass die Koordination nationaler Rechtsrahmen durchaus komplex sein kann, um die Arbeitskräftemobilität zwischen Ländern zu erleichtern.

Fassen wir einige Lehren für die Wirtschaftspolitik zusammen. Erstens ist deutlich geworden, dass die Lohnpolitik innerhalb einer Währungsunion sehr große Verantwortung hat. Steigen die Löhne in einem Land nachhaltig schneller als die Produktivität, wird dies die Wettbewerbsfähigkeit des Landes in einer Wäh-rungsunion erodieren lassen. Kurzfristige Konsumimpulse von Lohnsteigerungen werden daher rasch auslaufen. Diese ökono-mischen Wirkungsmechanismen müssen in der Zukunft, wie in Kap.  6 argumentiert, von den Mitgliedsländern viel stärker be-achtet werden und sie sollten bei der makroökonomischen Über-wachung eine zentrale Rolle spielen. Zweitens sollten die Anstren-gungen verstärkt werden, Arbeitskräftemobilität zwischen den Mitgliedsländern des Euro zu verbessern. Das könnte dadurch ge-schehen, dass die Ansprüche in den Sozialsystemen kompatibler gestaltet werden. Wichtig wäre auch, dass Dienstleistungsmärkte geöffnet werden und die gegenseitige Anerkennung von Quali-fikationen und Kenntnissen verbessert wird. Schließlich würden auch verbesserte Sprachtrainings helfen, da die Sprache häufig eine wesentliche Wanderungsbarriere darstellt. Der Tenor vieler politischer Diskussionen geht seit Ausbruch der Krise leider in eine andere Richtung. Aufgrund steigender inoffizieller Immig-ration von Menschen aus Nicht-EU-Regionen, haben einige EU-Länder zumindest temporär die Wanderungsfreiheit nach dem Schengen-Abkommen – einer wesentlichen Errungenschaft der EU – suspendiert. Mit dem Schengen-Abkommen wurden inter-ne Grenzkontrollen eliminiert, was die Mobilität der Menschen in dieser Region erheblich verbessert hat. Diese Errungenschaft sollte nicht zur Disposition gestellt werden, oder illegale Immig-

Page 76: Europa nach der Krise ||

635.4 Kapitalmobilität

ration insbesondere über die Mittelmeerländer und hier vor allem Griechenland, Malta und Zypern stattfindet, oder Menschen aus den Ländern Nordafrikas fliehen. Diese illegale Einwanderung ist nicht allein ein Problem für die Länder, die diese Flüchtlinge als erste aufnehmen, sondern das Problem betrifft den gesamten Schengen-Raum. Eine Lösung ist daher durch eine gemeinsame EU-Entscheidung und nicht durch einen Wiederaufbau interner Grenzkontrollen im Schengen-Raum zu suchen.

Neben der Zuwanderung von Flüchtlingen ist seit der Öff-nung der Grenzen für die EU-Mitgliedsstaaten Rumänien und Bulgarien ein starker Zustrom an Menschen aus diesen Ländern zu verzeichnen. Auch dies stellt die EU-Prinzipien der freien Be-weglichkeit von Arbeit über die Grenzen auf die Probe. In vielen Ländern, nicht zuletzt in Großbritannien oder in Deutschland, regt sich Widerstand gegen eine vermutete Ausnutzung der groß-zügigen Sozialsysteme in den entwickelten Volkswirtschaften. Ein solcher möglicher Missbrauch sollte jedoch – so auch die Position der EU-Kommission – ausgeschlossen werden können. Wo das nicht der Fall ist, müssten die Regelungen nachgebessert werden. Das wäre die angemessene Lösung. Die Freizügigkeit des Perso-nenverkehrs in der EU deswegen grundsätzlich in Frage zu stel-len, wäre dagegen der falsche Weg.

5.4 Kapitalmobilität

Der freie Kapitalverkehr ist eine wesentliche Erfolgsbedingung für eine Währungsunion. Länder, die rentable Investitionsmög-lichkeiten zu bieten haben, sollten einen Kapitalzustrom aus an-deren Ländern erzeugen – insbesondere da keine Wechselkurs-risiken existieren. Grundsätzlich sollte eine Währungsunion eine optimale und Wohlstand schaffende Allokation des Kapitals zwi-schen den Ländern ermöglichen. Der freie Kapitalverkehr kann

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64 5 Eine Neubewertung der Kriterien für einen …

auch dazu beitragen, dass wirtschaftliche Schocks in einzelnen Ländern besser verkraftet werden können. Länder, die durch weltwirtschaftliche Schocks eine steigende Arbeitslosigkeit erlei-den, müssen versuchen, ihren Standort für Kapitalinvestitionen aus dem Ausland attraktiver zu machen. Der Handlungsrahmen kann dabei eine Vielzahl von Parametern umfassen, die für In-vestoren wichtig sind: Lohnkosten und andere Kostenarten, Kör-perschaftssteuern, die Verfügbarkeit von Produktionsstätten, die Einfachheit der Regulierung, das Investitionsklima, die Verfüg-barkeit qualifizierter Arbeitskräfte und Weiteres mehr. In einer Währungsunion spielen solche Angebotsbedingungen eine noch weitaus größere Rolle als in einem System flexibler Wechselkurse, in dem mit Abwertungen zumindest temporär die Kostensitua-tion und die Attraktivität eines Investitionsstandorts verbessert werden kann.

Der empirische Befund zur Kapitalmobilität in der Eurozone zeigt im Zeitablauf große Fortschritte, aber zuletzt auch Rück-schläge. In den Jahren unmittelbar nach der Einführung der ge-meinsamen Währung stiegen die Direktinvestitionen zwischen den Mitgliedsländern kräftig an. Die Beseitigung von Wechsel-kursrisiken sowie abnehmende Transaktions- und Finanzierungs-kosten zeigten ihre Wirkung. Auch die Bestände an Staatsanleihen und die Bankkredite zwischen Ländern der Euro-Gruppe nahmen im Nachgang zur Euro-Einführung erheblich zu (vgl. Abb. 5.6). Der rasche Anstieg der grenzüberschreitenden Finanzströme stand im Einklang mit der Theorie optimaler Währungsräume. Die Kapitalallokation wurde internationaler, Länder mit guten Renditechancen konnten Investoren anlocken. Mit der Zeit zeigte sich allerdings auch eine Negativseite dieser steigenden Kapital-transaktionen. Der Kapitalzustrom in einige Länder finanzierte nicht allein sinnvolle Investitionen, sondern auch die übermäßi-ge Schuldenaufnahme von Regierungen und nicht nachhaltige außenwirtschaftliche Defizite. Das Kapital floss vom Norden in den Süden. „Länder wie Griechenland, Irland, Italien und Portu-

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gal zogen beträchtliche Mengen an zusätzlichem Kapital in den ‚Vorkrisenjahren‘ an, zumeist von deutschen und französischen Banken“ (European Central Bank 2011). Leistungsbilanzdefizite wurden unter anderem mit kurzfristigen Krediten von Auslands-banken oder durch die Investorennachfrage nach Staatsanleihen des jeweiligen Landes finanziert. Der Kapitalzustrom beschleu-nigte das Wachstum der Inlandsnachfrage weit über die Zunahme der Produktion hinaus. Leistungsbilanzdefizite von bis zu 15 % des BIP in Griechenland oder 10 % des BIP in Spanien (jeweils in 2008) wurden so ermöglicht. Das Problem mit dem freien Kapi-talverkehr war nicht die Richtung des Kapitalstroms vom Norden

Abb. 5.6 Starke Abnahme grenzüberschreitender Finanzströme inner-halb des Euroraums. Grenzüberschreitende Nettopositionen, berech-net als Summe von Krediten an MFIs (Monetäre Finanzinstitute) bzw. Nicht-MFIs und Wertpapieren ohne Aktien von MFIs bzw. Nicht-MFIs abzüglich Einlagen von MFIs bzw. Nicht-MFIs. In die Berechnung gehen jeweils ausstehende Bestände in Mrd. EUR ein. Wechselnde Zusammen-setzung des Euroraums berücksichtigt. (Quelle: EZB)

5.4 Kapitalmobilität

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66 5 Eine Neubewertung der Kriterien für einen …

in den Süden – von reicheren zu ärmeren Ländern – denn dies ist ein normales Phänomen; die Problematik lag vielmehr darin, dass die Kapitalströme einen starken Zuwachs der Konsumnach-frage oder übertriebene Ausgaben für den Wohnungsbau anstelle rentabler Sachkapitalinvestitionen finanzierten und dass sich nur sehr geringe Risikoprämien für die Boomländer bildeten. Die Fi-nanzmärkte steckten alle EWU-Länder in eine Schublade, sie ig-norierten weitgehend die unterschiedlichen Risiken in den einzel-nen Ländern und sie erlaubten so den Aufbau großer Leistungs-bilanzdefizite. In diesem Sinne kann man die Kapitalströme heute als destabilisierend betrachten. Die entscheidende Frage aber ist, warum die Investoren auf angemessene Risikoprämien verzich-teten und zu sehr niedrigen Zinssätzen ihr Geld an weniger star-ke Schuldner verliehen. Ein Teil der Antwort ist sicherlich, dass Investoren keine staatlichen Insolvenzen erwarteten und dass sie der sogenannten „No-Bailout-Clause“ (der Nichthaftungsklausel) des Maastrichter Vertrags misstrauten. Sonst hätten sie größere Bedenken im Hinblick auf bestimmte Länderrisiken (z. B. Grie-chenland) haben müssen. Ein weiterer Teil der Erklärung für die hohe Risikobereitschaft liegt wohl darin, dass sich die Finanz-märkte weltweit auf der Jagd nach Rendite befanden, weil sichere Anlagen nur geringfügige Zinsen abwarfen. Es waren die „Sub-prime-Jahre“, in denen Investoren hohe Risiken für vergleichs-weise geringe Zinsprämien akzeptierten. Die Liquidität flutete viele Märkte, darunter eben auch die staatlichen Anleihemärkte schwächerer EWU-Länder. Das Wachstum in diesen Ländern war kräftig – oder es schien zumindest kräftig – und es war sehr un-wahrscheinlich, dass die Gruppe der Euroländer schon bald die Staatsinsolvenz eines Mitgliedslandes akzeptieren könnte. Diese Erwartung änderte sich allerdings im Jahre 2010, als eine griechi-sche Staatsinsolvenz in den Bereich des Möglichen rückte. Schlag-artig nahm die Risikoscheu der Investoren zu.

Page 80: Europa nach der Krise ||

675.5 Finanzmarktintegration

5.5 Finanzmarktintegration

Zusätzlich zur Freiheit des Kapitalverkehrs ist auch der Grad an finanzieller Integration in einer Währungsunion von großer Be-deutung. Finanzielle Integration lässt sich als der Grad an Einheit-lichkeit bzw. Unterschiedlichkeit von Finanzmarktbedingungen und damit auch der Preisfindung auf den nationalen Märkten be-schreiben. Die Bedeutung dieses Kriteriums liegt darin, dass eine gemeinsame Geldpolitik sehr unterschiedliche Auswirkungen auf die einzelnen Volkswirtschaften einer Währungsunion hat, wenn sich die Strukturen der nationalen Finanzmärkte stark unterschei-den. Solche strukturellen Unterschiede, wie die üblichen Zinsbin-dungsfristen bei Hypothekenverträgen oder die vorherrschenden Finanzierungsformen für Unternehmen, können eine gemeinsa-me, „One Size fits all“-Geldpolitik erschweren.

Die Konsequenzen unterschiedlicher Finanzmarktstrukturen für die Geldpolitik konnten in den letzten Jahren klar beobach-tet werden. Zum Beispiel an der Entwicklung der Hypotheken-märkte (vgl. Abb. 5.7 und 5.8). In einigen Ländern, wie in Spa-nien, wurden Hypotheken überwiegend mit variablen Zinsen ausgestattet und die Beleihungsgrenzen lagen häufig über 100 %. In diesem Umfeld hatte die expansive Geldpolitik der EZB mit sehr niedrigen Zinsen einen geradezu katalytischen Effekt auf den ohnehin stattfindenden Boom im Wohnungsbau. In Ländern wie Deutschland auf der anderen Seite, wo Hypotheken typischerwei-se mit langfristigen Zinsbindungen und einem Eigenkapital von 20–30 % ausgestattet sind, hatte die expansive Geldpolitik kaum einen Einfluss. Die Notenbankzinsen wurden also mit Blick auf die schwache Entwicklung in Deutschland niedrig gehalten, sie bewirkten aber vor allem in anderen Ländern eine Beschleuni-gung des Booms.

Die Schlussfolgerung aus diesen Überlegungen ist, dass die Fi-nanzmarktintegration in der Eurozone weiter verbessert werden muss, um die Auswirkungen der Geldpolitik zu vereinheitlichen.

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68 5 Eine Neubewertung der Kriterien für einen …

Raum für Verbesserungen gibt es. Auch vor dem Ausbruch der Schuldenkrise war die Finanzmarktintegration keineswegs voll-ständig. Beispielsweise waren die Zinsbedingungen für Hypothe-kenkredite in den einzelnen Ländern recht unterschiedlich. Die

Abb. 5.8 Typische Beleihungsquoten auf neue Hypotheken (%), 2007. (Quelle: EZB (2009))

Abb. 5.7 Prozentualer Anteil variabel verzinster Hypothekendarlehen an gesamten neuen Hypothekendarlehen, 2007. Anpassung innerhalb eines Jahres. **) Januar 2008. (Quelle: EZB (2009))

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Standardabweichung der Zinsen für kürzerfristige und für län-gerfristige Kredite an private Haushalte bewegte sich um die 30 Basispunkte, die Preiskonvergenz war also nicht sehr hoch (Euro-pean Central Bank 2012, S. 29). Das lag auch daran, dass das Vo-lumen an grenzüberschreitender Kreditvergabe im Privatkunden-geschäft eher gering blieb.

Die Separation nationaler Finanzmärkte ist durch die Schul-denkrise erheblich verstärkt worden. Sie hat zu einer ausge-prägten Re-Nationalisierung von Finanzströmen geführt. Deut-liche Zeichen sind die großen Unterschiede bei den Zinsen für Staatsanleihen und für die Refinanzierung von Banken oder nicht-finanziellen Unternehmen in den einzelnen Ländern. Die-se Marktsegmentierung war in erster Linie eine Konsequenz der plötzlichen Risikoscheu von Finanzinvestoren und der vielen He-rabstufungen durch die Ratingagenturen. Aber sie wurde auch vorangetrieben durch divergierende nationale Politiken, etwa im Hinblick auf Finanztransaktionssteuern, Bankenabgaben, das Verbot von spekulativen Leerverkäufen (Short Selling) oder die Fragen der Bankenrestrukturierung. Solche Regulierungsunter-schiede begünstigen Marktdivergenzen und können zur Verlage-rung von Finanzmarktaktivitäten zwischen den Ländern führen. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist eine Vereinheitlichung der Bedingungen mit der Europäischen Bankenunion anzuraten (sie-he Kap. 7).

5.6 Kohärenz in der Wirtschaftspolitik

Im Rückblick der letzten 15 Jahre zeigt sich, dass die Implikatio-nen einer Währungsgemeinschaft für die Wirtschaftspolitik in eklatanter Weise unterschätzt wurden. Wie bereits dargelegt, ist es in einer Währungsgemeinschaft nicht möglich, wirtschaftliche Fehlentwicklungen durch Wechselkursänderungen oder Zins-

5.6 Kohärenz in der Wirtschaftspolitik

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70 5 Eine Neubewertung der Kriterien für einen …

satzänderungen in einzelnen Ländern zu korrigieren. Die natio-nale Wirtschaftspolitik muss es vielmehr als ständige Aufgabe verstehen, die Wettbewerbsfähigkeit und die Standortattraktivität der jeweiligen Volkswirtschaften zu sichern und gefährliche Un-gleichgewichte in der makroökonomischen oder der fiskalischen Entwicklung zu vermeiden. Im Prinzip sollte eine Währungs-union daher einen stark disziplinierenden Einfluss auf die Wirt-schaftspolitik haben. Aber die Realität war eine andere. Die wirt-schaftspolitischen Reaktionen auf die Einführung des Euro haben den neuen Bedingungen nicht Rechnung getragen und die späte-ren Probleme der Währungsunion mit hervorgerufen. Aufgrund des starken Rückgangs des Zinsniveaus und des folgenden Auf-schwungs schien kein Grund zu bestehen, strukturelle Probleme anzugehen. Lohnsteigerungen übertrafen bei weitem das Produk-tivitätswachstum und die Gesamtnachfrage überstieg bei weitem den Produktionszuwachs in den heutigen „Krisenländern“. Eine durchgreifende Konsolidierung der öffentlichen Haushalte wur-de versäumt, obwohl der Zinsrückgang eine große Chance dazu bot. Das öffentliche Ausgabenwachstum wurde nicht wirksam be-grenzt und es wurde nichts gegen den ungesunden Boom an den Kredit- und Immobilienmärkten vieler Länder unternommen. Der Ausgang des Ganzen ist wohlbekannt. Die geschwächten und hochverschuldeten Volkswirtschaften wurden von der Welt-wirtschaftskrise in 2009 und den nachfolgenden Turbulenzen in Europa massiv getroffen.

Seit dem Ausbruch der Krise richten sich die wirtschaftspoliti-schen Anstrengungen darauf, die Wettbewerbsfähigkeit wieder-herzustellen und zur makroökonomischen und fiskalpolitischen Stabilität zurückzukehren. Die Krise mit einem Hochschnellen der Arbeitslosigkeit hat zahlreiche Änderungen veranlasst. Fraglich ist also, ob auch in Zukunft den wirtschaftspolitischen Notwen-digkeiten einer Währungsunion stärker Rechnung getragen wird als in den ersten Jahren der Gemeinschaft. Werden die Länder in

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besseren Zeiten auf Reformkurs bleiben? Eine gewisse Skepsis ist sicher berechtigt. Regierungen werden auch in Zukunft ihre Ent-scheidungen nach kurzfristigen Erwägungen ausrichten, wenn sie damit Wahlen gewinnen können. Aus diesem Grunde sollten die institutionellen Rahmenbedingungen in der EWU verbessert werden. Es ist nötig, gesamtwirtschaftliche und fiskalpolitische Entwicklungen in Zukunft genauer zu überwachen und Fehlent-wicklungen konsequenter entgegenzutreten, sofern sie ein Risiko für die Gemeinschaft darstellen. In der Tat sind die institutionel-len Regeln der Gemeinschaft in den letzten Jahren in diese Rich-tung verschärft worden. Das ist keinesfalls eine Verletzung demo-kratischer Prinzipien, wie oft behauptet wird. Die Einhaltung die-ser Regeln und Selbstverpflichtungen wurde mit dem Beitritt zur Währungsunion zugesichert. In einer Währungsunion sind eben Ergänzungen nationaler Regeln und Regulierungen notwendig.

Die europäischen Institutionen – insbesondere die EU-Kom-mission und die EZB – waren sich dessen von Beginn an bewusst. Aber frühere Koordinationsinstrumente, wie die allgemeinen Richtlinien zur wirtschaftspolitischen Koordination oder die Ver-pflichtungen der Lissabon-Agenda zur Verbesserung der Wettbe-werbsfähigkeit, erwiesen sich als unzureichend. In Zukunft wird die Koordination der Wirtschafts- und Finanzpolitik wirksamer sein müssen. Dazu wurden in den Jahren der Krise vielfältige ins-titutionelle Veränderungen vorgenommen. Zu nennen sind insbe-sondere das „Verfahren zur Vermeidung übermäßiger gesamtwirt-schaftlicher Ungleichgewichte“, der Fiskalpakt sowie zahlreiche Änderungen im Stabilitäts- und Wachstumspakt, die die Schul-dendynamik brechen sollen, und schließlich die Schaffung eines „European Systemic Risc Board“ (ESRB), das über regulatorische Empfehlungen das Entstehen makroökonomischer Ungleichge-wichte verhindern soll. Diese Neuerungen werden in Kap. 7 be-sprochen. Hier wird außerdem aufgezeigt, dass bereits erhebliche Verbesserungen der institutionellen Rahmenbedingungen einge-

5.6 Kohärenz in der Wirtschaftspolitik

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72 5 Eine Neubewertung der Kriterien für einen …

leitet wurden, dass aber in einer mittelfristigen Perspektive noch Weiteres erfolgen sollte. So wird eine zumindest partielle Über-tragung von nationaler Souveränität auf die EU-Ebene notwendig sein. Gerade angesichts der bereits erfolgten nicht unerheblichen Vergemeinschaftung von Schulden, erscheint es folgerichtig, dass eine politisch einflussreiche Institution auf EU-Ebene – etwa ein Finanzkommissar – die Einhaltung der gemeinsamen Regeln in einer Währungsunion auch wirksam durchsetzen kann.

Skeptiker mögen einwenden, dass die kulturellen Unterschiede zwischen den Ländern der Währungsunion einfach zu groß sind, um die notwendige Kohärenz der Wirtschaftspolitik tatsächlich zu erreichen. Aber gibt es tatsächlich eine Unvereinbarkeit der Kulturen, die eine kohärente Wirtschaftspolitik in den Ländern der EWU verhindert? Zweifel sind berechtigt. Wie erklären wir die Transformation vormals kommunistischer Länder, die heu-te liberale und freie Marktwirtschaften darstellen? Und welche Alternative gibt es zu größerer Kohärenz der Wirtschaftspolitik in den europäischen Ländern? Einfach tolerieren, wenn in einer Gemeinschaft von 28 + X jedes Land seine wirtschaftspolitischen Strategien ohne Rücksicht auf die Interessen der Gemeinschaft verfolgt? Auch sollte man die Vergangenheit mit multiplen Wäh-rungen im europäischen Wirtschaftsraum bitte nicht verklären. Es gab massive Spannungen mit wirtschaftspolitischen Konflik-ten im Währungsgefüge, Abwertungsstrategien zu Lasten von Partnerländern, viel Kritik an der Bundesbank und immer wie-derkehrende Währungskrisen. Eine bessere Alternative als die Rückkehr in die Vergangenheit ist es, weiter an den Regeln für mehr Kohärenz in der Wirtschaftspolitik zu arbeiten, auch wenn das ein langsamer und aufwändiger Prozess ist.

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Versäumnisse der Finanzpolitik und der makroökonomischen Stabilisierung

M. Heise, Europa nach der Krise, DOI 10.1007/978-3-642-54620-4_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

6

7 Die Erfahrungen der vergangenen 13 Jahre bestätigen eindrucksvoll die Notwendigkeit institutioneller Regeln, um fiskalische Disziplin zu sichern. Die Kapitalmärkte allein konnten nicht genügend Druck in Richtung einer nachhaltigen Finanzpolitik ausüben. Auch Länder wie Griechenland oder Portugal, die offensichtlich keine tragfähigen Schuldenentwicklungen erzielt hatten, konnten sich vor der Krise zu sehr günstigen Kondi-tionen an den Kapitalmärkten refinanzieren. Ebenso wenig wurde Italien, das in vielen Jahren vor der Krise das Maastricht-Kriterium von 3 % Defizit zum Brutto-inlandsprodukt überschritt, mit hohen Risikoprämien belegt. Die Sorglosigkeit der Märkte dürfte damit zu tun gehabt haben, dass man der Nichthaftungsklausel (No-Bailout-Clause) des Maastrichter Vertrags wenig Glauben schenkte und implizit doch mit einer solidari-schen Unterstützung von Ländern rechnete, falls sie ihre Schulden nicht mehr bedienen könnten. Mit der Schaf-fung großer Rettungsfonds im Mai 2010 wurde diese Klausel tatsächlich entkräftet und die Märkte konnten sich bestätigt sehen. Als dann doch ein Schuldenschnitt für Griechenland näher rückte, schlug die Stimmung privater Investoren, wie in Kapital 3 dargelegt, komplett

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76 6 Versäumnisse der Finanzpolitik …

um. Das Hochschnellen der Risikoprämien kam aber viel zu spät, um vorbeugende Maßnahmen zur Vertrauens-stabilisierung auszulösen.

Da die Architekten des Euro von Anbeginn an der disziplinieren-den Wirkung der Marktkräfte zweifelten, hatten sie einen Sank-tionsmechanismus in den Stabilitäts- und Wachstumspakt einge-baut, um Länder zu einer vorsichtigen und nachhaltigen Fiskal-politik zu bewegen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt wird ge-meinhin als eine Regel interpretiert, die Länder verpflichtet, keine öffentlichen Defizite über 3 % des Bruttoinlandsprodukts zuzulas-sen und mit der Zeit zu einem Schuldenstand von 60 % zurückzu-kehren. Tatsächlich ist der Pakt weitaus anspruchsvoller, denn er verlangt ausgeglichene Haushaltsbudgets über die mittlere Frist, Defizite in Zeiten wirtschaftlicher Schwäche müssen durch Über-schüsse in Zeiten starken Wachstums kompensiert werden.

Die Zielsetzung des Stabilitäts- und Wachstumspakts, eine nachhaltige Finanzpolitik sicherzustellen, ist zwar eine notwendi-ge, aber keine hinreichende Bedingung für ausgewogenes Wachs-tum. Tatsächlich mag die Fokussierung auf fiskalische Defizite und Schulden die Aufmerksamkeit auf noch gefährlichere ma-kroökonomische Ungleichgewichte abgelenkt haben. Zu wenig wurde unternommen, um den Aufbau beträchtlicher makroöko-nomischer Risiken in den Jahren starken Wachstums zu verhin-dern. In nicht wenigen Euro-Mitgliedsländern führten Verschul-dungsprozesse, relativ hohe Inflationsraten und eine Erosion der preislichen Wettbewerbsfähigkeit zu anschwellenden und nicht nachhaltigen Leistungsbilanzdefiziten. Die Krise brachte dann schlagartig ans Tageslicht, dass die Volkswirtschaften sich in den Jahren des Booms auf sehr dünnem Eis bewegt hatten. Ihre Kons-titution war geschwächt.

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776.1 Der zahnlose Stabilitätspakt

6.1 Der zahnlose Stabilitätspakt

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, der mit den Maastrichter Verträgen vereinbart wurde, sollte eine Disziplinierung der Fi-nanzpolitik aller Euro-Staaten bewirken. Tatsächlich wurden die Sanktionsmechanismen dieses Pakts nie angewendet (vgl. Abb. 6.1). Bereits in den Kindertagen des Euro hatten Deutsch-land und Frankreich eine „Reform“ des Pakts initiiert, die seine Wirksamkeit gegenüber staatlicher Schuldenpolitik verminderte. Wie war es dazu gekommen? In der ersten Hälfte des Jahres 2003 hatte der EU-Rat Deutschland und Frankreich dem Verfahren bei übermäßigen Defiziten unterworfen und Empfehlungen ausge-sprochen, die Defizite zu beseitigen. Tatsächlich erwies sich im weiteren Verlauf des Jahres die wirtschaftliche Entwicklung als sehr schwach und die Defizite gingen keinesfalls zurück. Darauf-hin empfahl die EU-Kommission dem EU-Rat eine Feststellung, dass die Maßnahmen beider Länder nicht ausreichend seien, ver-bunden mit der Aufforderung an Deutschland und Frankreich, die Situation bis 2005 zu bereinigen. Eine Abstimmung zu dieser Empfehlung der Kommission fand im Rat keine Mehrheit, so dass die vorgesehenen nächsten Schritte des Stabilitäts- und Wachs-tumspakts ausblieben. Die strikten Regeln des Pakts erwiesen sich gegenüber so starken Ländern wie Deutschland und Frankreich im EU-Rat als nicht durchsetzbar. Doch es bleibt zweifelhaft, ob es rechtens war, dass der EU-Rat entgegen den Empfehlungen der Kommission das Verfahren des Stabilitäts- und Wachstumspakts nicht in Kraft setzte. Der Europäische Gerichtshof kritisierte die-ses Vorgehen. Aber wie auch immer, es wurden keine Sanktio-nen gegenüber Deutschland und Frankreich erlassen (European Commission 2005).

In der Folge dieser Kontroverse kam es zu einer Modifikation des Stabilitäts- und Wachstumspakts, die der Europäische Rat am

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78 6 Versäumnisse der Finanzpolitik …

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796.1 Der zahnlose Stabilitätspakt

20. März 2005 verabschiedete. Die zwei Schlüsselparameter des Stabilitäts- und Wachstumspakts – die Referenzwerte für das öf-fentliche Haushaltsdefizit und den Schuldenstand – blieben un-verändert. Die Reform schuf aber mehr Raum für länderspezifi-sche Erwägungen und diskretionäre Entscheidungen des EU-Rats (European Commission 2006). Die Nachsicht gegenüber Deutsch-land und Frankreich schwächte die Disziplinierungswirkung des Stabilitäts- und Wachstumspakts.

Die Bilanz des „Eurolandes“ hinsichtlich der Begrenzung staat-licher Defizite und der Rückführung des Schuldenstands blieb folglich äußerst enttäuschend (vgl. Abb. 6.2). Nur zwei Ländern – Finnland und Luxemburg – gelang es in allen Jahren seit der Einführung des Euro, ihr staatliches Defizit unter 3 % zu halten. Alle anderen Länder verletzten dieses Defizitkriterium in min-destens einem Jahr. Nur sechs Länder schafften es, in Zeiten star-ken Wachstums mindestens zwei Jahre lang Budgetüberschüsse zu erzielen, was der Pakt eigentlich verlangte. Kritischer noch ist

Abb. 6.2 Schuldenradar: Defizitkriterium. (Datenquelle: EcoWin)

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80 6 Versäumnisse der Finanzpolitik …

aus heutiger Sicht zu bewerten, dass Griechenland und Portugal nicht in einem einzigen Jahr imstande waren, ihr Defizit unter 3 % zu drücken – obwohl sie zeitweise ordentliches wirtschaft-liches Wachstum aufwiesen. In Griechenland wurden Schulden angehäuft, obwohl die Wirtschaft zeitweise um 4 % wuchs. Öster-reich, Frankreich, Italien und die Slowakei erzielten seit der Ein-führung des Euro nie einen Budgetüberschuss und überschritten die 3 %-Defizit-Grenze in mehreren Jahren. Irland verzeichnete einige Jahre lang einen leichten Überschuss im öffentlichen Haus-halt, es erlebte dann aber den stärksten finanzpolitischen Absturz, als die Finanzkrise das Land zwang, gewaltige Geldbestände zur Rettung des hypertrophen Bankensektors aufzubringen.

In Bezug auf das zweite finanzpolitische Kriterium, der Rück-führung staatlicher Schuldenstände auf einen Wert von 60 % des Bruttoinlandsprodukts, erzielte das ein oder andere Euroland vor dem Ausbruch der Finanzkrise durchaus Fortschritte. Unter den älteren Mitgliedsländern der Währungsunion waren es Irland, Lu-xemburg, die Niederlande und Spanien, die ihren Schuldenstand zur Mitte des letzten Jahrzehnts unter 60 % drücken konnten. Auf der anderen Seite scheiterten Frankreich und Deutschland bei der Rückführung der Schulden unter 60 %. Italien lag in allen Jahren weit über der 60 %-Marke. Griechenland und Portugal bewegten sich entgegen den Vereinbarungen in die komplett falsche Rich-tung (vgl. Abb. 6.3).

Die Geschichte der Fiskalpolitik in den ersten Jahren des Euro ist eine Geschichte der verpassten Chancen. Insbesondere in süd-lichen Ländern hätte es der enorme Zinsrückgang und das da-durch ausgelöste starke Wachstum ermöglicht, die öffentlichen Haushalte ordentlich zu konsolidieren. Aber es gab kein klares Problembewusstsein der politischen Entscheidungsträger. Sie gaben sich mit relativ kleinen Verbesserungen der Fehlbeträge ihrer Haushalte bereits zufrieden. Der grundlegende Gedanke des Stabilitäts- und Wachstumspakts, dass gute Jahre genutzt werden

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müssen, um Überschüsse in öffentlichen Haushalten zu generie-ren und Risikovorsorge für schlechtere Zeiten zu betreiben, wur-de mehr oder weniger ignoriert. Wie oben dargelegt, dürfte ein Grund dafür gewesen sein, dass die Nichtbeachtung oder Nicht-konformität mit den Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts zum Haushaltsausgleich nicht sanktioniert wurde. Um die Ein-haltung des Pakts zu verbessern, entschied der EU-Rat im Jah-re 2011, dass der im Stabilitäts- und Wachstumspakt angelegte Sanktionsprozess nur mit qualifizierter Mehrheit aufzuhalten ist, sobald ein Land sich in dem Verfahren befindet. Zurzeit trifft dies auf die meisten Euroländer zu. Es wird sich zeigen, wie strikt der Sanktionsmechanismus in Zukunft umgesetzt werden wird.

Durch die wiederholten Abweichungen vom Stabilitäts- und Wachstumspakt wurde dieser zum zahnlosen Tiger. Das heißt je-doch nicht, dass er überhaupt keine Wirkung gehabt hätte und

Abb. 6.3 Staatsschuldenquoten der EWU-Mitgliedsländer über-wiegend über 60 %. Gestrichelte Linie markiert Schuldenstandskrite-rium des Stabilitäts- und Wachstumspakts von 60 % des BIP. (Quelle: Eurostat)

6.1 Der zahnlose Stabilitätspakt

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82 6 Versäumnisse der Finanzpolitik …

vollkommen überflüssig gewesen wäre. Allein die Eröffnung eines Verfahrens gegen Länder, die ihre Haushalte nicht in Ordnung bringen, hatte für die Regierungen dieser Länder einen negativen Reputationseffekt (Naming and Shaming) und hat sie womög-lich zu gewissen Korrekturen veranlasst. So sieht die Schulden-situation der EWU-Länder gegenüber Großbritannien, den USA oder Japan sehr viel weniger negativ aus (vgl. Abb.  6.4). Japans Schuldenstand in Relation zum Bruttoinlandsprodukt ist seit den frühen 90er Jahren kontinuierlich gewachsen und hat bereits vor einigen Jahren einen Wert von 200 % überschritten. Das liegt weit über dem Durchschnitt in der Eurozone und übertrifft sogar den größten Schuldenberg in der Währungsunion in Griechenland.

Die Schuldenhöhe in Großbritannien und den USA ist, wenn auch bei schnellerem Schuldenwachstum, vergleichbar mit der-jenigen der europäischen Währungsunion. Innerhalb der Wäh-rungsunion hatten in 2011 nur Griechenland, Italien, Portugal

Abb. 6.4 EWU-Staatsschuldenquote im Vergleich. (Quellen: Board of Governors of the Federal Reserve System, Bureau of Economic Analysis, Eurostat, IWF Fiscal Monitor (Oktober 2013))

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836.2 Makroökonomische Ungleichgewichte

und Irland schlechtere Werte als die USA. Und nur diese vier plus Belgien und Frankreich hatten schlechtere Werte als das Vereinig-te Königreich.

Der internationale Vergleich scheint also nahezulegen, dass der Stabilitätspakt nicht vollkommen unwirksam gewesen ist. Aber wir werden nie genau wissen, welche Entwicklung die Länder ohne einen solchen Pakt genommen hätten. Klar ist indes, dass die Disziplinierungswirkung des Stabilitätspakts verbessert wer-den muss. Ein erster Schritt dazu war die erwähnte Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts im Jahr 2011. Eine Verstärkung des sogenannten präventiven und des korrektiven Arms dieses Pakts stand hierbei im Mittelpunkt. Zudem wurde die Bedeu-tung des absoluten Schuldenstands gegenüber dem jährlichen Defizitkriterium erhöht. Mitgliedsländer werden aufgefordert, in wirtschaftlichen Boomzeiten Überschüsse zu erzielen, andern-falls drohen Sanktionen. Die Entscheidungsprozesse wurden ver-einfacht, nicht zuletzt dadurch, dass ein Sanktionsverfahren nur gestoppt werden kann, wenn eine qualifizierte Mehrheit im Rat dies entscheidet (Reversed Qualified Majority). Eine detaillierte Übersicht dieser Reform findet sich etwa bei der Europäischen Kommission (European Commission 2012a).

6.2 Makroökonomische Ungleichgewichte

Makroökonomische Ungleichgewichte sind eine Gefahr. Sie ma-chen Länder anfällig, wenn ökonomische Schocks auftreten oder die Finanzmarktentwicklung einmal ins Negative dreht. Und in dem eng geknüpften Netzwerk der europäischen Währungsunion haben die Probleme eines Landes immer auch Implikationen für die Gemeinschaft im Ganzen und andere Mitgliedsländer. Daher müssen Schritte unternommen werden, um das Entstehen von neuen makroökonomischen Ungleichgewichten in der Zukunft

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84 6 Versäumnisse der Finanzpolitik …

zu verhindern. Das ist zentral für die langfristige Stabilität der Währungsunion.

Mit anderen Worten: Es gibt einen Bedarf an einer effektiven makroökonomischen Überwachung und an Frühwarnsystemen, die sicherstellen, dass das Wachstum ausgewogen bleibt, und die frühzeitig Gefahren signalisieren, die von Fehlentwicklungen – wie im Falle der Euro-Staatsschuldenkrise – ausgehen. Aus die-sem Grunde ist der Stabilitäts- und Wachstumspakt um ein „Ver-fahren bei übermäßigen makroökonomischen Ungleichgewich-ten“ (Macroeconomic Imbalances Procedure) erweitert worden. Als Ansatzpunkt der Analyse solcher Ungleichgewichte dienen der europäischen Kommission zehn quantitative Indikatoren, mit denen Fehlentwicklungen erfasst werden können. Einen noch et-was umfänglicheren Indikatorenkatalog hat die Allianz unter der Bezeichnung „Euro Monitor“ vorgeschlagen (siehe Allianz 2011; Heise 2011).

Ein solides, ausgewogenes Wachstum in den einzelnen Mit-gliedsstaaten ist unerlässlich, um Wohlstand und die Glaubwür-digkeit der gemeinsamen Währung zu sichern. Als makroöko-nomisches Monitoringsystem zielt der Euro Monitor darauf ab, bestehende und neu aufkommende Ungleichgewichte zukünftig rechtzeitig anzuzeigen. Zahlreiche Aspekte spielen für das ausge-wogene Wachstum einer Volkswirtschaft eine Rolle. Nach unserer Einschätzung sollte ein umfassendes Messkonzept für makroöko-nomische Ungleichgewichte anhand von 15 Einzelindikatoren nach vier Schlüsselkategorien aufgebaut werden:

• Solidität der Staatsfinanzen• Wettbewerbsfähigkeit und Inlandsnachfrage• Beschäftigung, Produktivität und Ressourceneffizienz• Private Verschuldung und Auslandsvermögensposition

Neben Fiskalindikatoren deckt der Euro Monitor also auch die makroökonomische Dimension in der Breite ab. Vielfach wird

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856.2 Makroökonomische Ungleichgewichte

eine Durchschnittsbildung über fünf Jahre vorgenommen, um eine zyklusgerechte Analyse zu gewährleisten.

Solidität der öffentlichen Finanzen In der ersten Kategorie aus-gewogenen Wachstums wird die „Solidität der Staatsfinanzen“ anhand von vier Indikatoren beurteilt. Die an den Finanzmärk-ten am stärksten beachteten Fiskalindikatoren sind der staatliche Finanzierungssaldo und der Schuldenstand. Ein weiterer Indika-tor zur Beurteilung der Solidität des Staatshauhalts ist der Anteil der Zinszahlungen auf die Staatsverschuldung an den Staatsaus-gaben. Denn ein hoher Schuldenstand muss – wie das Beispiel Japan zeigt – nicht zwangsläufig zu einer hohen Zinsbelastung für den Staatshaushalt führen, solange die Anleger am Kapitalmarkt bereit sind, dem Staat das Geld zu einem niedrigen Zinssatz zu lei-hen. Ob die Finanzpolitik handlungsfähig bleibt oder die Gestal-tungsmöglichkeiten zukünftiger Generationen stark einschränkt, hängt auch von demografisch bedingten zusätzlichen Lasten ab, die sich längerfristig in einer höheren Staatsverschuldung nieder-schlagen können (implizite Staatsverschuldung). Diese Belastung ist von Land zu Land je nach demografischer Entwicklung und Ausgestaltung der Altersvorsorgesysteme unterschiedlich. Impli-zite Verbindlichkeiten ergeben sich etwa durch künftige Beamten-pensionen und mögliche Zuschüsse in soziale Sicherungssysteme, die von zukünftigen Generationen geschultert werden müssen. Die zu erwartenden zusätzlichen alterungsbedingten Staatsausga-ben werden deshalb als weiterer Indikator in die Kategorie „solide Staatsfinanzen“ aufgenommen. Als Grundlage dient ein Teilindi-kator des Sustainability Gap Indicators S 2 der EU-Kommission (siehe European Commission 2012b, S. 5 f.).

Wettbewerbsfähigkeit und Inlandsnachfrage Als zentraler außenwirtschaftlicher Indikator gilt in der Regel die Leistungs-bilanz, die der Differenz zwischen der gesamtwirtschaftlichen

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86 6 Versäumnisse der Finanzpolitik …

Ersparnis (inkl. des Saldos der Vermögensübertragungen) und den gesamtwirtschaftlichen Nettoinvestitionen (Bruttoinvestitio-nen minus Abschreibungen) des betreffenden Landes entspricht. Ein Leistungsbilanzüberschuss kann eine hohe Wettbewerbsfä-higkeit signalisieren, er kann aber auch auf eine schwache Inlands- und Importnachfrage zurückzuführen sein. Daher nehmen wir die mittelfristige Entwicklung der Binnennachfrage, gemessen als die durchschnittliche jährliche Änderung der Inlandsnachfrage während der letzten fünf Jahre, als weiteren Indikator hinzu. Auf diese Weise soll dem Spannungsfeld zwischen Leistungsbilanz und Binnennachfrage Rechnung getragen werden. Ohne Wech-selkursflexibilität ziehen überdurchschnittliche Preis- und Kos-tenentwicklungen unmittelbar Verluste an Wettbewerbsfähigkeit nach sich.1 Wir haben deshalb die nominalen Lohnkosten je pro-duzierter Einheit als einen der Einzelindikatoren für die Beurtei-lung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit herangezogen. In die Bewertung geht dabei die prozentuale Abweichung der nomina-len Lohnstückkosten von einer stabilitätsgerechten Wachstums-rate von 1,5 % ein.

Mangelnde Wettbewerbsfähigkeit kann auch Folge mangelnder Produktinnovation und einer weniger attraktiven Produktpalet-te sein. Die Entwicklung des Welthandelsanteils eines Landes ist in diesem Zusammenhang ein weiterer nützlicher Teilindikator, da er unter anderem von Änderungen der Qualität und Struktur des Güterangebots eines Landes auf den Weltmärkten beeinflusst wird.

1 Die hohen Leistungsbilanzdefizite, die sich in Griechenland, Spanien und Irland bis 2008 anhäuften, waren in erster Linie eine Konsequenz exzessiver kreditgetriebener Nachfrage in den Jahren des Booms. Be-trächtliche Lohnkostensteigerungen verschärften diesen Effekt (siehe Kap. 6.2).

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876.2 Makroökonomische Ungleichgewichte

Beschäftigung, Produktivität und Ressourceneffizienz Die drit te Kategorie von Indikatoren betrachtet „Ungleichgewichte“ am Arbeitsmarkt und die Produktivität eines Landes: Ländern mit einem höheren Produktivitätswachstum wird an den Finanz-märkten eher die Fähigkeit zugetraut, Verschuldungsprobleme zu bewältigen. Wir fügen deshalb die Entwicklung der Erwerbsquote und der Arbeitsproduktivität in unseren Monitor ein. Als sinnvoll erachten wir dabei jeweils eine mittelfristig angelegte Bewertung anhand der prozentualen Veränderung in fünf Jahren. Schließlich wird die Arbeitslosenquote aufgenommen, die als der zentrale Indikator für ein Ungleichgewicht am Arbeitsmarkt anzusehen ist und im Blickpunkt der Finanzmärkte steht.

Private Verschuldung und Auslandsvermögensposition Für aus gewogene Wachstumsperspektiven einer Volkswirtschaft ist die Vermeidung übermäßiger privater und außenwirtschaftlicher Verschuldung bedeutsam. Die Immobilienblase in einer Reihe von Ländern ging mit einer stark anschwellenden Kreditnach-frage und einem erheblichen Anstieg des Schuldenstands der privaten Haushalte einher. In den Monitor geht deshalb die Ent-wicklung der Schuldenquote der privaten Haushalte ein. Analog dazu wird auch die Entwicklung der Schuldenquote der nichtfi-nanziellen Unternehmen mit einbezogen. Um die vom Finanz-sektor ausgehenden Risiken für die Realwirtschaft abzubilden, haben wir, in Anlehnung an die EU-Kommission, die Zunahme der Gesamtverbindlichkeiten des Finanzsektors in unseren Satz an Indikatoren aufgenommen. Als Ausdruck der außenwirtschaftli-chen Verschuldungslage wird die „Net International Investment Position“, die Nettoauslandsvermögensposition, genutzt, die auf einem Konzept des IWF beruht. Für eine Beurteilung der Risiken ziehen wir die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate inner-halb der letzten fünf Jahre heran (Abb. 6.5).

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88 6 Versäumnisse der Finanzpolitik …

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Um zusammenfassend zu einem Gesamtindikator zu kommen, wird der Wert jedes Einzelindikators in eine Skala von 1 (sehr schlecht) bis 10 (sehr gut) transformiert. Da die Einzelindikato-ren in der Gesamtbewertung gleich gewichtet werden, ergibt sich der Gesamtindikator für jedes Land aus dem Mittel aller 15 In-dikatoren und kann deshalb ebenfalls Werte zwischen 1 und 10 annehmen. Analog wird das Abschneiden eines Mitgliedslandes den vier Kategorien als Mittel der Indikatorenwerte in der jewei-ligen Kategorie berechnet. Diese Zusammenfassung der makro-ökonomischen Indikatoren fördert interessante Ergebnisse zu Tage (vgl. Abb.  6.6). Zunächst zeigt sich über die Zeit gesehen, dass Deutschland und in gewissem Maße auch Frankreich eine relativ stabile Entwicklung des Gesamtindikators verzeichnen konnten. Obwohl beide Länder Schwierigkeiten, hatten die Fis-kalregeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts einzuhalten, be-fanden sie sich auf einigermaßen ausgewogenem Wachstumspfad. Im Gegensatz dazu erlitt die Gruppe der „späteren Krisenländer“ eine ausgeprägte Verschlechterung des Indikators schon in den Boomjahren. Der Rückgang des Gesamtindikators stoppte erst im

Abb. 6.6 Euro Monitor Rating im Zeitablauf: Peripherieländer holen auf. (Quelle: Allianz SE)

6.2 Makroökonomische Ungleichgewichte

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90 6 Versäumnisse der Finanzpolitik …

Jahre 2011. Lange bevor die Finanzmärkte die Risiken in diesen Ländern durch enorme Zinsaufschläge signalisierten, hätten die Probleme an einem solchen Indikator erkannt werden können. Beispielsweise lagen bereits in 2008 acht von vierzehn Indikato-ren für Spanien im roten Bereich sehr hoher makroökonomischer Risiken. In Irland galt dies für sieben von vierzehn Indikatoren.

Die Probleme, die sich in Irland und Spanien auftürmten, wa-ren eben nicht in den öffentlichen Budgetzahlen sichtbar, sondern zuvorderst in makroökonomischen Ungleichgewichten. Tatsäch-lich waren die Indikatoren für fiskalische Nachhaltigkeit in bei-den Ländern relativ gut, auf jeden Fall deutlich besser als in der Eurozone im Ganzen. Spanien und Irland hatten keine Probleme, die Regeln des Stabilitätspakts einzuhalten, und galten bis 2008 als Musterschüler. Dabei wurde aber übersehen, dass die Wett-bewerbsfähigkeit zunehmend erodierte und die private Verschul-dung auch gegenüber dem Ausland in untragbare Höhen anstieg. In diesen Kategorien hatten Irland und Spanien besonders niedri-ge Bewertungen (vgl. Abb. 6.7).

Der Allianz Euro Monitor zeigt also bereits für die Zeit vor Ausbruch der Staatsschuldenkrise, dass manche Länder vom Weg eines ausgewogenen Wachstums abgekommen waren. Aus diesem Grunde haben indikatorbasierte Analysen einen großen Nutzen. Sie helfen dabei, aufkommende Ungleichgewichte zu identifizie-ren, und können eine Grundlage für intensivere Untersuchungen im Rahmen der geplanten neuen makroökonomischen Überwa-chung darstellen. Der Allianz Euro Monitor überschneidet sich teilweise mit den zehn Indikatoren im sogenannten „Scoreboard“ der europäischen Kommission von 2012. Der Ansatz der Kom-mission ist ähnlich, aber er bietet keinen Vergleich von Ländern mit Hilfe eines Rankings oder Ratings. Die Kommission aggre-giert nicht die gesamte Zahl an Indikatoren, sondern stellt ledig-lich fest, ob ein Land A) keine Ungleichgewichte aufweist, B) Un-gleichgewichte aufweist oder C) übermäßige makroökonomische Ungleichgewichte erkennen lässt. Das Kriterium ist dabei die

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Zahl der Schwellenwerte, die ein Land bei den einzelnen Indika-toren erreicht.

Gemessen an den fünfzehn Indikatoren des Euro Monitors wurde in den letzten Jahren ein beträchtlicher Fortschritt erzielt. Im Zuge der Konsolidierungsbemühungen und der ökonomi-schen Reformen haben sich die Ratings seit 2012 deutlich verbes-sert. Die Wettbewerbsfähigkeit wurde gesteigert, Leistungsbilanz-defizite sind weitgehend verschwunden und finanzpolitische Dis-ziplin ist vielerorts zurückgekehrt. Der weitere Weg ist noch lange und mühsam, aber die Länder sind auf dem Kurs zu einer bes-seren ökonomischen Zukunft. Bemerkenswert ist, dass der Euro Monitor Verbesserungen anzeigt, obwohl die Folgewirkungen der Rezession und der scharfen Sparpolitik nach wie vor auf vielen

Abb. 6.7 Euro Monitor-Warnhinweise im Jahr 2007. Werte entspre-chen durchschnittlicher Indikatorbewertung in der jeweiligen Katego-rie. (Quelle: Allianz SE)

6.2 Makroökonomische Ungleichgewichte

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92 6 Versäumnisse der Finanzpolitik …

Einzelindikatoren dieses Monitors lasten. Mit einer wirtschaftli-chen Erholung werden sich allerdings auch die stark konjunktur-abhängigen Indikatoren, wie z. B. das Wachstum der Binnennach-frage oder die Höhe der Beschäftigung und der Arbeitslosigkeit, verbessern.

Die Werte des Euro Monitors dürften sich dann auch für Län-der wie Portugal, Spanien und Griechenland weiter erhöhen und die Früchte der strukturellen Reformen sichtbar machen.

Starke Anpassungen sind insbesondere bei den Lohnstückkos-ten zu erkennen. In Griechenland beispielsweise sind die Lohn-stückkosten seit 2009 um 7 % zurückgegangen. In Spanien und Portugal liegt der Rückgang der Lohnstückkosten bei 6 %, respek-tive 5 % seit 2009 (vgl. Abb. 6.8). Eine verbesserte Wettbewerbsfä-higkeit dieser Länder hat mit dazu beigetragen, dass die teilweise exorbitanten Leistungsbilanzdefizite dieser Länder vor der Kri-se beseitigt wurden. Die Programmländer Irland, Portugal und

Abb. 6.8 Fallende Lohnstückkosten in der EWU-Peripherie. (Quellen: Eurostat, Berechnungen Allianz)

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Griechenland, aber auch Italien und Spanien werden im Jahre 2014 aller Voraussicht nach Leistungsbilanzüberschüsse aufwei-sen (Abb. 6.9).

Die empirischen Fakten stehen auch im Gegensatz zu der nach wie vor verbreiteten Vorstellung (siehe z. B. Sinn 2012), dass eine hinreichend große „interne Abwertung“ aufgrund der Inflexibili-tät von Löhnen und Preisen in der Peripherie gar nicht möglich sei. Dieses Argument wird häufig benutzt, um die Forderung nach Parallelwährungen oder gar einem Austritt von Problemländern aus der Währungsunion zu begründen oder aber um höhere In-flation in den Überschussländern wie Deutschland, Niederlande und Finnland zu fordern. Tatsächlich sind die Anpassungsprozes-se weitaus stärker, als von Skeptikern erwartet. Der Prozess des sogenannten „Re-Balancing“ in der Währungsunion ist in vol-lem Gange und bereits recht weit gediehen. Ökonomisch ist die schnelle Verminderung und Beseitigung der Leistungsbilanzde-fizite recht einfach zu erklären. Ihre Entstehung war nicht allein

Abb. 6.9 Leistungsbilanzsalden drehen ins Plus. (Quellen: Allianz, Eurostat, Griechische Nationalbank, IWF)

6.2 Makroökonomische Ungleichgewichte

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94 6 Versäumnisse der Finanzpolitik …

übermäßigen Lohnsteigerungen und einem Verlust an Wettbe-werbsfähigkeit in manchen Ländern zuzuschreiben. Darüber hin-aus spielte ein rasanter Anstieg der privaten Verschuldung und ein damit einhergehender Nachfrageboom auch nach importierten Produkten eine wesentliche Rolle. Kreditgetrieben stieg die Nach-frage weitaus schneller als die gesamtwirtschaftliche Produktion. In Spanien beispielsweise waren in einigen Jahren alle Sektoren der Volkswirtschaft – der öffentliche Sektor, der Haushaltssektor und der Unternehmenssektor Kreditnehmer. Das führte zwangs-läufig zu einem großdimensionierten Kapitalimport und einer Verschuldung gegenüber dem Ausland. Seit dem Ausbruch der Krise sind die privaten Haushalte und die Unternehmen gezwun-gen, Ihre Netto-Kreditaufnahme und ihre Verschuldung zu ver-mindern. Dieser Prozess ist unerlässlich, um wieder zu einer trag-fähigen Schuldensituation zurückzukehren. Mit dem Rückgang der Kreditaufnahme und der Nachfrage sinkt auch das Volumen des Imports und damit gehen Leistungsbilanzdefizite zurück. Die Vorstellung, man könne durch Geldpolitik oder andere staatliche Maßnahmen die Gesamtnachfrage des privaten Sektors stabilisie-ren, ist irrig. Aus einer Situation der Überschuldung kommt man nicht ohne Sparsamkeit heraus. Die Verluste an wirtschaftlicher Dynamik und an Arbeitsplätzen sind nicht vollends vermeidbar. Aber die Wirtschaftspolitik muss versuchen, die Wettbewerbsfä-higkeit der Volkswirtschaften in einer solchen Anpassungskrise zu verbessern, die Kaufkraft im Inneren zu stabilisieren und so die Verluste in Grenzen zu halten (siehe Kap. 7).

Literatur

Allianz SE (2011) Euro MonitorAllianz SE (2012) Scenarios for government debt in Europe. ERCD

Working Paper No. 151

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95

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European Commission (2012a) Report on public finances in EMU – 2012. European Economy No. 4/2012

European Commission (2012b) Fiscal Sustainability Report 2012, Euro-pean Economy 8/2012

Heise M (2011) Notwendigkeit und Ausgestaltung makroökonomi-scher Überwachung im Euroraum. Wirtschaftsdienst – Zeitschrift für Wirtschaftspolitik 91(1):22–30

Sinn H-W (2012) Die Target Falle: Gefahren für unser Geld und unsere Kinder. Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

Literatur

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97

Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen

M. Heise, Europa nach der Krise, DOI 10.1007/978-3-642-54620-4_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

7

7 Die Euro-Schuldenkrise war auch eine Krise des Vertrau-ens (Heinen 2012). Sobald an den Finanzmärkten das Vertrauen verloren geht, dass hochverschuldete Länder ihren Zahlungsverpflichtungen langfristig nachkom-men, gehen die Preise für Staatsanleihen runter und ihre Renditen hoch. Höhere Zinskosten verschärfen die Pro-bleme der fiskalischen Konsolidierung und verschlech-tern die Investitionsbedingungen für die Unternehmen. In den Ländern, in denen die Zinsen für die Staatsver-schuldung besonders stark anstiegen, wurden vor allem die Finanzmärkte für die noch schnellenden Risi-koprämien – den sogenannten „Spread“ – und damit für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der öffentlichen Debatte verantwortlich gemacht. Eine solche Kritik an den vermeintlich kurzsichtigen Märkten mag verständ-lich sein, und sie ist in bestimmten Situationen sicherlich auch gerechtfertigt, weil Märkte zur Übertreibung nei-gen. Aber sie führt ins Nirgendwo. Risikoprämien reflek-tieren Markterwartungen und Unsicherheiten über die Schuldendynamiken einzelner Länder. Der einzig gang-bare Weg, um Risikoprämien nachhaltig herabzusetzen, besteht darin, Investoren davon zu überzeugen, dass die Schuldendynamik unter Kontrolle ist. Es bedurfte eini-

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98 7 Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen

ger Zeit, bis die Politik diese Sichtweise verinnerlichte. Noch Mitte 2009, als die Probleme an den Finanzmärk-ten allmählich deutlich wurden, bestritten viele Regie-rungen tiefer gehende Probleme und beschuldigten die Finanzmärkte der Fehleinschätzungen und Kurzsichtig-keit. Als dann im Verlauf der weiteren Entwicklungen viele Volkswirtschaften in eine Wachstumsschwäche oder gar Rezession gerieten, wurde immer klarer, dass die Zweifel der Finanzmärkte an der Nachhaltigkeit der Staatsschulden nicht unbegründet gewesen waren.

Die entscheidende Frage ist natürlich, wie sich Vertrauen wieder-herstellen lässt. Viele Menschen bezweifelten in der Krise, dass staatliche Sparprogramme – die sogenannte Austeritätspolitik – der richtige Weg seien. Vergleiche mit der Brüningschen Spar-politik in der Weltwirtschaftskrise waren an der Tagesordnung. Richtig ist es, wie bei jeder Gesundungstherapie, auch im Ökono-mischen den Zeitpunkt und die Dosierung der Gegenmittel rich-tig zu wählen. Tatsächlich kann eine „Überdosis“ an Austerität zu erheblichen Problemen führen, wenn sich eine Volkswirtschaft ohnehin schon in der Rezession befindet. Für eine erfolgreiche Therapie sind einige Bedingungen zu beachten:

Eine vertrauensbildende Konsolidierungsstrategie darf sich nicht auf Einmalmaßnahmen beschränken, sondern sollte in ein mittelfristiges Konzept eingebettet sein. Sie sollte nicht allein auf Steuererhöhungen, sondern auch auf Ausgabenkürzungen ausge-richtet sein und sie sollte zum Ziel haben, die Produktivität im öf-fentlichen Sektor zu verbessern. Nicht minder wichtig ist es, Kon-solidierungsmaßnahmen mit wachstumsorientierten Reformen zu verbinden, man könnte es „Konsolidierung Plus“ nennen. Die folgenden Szenarioanalysen zeigen, dass bestimmte Kombinatio-nen von Konsolidierung und Wachstum erzielt werden müssen, um den sehr hohen Schuldenstand in der Eurozone, vor allem in

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997.1 Wege aus der Schuldenkrise – Wachstum …

einzelnen Ländern der Peripherie, langfristig zu reduzieren. Auch nach der Entspannung an den Finanzmärkten hat diese politische Herausforderung nichts an Bedeutung verloren.

Wie könnte die Entwicklung der Eurozone aussehen, wenn man aus dem Jahre 2024 auf die Krise zurückblickte? In einem posi-tiven Szenario wird man sagen können, dass die Bereitschaft zu vertiefter Integration erhalten blieb und signifikante Fortschritte erzielt wurden, um die Architektur des Euro zu verbessern und Fehlentwicklungen zu verhindern. Auch in zehn Jahren wird es noch einige Baustellen geben, aber die Fundamente für die öko-nomische und politische Integration Europas sollten verbessert worden sein. Der Euro wäre dann tatsächlich gestärkt aus der Kri-se hervorgegangen, er wird den Kinderschuhen entwachsen und sich zu einer reifen und stabilen Währung entwickeln.

7.1 Wege aus der Schuldenkrise – Wachstum und Austerität

7.1.1 Die richtige Kombination aus Konsolidierung und wachstumsorientierten Reformen

Die teilweise recht einschneidenden Konsolidierungsmaßnah-men, die in den letzten Jahren umgesetzt wurden, haben erheb-liche Kritik und Verunsicherung hervorgerufen. Vielfach wurde befürchtet, dass Sparmaßnahmen die Schuldenprobleme nicht lö-sen, sondern aufgrund rezessiver Effekte auf die Wirtschaft eher noch verschärfen. Selbst große internationale Organisationen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) äußerten ihre Be-denken. Es kam zu der sogenannten „Multiplikator-Debatte“, die erhebliche politische Rückwirkungen hatte. Der IWF argumen-tierte, dass die fiskalischen Multiplikatoren, die die negative Aus-wirkung einer Sparpolitik auf die Nachfrageentwicklung messen,

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100 7 Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen

im Allgemeinen unterschätzt würden und für einige Volkswirt-schaften der Eurozone deutlich über eins liegen (IMF 2012, S. 41). Unter solchen Bedingungen kann eine Sparpolitik in extrem nega-tive Szenarien führen. Kürzt ein Land beispielsweise seine Staats-ausgaben um 1 % des Bruttoinlandsprodukts, kann das Wachstum um mehr als 1 % zurückgehen und damit die Schuldensituation (in Abhängigkeit von einigen volkswirtschaftlichen Elastizitäten) im Endergebnis sogar verschlechtern. Weitere Konsolidierungs-schritte werden dann erforderlich und sie haben ähnlich negative Effekte. Die Volkswirtschaft ist in einer Abwärtsspirale gefangen. Es wird nahezu unmöglich, die Schuldendynamik eines Landes durch Sparsamkeit der öffentlichen Hand unter Kontrolle zu brin-gen. Regierungen, die trotzdem den Weg der Konsolidierung be-schritten, gerieten unter erheblichen Beschuss der Medien, der politischen Opposition und großer Teile der Bevölkerung.

Aber ist die Argumentation ökonomisch wirklich stichhaltig? Sicherlich ist es richtig, dass eine „Überdosis“ an Austeritätspoli-tik – dramatische Ausgabensenkungen oder Steuererhöhungen – in einer ohnehin schwachen Volkswirtschaft zu weiteren Pro-blemen führen kann. Die politisch relevante Frage ist allerdings, welche spezifischen Maßnahmen am besten geeignet sind, um die negativen Auswirkungen auf die Nachfrageentwicklung zu mini-mieren und die positiven Auswirkungen auf die Erwartungen an den Finanzmärkten zu maximieren – also den Multiplikator mög-lichst klein zu halten. Es darf wohl als gesichert gelten, dass die Höhe der Fiskalmultiplikatoren sehr unterschiedlich ausfällt, je nachdem in welchem Zustand sich eine Volkswirtschaft befindet und welche Konsolidierungsmaßnahmen konkret angegangen werden.1 In volkswirtschaftlicher Diktion heißt das, dass die Mul-

1 IMF 2012, S. 43: „(…) unsere Ergebnisse zeigen, dass sich die Multi-plikatoren seit der Großen Rezession in der Spanne zwischen 0,9 und 1,7 bewegen“. Auch für Deutschland hat der Sachverständigenrat eine

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101

tiplikatoren zustandsabhängig sind. Mit anderen Worten: Es gibt nicht den Multiplikator, sondern viele.

Was bedeutet das konkret? Für eine Volkswirtschaft, deren Staatsanleihen insolvenzgefährdet erscheinen und deren Zugang zu den Kapitalmärkten begrenzt ist, wird der negative Nachfra-geimpuls einer fiskalischen Konsolidierung – der Multiplikator – eher niedrig sein. Es ist sogar möglich, dass eine staatliche Bud-getkonsolidierung expansive Effekte hat, da sie die Risikoprämien dieses Landes vermindert und damit die Refinanzierungskosten für die Unternehmen senkt (Corsetti et al. 2012).

Der negative Multiplikatoreffekt hängt auch davon ab, ob die Konsolidierung des Staatsbudgets bei den Einnahmen oder bei den Ausgaben ansetzt2 und welche Erwartungen die Wirtschafts-teilnehmer über die langfristigen Auswirkungen dieser Maßnah-men haben. Haben wir es mit einer Volkswirtschaft zu tun, die einen aufgeblähten Staatsapparat und eine kritische Schulden-dynamik aufweist, werden Ausgabekürzungen notwendig er-scheinen und können auf die private Nachfrage durchaus positiv wirken, weil das Risiko zukünftiger Steuererhöhungen dann ab-nimmt. Der Einsatz des richtigen Instruments würde den Multi-plikator gering halten. In einer Volkswirtschaft mit inflationärem Lohn- und Preisdruck, um ein anderes Beispiel zu nehmen, sollte die Wirtschaftspolitik von Mehrwertsteuererhöhungen absehen, die inflationäre Tendenzen verstärken würden. Situationen kön-nen demnach unterschiedlich sein, aber es gibt doch einige all-gemeine und plausible Regeln für erfolgreiche Konsolidierungs-

breite Spanne der Multiplikatoren zwischen 0 und 1,7 in Abhängigkeit von den genutzten Instrumenten und der Reaktion der Geldpolitik an-gesetzt. (Sachverständigenrat 2010, TZ 234 f.).2 Alesina et al. (2012) stellen fest, dass Ausgabenkürzungen zu wesent-lich geringeren Produktionseinbußen führen als Steuererhöhungen. Dazu kann weitere Literatur gefunden werden (siehe Alesina et al. 2012).

7.1 Wege aus der Schuldenkrise – Wachstum …

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102 7 Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen

strategien (IMF 2012, Kap. 3, S. 1). Erstens wird es umso besser gelingen, verloren gegangenes Vertrauen der Kapitalmärkte in die Schuldentragfähigkeit eines Landes wiederherzustellen, wenn fis-kalische Konsolidierungsmaßnahmen in ein mittelfristiges Kon-zept eingebettet sind. Einmalmaßnahmen, wie Ad-hoc-Steuer-erhöhungen, werden kaum als nachhaltige Lösungen betrachtet. Zweitens sollten Konsolidierungsmaßnahmen des Staates durch konsequente strukturelle Reformen begleitet werden, die imstan-de sind, Wachstum zu generieren (siehe unten). Drittens ist eine Revision der Staatsausgabenseite in der Regel effektiver als Steuer-erhöhungen,3 da Letztere das privatwirtschaftliche Verhalten be-einflussen und Negativanreize für Arbeitsleistung, Investitionen oder unternehmerische Aktivität im Allgemeinen darstellen (der so-genannte Excess Tax Burden – oder Zusatzlast durch Steuern). Eine Kürzung wenig produktiver Budgetkosten wie z. B. Subven-tionen oder übermäßig aufwendiger bürokratischer Verfahren kann sogar recht schnell einen positiven Gesamteffekt haben.

Nach diesen Maßstäben lassen sich die Konsolidierungsstrate-gien vieler Länder in den Jahren 2010 und 2011 sicherlich nicht als optimal bezeichnen. Politische Erwägungen, nicht ökonomi-sche Optimalitätskriterien, bestimmten das Geschehen. In der Krise gingen Länder wie Portugal, Italien und Spanien schnell da-ran, Steuersätze, insbesondere die Mehrwertsteuer, zu erhöhen. In Italien wurde eine neue Immobiliensteuer eingeführt und alle Länder beschnitten die öffentlichen Investitionen. Eine wirkliche

3 Wenn hingegen die Geldpolitik die sogenannte „Null-Zinsgrenze“ er-reicht, kann der negative Multiplikator von Ausgabenkürzungen ziem-lich groß sein. In dieser Situation kann Geldpolitik die private Nachfra-ge nicht durch niedrigere Zinsen stimulieren, um dadurch den Nach-frageeinbruch auszugleichen, welcher durch die geringeren öffentlichen Ausgaben verursacht wurde (siehe Erceg und Linde 2012).

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Reform komplexer Arbeitsmarktregulierung oder sozialer Siche-rungssysteme kam dagegen erst mit Verzögerung.

Die Bedeutung struktureller Reformen wird auch deshalb häu-fig unterschätzt, weil diesen nur langfristig positive Wachstums-effekte zugetraut werden.4 In einigen Bereichen mag dies zutref-fen: Reformen der öffentlichen Rentensysteme oder im Bereich der Qualifikation und Bildung der Arbeitskräfte sind von extrem hoher Bedeutung in alternden und wissensintensiven Volkswirt-schaften, aber es dauert in der Regel einige Zeit, bis sie auf die Wachstumsdynamik durchwirken. In anderen Reformbereichen kann die Wirkung wesentlich schneller einsetzen. Gezieltere Leis-tungen der Sozialsysteme oder Veränderungen der Arbeitslosen-versicherung wirken in der Regel direkt auf das Arbeitsangebot und stimulieren die Beschäftigung über geringere Lohnneben-kosten auf Seiten der Unternehmen. Die Entwicklung des deut-schen Arbeitsmarktes nach den Arbeitsmarkt- und Sozialrefor-men der Jahre von 2003 bis 2005 (Agenda 2010) bestätigt dies. Die Beschäftigung in Deutschland reagierte sehr rasch und stieg bereits in 2006 und 2007 deutlich an (vgl. Abb. 7.1). Positive Er-fahrungen hatte unter anderem auch Italien gemacht, als es 1992 die Scala mobile, eine Preisindexierung der Löhne, abschaffte. Die Beschäftigung stieg rasch an (Goldman Sachs Global Economics 2012). Aufgrund der Erfahrungen in Italien und der Hartz-I-IV-Reformen in Deutschland erwartete Goldman Sachs, dass die spanischen Arbeitsmarktreformen von Februar 2012 das BIP im Rahmen von vier oder fünf Quartalen um 2 % erhöhen könnten. Belege für eine signifikante Wirkung struktureller Reformen fin-den sich auch in den Analysen der OECD (2012) und der euro-päischen Kommission (Hobza und Mourre 2010).

4 Belege für die Bedeutung von Deregulierung und Arbeitskostenredu-zierung für eine erfolgreiche Konsolidierung sind zu finden bei Alesina und Ardagna (2012).

7.1 Wege aus der Schuldenkrise – Wachstum …

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104 7 Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen

7.1.2 Länderbeispiele für erfolgreiche Konsolidierung mit Reformen

Krisensituationen erfordern die richtige Balance zwischen fiskali-scher Konsolidierung und wachstumsorientierter Reform. Es gibt zahlreiche historische Beispiele für erfolgreiche Konsolidierungs- und Wachstumsstrategien. Ein lehrreiches Beispiel ist Irland. In den späten 70er und frühen 80er Jahren verschlechterten sich die öffentlichen Finanzen des Landes dramatisch. Die Rezession von 1981 ließ das Budgetdefizit des Staates auf 8,3 % und den Schul-denstand auf 90 % des BIP hochschnellen. Gleichzeitig schlug ein Leistungsbilanzdefizit von 10 % des BIP zu Buche. Der erste grö-ßere Konsolidierungsversuch in 1982 verfehlte seine Wirkung, vermutlich weil er vor allem auf Steuererhöhungen ausgerichtet war und in anderen Bereichen nur halbherzige Reformen unter-

Abb. 7.1 Deutschland: Positive Auswirkungen der Arbeitsmarktre-formen. 1 Neuerfassung vieler erwerbsfähiger Sozialhilfeempfänger als registrierte Arbeitslose. 2 Hartz I und II (2003): Liberalisierung der Leiharbeit; Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln, Ich-AGs, Jobcenter, Minijob- und Midijob-Neuregelungen; Hartz III (2004): Restrukturie-rung der Bundesagentur für Arbeit und des Kündigungsschutzes in Kleinbetrieben; Hartz IV (2005-2006): Zusammenlegung von Arbeits-losen- und Sozialhilfe, Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen, kürzere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes. (Datenquelle: EcoWin)

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nommen wurden. Eine neue konservative Regierung unter Pre-mierminister Haughey im Jahre 1987 implementierte dann „die schärfsten Einschnitte in die öffentlichen Ausgaben, die Irland jemals gesehen hat“ (Financial Times, 24.09.1987). Die fiskalische Konsolidierung betraf überwiegend die Ausgabenseite des Bud-gets mit den stärksten Kürzungen im Bereich von Transferzah-lungen und den Löhnen im öffentlichen Sektor (− 1,5 % des BIP). Die Regierung verhandelte mit den Gewerkschaften eine Kombi-nation aus Einkommenssteuersenkungen und einer zentralisier-ten Lohnzurückhaltung. Im Ergebnis fiel der Schuldenstand des öffentlichen Sektors von einem Rekordhoch von beinahe 120 % in 1987 auf rund 90 % in 1992. Das Wachstum belief sich von 1987 bis 1989 auf durchschnittlich 6,7 %, deutlich mehr als der Durch-schnitt der G7-Länder, und dies trotz Konsolidierung. Viele Indi-zien sprechen dafür, dass die konsequenten Politikreformen ein Zeichen für Investoren waren, ihre Investitionsausgaben in Irland über die nächsten Jahre deutlich zu erhöhen. Häufig wird einge-wendet, dass Konsolidierungs- und Reformstrategien nur dann schnell wirken können, wenn Länder ihre Währungen abwerten und damit an Wettbewerbsfähigkeit gewinnen – also erschwerte Bedingungen in einer Währungsunion vorliegen. Der geschicht-liche Befund bestätigt diese These allerdings nicht. In einem in-teressanten Papier (Alesina und Ardagna 2012) untersuchen die Autoren erfolgreiche und erfolglose fiskalische Konsolidierungs-strategien der Vergangenheit und können keine eindeutige Kor-relation zwischen erfolgreichen Strategien und Währungsabwer-tung finden. Zur Illustration lassen sich einige Beispielländer an-führen. Betrachten wir erneut Irland. Die Abwertung des irischen Pfund in den frühen 80er Jahren trug nicht dazu bei, das Land aus der Krise zu heben. Es bedurfte vielmehr der ausgabenseitigen Konsolidierung und der Reformen von 1987. Als diese umgesetzt worden waren, gab es keine Abwertung des irischen Pfund. Der gewogene Außenwert gegenüber den wichtigsten Handelspart-

7.1 Wege aus der Schuldenkrise – Wachstum …

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106 7 Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen

nern blieb nahezu unverändert (vgl. Abb. 7.2). Zweifel an der gro-ßen Bedeutung einer Währungsabwertung für die wirtschaftliche Erholung eines hoch verschuldeten Staates nährt auch das Beispiel Belgiens in den 90er Jahren. Belgien löste sich aus der Rezession der Jahre 1991 und 1992 trotz intensiver Konsolidierungsbemü-hungen und einer im Rahmen des europäischen Währungssys-tems stabilen Währung (vgl. Abb.  7.3). Der Schuldenstand Bel-giens hatte im Jahre 1993 beinahe 135 % des BIP erreicht. Er sank auf etwa 115 % in 1999. Dahinter stand die Ambition Belgiens, die Aufnahmebedingungen für eine Euro-Mitgliedschaft zu erfüllen. Auch hier war eine Abwertung keineswegs der Schlüssel zum Er-folg.

Die jüngste Entspannung an den Staatsanleihemärkten der Eurozone bedeutet natürlich nicht, dass die Schuldenprobleme der Länder nunmehr gelöst seien. Im Gegenteil, die Schulden stei-gen vielerorts weiter an und es wird noch viele Jahre dauern, um die Situation zu stabilisieren. Viele Beobachter zweifeln sogar da-ran, dass die hoch verschuldeten Länder langfristig überhaupt die Konsolidierungsleistungen erbringen können, um einen Schul-

Abb. 7.2 Irland – Staatsverschuldung (in % des BIP) und nominaler Außenwert. (Quellen: EU Kommission, BIZ/EcoWin)

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denschnitt zu vermeiden. Die Diskussion dreht sich vor allem um das Primärbudget. Was hat es damit auf sich? Das Primärbudget eines Staates betrachtet die Ausgaben ohne Zinszahlungen auf die öffentlichen Schulden. Ein ausgeglichenes Primärbudget bedeutet, dass die regulären Ausgaben durch reguläre Einnahmen des Staa-tes gedeckt sind. Damit ein Staat beginnen kann, seine Schulden tatsächlich zurückzuzahlen, muss ein Primärüberschuss gegeben sein, der höher ist als Zinszahlungen an die Gläubiger des öffent-lichen Sektors. Ein Beispiel: Italien weist eine öffentliche Zinslast von 5,5 % des BIP pro Jahr auf. Das Land muss infolgedessen einen Primärüberschuss von genau 5,5 % des BIP erreichen, damit der Schuldenstand stabil bleibt (der tatsächliche Wert Italiens liegt bei 2,5 %). Dies ist gewissermaßen der fiskalische „Break-Even-Po-int“. Bei einem Überschuss, der höher liegt als die Zinszahlungen des Staates, zahlt dieses Land Schulden zurück. Für ein Land wie Griechenland reicht derzeit ein Primärüberschuss von ca. 3 % des BIP, um den Schuldenstand zu stabilisieren. Die griechische Zins-last ist nicht besonders hoch, da die Rettungskredite zu geringen Zinsen ausgeliehen wurden und die umgeschuldeten Staatsanlei-hen ebenfalls sehr niedrig verzinslich sind.

Abb. 7.3 Belgien – Staatsverschuldung (in % des BIP) und reales BIP-Wachstum. (Quelle: EcoWin)

7.1 Wege aus der Schuldenkrise – Wachstum …

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108 7 Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen

Die politische Herausforderung, viele Jahre lang hohe Primär-überschüsse zu erzielen, ist sicher nicht gering zu schätzen. Ohne einen überraschenden Schub in der Wachstumsdynamik der ver-schuldeten Länder ist diese Konsolidierung unabdingbar. Aller-dings zeigt die Vergangenheit, dass einige Länder tatsächlich jah-relang hohe Primärüberschüsse realisiert haben (vgl. Abb.  7.4). Italien wies ab Mitte der 90er Jahre für viele Jahre Überschüsse über 4 % aus. Belgien und Irland verzeichneten ebenfalls hohe Primärüberschüsse in den 90er Jahren. Skeptiker werden da-gegenhalten, dass in den 90er Jahren höheres Wachstum herrsch-te. Allerdings muss auch berücksichtigt werden, dass in diesen Jahren die Zinslast der Länder weitaus höher war als heute. Die Chancen für eine Bewältigung der hohen Staatsverschuldung sind also gegeben.

Um diesen kurzen Rückblick auf einige Reformerfahrungen der Vergangenheit abzurunden, sei noch ein Aspekt hervorge-hoben. Glaubwürdige Konsolidierungs- und Reformstrategien können relativ schnell aus einer Krise herausführen, wenn sie das Vertrauen der Wirtschaftsteilnehmer und der Finanzmärkte ver-bessern.5 Erneut lässt sich dafür auf einige Länderbeispiele ver-weisen (vgl. Abb. 7.5). Dänemark und Finnland beispielsweise er-litten in den 90er respektive 80er Jahren Bankenkrisen und rasch ansteigende öffentliche Defizite. Konsequente Gegenmaßnahmen zur Schuldenbegrenzung und zur Bankenstabilisierung konnten verlorenes Vertrauen schnell wieder herbeiführen. Ähnliche Er-fahrungen machte Kanada in seiner Schuldenkrise Anfang der 90er Jahre (IMF 2012, Kap.  7, S.  20). Der Weltwährungsfonds verweist in seiner Analyse darauf, dass die ersten eher halbherzi-gen Maßnahmen gegen den Anstieg der Schulden ab Mitte 1985 weitgehend wirkungslos geblieben waren und die Relation der Schulden zur gesamtwirtschaftlichen Leistung im Jahre 1995 über 100 % anstieg. Dies veranlasste die kanadische Regierung zu einer

5 Belege hierzu sind zu finden bei Alesina et al. (2012).

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7.1 Wege aus der Schuldenkrise – Wachstum …

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ambitionierten fiskalischen Konsolidierung, für die sie öffentliche Unterstützung gewinnen konnte. Da das Niveau der Besteuerung bereits sehr hoch war, konzentrierte sich der kanadische Konso-lidierungsplan im Wesentlichen auf die Ausgabenseite und setzte bei diversen strukturellen Fehlentwicklungen an, die hinter den steigenden Defiziten standen. Dazu gehörten weitreichende Re-formen der Arbeitslosenversicherung und des Rentensystems. Des Weiteren bewirkte eine Rücknahme der Transferzahlungen an die Provinzen des Landes eine erhöhte fiskalische Disziplin auch auf den unteren Ebenen des Staatsaufbaus. Diese Maßnahmen hatten eine positive Auswirkung und brachten Kanada auf einen lang an-haltenden wirtschaftlichen Erfolgspfad zurück. Unterstützt wur-de die Entwicklung zumindest in den 90er Jahren durch kräftiges Wachstum in den Vereinigten Staaten von Amerika sowie durch relativ geringe Zinsen und eine leichte Abwertung der Währung (IMF 2012, Kap. 3, S. 20).

7.1.3 Die Schuldenszenarien der Zukunft

Nach diesem historischen Rückblick auf einige Länderbeispiele stellt sich die Frage, was in Zukunft geschehen muss, damit die Länder der Eurozone die Schuldendynamik brechen und wie-der auf ein tragfähiges Niveau zurückführen können. Werden sie sich aus der Schuldenfalle heraussparen können oder werden sie einen Forderungsverzicht ihrer Gläubiger in Anspruch nehmen müssen? Würde man die Bevölkerung etwa in Deutschland be-fragen, so würde sicherlich ein nicht geringer Teil, vielleicht sogar die Mehrheit, anzweifeln, dass die Schulden jemals vollständig zurückgezahlt werden. In der aktuellen Wirtschaftssituation mit schwachem Wachstum und erst beginnender Erholung in eini-gen Euroländern ist diese Skepsis absolut verständlich. Bliebe die Wachstumsdynamik so gering, wie es in den letzten Jahren der

7.1 Wege aus der Schuldenkrise – Wachstum …

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112 7 Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen

Fall war und auch zur Zeit noch ist, wäre es sehr schwer, zu nach-haltigen Finanzen zurückzukehren. Das Wachstum ist eine kri-tische Größe für die Stabilisierung der Lage. Um dies zu zeigen, werden im Weiteren einige Simulationsrechnungen dargelegt. Sie zeigen, welche Kombination an Konsolidierungsmaßnahmen und Wachstum erforderlich ist, um die öffentlichen Schulden in Rela-tion zum Bruttoinlandsprodukt wieder auf tragfähigere Größen-ordnungen zurückzuführen.

Die folgenden Szenarien sind aktualisierte Berechnungen der Allianz SE, Public Policy & Economic Research (Allianz SE 2012a) (vgl. Abb. 7.6). Die Szenarien zeigen die Entwicklung der

Reales BIP-Wachstum 2015-2025

Primärsaldo in % des BIP

2015-2025

Durchschnitts-zins

2015-2025

Staatsschuldenquote

2020 2025

DeutschlandBasisszenario 1,5% 2,0% 3,0% 62% 50%Risikoszenario 0,5% 0,0% 3,0% 83% 89% Positives Szenario 2,5% 3,0% 3,0% 52% 34%FrankreichBasisszenario 1,5% 2,5% 3,6% 78% 68%Risikoszenario 0,5% 0,5% 4,0% 104% 117%Positives Szenario 2,5% 3,5% 3,6% 68% 49%ItalienBasisszenario 1,5% 4,0% 4,4% 116% 104%Risikoszenario 0,5% 1,0% 5,5% 159% 197%Positives Szenario 2,5% 5,0% 4,4% 103% 80%SpanienBasisszenario 2,0% 2,0% 4,3% 89% 84%Risikoszenario 1,0% 0,0% 5,4% 119% 148%Positives Szenario 3,0% 3,0% 4,3% 78% 63%PortugalBasisszenario 1,5% 4,0% 4,3% 114% 102%Risikoszenario 0,5% 1,0% 5,6% 158% 198%Positives Szenario 2,5% 5,0% 4,3% 101% 78%IrlandBasisszenario 2,0% 3,5% 4,3% 109% 96%Risikoszenario 1,0% 0,5% 5,4% 150% 184%Positives Szenario 3,0% 4,5% 4,3% 96% 74%GriechenlandBasisszenario 1,5% 5,0% 3,8% 119% 101%Risikoszenario 0,5% 2,0% 3,9% 164% 183%Positives Szenario 2,5% 6,0% 3,6% 104% 73%

Abb. 7.6 Schuldenstandsquoten: Ergebnisse der Allianz SE-Szenario-analyse. (Quellen: Eurostat, EU-Kommission, Berechnungen Allianz SE)

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Staatsschuld für Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien, Ir-land, Portugal und Griechenland bis zum Jahre 2025. Sie unter-scheiden sich im Hinblick auf drei Parameter, die einen entschei-denden Einfluss auf die Schuldendynamik eines Landes haben: die fiskalpolitische Disziplin, das wirtschaftliche Wachstum und die durchschnittlichen Refinanzierungskosten eines Staates.

Die fiskalpolitische Disziplin wird gemessen am jährlichen Budgetdefizit und am korrespondierenden Primärbudget. Unter-schiedliche Annahmen werden darüber gemacht, wie resolut die Regierungen Konsolidierungsmaßnahmen umsetzen und ob sie ihre Konsolidierungsziele erreichen. Ebenso werden unterschied-liche Wachstumsszenarien unterstellt, wobei für die Berech-nungen das nominale Wachstum, zusammengesetzt aus realem Wachstum und Inflation von Bedeutung ist. Schlussendlich müs-sen die Refinanzierungskosten des Staates modelliert werden. Die relevante Größe sind die Zinszahlungen des Staates in Relation zur Gesamtverschuldung, also der durchschnittliche Zinssatz auf die Verschuldung des Staates, nicht der aktuelle Kapitalmarktzins.

Die Veränderung des Schuldenstands wird nach folgender For-mel berechnet (Deutsche Bundesbank 1997, S. 24):

Hierbei ist:

∆bt = Veränderung der Schuldenquote,pt = Primärdefizit in Prozent des BIP,i = durchschnittlicher effektiver Zinssatz auf die Staatsschulden,g = nominale Wachstumsrate des BIP undbt − 1 = Schuldenquote im Vorjahr.

∆b pi g

gbt t t 1=

−+ −+

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( )1

7.1 Wege aus der Schuldenkrise – Wachstum …

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114 7 Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen

7.1.4 Basisszenario: Ausgabendisziplin, niedrigere Risikoprämien und moderates Wirtschaftswachstum

Im Basisszenario bleiben die Länder auf Konsolidierungskurs und erfüllen die Zusagen, die sie den EU-Partnern gemacht haben. Das bedeutet, dass die einzelnen Staaten den Erfordernissen des EU-Defizitverfahrens gerecht werden. Für die hochverschuldeten Länder (Länder mit einem Schuldenstand über 100 %) bedeuten die Konsolidierungszusagen einen Überschuss im Primärbudget zwischen 3,5 und 5,0 %. Die fiskalische Konsolidierung findet im Rahmen relativ moderaten wirtschaftlichen Wachstums statt. Zwischen 2014 und 2025 wird im Basisszenario ein durchschnitt-liches reales Wachstum des BIP zwischen 1,5 % und 2,0 % erwartet. Die Inflation wird, in Übereinstimmung mit den Zielen der EZB, bei unter 2,0 % (etwa 1,5 %) liegen. Preissteigerungen werden in Deutschland und Frankreich etwas höher liegen als in Griechen-land, Irland, Italien und Spanien. In Bezug auf den durchschnitt-lichen Zinssatz auf die Staatsschulden nehmen wir an, dass die Finanzmärkte die Konsolidierungserfolge der Länder honorieren werden und die Risikoprämien nicht auf frühere Krisenniveaus wieder ansteigen. Diese Risikoprämien sind für die hochverschul-deten Länder verkraftbar, auch wenn sie höher bleiben als in den Zeiten des wirtschaftlichen Booms bis 2008. Wichtig ist neben den Risikoprämien allerdings auch die Entwicklung des allgemei-nen Zinsniveaus. Wir nehmen an, dass es von den derzeit extrem niedrigen Werten langfristig wieder moderat ansteigen wird.

7.1.5 Risikoszenario: Nachlassende Konsolidierungsbemühungen und schwaches Wirtschaftswachstum

In diesem Risikoszenario gelingt es den Ländern nicht, ihre Schul-denstände wie geplant zu reduzieren. Konsolidierungsbemühun-

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115

gen scheitern an politischer Opposition, und schwaches Wachs-tum erschwert die Bewältigung des Schuldenbergs. In diesem Sze-nario sind die Primärüberschüsse der Länder 2 bis 3 % niedriger als im Basisszenario. Das reale Wirtschaftswachstum ist in diesem Szenario 1 % schwächer und unter Berücksichtigung der Inflation liegt der Unterschied zum Basisszenario bei 2 % p. a.

Verunsichert durch den Mangel an fiskalischer Disziplin und eher negativer gesamtwirtschaftlicher Perspektiven, fordern die Finanzmärkte deutlich höhere Risikoprämien von hochverschul-deten Ländern. Die Rendite deutscher Staatsanleihen, die in die-sem Szenario ihre Eigenschaft als sicherer Fluchthafen bewahren, steigt in diesem Szenario über die Jahre nicht nennenswert an.

7.1.6 Positives Szenario: Ausgabenzurückhaltung und stärkeres Wirtschaftswachstum

In dem positiven Szenario eines stärkeren Wachstums wird an-genommen, dass sowohl das reale wie auch das nominale Wachs-tum um rund 1 % höher liegen als in dem Basisszenario (also wird auch in diesem Szenario die Stabilitätsnorm der EZB eingehal-ten). In den Peripherieländern der Eurozone sind konsequen-te strukturellere Reformen durchgeführt worden und haben die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften und den Produktivi-tätsfortschritt verbessert. Die Länder der Eurozone sind auf einen höheren Wachstumspfad eingeschwenkt. Regierungen zeigen ein Durchhaltevermögen bei der Konsolidierung und passen die Ausgaben nicht vollständig steigenden Steuermehreinnahmen an. Die Konsolidierungszusagen im Rahmen der EU-Defizitverfah-ren werden dank hoher Primärüberschüsse eingehalten. Wie im Basisszenario schöpfen die Finanzmärkte wieder Vertrauen, dass die Eurozone die Schuldenkrise in den Griff bekommen wird. Die durchschnittlichen Zinssätze auf die Staatsschuld bleiben auf niedrigem Niveau – so wie im Basisszenario.

7.1 Wege aus der Schuldenkrise – Wachstum …

Page 127: Europa nach der Krise ||

116 7 Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen

7.1.7 Schuldenstabilisierung: Nur mit Entschlossenheit zu bewältigen

Die positive Botschaft der dargestellten Beispielrechnungen ist, dass eine Stabilisierung der Staatsschulden und mittelfristig eine Rückführung der Schuldenquoten keine unlösbare Aufgabe dar-stellt. Das gilt für die Schuldendynamik in den größeren Kern-staaten – Deutschland, Frankreich und Italien –, aber auch für die Länder, die von der Schuldenkrise besonders hart getroffen wurden – Griechenland, Irland, Portugal und Spanien. Allerdings gibt es dafür zwei Voraussetzungen. Zum einen muss zumindest moderates wirtschaftliches Wachstum wieder einsetzen und zum anderen dürfen die Länder der Eurozone den eingeschlagenen Konsolidierungskurs nicht verlassen und müssen die in Angriff genommenen wachstumspolitischen Reformen implementie-ren. Unter diesen Bedingungen werden sie den Schuldenstand bis 2025 deutlich reduzieren können. Die 60 %-Marke, die der Maastrichter Vertrag vorsieht, wird in den nächsten zehn Jah-ren allerdings nur von wenigen Ländern wieder erreicht werden können. Dazu benötigte man stärkeres Wachstum (real etwa zwi-schen 2 und 3 % über längere Fristen) und anhaltende Konsoli-dierungsanstrengungen. Nur in einem solchen Szenario könnten die aufgetürmten Schuldenberge bis 2025 wieder besser mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt vereinbar gemacht werden. Die Wirtschaftspolitik sollte darauf ausgerichtet werden, ein solches positives Szenario Realität werden zu lassen.

7.2 Die Vermeidung makroökonomischer Ungleichgewichte

Die Erkenntnis, dass nicht allein von finanzpolitischen Defiziten, sondern vor allem makroökonomischen Ungleichgewichten eine Gefahr für die Eurozone ausgeht, hat inzwischen zu einigen poli-

Page 128: Europa nach der Krise ||

1177.2 Die Vermeidung makroökonomischer …

tischen Reaktionen geführt. Die wichtigste Innovation ist, dass das bereits erwähnte Verfahren gegen „übermäßige makroökono-mische Ungleichgewichte“ in Zukunft stabileres und ausgewoge-neres Wachstum sichern soll. Dieses Verfahren ist mit dem Ver-fahren zur Vermeidung übermäßiger Staatsdefizite vergleichbar. Es beginnt mit Berichten der Kommission und einer Analyse der makroökonomischen Indikatoren, die größere Ungleichgewichte signalisieren (vgl. Abb. 7.7). Kommen die Analysen zu dem Ergeb-nis, dass ein Land makroökonomische Ungleichgewichte aufweist, wird ein Prozess von Empfehlungen und Gegenmaßnahmen des jeweiligen Landes ausgelöst. Unternimmt ein Land Gegenmaß-nahmen, um sich aufbauende Ungleichgewichte zu beseitigen, wird kein offizielles Verfahren eröffnet. Erst im Falle ernsthafter Ungleichgewichte (Severe Imbalances) wird der sogenannte kor-rektive Arm des Verfahrens aktiviert (vgl. Abb. 7.8). Dann muss das betreffende Land einen Aktionsplan zur Stabilisierung der Si-

Abb. 7.7 Makroökonomisches Ungleichgewichtsverfahren: Präventi-ver Arm 1 Europäischer Ausschuss für Systemrisiken 2 Stabilitäts- und Konvergenzprogramme 3 Nationale Reformprogramme 4 Verfahren bei einem übermäßigen Ungleichgewicht (Excessive Imbalance Pro-cedure). (Quelle: Allianz Economic Research, in Anlehnung an die EU-Kommission)

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118 7 Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen

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Page 130: Europa nach der Krise ||

119

tuation vorlegen. Wenn diese Pläne als unzureichend angesehen oder auch nicht umgesetzt werden, können finanzielle Sanktio-nen ausgesprochen werden. Es bleibt abzuwarten, wie konsequent dieses neue Verfahren umgesetzt wird. Im Zusammenhang mit übermäßigen Staatsdefiziten wurden Sanktionen nie angewendet. Es ist auch grundsätzlich schwierig, einem Land, das sich in einer fiskalischen oder makroökonomischen Krise befindet, weitere Strafzahlungen aufzubürden. Daher sollte man nicht zu optimis-tisch sein, dass die Androhung von Sanktionen einen starken vor-beugenden und in jedem Fall krisenverhindernden Einfluss hat. Sanktionen müssen möglich sein, aber sie alleine werden nicht reichen.

Ein zusätzliches Instrument der makroökonomischen Überwa-chung ist der ESRB (European Systemic Risk Board), der im Rah-men der Krise ins Leben gerufen wurde. Unter Führung der EZB umfasst diese Institution die verschiedenen Aufsichtsbehörden der EU und der einzelnen Mitgliedsstaaten. Der ESRB ist verantwort-lich für die „makroprudentielle Überwachung“ der Mitgliedsstaa-ten und hat das Recht, Empfehlungen an nationale Regierungen zu richten, wenn sich gesamtwirtschaftliche Risiken abzeichnen. Worum handelt es sich dabei? Einen ersten Eindruck vermittelt die Internetseite des ESRB, die eine extensive Liste an Indikatoren und einen vierteljährlichen Risikobericht anbietet. Die Warnsig-nale, die von einer Institution wie dem ESRB kommen, können sich auf nicht tragfähige Leistungsbilanzdefizite, Übertreibungen an Kreditmärkten, vor allem Hypothekenmärkten, oder sonstige Zeichen übertriebener Risikobereitschaft an den Finanzmärkten beziehen. Im Vorfeld der europäischen Schuldenkrise hätten diese Alarmglocken mehrfach läuten müssen. Eine Frage ist allerdings, ob der ESRB genügend politische Durchsetzungskraft besitzt, um die Länder gegebenenfalls zu korrigierenden Handlungen zu ver-pflichten. Im bisherigen Regelwerk ist dies eher die Aufgabe der europäischen Finanzminister (ECOFIN). Aber das schließt nicht aus, dass der ESRB mehr Verantwortung bekommen könnte, um

7.2 Die Vermeidung makroökonomischer …

Page 131: Europa nach der Krise ||

120 7 Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen

Finanzmarktblasen von vornherein entgegenzuwirken. Es wäre jedenfalls sehr hilfreich gewesen, wenn eine Institution wie der ESRB zusammen mit nationalen Aufsichtsbehörden etwas unter-nommen hätte, um den irrationalen Überschwang etwa an den Kredit- und Immobilienmärkten in Irland oder Spanien durch straffere Kreditanforderungen und ähnliche Maßnahmen zu be-grenzen. In boomenden Märkten sind Beleihungsgrenzen von 100 % oder sogar darüber ein klarer Gefahrenherd. Sie erzeugen eine Selbstverstärkung des Booms und stimulieren die Spekula-tion von Kleinanlegern, die Wohnraum ohne Eigenkapital erwer-ben. Das „Subprime“-Debakel in den USA ist ein deutliches Bei-spiel für derartige Marktexzesse.

Die Überwachungsfunktion des ESRB sollte in enger Koopera-tion mit der EU-Kommission erfolgen, die allgemeine makroöko-nomische Risiken in der EU zu überwachen und zu adressieren hat. Wenn dieser Prozess der makroökonomischen Überwachung zu greifbaren politischen Maßnahmen führt und die Koordina-tion der Wirtschaftspolitik in Zukunft verbessert, wäre das ein gewaltiger Schritt nach vorne für die gesamte Gemeinschaft. Die früheren Ansätze der EU, die eine makroökonomische Stabili-sierung und Zusammenarbeit verbessern sollten – wie etwa die Lissabon-Agenda – erwiesen sich als viel zu schwach, um große Divergenzen und Ungleichgewichte zu verhindern. Auch die Ver-abredungen des EU-Rats im Jahre 2011, der sogenannte Euro-Plus-Pakt, wird dazu nicht ausreichen. Man hatte sich mit diesem Pakt vorgenommen, bei der Berechnung von Körperschaftsteuern einheitlicher vorzugehen und die Unterschiede beim Rentenein-trittsalter stärker zu harmonisieren. Das ist für sich genommen sinnvoll, wird aber den Aufbau makroökonomischer Instabilitä-ten nicht verhindern können.

Daher ist das Verfahren gegen übermäßige makroökonomische Ungleichgewichte sowie die Errichtung eines ESRB von hoher Re-levanz. Wie mit den meisten neuen Regeln und Verfahren wird

Page 132: Europa nach der Krise ||

1217.3 Integrationsfortschritt Bankenunion

der Einfluss auf die langfristige Entwicklung vor allem von der Entschlossenheit und Konsequenz der Politik abhängen, wenn die ersten Regelverstöße bei einzelnen Ländern stattfinden. Zur-zeit befinden sich die meisten Länder der EU in einem Verfah-ren gegen makroökonomische Ungleichgewichte. Die nationalen Regierungen setzen allerdings auch Maßnahmen um, um die Entwicklungen zu korrigieren. Zusammen mit den marktgetrie-benen Anpassungen hat dies bereits zu signifikanten Verbesse-rungen etwa der Leistungsbilanzen, der privaten Verschuldung oder der Lohnnebenkosten geführt, wie im letzten Kapitel be-schrieben. Daher darf man wohl sagen, dass die neuen Verfahren einen guten Start hatten, aber der Beweis ihrer Effektivität in Zu-kunft noch aussteht. Ein wichtiger Aspekt ist, welche Bedeutung man dem System der quantitativen Indikatoren zur Erkennung makroökonomischer Ungleichgewichte beimisst. Sicher können quantitative Indikatoren keine tiefgehende Analyse von Ursachen und Lösungen in schwierigen makroökonomischen Fragen erset-zen, aber sie sind doch eine wesentliche Hilfe, um Transparenz zu schaffen und Subjektivität möglichst gering zu halten, wenn makroökonomische Risiken auftreten. Man sollte daher die Be-deutung dieser Indikatoren nicht kleinreden.

7.3 Integrationsfortschritt Bankenunion

Die Grundsatzentscheidung der Europäischen Union vom De-zember 2012, in Europa eine Bankenunion zu errichten, ist ein Beleg dafür, dass die Integrationsbereitschaft der EU-Länder unter dem Streit über den Euro keineswegs völlig verloren ge-gangen ist. Die geplante Bankenunion bedeutet einen erheblichen Verzicht auf nationale Souveränität durch die Teilnehmerstaaten. Die Aufsichtsbehörde, die unter dem Dach der europäischen Zen-tralbank für etwa 130 paneuropäische Banken direkt verantwort-

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122 7 Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen

lich sein wird, und der geplante Restrukturierungsfonds, der aus Bankabgaben gespeist wird, sind weitreichende Veränderungen des bisherigen nationalen Aufsichtsrahmens. Über die Rettung oder die Liquidierung von Banken, die in Schwierigkeiten geraten sind, entscheiden nun nicht mehr die nationalen Finanzminister und Aufsichtsbehörden, sondern europäische Institutionen.

Die Errichtung einer gemeinsamen Aufsichtsbehörde und eines Restrukturierungsfonds war eine langwierige politische Verhand-lungsaufgabe. Zu den besonders strittigen Themen gehörte insbe-sondere in Deutschland die Vereinbarkeit mit nationalem Recht, ein mögliches Spannungsverhältnis zwischen geldpolitischem und aufsichtsrechtlichem Auftrag der EZB, die Gefahr versteck-ter Transfers zwischen den Teilnehmerländern durch die gemein-schaftliche Finanzierung von Bankenrettungen und damit ver-bunden schließlich die Frage, ob die Verfügbarkeit von gemein-schaftlichen Mitteln eines Restrukturierungsfonds Fehlanreize für risikobewusstes Verhalten generieren könnte. Die Lösung die-ser teils recht schwierigen Sachfragen hat zu einer verhältnismä-ßig komplexen Struktur der zukünftigen europäischen Aufsicht geführt. Entscheidungen über notwendige Bankenschließungen oder Rekapitalisierungen werden in einem Aufsichtsgremium vorbereitet, dem die nationalen Aufsichtsbehörden und die Euro-päische Zentralbank angehören. Die letztendliche Entscheidung fällt – auch aus europarechtlichen Gründen – der EZB-Rat selbst. Kommt es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Gre-mium der Aufseher und dem Rat der EZB, setzt ein komplizier-tes Schiedsverfahren ein (vgl. Abb. 7.8). Möglicherweise werden noch Nachbesserungen dieser Entscheidungsverfahren im Zeit-ablauf erforderlich werden.

Die zentrale Frage aber ist, welche volkswirtschaftlichen Aus-wirkungen von dieser Bankenunion ausgehen. Befürworter der Bankenunion erwarten, dass sie die Fragmentierung der Finanz-märkte in Europa beseitigen kann. Insbesondere für die Noten-

Page 134: Europa nach der Krise ||

1237.3 Integrationsfortschritt Bankenunion

banken wäre dies von Bedeutung, da sie in der Fragmentierung der Finanzmärkte die Einschränkung einer wirksamen Geldpoli-tik sehen. Die sogenannte Transmission der Geldpolitik ist ge-stört, wenn Zinssenkungen der EZB nicht oder nur sehr einge-schränkt auf die Kreditmärkte oder die Märkte für Staatsanleihen in Teilen der Währungsunion durchwirken. Mit der Schaffung einer Bankenunion hofft man auch, die Voraussetzungen für eine gemeinsame Geldpolitik zu verbessern. Allerdings sind Zweifel berechtigt, ob diese hochgesteckten Erwartungen tatsächlich er-füllt werden können. Misst man die Fragmentierung der Finanz-märkte etwa an den unterschiedlichen Zinssätzen für Staatsan-leihen oder an Unterschieden der Refinanzierungskosten für Banken und Unternehmen, dann sind hierfür vor allem die Ein-schätzungen der Investoren über die Solidität der Staatsfinanzen und die Wachstumsperspektiven des Landes maßgeblich. Werden diese Faktoren negativ bewertet, führt das zu höheren Zinsen und Kapitalkosten für Staat und Unternehmen. Unterschiedliche Einschätzungen der Bonität von Ländern werden auch in einer Bankenunion gegeben sein – sie sollten es zumindest. Nur in dem (unerwünschten) Extremfall, dass alle Unterschiede durch Transfersysteme ausgeglichen werden, könnte die Fragmentie-rung weitgehend überwunden werden. Ein solches System, das mit massiven Fehlanreizen ausgestattet wäre, steht aber nicht zur Debatte.

Auch wenn durch eine Bankenunion nicht die Überwindung der Zinsunterschiede zu erwarten ist, so ist sie doch im Rahmen einer Währungsunion ein wichtiger, fast unabdingbarer Schritt. Und dies aus mehreren Gründen: Die Erfahrungen mit der Fi-nanzkrise haben gezeigt, dass die zersplitterte Struktur mit vielen nationalen Aufsehern den Fehlentwicklungen im Bankengeschäft nicht früh und energisch genug entgegengewirkt hat. Die mit sehr hohen Zins- und Liquiditätsrisiken einhergehende Aufblä-hung der Bilanzen irischer Banken beispielweise hat weder beim

Page 135: Europa nach der Krise ||

124 7 Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen

irischen noch beim deutschen Aufseher offenbar Anstoß erregt. Dabei waren es deutsche Anleger, die den Lockangeboten irischer Banken erlagen und den Boom zu einem erheblichen Teil mit-finanzierten. Da ein Forderungsverzicht der Sparer politisch aus-geschlossen war und sowohl Irland wie später auch Deutschland eine Art „politische Generalgarantie“ für Sparguthaben ausspra-chen, blieben die Kosten der Fehlspekulation und der Verluste der irischen Banken letztlich am Steuerzahler hängen. Leidtragende waren zuallererst die Iren selbst, aber auch diejenigen Länder, die die nötigen Rettungskredite für Irland bereitstellen mussten. Diese Fehlentwicklungen hätten durch eine europäische Aufsicht, die nicht auf nationalstaatliche Grenzen Rücksicht nehmen muss, möglicherweise vermieden werden können. Ein weiteres Argu-ment für eine europäische Aufsicht liegt darin, dass die Transpa-renz über die finanzielle Stabilität bzw. über finanzielle Risiken einzelner Marktteilnehmer deutlich verbessert wird. Im Rahmen einer europäischen Aufsichtsbehörde werden auch die Aufsichts-praktiken einheitlicher werden, als sie es heute sind. Dabei ist nicht zu befürchten, dass die europäische Aufsicht laxe Standards akzeptiert. Ganz im Gegenteil, eine europäische Behörde wird weniger einem nationalen politischen Druck unterliegen, als das bei nationalen Aufsichtsbehörden der Fall sein mag. Institutionen wie die EZB oder auch die europäische Wettbewerbsbehörde ha-ben über die Jahre bewiesen, dass sie sich politischer Einflussnah-me von nationaler Seite entziehen können.

7.4 Der Euro 2024 – Ein Rückblick

In den folgenden Kapiteln soll ein positives, hoffentlich nicht völ-lig unrealistisches Szenario für die Entwicklung der Europäischen Währungsunion in den nächsten 10 Jahren gezeichnet werden. Der wohl wichtigste Bestimmungsfaktor der langfristigen Ent-

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125

wicklung der Währungsunion und der EU ist die Bereitschaft der Mitgliedsländer, sich für stärkere politische und fiskalische In-tegration zu engagieren. Das Fehlen einer tiefen Integration ist oft als das Hauptproblem der gemeinsamen Währung bezeich-net worden. Vertreter der sogenannten „Krönungstheorie“ rie-ten schon weit vor der Einführung des Euro dazu, zunächst eine angemessene fiskalische und politische Union zu schaffen, bevor die Währung vergemeinschaftet wird. Sie werden sich heute be-stätigt fühlen. Das hohe Ausmaß an nationalstaatlicher Verant-wortung sowie falsche Reaktionen der Wirtschaftspolitik auf den Finanzboom haben zu erheblichen ökonomischen Divergenzen und beinahe zu einer existenziellen Krise für den Euro geführt. Die gemeinsame Währung war eben nicht die Krone nach einem Prozess der fiskalischen und politischen Integration, sondern in Wahrheit wurde sie als ein Hebel angesetzt, um diesen Prozess zu beschleunigen. Europäische Politiker hatten häufig die Erfahrung gemacht, dass mutige Schritte der Integration die notwendigen Veränderungen des politischen Rahmenwerks nach sich ziehen. Diese sogenannte „Gemeinschaftsmethode“ funktionierte z.  B. bei der Schaffung des gemeinsamen Marktes in Europa oder bei der Abschaffung von Grenzkontrollen im Rahmen des Schengen-Abkommens. In diesen Fällen wurden nationale Veränderungen durch Schritte der europäischen Integration ausgelöst, anstatt dass man alle Bedingungen vorab schon hergestellt hätte. Im Bereich der monetären Integration hat sich diese Erwartung allerdings nicht vollständig erfüllt. Es gab zwar Teilfortschritte im Bereich der ökonomischen und politischen Integration, wichtige Hinder-nisse einer gut funktionierenden Währungsunion blieben jedoch bestehen, etwa eine zu geringe Arbeitskräftemobilität, mangeln-de Lohnflexibilität oder fehlende wirtschaftspolitische Kohärenz. Fiskalpolitische Entscheidungen blieben weitestgehend nationa-le Verantwortung, die Regeln der Währungsunion wurden nicht eingehalten. Vor diesem Hintergrund erscheint der Ruf nach

7.4 Der Euro 2024 – Ein Rückblick

Page 137: Europa nach der Krise ||

126 7 Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen

tieferer europäischer Integration naheliegend und verständlich. Aber im Prozess der Integration gibt es auch Fallstricke. Politische und fiskalische Integration muss das Ergebnis einer politischen Willensbildung sein und darf nicht als Instrument des Krisen-managements missbraucht werden. Wird der Verzicht auf natio-nale Hoheitsrechte allein durch die Rettung des Euro begründet, dürfte das kaum nachhaltig sein. Das Ausmaß und die Form einer politischen Integration müssen im öffentlichen Diskurs entwi-ckelt werden. Klarheit über die Ziele ist essenziell – denn am Ende des Tages entscheiden die Wähler, vielerorts sogar im Verfahren einer Volksabstimmung. In manchen Ländern müssen die Wähler überzeugt werden, dass die Regeln der europäischen Währungs-union sinnvoll sind und dass auch schmerzhafte Reformen im eigenen Interesse liegen, in anderen Ländern gilt es Zweifel auszu-räumen, dass finanzielle Solidarität und Rettungsaktionen keine Geldverschwendung sind. Ein gemeinsames Verständnis im Hin-blick auf das Zielbild der europäischen Währungsunion würde es einfacher machen, jeweils aktuelle politische Probleme in der vielgestaltigen Gruppe der Mitgliedsländer mit unterschiedlichen Interessenlagen zu bewältigen.

So wie die Dinge stehen, gibt es zurzeit keine Bereitschaft der Wähler in den Mitgliedsländern der EU, für eine föderale Struk-tur im Sinne „Vereinigter Staaten von Europa“ zu stimmen – auch wenn diese Vision in unterschiedlichen Zusammenhängen im-mer wieder von großen Staatsmännern wie George Washington, Winston Churchill oder Helmut Kohl6 bemüht wurde. Eine star-

6 George Washington: „Eines Tages, nach dem Modell der Vereinigten Staaten von Amerika, werden die Vereinigten Staaten von Europa ent-stehen.“ (Brief an Marquis de Lafayette, ca.1790).Winston Churchill: „Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Euro-pa bilden. Nur so können Hunderte von Millionen schwer arbeitender Menschen wieder die einfachen Freuden und Hoffnungen zurückge-

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1277.4 Der Euro 2024 – Ein Rückblick

ke zentralstaatliche Ebene mit begrenzter nationaler Souveräni-tät der Einzelstaaten ist in Europa zurzeit sicherlich kein kon-sensfähiges Zukunftsmodell. Eine solche Konstruktion ist weder realistisch noch wünschenswert. Es gibt nicht die europäische (Wahl-)Bevölkerung, die hinter einer europäischen Zentralregie-rung stünde. Weitgehende Zentralisierung ist für die Vielfalt in der EU nicht geeignet; Entscheidungen über Steuern, staatliche Ausgaben, Sozialversicherungen oder Arbeitsmarktregulierun-gen sollten die unterschiedlichen kulturellen und ökonomischen Bedingungen in der EU und der EWU widerspiegeln. Das Subsi-diaritätsprinzip ist von größter Bedeutung. Gebraucht wird nicht eine Zentralregierung, sondern eine europäische Verfassung, die die Verantwortlichkeiten der einzelnen Ebenen regelt und aus der hervorgeht, welche Entscheidungsbereiche und Kompetenzen auf EU-Ebene anzusiedeln und welche möglicherweise auch auf na-tionale Ebene zurückzuverlagern sind. Eine Lehre der Krise ist es, dass die Rechte zur fiskalischen Überwachung und Kontrolle so-wie zur Disziplinierung der Schuldenpolitik stärker auf EU-Ebene verortet werden sollten. Aber bei der Vertiefung der Integration geht es nicht nur um ökonomische Themen. Andere Bereiche, in denen eine stärkere Integration anzustreben wäre, sind Sicher-heits- und Verteidigungspolitik, Außenpolitik, Energiepolitik oder Entscheidungen über transeuropäische Infrastrukturnetze.

winnen, die das Leben lebenswert machen.“ (Zürich Rede, September 1946).Helmut Kohl: „In Maastricht haben wir den Grundstein für die Voll-endung der Europäischen Union gelegt. Der Vertrag über die Europäi-sche Union leitet eine neue, entscheidende Etappe des Europäischen Einigungswerks ein, die in wenigen Jahren dazu führen wird, das zu schaffen, was die Gründungsväter des modernen Europa nach dem letz-ten Krieg erträumt haben: die Vereinigten Staaten von Europa.“ (April 1992).

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128 7 Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen

Nach diesen Vorbemerkungen möchte ich nun einen – zuge-gebenermaßen subjektiven und möglicherweise optimistischen – Ausblick auf die Entwicklung des Euro in den nächsten zehn Jah-ren riskieren. Es ist ein normatives Szenario in dem Sinne, dass es nicht auf politischen Entscheidungen der Vergangenheit beruht, sondern mögliche Veränderungen in der Zukunft aufzeigt – Ver-änderungen, die geeignet wären, die europäische Währungsunion wieder zu einer prosperierenden und weltweit hoch respektierten Gemeinschaft zu machen. Nach den ökonomischen und politi-schen Spannungen der vergangenen Jahre werden viele Leser skeptisch bleiben. Und natürlich ist nicht auszuschließen, dass auf dem weiteren Wege der Integration vieles schiefgehen kann. So ist es keinesfalls sicher, dass Griechenland einen weiteren Schul-denschnitt vermeiden kann, der möglicherweise negative Rück-wirkungen auf die Union im Ganzen hätte. Ebenso wenig ist gesi-chert, dass die Reformen etwa in Spanien, Italien oder Frankreich angesichts der hohen Arbeitslosigkeit konsequent fortgesetzt werden können und nicht auf politischen oder gesellschaftlichen Widerstand stoßen. Größere politische Umbrüche könnten den Kurs der Währungsintegration verändern. All diese Szenarien sehen zurzeit nicht sehr wahrscheinlich aus, aber die Krise hat gezeigt, dass auch als extrem unwahrscheinlich geltende Risiken plötzlich auftreten können. Das folgende Szenario ist, wie gesagt, keine Wahrscheinlichkeitsaussage, sondern eine Überlegung zum Wünschenswerten. Also, lassen Sie uns die Vorwärtsspule betäti-gen und aus dem Jahre 2024 zurückblicken.

7.4.1 Neue Institutionen und multiple Geschwindigkeiten

In den Jahren nach der Krise von 2012 begann in den Mitglieds-ländern der EU eine Debatte über die Vorteile und Optionen

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1297.4 Der Euro 2024 – Ein Rückblick

einer weiteren europäischen Integration. Da es spätestens mit der Einführung einer Bankenunion klar geworden war, dass wichtige Hoheitsrechte auf die EU-Ebene verlagert würden, erstreckte sich die Debatte auch auf die Frage der demokratischen Legitimation und Rechenschaftspflicht der EU-Institutionen. Es gab die weit verbreitete Meinung, dass die europäischen Institutionen, die Kommission und das Parlament, dem nationalen Wahlvolk nicht hinreichend rechenschaftspflichtig seien und auch keine große Bedeutung hätten. Es wurde moniert, dass die Entscheidungen über die weitere europäische Integration und andere wichtige Weichenstellungen in erster Linie auf zwischenstaatlicher Ebene, also durch den EU-Rat, direkt entschieden würden.

In diesem Umfeld erwies es sich als wesentlicher Fortschritt für die Wahrnehmung des europäischen Parlaments, dass die ein-zelnen Parteien einen Spitzenkandidaten nominieren und damit einen stärker europäischen Wahlkampf über die Ländergrenzen hinweg führen. Zwar gehen die Wähler nach wie vor in ihren je-weiligen Ländern an die Urnen und wählen einen regionalen Kan-didaten für das Europaparlament. Aber der gesamte Prozess der Parlamentswahl wurde dadurch bedeutungsvoller, dass über die Spitzenkandidaten der Parteien die Visionen und Zielvorstellun-gen der jeweiligen Parteien für Europa klarer wurden. Der Wahl-kampf der EU-Parlamentarier beruhte zwar nicht auf EU-weiten Parteien, aber er wurde dennoch programmatischer. Die auto-matische Berufung des Wahlsiegers als Präsident der EU-Kom-mission, die in 2014 zu ernsthaften politischen Konflikten führte, wurde allerdings in den nachfolgenden Parlamentswahlen nicht umgesetzt. Darüber hinaus führte der Stimmgewinn einiger euro-kritischer Randparteien dazu, dass sich die großen Parteien der Mitte im Konsens stärker auf eine integrationsfreundliche Politik besannen. Gestärkt wurde das europäische Parlament auch durch mehr legislative Initiativerechte. Es wuchs allmählich zu einem „richtigen“ Parlament heran und ebnete den Weg Europas in eine

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130 7 Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen

Art Zwei-Kammer-System mit zwei legislativen Armen: dem europäischen Parlament auf der einen und dem europäischen Rat auf der anderen Seite. Die Zusammensetzung des europäischen Parlaments wurde stärker an die Bevölkerungsgröße der vertre-tenen Länder angepasst, während der EU-Rat jedem Land eine Stimme und damit kleineren Ländern im Prinzip ein überpropor-tionales Stimmgewicht gibt. Der Bedeutungsgewinn des europäi-schen Parlaments führte auch dazu, dass die Zusammenarbeit mit nationalen Parlamenten entschieden verstärkt wurde. Insbeson-dere in den Bereichen der Finanz- und Wirtschaftspolitik wurden spezielle Komitees geschaffen, um die Themen der Eurozone als Teil der EU zu behandeln.

Wesentliche Veränderungen gab es auch an der exekutiven Säu-le von Europas institutioneller Architektur. Die EU-Kommission wurde zu einer schlankeren und effizienten Exekutive umgebaut. Kommissionsposten wurden nach Leistung und nicht nach Natio-nalität vergeben. Die Leitung der EU-Kommission und die Präsi-dentschaft im EU-Rat wurden zusammengelegt. Das schuf eine bedeutende Position in der Zusammenarbeit mit den Mitgliedern des EU-Rats. Zwar spielen die jeweiligen Regierungschefs nach wie vor die entscheidende Rolle bei der Fortentwicklung der euro-päischen Union und nicht selten sind sie dabei unterschiedlicher Meinung, aber dennoch wurde die Schaffung einer starken Präsi-dentschaftsrolle zur Vertretung europäischer Interessen vom Aus-land durchaus begrüßt.

Großbritannien hat die Diskussion des Jahres 2013 über einen Austritt aus der EU hinter sich gelassen. Die führenden poli-tischen Persönlichkeiten haben anerkannt, dass es für Handel und Investitionen – die zu mehr als der Hälfte auf europäische Partnerländer gerichtet sind – wichtiger ist, Mitglied des Binnen-marktes zu bleiben und Rahmenbedingungen mit beeinflussen zu können, als den politischen Einfluss aufzugeben und dennoch

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1317.4 Der Euro 2024 – Ein Rückblick

die EU-Standards und Regulierungen akzeptieren zu müssen. Die mühsamen, aber am Ende doch in Teilbereichen erfolgreichen Gespräche zwischen den USA und der EU, eine transatlantische Freihandelszone zu schaffen, hatten die öffentliche Meinung zur EU in Großbritannien positiv beeinflusst. Zunächst hatte die bri-tische Regierung noch versucht, die EU-Partner von der Renatio-nalisierung wichtiger EU-Kompetenzen zu überzeugen. Aber am Ende wurde diese Linie nicht weiterverfolgt, da sie den vollständi-gen Rückzug aus der EU bedeutet hätte. Die Partnerländer der EU hatten die Geduld mit speziellen britischen Forderungen verloren und sie nicht akzeptiert, auch wenn Großbritannien als eines der wichtigsten Länder der EU angesehen wurde – wegen seiner wirt-schaftsliberalen Politik, seiner starken und besonderen Position im Netzwerk internationaler Beziehungen und wegen seines posi-tiven Einflusses auf die Außenwirkung der EU. Großbritannien hatte allerdings einen bedeutsamen Einfluss darauf, dass die EU schlanker und effizienter wurde, wie es Premierminister Came-ron schon in 2013 gefordert hatte. Großbritannien hatte darüber hinaus seine „Opt-out Rights“ in allen Dimensionen beibehalten: keine Teilnahme am Eurosystem, keine Mitgliedschaft der Ban-kenunion oder des Schengen-Abkommens, Ausnahmeklausen für den Fiskalpakt sowie keine Sanktionen in den Verfahren gegen übermäßige Staatsdefizite und makroökonomische Ungleichge-wichte.

In den gut zehn Jahren nach der Krise veränderte sich der Pro-zess der EU-Integration von dem vorherbestimmten Weg der im-mer engeren Integration (Ever closer Union) zu einer stärker op-tionalen variablen Geometrie. Trotz einer politischen Kontrover-se und Kritik am Europa der mehreren Geschwindigkeiten wurde dies letztendlich als ein akzeptabler Weg betrachtet, der besser schien als eine sonst drohende Desintegration der Gemeinschaft. Die Logik einer weiteren Integration hatte sich durchgesetzt.

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132 7 Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen

Während die Länder Dänemark und Schweden sich entschie-den, außerhalb der Währungsgemeinschaft zu bleiben, stieg die Zahl der Euro-Mitgliedsländer von 18 in 2014 auf 21 in 2024. Polen, die Tschechische Republik und Litauen sind der Union bei-getreten. Griechenland und Zypern sind nach wie vor Mitglieder, nachdem sie die gewaltigen Herausforderungen und Belastungen der Krise einigermaßen bewältig haben und in 2014 auf Wachs-tumskurs zurückkehren konnten. Rumänien und Bulgarien ste-hen als Kandidaten zur Aufnahme in die Eurozone bereit und haben signifikante Fortschritte dabei erzielt, die Probleme der Korruption und Vetternwirtschaft, die ihre Entwicklung belastet hatten, unter Kontrolle zu bringen.

Eine bedeutsame, durch die Krise ausgelöste Entscheidung war es, die Bedingungen und Regeln für einen Ausschluss aus der Währungsgemeinschaft zu klären. Die Befürchtung, die Diskus-sion über Ausstiegsregeln werde destabilisierend wirken, erwies sich als unbegründet. Der Zusammenhalt der Länder wurde eher gestärkt. Im Unterschied zu der Situation in den Krisenjahren von 2010 bis 2012 gibt es jetzt eine grundsätzliche Regelung, wie die Mitgliedschaft eines Landes beendet werden kann, das nicht be-reit ist (parlamentarisch keine Mehrheit findet), die Regeln der Währungsunion zu akzeptieren und einer partiellen Übertragung finanzpolitischer Rechte zuzustimmen. In Ländern wie Deutsch-land, Großbritannien und Finnland – um nur drei zu nennen –, in denen die öffentliche Meinung zu Rettungsaktionen und Verge-meinschaftung von Schulden sehr kritisch ist, haben diese Regeln die Akzeptanz einer weiteren europäischen Integration und Ver-tiefung der Währungsunion in monetären und fiskalischen Fra-gen erhöht. Das Finnland noch Mitglied der Währungsunion ist, ist auch den Ausstiegsklauseln zu verdanken. Diese haben auch die schwächeren Länder bewogen, fiskalische und makroökono-mische Risiken konsequenter anzugehen.

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1337.4 Der Euro 2024 – Ein Rückblick

Eine weitere politische Innovation wurde erreicht: Es dauerte lange, aber schließlich gelang es der EU, einen funktionsfähigen Mechanismus für staatliche Insolvenzen zu schaffen. Dabei wur-de der ESM mit klareren Regeln für die Bestimmung einer staat-lichen Insolvenz ausgestattet mit dem Ziel, im Falle einer Krise einen geordneten und effizienten Insolvenzprozess zu installie-ren und eine Wiederholung der Probleme wie beim griechischen Umschuldungsprozess zu vermeiden. Im Falle Griechenlands mussten die Mitgliedsstaaten ein aufs andere Mal mit Rettungs-aktionen einspringen, um einen ungeordneten Insolvenzprozess mit massiven Ansteckungseffekten für andere Länder der Euro-zone unter Kontrolle zu bringen. Durch klarere Regeln für den Einsatz von Rettungsmitteln und die Beteiligung von Privatin-vestoren in Krisensituationen wurde die Disziplin aller Akteure verbessert. Die Regierungen sind sich der Tatsache bewusst, dass eine Insolvenz geschehen kann, weil die Partnerländer nicht ohne Bedingungen und unlimitiert Rettungsmittel bereitstellen. Inves-toren berücksichtigen das Risiko einer Insolvenz in den Preisen für die jeweiligen Staatsanleihen und setzen damit einen Anreiz für die Länder, vernünftige Fiskalpolitik zu betreiben. Die neu-en Regeln des ESM wurden bislang nicht auf die Probe gestellt, und es muss sich erweisen, wie konsequent sie im Falle einer Zah-lungsunfähigkeit eines Mitgliedslandes umgesetzt werden. Politi-sche Entscheidungsträger könnten auch in Zukunft zögern, Part-nerländern im Euroraum eine Unterstützung zu verwehren, da immer mit negativen Rückwirkungen einer staatlichen Insolvenz auf das eigene Land zu rechnen ist. Dennoch hatten die neuen Regeln einen vorbeugenden Effekt. Regierungen und Investoren wurde zumindest klargemacht, dass der ESM in Zukunft Liquidi-täts- und Insolvenzprobleme stärker auseinanderhalten und keine unbegrenzte Rettungspolitik betreiben werde. In den Jahren der Krise hatte der ESM dagegen weitgehend als ein Rettungsfonds

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134 7 Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen

gegolten, der bereitsteht, um Ansteckungseffekte zwischen den Ländern zu vermeiden.

7.4.2 Fiskalpolitische Regeln mit Biss

Die nationalen Regierungen haben, wenn auch in beschränktem Umfang, finanzpolitische Souveränität auf die EU übertragen. Alle Mitgliedsländer haben strengerer Überwachung und Kon-trolle ihrer Fiskalpolitik zugestimmt und sich zu stabilen und nachhaltigen Strategien verpflichtet. Das jährlich stattfindende europäische Semester, das in 2010 geschaffen wurde, hat sich als praktisches Instrument zur besseren Koordinierung der Wirt-schafts- und Fiskalpolitik erwiesen. Es verpflichtet Mitgliedsstaa-ten, ihre Pläne zu Reformen und Konsolidierung vorzulegen, auf denen die EU-Kommission dann weitere Empfehlungen gründen kann. Alle Länder nehmen an diesem Verfahren teil. Im Rahmen des sogenannten Fiskalpakts haben sich indessen nicht alle Län-der strengen Regeln unterworfen. Großbritannien ist außen vor und unterliegt – wie auch andere Nicht-Euro-EU-Mitgliedsländer – nicht den finanziellen Sanktionsverfahren des Stabilitäts- und Wachstumspakts.

Tatsächlich waren in den Jahren seit der großen Schuldenkrise keine fiskalpolitischen Eingriffe seitens der EU und auch keine Sanktionsverfahren erforderlich. Sie werden aber als reale Gefahr für Länder angesehen, die systematisch die Regeln der Währungs-gemeinschaft missachten. Die Tatsache, dass der EU-Wirtschafts-kommissar nach Konsultation mit dem EU-Rat bei nachhaltigen Regelverletzungen einzelne Länder zwingen kann, Steuereinnah-men oder pauschale Ausgabenkürzungen zur Schuldentilgung einzusetzen, war von den wenigsten erwartet worden. Es kam überraschend, dass die Länder sich zu Vertragsveränderungen

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1357.4 Der Euro 2024 – Ein Rückblick

bereitfanden und die Wähler dies nicht blockierten. Offenbar wurde anerkannt, dass die vielen Rettungsprogramme während der Krise zusammen mit den Interventionen der Europäischen Zentralbank bereits eine nicht unbeachtliche Vergemeinschaf-tung der Schulden in der Eurozone bewirkt hatten. In dieser Sachlage sind Mechanismen der gegenseitigen Kontrolle und der fiskalpolitischen Disziplinierung essenziell. Sogar die Franzosen, die eine Übertragung nationaler Souveränität auf supranationale Institutionen zumeist kategorisch abgelehnt hatten, schlossen sich dieser Sichtweise an. Natürlich war die Übertragung fiskalischer Hoheitsrechte im Ganzen begrenzt. Die Nationalstaaten entschei-den nach wie vor über ihre Ausgaben und Steuerpolitik. Aus mak-roökonomischer Perspektive ist dies auch geboten. Und Eingriffs-rechte der EU sind nur gegeben, wenn ein Land seine Zusagen nachhaltig verletzt und keine korrektiven Maßnahmen ergreift.

Mit der Einführung wirksamer fiskalische Kontrollen sind vielerorts auch die Vorbehalte gegenüber gemeinschaftlichen Fi-nanzierungsinstrumenten etwas zurückgegangen. Es gibt zwar keine „Eurobonds“, die auf eine gesamtschuldnerische Haftung für Staatsschulden anderer Länder hinauslaufen, aber im Bereich der Infrastrukturfinanzierung haben sich europäische Finanzie-rungsinstrumente stärker durchgesetzt. Die Projektanleihen (Pro-ject Bonds), die von der europäischen Investitionsbank teilgesi-chert werden und für einzelne Infrastrukturprojekte vorgesehen sind, haben sich deutlich ausgeweitet. Zudem gibt es einen Fonds für transeuropäische oder auch nationale Infrastrukturprojekte, der sich über Euroanleihen refinanziert. Mit dem Aufbau eines solchen Fonds hat die europäische Gemeinschaft dem nötigen In-frastrukturausbau einen wesentlichen Anschub gegeben. Darüber hinaus ist eine Anlagealternative für institutionelle Kunden und Kleinsparer entstanden.

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136 7 Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen

7.4.3 Makroökonomische Stabilisierung, Bankenaufsicht und Strukturreformen

Im Jahre 2016 wurden die neuen Regeln gegen makroökonomi-sche Ungleichgewichte erstmals auf Deutschland angewendet, das einen Boom an den Immobilienmärkten und Hypothekenmärk-ten verzeichnete. Die Europäische Kommission in Zusammen-arbeit mit dem Europäischen Rat für systemische Risiken (ESRB) forderte die deutsche Regierung auf, über die Maßnahmen gegen übermäßige Kreditexpansion und Preissteigerungen zu informie-ren. In diesem Zusammenhang erwies es sich als hilfreich, dass das Mandat des ESRB in 2015 erweitert worden war. Er war nicht allein für die Analyse systemischer Risiken und makroökonomi-scher Ungleichgewichte verantwortlich, sondern hatte auch den Auftrag, Gegenmaßnahmen vorzuschlagen und zusammen mit nationalen Regulatoren umzusetzen. Zu diesen Maßnahmen ge-hörte es, Kreditstandards strenger zu fassen. Die makropruden-tielle Überwachung hat sich als wirksam erwiesen und das Ver-trauen in die finanzielle und makroökonomische Stabilität der Eurozone verstärkt.

Das trifft auch auf die Schaffung einer EU-weiten Bankenauf-sicht zu (siehe Kap.  7.3). Nicht alle EU-Mitgliedsländer haben sich der europaweiten Bankenaufsicht unter dem Dach der EZB angeschlossen. Großbritannien und Schweden bleiben außen vor. Aber für die teilnehmenden Länder hat sich diese neue Aufsicht als sehr effektiv erwiesen. Nationale Unterschiede im Bereich der Regulierung und Aufsichtspraxis sind geringer geworden und somit auch die sogenannte regulatorische Arbitrage, bei der Geschäftsaktivitäten dorthin verlagert werden, wo die regulato-rischen Anforderungen am geringsten sind. Ursprüngliche Be-denken, dass die europäische Zentralbank in ihrer Funktion als Aufsichtsbehörde geldpolitische Fehlentscheidungen trifft, haben

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sich nicht bewahrheitet. Dazu trägt bei, dass geldpolitische und aufsichtsrechtliche Entscheidungen innerhalb der EZB konse-quent getrennt wurden. Der Chef der Aufsichtsbehörde wird von den Finanzministern der beteiligten Länder bestimmt. Neben dem gemeinsamen Aufsichtsmechanismus gibt es einen Restruk-turierungsfonds, der über Bankabgaben aufgebaut wurde und auf annähernd 50 Mrd. € angewachsen ist. Sein Einsatz ist die Ultima Ratio im Falle von Bankenkrisen, bei denen zuerst die privaten Investoren und Gläubiger von Finanzinstituten belastet werden. Um dem Abwicklungsmechanismus Glaubwürdigkeit zu verlei-hen, wurden potenzielle Kreditlinien zwischen den Ländern ver-einbart. Eine gemeinsame Einlagensicherung für die Halter von Bankeinlagen ist dagegen erst in Ansätzen erkennbar. Die natio-nalen Einlagensicherungssysteme sind im Laufe der Jahre ver-gleichbarer geworden, und das europäische Bankenaufsichtssys-tem hat die Stabilität und Widerstandskraft des Bankensystems verbessert. Daher sind die Vorbehalte gegenüber einer gemein-samen Einlagensicherung in der europäischen Währungsunion zurückgegangen. Insgesamt lässt sich sagen, dass die Schaffung eines europäischen Aufsichtsmechanismus eine der wichtigsten Reaktionen auf die Schuldenkrise der Jahre von 2008 bis 2012 war. Zumindest krasse Fehlentwicklungen wie vor der Krise wur-den verhindert. Es kam nicht mehr zu einer vollständigen Ab-kopplung des Finanzsystems von der realen Wirtschaft, wie das in Ländern wie Irland, Zypern und teilweise auch in Spanien und Griechenland vor der Krise zu beobachten war (Welfens 2012).

Die neuen Instrumente der makroökonomischen Überwa-chung und Koordination haben dazu beigetragen, strukturelle Reformen in Mitgliedsländern in Gang zu halten. Dazu diente des Weiteren die Schaffung einer europaweiten Fiskalkapazität, die zinsgünstige Kredite und Unterstützung der Arbeitslosen-versicherung für Länder gewährte, die weitreichende struktu-relle Reformen in Angriff nahmen. Eine solche Fiskalkapazität

7.4 Der Euro 2024 – Ein Rückblick

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138 7 Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen

war kontrovers diskutiert worden. Am Ende überwog jedoch die Auffassung, dass begrenzte Umverteilungsinstrumente in diesem Budget nicht in eine schädliche „Transferunion“ führen, sondern positive Reformanreize setzen. Für die Wachstumsstimulierung hat sich dieses Instrument als wirksam erwiesen, vor allem weil es mit den verbesserten Maßnahmen zur Infrastrukturfinanzierung zusammenwirkt.

Zum Abschluss dieses imaginären Rückblicks aus der Zukunft sei noch einmal hervorgehoben, dass das Zielbild für den Euro 2024 ein normatives ist und auf der Annahme basiert, dass die Wähler in den Mitgliedsstaaten sinnvolle und gut kommunizier-te Schritte der weiteren Integration unterstützen werden. Die im Szenario skizzierten Veränderungen wären geeignet, das Wachs-tum in der Eurozone zu reaktivieren, Instabilitäten zu vermeiden und insgesamt wettbewerbsfähiger und dynamischer zu werden. Vor allem strukturelle Reformen und eine bessere Koordination der Fiskalpolitik und der Makropolitik dienen diesem Ziel. Wich-tig ist dabei, dass makroökonomische Entwicklungen stabil und inflationsfrei bleiben. Aber auch strukturell ist einiges zu tun: Die gemeinsame europäische Bankenaufsicht muss gemeinsame Re-geln und Aufsichtspraktiken durchsetzen. Regeln für den Austritt von Ländern aus der Eurozone müssen definiert werden, ebenso wie ein Mechanismus für staatliche Insolvenzen. All dies bedeu-tet mehr Entscheidungsfindung auf EU-Ebene. Dies wiederum erfordert die Bereitschaft zu politischer Kooperation und einer Verbesserung der demokratischen Entscheidungsstrukturen auf EU-Ebene.

Literatur

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Welfens PJJ (2012) Die Zukunft des Euro: Die europäische Staatsschul-denkrise und ihre Überwindung. Nicolai, Berlin

Literatur

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141

Krisenmanagement muss Reformanreize setzen

M. Heise, Europa nach der Krise, DOI 10.1007/978-3-642-54620-4_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

8

7 Das vorangegangene Kapitel hat eine normative und positive Entwicklung der europäischen Währungsunion in den nächsten zehn Jahren skizziert. Dieses Szenario beruht auf der Annahme, dass Anreize erhalten bleiben, wirtschaftspolitische Reformen und Konsolidierungs-anstrengungen in den einzelnen Ländern fortzusetzen und damit Investoren wirtschaftliche Perspektiven zu bieten. Ob diese Annahme auch längerfristig erfüllt sein wird, hängt wesentlich davon ab, welche Inst-rumente im Fall von Krisen Anwendung finden und welche Bedingungen für Investoren gesetzt werden. Unkonditionierte Rettungsaktionen – sei es durch die staatlichen Unterstützungsfonds, die EZB oder neue Transfersysteme – würden den Anreiz zu konsequenten und zum Teil auch unpopulären Reformen unterlaufen. Länder würden sich übermäßig auf die Unterstützung ihrer Partner in der Währungsunion verlassen. Die fol-genden Abschnitte versuchen, einige Lehren aus der vergangenen Entwicklung für das Krisenmanagement zu formulieren. Eine zentrale Erkenntnis ist sicher die, dass jedwede Form der politischen Unsicherheit starke negative Auswirkungen auf langfristige Investitio-nen hat. Es bedarf klarer und glaubwürdiger Regeln

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142 8 Krisenmanagement muss Reformanreize setzen

im Hinblick auf Rettungsaktionen oder auch Insol-venzverfahren bei krisenhaften Zuspitzungen an den Staatsanleihemärkten und ebenso klarer Regeln für die Verlustbeteiligung privater Investoren. Auch die Siche-rung von Preisniveaustabilität ist für Langfristinvesto-ren von wesentlicher Bedeutung. Anzeichen steigender Inflationserwartungen sollten zu einem sofortigen Aus-stieg der Geldpolitik aus der extrem expansiven Linie führen. Zuletzt entscheidet die Gestaltung der Kapital-anforderungen und die Bewertung langfristiger Forde-rungstitel über die langfristige Investitionsbereitschaft von Banken oder Versicherungsunternehmen.

Die Instrumente und Strategien des Krisenmanagements sollten so gestaltet sein, dass sie nicht die Anreize für Reformbemühun-gen und Konsolidierungsanstrengungen der Länder unterlaufen, die von der Gemeinschaft Unterstützung erhalten. Unkonditio-nierte Anleihekäufe der EZB oder möglicherweise des ESM ver-letzen dieses Kriterium sehr klar. Auch Eurobonds, die eine ge-meinsame gesamtschuldnerische Haftung der Länder bedeuten, sind in einer Situation weitgehend autonomer nationaler Fiskal-politik nicht zu empfehlen. Auch sie würden den Anreiz zu spar-samer Finanzpolitik und reformorientierter Wirtschaftspolitik mindern. Einfachere Versionen von Eurobonds, etwa gemeinsa-me Emissionen der Euroländer, die keine gesamtschuldnerische Haftung, sondern eine partielle Haftung der Länder in Abhängig-keit ihrer Emissionsquote vorsehen, wären ordnungspolitisch we-niger problematisch, aber für Investoren nur bedingt attraktiv. Als Instrument des Krisenmanagements sollte eher eine Art Anleihe-versicherung ins Auge gefasst werden, bei der die Gemeinschaft der Euroländer gegen eine Versicherungsprämie eine Teilgarantie für Länder mit eingeschränktem Kapitalmarktzugang ausspricht. Dieses Instrument würde einen Reformanreiz für die betroffenen

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1438.1 Preisniveaustabilität und verlässliche …

Länder aufrechterhalten. Gemeinsame Anleiheinvestitionen kön-nen bei gemeinsamen Infrastrukturprojekten zum Einsatz kom-men. Dies ist allerdings kein Instrument des Krisenmanagements.

8.1 Preisniveaustabilität und verlässliche Rahmenbedingungen für langfristige Investitionen

Im Jahr 2012, dem Hauptkrisenjahr, wurden längerfristige Inves-titionsentscheidungen durch zahlreiche Unsicherheitsfaktoren belastet. Viele Entwicklungen waren kaum vorhersehbar: Würden die Euroländer genügend Geld bereitstellen, um Ansteckungsef-fekte von Griechenland auf andere Länder zu verhindern, obwohl dies dem Schuldenübernahmeverbot (No-Bailout-Regel) des Maastrichter Vertrags widersprochen hätte? Würden öffentliche Gläubiger im Falle einer Staatsinsolvenz einen höheren Schutz genießen und nicht an einem Forderungsverzicht teilnehmen? Würden die Reformkräfte in den „Programmländern“ genügend Kraft und Durchhaltevermögen haben, um nötige politische Ver-änderungen und Konsolidierungsmaßnahmen trotz erbitterten gesellschaftlichen Widerstands durchzusetzen? Würde die EZB weitreichende Rettungsmaßnahmen ergreifen, auch wenn sie da-mit in die Nähe der unerlaubten Staatsfinanzierung geriete? Und schließlich war sogar unklar, ob die Regierungen der Euroländer eine Neugestaltung der Währungsunion in Betracht zögen, bei der einzelne Länder aussteigen würden. Einschlägige Gerüchte gab es zur Genüge. All diese Unsicherheiten waren Alarmsignale für Langfristinvestoren. Die Zinssätze in schwächeren Ländern schossen in die Höhe und in den vermeintlich sicheren Häfen, zu denen auch Bundesanleihen zählten, fielen sie auf Extremwerte. Der Zusammenhalt der Eurozone stand auf dem Prüfstand und dies zwang die Politik zu radikaleren Maßnahmen.

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144 8 Krisenmanagement muss Reformanreize setzen

Aus der Perspektive der Investoren können selbst für sie nach-teilige Entscheidungen, beispielsweise ein Schuldenschnitt auf Staatsanleihen, einer Situation der Unsicherheit und Entschei-dungslosigkeit vorzuziehen sein. Unsicherheit über die nächsten Schritte der Wirtschaftspolitik kann noch weitaus größeren Scha-den verursachen. Wenn die Spielregeln nicht klar sind, z. B. im Hinblick auf Rettungsoperation oder Schuldenverzicht für private Anleger, werden viele Investoren das Spielfeld verlassen. Sind die Spielregeln dagegen klar definiert, so werden Investoren versu-chen, die Gewinnmöglichkeiten wahrzunehmen, auch wenn die Rahmenbedingungen ungünstig sind. Investoren können auch mit einer Situation umgehen, bei der Staatsanleihen risikotragend und Insolvenzverluste möglich sind. Allerdings wird das in den Preisen der Anleihen gespiegelt werden.

Besondere Bedeutung für die Erwartungssicherheit der Inves-toren kommt der Preisniveaustabilität zu. Höhere Inflation wäre eine Katastrophe für private Anleger, die ohnehin schon von der sogenannten „finanziellen Repression“ getroffen sind und unter negativen Realzinsen leiden, die einen realen Wertverlust des Ver-mögens bedeuten. Die niedrigen Zinssätze der letzten Jahre resul-tieren aus mehreren Faktoren: den expansiven Politikstrategien der großen Notenbanken, auch der Europäischen Zentralbank, der Klassifizierung von Staatsanleihen als risikofreie Investitio-nen, die Banken und institutionelle Investoren veranlasst, hohe Bestände an Staatsanleihen zu halten, und schließlich der Flucht der Investoren in sichere Häfen, zu denen deutsche oder amerika-nische Staatsanleihen zählen.

Die niedrigen Zinsen hatten bereits einen starken Einfluss auf das Wachstum der Anlagevermögen im privaten Sektor (vgl. Abb.  8.1). Geringere Wachstumsraten der Vermögen sind nicht allein in Europa oder der Eurozone zu beobachten. Auch in den Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien oder Japan for-dern rekordniedrige Zinsen ihren Tribut. In der Eurozone aber

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Abb

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8.1 Preisniveaustabilität und verlässliche …

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146 8 Krisenmanagement muss Reformanreize setzen

sind die Einschnitte besonders gravierend. In stabilen Ländern hat der Kapitalzustrom die Zinsen dramatisch sinken lassen. In den verschuldeten Ländern an der Peripherie Europas sind die Bewertungen auf verschiedenen Märkten dagegen eingebrochen, etwa bei Aktien oder bei Unternehmensanleihen. Das langsame Wachstum der Geldvermögen hat allerdings auch mit Änderun-gen im Anlageverhalten zu tun. Anleger haben den Anteil an kurzfristigen Bankeinlagen in ihren Portfolien deutlich erhöht, da diese als sichere und liquide Anlageformen gelten. Das große Aus-maß an Unsicherheit in den Jahren der Finanzkrise und der euro-päischen Schuldenkrise hat die Bereitschaft nachhaltig gesteigert, für Sicherheit weitgehend auf Zinseinnahmen zu verzichten. Das ist bis heute so geblieben. Die sehr geringen Zinsen können als eine Art Steuer auf die Ersparnis gesehen werden, eine Steuer, die Regierungen und private Schuldner bei der Konsolidierung ihrer Schulden begünstigt. Die Größenordnung dieser Umverteilung von Sparern zu Schuldnern kann signifikant sein. In Deutschland beispielsweise sind die Zinseinnahmen seit der Krise jährlich um etwa 10 Mrd. € geringer als zuvor.

In dieser Situation hätte ein Anstieg der Inflation weitere Ver-luste für die Anleger zur Folge. Für sie ist es daher entscheidend, dass die Zentralbanken sich glaubwürdig auf stabile Preise ver-pflichten. Bislang ist den Zentralbanken die Stabilisierung der Preise gelungen, im Verlauf des Jahres 2014 sind die Preisniveau-steigerungen sogar auf Werte um 0,5 % gesunken, was von der Geldpolitik als zu niedrig angesehen wird und weitere expansive Maßnahmen nach sich zog. Es wird also weiter aber die Zweifel mehren sich angesichts der Liquidität in das monetäre System in-jiziert. Diese Liquidität konnte bislang keine Beschleunigung der Kreditvergabe bewirken. Kreditangebot und Kreditnachfrage lie-gen in vielen Ländern nach wie vor auf sehr niedrigem Niveau, weil die Banken ihre Bilanzen bereinigen und die private Kund-schaft wenig Kreditbedarf hat. Mit fortschreitender Konjunktur-erholung werden sich die Investitionsbereitschaft und die Kredit-

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nachfrage allerdings wieder erhöhen und das Liquiditätsangebot der Zentralbanken wird vom Bankensektor aktiver genutzt wer-den. Das wäre dann der Zeitpunkt, um einen geldpolitischen Kurswechsel vorzunehmen – sonst droht Inflation. Technische Instrumente zur Reduzierung der Liquidität hat die EZB zur Ge-nüge, die Frage ist eher, ob sie sich von öffentlicher und politischer Kritik beeindrucken lässt, die dann in verschiedenen EU-Ländern sicherlich lautstark zu vernehmen sein wird. Einige Volkswirt-schaften der Eurozone werden aufgrund soliden Wachstums und verhältnismäßig niedriger Arbeitslosigkeit einen Ausstieg aus der extremen geldpolitischen Stimulierung fordern, sobald sich infla-tionäre Entwicklungen andeuten, andere hingegen werden noch eine ganze Zeit unter freien Kapazitäten, einem Schuldenabbau und hoher Unterbeschäftigung leiden und daher möglicherweise gegen eine solche Kehrtwende stimmen. Die EZB kann sich in dieser Situation nur an ihre Strategie halten, ihre geldpolitischen Entscheidungen an der durchschnittlichen Situation in der Euro-zone zu binden und nicht auf nationale Einwände gegen ihre Poli-tik zu reagieren. Wird sie das tun? Meine Antwort lautet: Ja! Die EZB hat kein Interesse daran, ihre Glaubwürdigkeit zu riskieren, indem sie bei politischem Druck einlenkt. Sollten sich inflationä-re Erwartungen bilden, wird die EZB reagieren. Schwieriger wird es allerdings für sie werden, Übertreibungen an den Vermögens-märkten und den Kreditmärkten zu verhindern. Generell haben die Zentralbanken in dieser Frage keine besonders beeindrucken-de Bilanz vorzuweisen. Und derzeit ist erneut zu beobachten, dass der Versuch der Zentralbanken, mit sehr niedrigen Zinsen und einer unbegrenzten Verfügbarkeit von Liquidität wirtschaftliches Wachstum zu stimulieren und ein zu starkes Absinken der Gü-terpreisinflation zu verhindern, zu einem Boom an manchen Fi-nanzmarktsegmenten führt. Auf der Jagd nach Rendite, die bei Staatsanleihen und Bankeinlagen nicht zu bekommen ist, richtet sich die Nachfrage der Investoren wiederum auf risikobehaftete Marktsegmente. Die EZB wie auch andere Zentralbanken werden

8.1 Preisniveaustabilität und verlässliche …

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148 8 Krisenmanagement muss Reformanreize setzen

versuchen, sich „gegen den Wind zu lehnen“, wenn sie zu der Ein-schätzung kommen, dass die Kurs- und Preissteigerungen an den Finanzmärkten exzessiv sind. Aber die Probleme bestehen gera-de darin, zwischen „exzessiven“ Preissteigerungen und solchen, die durch reine Nachfrage- oder Angebotsveränderungen bedingt sind, zu unterscheiden. Diese Unsicherheit der Diagnose wird Zentralbanken in der Regel sehr zurückhaltend im Ergreifen von Gegenmaßnahmen sein lassen. Es bleibt jedoch zu hoffen, dass sie die Finanzmarktübertreibungen nicht so weit sich entwickeln lassen, wie das in den Boomjahren bis 2008 zu beobachten war.

Eine wesentliche Rahmenbedingung für langfristige Investi-tionen und gleichzeitig eine Quelle größerer Unsicherheit sind die Regulierungen rund um Basel III für Banken und Solvency II für Versicherungsunternehmen. Angesichts des großen volks-wirtschaftlichen Investitionsbedarfs in nahezu allen Euroländern muss die Regulierung darauf ausgerichtet sein, langfristige Inves-titionen nicht durch übermäßig hohe Kapitalanforderungen oder Bewertungsnachteile zu diskriminieren. Ganz im Gegenteil, Lang-fristinvestitionen müssen stimuliert werden, da sie den Finanz-märkten Stabilität verleihen und für den notwendigen Aufbau von Infrastruktur und Produktionskapazität gebraucht werden. Hohe Kapitalanforderungen für langfristige Aktiva (in Solvency II müssen Immobilienvermögen durch 25 % und Infrastruktur-investitionen wie „Hedgefonds“-Anteile durch 40 % Kapital hin-terlegt werden) in Verbindung mit dem Grundsatz der jederzeit marktorientierten Bewertung können Langfristinvestitionen für die Finanzunternehmen unattraktiv machen. In den vielen Jah-ren der Feinjustierung der neuen Regulierungswerke wurden Me-chanismen eingebaut, um solche Negativanreize zu vermeiden. Es bleibt abzuwarten, ob sie effektiv genug sind. In jedem Fall ist es erforderlich, Unternehmen, die eine sehr langfristige Struk-tur von Verbindlichkeiten aufweisen, wie z. B. Lebensversicherer oder Pensionsfonds, auch ohne Nachteile entsprechend langfristi-ge Vermögensanlagen zu ermöglichen.

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1498.2 Die Vergemeinschaftung von Schulden …

8.2 Die Vergemeinschaftung von Schulden in der Eurozone

Zukunftsentwürfe für die europäische Gemeinschaft sollten der Tatsache Rechnung tragen, dass in den Jahren der Krise bereits eine erhebliche Vergemeinschaftung von Schulden bzw. Risiken stattgefunden hat. Durch die Unterstützungskredite an Länder, deren Zugang zum Kapitalmarkt unterbrochen war, und durch die Anleihekäufe der EZB sind in erheblichem Umfang (vgl. Abb. 8.2) gemeinsame Schulden der Mitgliedsländer entstanden. Die Zah-len in der Abbildung enthalten nicht allein vergebene Kredite und Anleihekäufe, sondern auch die Garantien und Kapitalzusagen für einen möglichen späteren Mittelbedarf. Sie umfassen auch die sogenannten TARGET2-Salden im Rahmen des europäischen Systems der Zentralbanken, die unten erläutert werden. Die Sum-me dieser Kosten beziffert das maximale Verlustpotenzial für die Gläubigerländer in diesem System.

Die Zahlen, die in Relation zu den Haushaltsvolumen der ein-zelnen Länder eine beachtliche Größe erreichen, wurden häufig als ein Beleg für die Unangemessenheit und inakzeptable Risiken der Eurorettung angeführt. Durch die großen Unterstützungs-kredite an Partnerländer wuchs verständlicherweise in den Gläu-bigerländern wie z. B. Deutschland, Finnland, Niederlande und Österreich die Sorge, dass derart hohe Verpflichtungen auch sta-bile Länder übermäßig belasten und destabilisieren könnten. Auf der anderen Seite war es auch in den Jahren der Krise klar, dass solche Zahlen zum Maximalverlust auf äußerst restriktiven und extremen Annahmen beruhen. Zunächst darauf, dass die Schuld-nerländer ihre Verpflichtungen im Falle einer Zahlungsschwie-rigkeit vollständig stoppen und jedweden Schuldendienst sofort einstellen. Diese Annahme war auch in 2012 nicht realistisch. Alle Programmländer (Griechenland, Zypern, Irland und Portugal) haben die öffentlichen Schulden bislang bedient, die sie zu güns-

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150 8 Krisenmanagement muss Reformanreize setzen

tigen Konditionen bekommen haben. Eine Streichung von 100 % dieser Verpflichtungen wäre selbst in kritischen wirtschaftlichen Szenarien nicht akzeptabel. All diese Länder verfügen über erheb-liche Vermögensbestände, die es ihnen erlauben würden, auch in einer Krise einen beträchtlichen Teil der Verpflichtungen an an-dere Regierungen zurückzuzahlen. Historisch gesehen liegen die

Abb. 8.2 Vergemeinschaftung von Schulden im Euroraum: Haftungs-risiken in Mrd. EUR. GLF Greek Loan Facility (erstes Rettungspaket), EFSF European Financial Stability Facility, EFSM European Financial Stabilisation Mechanism, SMP Securities Market Programme. Target2 = Summe der Target-Verbindlichkeiten der nationalen Zentralbanken gegenüber dem Eurosystem (Stand: November 2013), deutscher Anteil entsprechend EZB-Kapitalanteil. *) umfasst die Hilfsprogramme für Irland, Portugal und Griechenland mit einer Überkapitalisierung von 165 %, deutscher Anteil entsprechend dem angepassten EZB-Schlüssel nach eingezahltem Kapital. **) inklusive der Hilfsprogramme für Spa-nien und Zypern im Umfang von 50,4 Mrd. EUR. ***) Wert des im Rah-men des SMP-Programms gehaltenen Portfolios, siehe Konsolidierter Ausweis des Eurosystems zum 21. Februar 2014. (Quellen: Allianz Eco-nomic Research, Deutsche Bundesbank, EZB, EFSF, EU-Kommission, Ifo-Institut)

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Rückzahlungsquoten bei Staatsinsolvenzen bei etwa 50 %. Ferner sind die Ungleichgewichte im Zahlungsverkehrssystem der euro-päischen Zentralbanken von einer anderen Qualität als direkte Kredite, die beispielsweise vom ESFS an Länder vergeben werden. TARGET2-Salden sind dadurch entstanden, dass der Geldmarkt zwischen Banken, insbesondere im grenzüberschreitenden Ge-schäft, in den Jahren der Krise zusammenbrach. Banken in den Peripherieländern, die Überweisungen in andere Euroländer für ihre Kunden tätigten, finanzierten dies nicht auf dem üblichen Wege über Interbankenkredite, sondern durch Kredite ihrer je-weiligen Zentralbanken. Mit der Reaktivierung der Geldmärkte und der Interbankenkredite gehen auch die Salden im Zahlungs-verkehrssystem der EZB zurück. Die Transaktionen, die hinter den TARGET2-Salden stehen, sind kurzfristiger Natur und über-wiegend im sogenannten Reprogeschäft entstanden. Bei einer Normalisierung der Lage werden solche Geschäfte auslaufen und nicht erneuert werden. Seit Mitte 2012 ist dieser Prozess, wenn auch langsam, in Gang gekommen. Immer noch ist das Niveau der TARGET2-Salden allerdings sehr hoch und weist darauf hin, dass eher kapitalschwache Marktteilnehmer nach wie vor auf die Kredite der EZB angewiesen sind. Direkte Transferzahlungen von einem Land zum anderen können aus den TARGET2-Sal-den nur dann entstehen, wenn ein Land die Eurozone verlässt. In einer solchen Situation müssten die Soll-Positionen des Landes im Zahlungsverkehrssystem beglichen oder in irgendeiner Weise restrukturiert werden. Die Regulierungen und Verfahren, die in einer solchen Situation greifen würden, sind bislang nicht geklärt. Aber ein 100 %iger Verlust auf TARGET2-Salden dürfte selbst im Falle des Austritts eines Landes aus der Eurozone unwahrschein-lich sein. Immerhin handelt es sich ja bei den Kreditlinien, die Geschäftsbanken bei der Zentralbank in Anspruch nehmen, um Ausleihungen, die durch Wertpapiere besichert sind.

8.2 Die Vergemeinschaftung von Schulden …

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152 8 Krisenmanagement muss Reformanreize setzen

Target2Zu den wichtigsten Aufgaben des Eurosystems gehört die Bereitstellung eines reibungslosen und sicheren Zahlungs-systems. TARGET2 steht für die zweite Generation des Trans-European Automated Real-time Gross Settlement Ex-press Transfer System. Über TARGET2 werden Zentralbank-geschäfte, Euro-Überweisungen im Interbankenverkehr und andere Euro-Zahlungen verrechnet. TARGET2 ist eines der größten Zahlungssysteme weltweit und bei mehr als 4.400 Geschäftsbanken sowie 23 nationalen Zentralbanken im Einsatz. Da es sowohl die Integration des Euro-Geldmarkts als auch der Finanzmärkte fördert, spielt es eine besondere Rolle für die wirksame Umsetzung der gemeinschaftlichen Geldpolitik (Europäische Zentralbank 2011, 2012).

Aufgrund der beträchtlichen Ungleichgewichte wurde das TARGET2-System in jüngster Zeit häufig kritisiert (vor allem von Hans Werner Sinn, siehe Sinn 2012a oder b). Diese Ungleichgewichte entstehen, wenn Zentralbankgelder von einem Land in ein anderes überwiesen werden. Fließen die Gelder von Land A nach Land B, entstehen bei der natio-nalen Zentralbank in Land A Nettoforderungen gegen die nationale Zentralbank von Land B. In den letzten Jahren hat die Deutsche Bundesbank beispielsweise gegenüber anderen Zentralbanken der Eurozone Nettoforderungen von zeit-weise bis zu 750 Mrd. € akkumuliert (August 2012). Ande-rerseits nahmen die Verbindlichkeiten der Peripherieländer der Eurozone stark zu. Zu den wichtigsten Schuldnerlän-dern gehörten im Sommer 2012 Spanien (430 Mrd. €), Ita-

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lien (290 Mrd. €), Griechenland (rund 110 Mrd. €), Irland (90 Mrd. €) und Portugal (70 Mrd. €) (Abb. 8.3).

Die erheblichen Forderungen gegen die Peripherieländer der Eurozone stellen für die Gläubigerländer ein finanzielles Risiko dar. Sie spiegeln das noch immer bestehende Miss-trauen und den entsprechenden Rückgang der grenzüber-greifenden Kreditvergabe unter den Banken wider: Länder mit externen Handelsdefiziten oder Kapitalabflüssen finan-zieren ihren Geldverkehr nicht mehr wie in normalen Zei-ten durch Kreditbeziehungen der Banken, sondern durch das Zentralbanksystem. So reduzierte sich das Volumen grenzüberschreitender Positionen von EWU-Finanzinstitu-ten im Euroraum seit ihrem Höhepunkt 2009 um mehr als 800 Mrd. € – eine Größenordnung, die mit den entstandenen TARGET2-Salden durchaus vergleichbar ist. Unterm Strich ist klar, dass die TARGET2-Salden ein „Stressindikator“ für das Misstrauen und die Funktionsstörungen an den Ban-kenmärkten sind. Um das System zu stabilisieren, stellt die EZB den Geschäftsbanken bei verfügbaren Sicherheiten in unbegrenztem Umfang Liquidität zur Verfügung. Durch die beginnende Normalisierung des Euro-Geldmarkts dürften sich diese Ungleichgewichte weiter verringern. (Mit einem Wert von 500 Mrd. € lag die Nettoposition der Bundesbank aus TARGET2 Anfang des Jahres 2014 bereits deutlich unter ihrem Höchststand.) Dennoch: Im Fall der Währungsauflö-sung oder des Ausscheidens eines Schuldnerlandes aus der Währungsunion würden die großen Ungleichgewichte zu Verlusten führen. Sie bilden somit einen Anreiz, das Ausein-anderbrechen der Eurozone zu verhindern.

8.2 Die Vergemeinschaftung von Schulden …

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154 8 Krisenmanagement muss Reformanreize setzen

In der Debatte um die Rettung des Euro, die in 2012 ihren Hö-hepunkt erreichte, aber auch heute noch das Bundesverfassungs-gericht und den Europäischen Gerichtshof (EuGh) beschäftigt, wurden extreme Verlustszenarien häufig als politische Aussage in den Raum gestellt. Natürlich ist es richtig, auch extreme Szenarien durchzurechnen, bei denen alle Kredite zu 100 % verloren gehen und die Salden im TARGET2-System der EZB durch eine Auflö-sung der Eurozone ebenfalls null und nichtig werden. Völlig un-realistische Verlustszenarien sind aber keine geeignete Grundlage für sinnvolle politische Entscheidungen, bei denen neben den Ri-siken auch die potenziellen Kosten und Nutzen aller möglichen Szenarien berücksichtigt werden müssen.

Heute, nur etwa zwei Jahre nach dem Höhepunkt der Krise, lässt sich feststellen, dass die Strategie der „Eurorettung“ keines-falls gescheitert ist, sondern erste Früchte trägt. Die Länder, die Unterstützung erhalten haben, sind im Gegenzug zu Reformen verpflichtet worden. Sie sind ihren finanziellen Verpflichtungen an die Geberländer in vollem Umfang nachgekommen. Für die Geberländer selbst war diese Entwicklung weitaus kostengünsti-

Abb. 8.3 Starker Anstieg der TARGET2-Forderungen der Bundesbank im Zuge der Finanzkrise. (Datenquelle: Deutsche Bundesbank)

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1558.3 Die Lernkurve des Krisenmanagements

ger, als es eine Eskalation der Schuldenkrise mit einem notwendi-gen Schuldenschnitt auf die Staatsanleihen einzelner Partnerlän-der im Eurosystem gewesen wäre. Insofern lässt sich der Nutzen und der Sinn der Rettungspolitik nicht an Maximalrechnungen für den Verlust der Gläubigerländer bemessen.

Eine Schlussfolgerung aus den dargestellten Berechnungen liegt jedoch darin, dass bereits eine erhebliche Vergemeinschaf-tung von Schulden bzw. Risiken im Rahmen der europäischen Währungsunion eingetreten ist. Wirtschafts- oder fiskalpolitische Entscheidungen in den Schuldnerländern können daher nach-haltige Wirkungen auf die Steuerzahler in anderen Ländern ha-ben. Es ist daher wichtig, die Kooperation der einzelnen Länder zu verbessern und auch die Kontrolle von der EU-Ebene her zu verstärken, wie in Kapitel 7 bereits diskutiert. Ohne eine bessere Zusammenarbeit und mehr gegenseitige Kontrolle wird eine Ver-gemeinschaftung von Schulden durch die Steuerzahler der Gläu-bigerländer auf Dauer nicht akzeptiert werden.

8.3 Die Lernkurve des Krisenmanagements

Das Krisenmanagement der EU-Institutionen ist in den vergan-genen Jahren, nicht ganz zu Unrecht, vielfach kritisiert worden. Die Schuldenkrise im Euroraum hatte politische Entscheidungs-träger und Marktteilnehmer weitgehend unvorbereitet getroffen. Obwohl zu erkennen war, dass sich die Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 allmählich auch zu einer Staatsschuldenkrise ausweite-te, war die Geschwindigkeit und die Intensität dieses Prozesses doch unerwartet, zumal es an historischen Beispielen für eine sol-che Entwicklung fehlte. Infolgedessen erschienen die politischen Reaktionen auf die Probleme teilweise wie „Salamitaktik“: Die erste Rettungsaktion für Griechenland wurde nur sehr zögerlich entschieden und führte zu einem beinahe einjährigen Diskus-

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156 8 Krisenmanagement muss Reformanreize setzen

sionsprozess darüber, wie private Investoren bei den Verlusten zu beteiligen wären, wodurch erheblicher Schaden auch für andere Länder entstand. Generell war die Notwendigkeit, Rettungsfonds aufzusetzen (Firewalls), um Ansteckungseffekte von einem Land auf das andere auszuschließen, zu Anfang hoch umstritten. Ver-unsicherung erzeugte es schließlich auch, dass die Verantwort-lichkeit zur Beilegung der Krise immer wieder zwischen den Re-gierungen und der EZB hin- und hergeschoben wurde. Für die Finanzmärkte war das alles wenig vertrauenerweckend.

Im Nachhinein ist man allerdings immer klüger. Mangels Er-fahrung im Hinblick auf die Qualität und die Dimension dieser Schuldenkrise war ein Prozess des Versuchs und Irrtums wahr-scheinlich unvermeidbar. Es gab eben keine einheitliche Meinung über den besten Weg zur Beilegung der Krise. Frankreich rief nach großen Rettungsfonds, die Deutschen blieben skeptisch. Austeri-tät überzeugte die einen – Wachstumsprogramme die anderen. Viele schwächere Länder befürworteten Eurobonds, andere rie-fen zur verstärkten politischen Integration auf. Neben dieser Un-sicherheit hinsichtlich der richtigen Lösungen gab es ein weiteres, nicht gerade kleines Problem. Die großen Rettungsfonds, die die Finanzmärkte erwarteten, standen im klaren Konflikt zum Maas-trichter Vertrag, der die Übernahme der Schulden eines Landes im Rahmen der Währungsunion untersagt. Natürlich wurde die-ser Bruch zumindest mit dem Geist des Vertrags politisch äußerst kontrovers diskutiert. Erst als die Krise eskalierte, wurden die Ret-tungsfonds in 2010 und 2011 zögernd akzeptiert.

Gewiss hätten die Finanzmärkte gerne eine schnelle und kohä-rente Reaktion der Wirtschaftspolitik mit einer klaren Zuordnung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten auf die einzelnen Politik-bereiche gesehen. Stattdessen entstand der Eindruck, dass die Ver-antwortung zwischen der EZB und nationalen Politikbereichen nicht eindeutig geklärt war und weder auf der einen noch auf der anderen Seite eine entschiedene Handlungsbereitschaft vorlag.

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1578.3 Die Lernkurve des Krisenmanagements

Aus volkswirtschaftlicher Sicht hätte man sich etwa folgende Rol-lenverteilung wünschen können: Nationale Regierungen wären dafür verantwortlich gewesen, schnell und entschlossen die wich-tigsten Maßnahmen und Reformen zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit, des Wachstums und der fiskalischen Sta-bilität durchzuführen. Regierungen und ihre Regulatoren wären auch dafür verantwortlich gewesen, die Angemessenheit des Ka-pitals der jeweiligen Bankensysteme sicherzustellen. Die EZB hät-te die Aufgabe zu übernehmen, Liquiditätsengpässe bei solventen Banken auszuschließen und ein Herdenverhalten der Einleger zu verhindern. Ihre Aufgabe ist es aber nicht, Regierungen, die nur einen begrenzten Zugang zum Kapitalmarkt haben, durchzufi-nanzieren. Das hätte, wenn überhaupt, nur durch die Rettungs-fonds der Währungsgemeinschaft geschehen sollen.

Diese Art von Rollenverteilung wurde in der Praxis nicht um-gesetzt. Die EZB hat durch ihr OMT-Programm (Outright Mone-tary Transactions) eine ganz wesentliche Rolle bei der Stabilisie-rung der Staatsanleihemärkte in der Eurozone übernommen. Da-rüber hinaus hat sie ihrer Funktion als „Kreditgeberin der letzten Instanz“ für Banken aus der Eurozone über die unlimitierte Zutei-lung von Liquidität entsprochen. In der Zwischenzeit hat die EZB auch die Verantwortung für die Bankenaufsicht ab Beginn des Jahres 2015 zugetragen bekommen. Die Absicht der Regierungen, mit dem ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus), dem Nach-folger des EFSF, einen Fonds für die geordnete Abwicklung staat-licher Insolvenzen zu schaffen, hat sich in der Krise nicht in Rein-form umsetzen lassen. Die grundlegende Idee war es, Ländern die in temporären Liquiditätsschwierigkeiten sind, Unterstützung anzubieten, aber bei insolventen Ländern geordnete Restruktu-rierungen vorzunehmen. In den Jahren der Krise wurde der ESM aber im Wesentlichen als ein Rettungsfonds wie sein Vorgänger, der EFSF, angesehen. Tatsächlich sollte sich der ESM aber auf sei-ne ursprüngliche Gründungsidee zurückbesinnen. Rettungsak-

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158 8 Krisenmanagement muss Reformanreize setzen

tionen dürfen nicht zum Dauerphänomen werden. Es ist wichtig, dass Ländern, die dauerhaft über ihre Verhältnisse leben und sich überschulden, mit dem Risiko einer Insolvenz rechnen müssen. Nur so bleiben Anreize für eine nachhaltige und verantwortliche Fiskalpolitik in Kraft. Auch Investoren müssen sich jederzeit des Risikos einer Staatsinsolvenz bewusst sein und dies auch in gu-ten Zeiten bei der Preisfindung für Staatsanleihen berücksichti-gen. Vorherbestimmte Rettungsaktionen im Rahmen einer Wäh-rungsunion laufen dem zuwider.

8.4 Geeignete Wege des Krisenmanagements und neue Finanzierungsinstrumente

Für eine Situation, in der sich Regierungen oder Investoren dar-auf verlassen, dass sie im Falle einer Zahlungskrise durch die So-lidarität aller Euroländer herausgepaukt werden, hat sich die Be-zeichnung „moralisches Risiko“ (Moral Hazard) eingebürgert. Ob ein solches moralisches Risiko zu befürchten ist, hängt wesentlich davon ab, wie die Instrumente des Krisenmanagements ausge-staltet sind, ob sie Reformanreize enthalten oder zu nachlässigem Verhalten verleiten. Auch in dieser Hinsicht sollten Lehren aus der Krise gezogen werden.

Abbildung  8.4 vergleicht die verschiedenen Instrumente des Krisenmanagements auf der Basis unterschiedlicher Kriterien. Die Tabelle enthält Instrumente, die in der Praxis angewen-det wurden, berücksichtigt aber auch verschiedene Vorschläge, die in den Krisenjahren diskutiert wurden. Nach den genann-ten Kriterien am wenigsten zu empfehlen sind unkonditionierte und limitierte Anleihekäufe durch die EZB oder durch die staat-lichen Rettungsfonds. Sie führen zu einer partiellen Vergemein-schaftung von Schulden, sind – wie man am SMT-Programm der EZB gesehen hat – aber nur begrenzt wirksam und können, da

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1598.4 Geeignete Wege des Krisenmanagements …

Abb

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160 8 Krisenmanagement muss Reformanreize setzen

sie ohne Bedingungen kommen, die Reformbereitschaft der ver-schuldeten Länder untergraben. Die Zentralbank wird durch den unbedingten Anleihekauf zu einer Art Fiskalagent, was ihre Re-putation und ihre Unabhängigkeit schmälern kann. Das OMT-Programm vermeidet diese Probleme zumindest teilweise, denn die potenziellen Anleihekäufe im Rahmen des OMT-Programms beruhen auf einer starken Konditionalität – Länder, die von die-ser Unterstützung Gebrauch machen wollen, müssen einen durch Reformen gedeckten Antrag beim ESM einreichen. Es ist darüber hinaus weitaus wirkungsvoller als das frühere SMT-Programm der Zentralbank, da diese sich nicht auf bestimmte Volumina an Staatsanleihekäufen verpflichtet. Beim OMT-Programm bleibt al-lerdings die rechtliche Frage, inwieweit die EZB hier ihr Mandat überschreitet. Man muss es zumindest weit interpretieren, etwa als Pflicht, einen reibungslosen Zahlungsverkehr und die Stabi-lität des Euro-Finanzsystems zu sichern. Diese rechtliche Frage soll hier jedoch nicht diskutiert werden, es stehen ökonomische Wirkungen im Vordergrund.

Unter dem Gesichtspunkt der demokratischen Kontrolle wären Anleihekäufe seitens der staatlichen Rettungsfonds (des EFSF und des ESM) einer Intervention der Zentralbank an den Sekundär-märkten wohl vorzuziehen. Die Möglichkeit der Rettungsfonds, solche Transaktionen vorzunehmen, wurde beim EU-Gipfel vom 28.07.2012 entsprechend erleichtert. Hierbei tritt allerdings das Problem auf, dass die Größe dieser Rettungsfonds keinesfalls aus-reicht, um einen nennenswerten Teil der Altschulden größerer Länder wie Italien oder Spanien aufzunehmen. Die Staatsschul-den in Italien und Spanien betragen zusammengenommen un-gefähr 2,7  Billionen  €, ein Vielfaches der Kapazität eines ESM. Versuche, die Mittel dieser Fonds einzusetzen, um Zinssteigerun-gen für die Altschulden größerer Länder zu begrenzen, würden schnell wirkungslos verpuffen. Forderungen nach Aufstockung der Fonds wären die unvermeidbare Folge. Das wiederum wür-

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1618.4 Geeignete Wege des Krisenmanagements …

de enorme Spannungen in das Eurosystem hineintragen, weil die kreditgebenden Länder wohl kaum bereit wären, weitere Mittel zur Verfügung zu stellen.

Vor dem Hintergrund dieser Probleme gab es viele Stimmen, die eine explizite Vergemeinschaftung von Staatsschulden durch sogenannte Eurobonds gefordert haben. Eurobonds sind gemein-schaftliche Staatsanleihen, bei denen die Euro-Mitgliedsländer eine gesamtschuldnerische Haftung übernehmen. Zahlreiche Vorschläge zur Ausgestaltung solcher Eurobonds wurden ge-macht, insbesondere um Reform- und Konsolidierungsanreize in den einzelnen Ländern mit einem solchen Instrument nicht völlig zu untergraben. Der deutsche Sachverständigenrat zur Begutach-tung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Sachverständigen-rat 2011) hat einen Schuldentilgungsfonds vorgeschlagen, bei dem die über 60 % des BIP liegenden Schulden eines Landes durch die gemeinsamen Anleihen (Eurobonds) finanziert werden. Dabei müssen sich die Länder verpflichten, die Schulden über einen Zeitraum von 25 Jahren zurückzuzahlen, indem Steuereinnah-men für diesen Schuldendienst zweckgebunden werden. Ebenso müssen sich die Länder verpflichten, ihre durch nationale An-leihen finanzierten Schulden strikt auf maximal 60 % des BIP zu begrenzen – sonst läuft der Vorschlag offenkundig ins Leere. Die Diskussion über dieses Instrument ist im Laufe der Zeit abgeklun-gen, nicht zuletzt weil es fraglich ist, ob die Umsetzung solcher sehr langfristigen Verpflichtungen und institutionellen Regelbin-dungen wirklich erwartet werden kann. In zweieinhalb Jahrzehn-ten kann es weitreichende Umbrüche in der Politik geben, die die Akzeptanz solcher langfristigen Verpflichtungen in Frage stellen.

Ein wesentlich geeigneteres Instrument für das Management einer eskalierenden Staatsschuldenkrise ist eine partielle Anleihe-versicherung, wie sie im Instrumentenkasten des EFSF auch vor-gesehen ist (Nr. 9 in Abb. 8.4). Eine solche partielle Anleihever-sicherung übernimmt einen Teil des Ausfallrisikos einer Staats-

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anleihe für die Investoren, verlangt dafür aber eine Gebühr von dem Land, das sie in Anspruch nimmt. Die Logik des Instruments ist recht einfach. Wenn Investoren im Falle einer Staatsinsolvenz mit einer Rückzahlungsquote von 50 % rechnen und ihnen eine Anleiheversicherung einen weiteren Teil von beispielsweise 30 % absichert, dann bleiben nur 20 % Verlust im Falle einer tatsäch-lichen Staatsinsolvenz. In einer Krisensituation würden die Risi-koprämien für neue, mit Versicherung versehene Staatsanleihen daher verhältnismäßig moderat bleiben. Für die Länder, die diese Teilversicherung nutzen, bleiben positive Reformanreize erhalten. Sie können sich weiterhin über die Märkte finanzieren, anstatt auf Anleihekäufe der EZB oder des EFSF hoffen zu müssen. Je schnel-ler sie das Vertrauen der Märkte wiedererlangen, umso schneller werden sie die Kosten dieser Teilversicherung bei Anleiheplatzie-rungen vermeiden können. Es wäre darüber hinaus relativ einfach möglich, die „Versicherungsgebühr“ an den Reformfortschritt – beispielsweise die Reduzierung des Staatsdefizits oder an Indika-toren – zu koppeln.

Jenseits des kurzfristigen Krisenmanagements bleibt natürlich die Frage, ob in einer Währungsunion über längere Sicht auch gemeinsame Finanzierungsinstrumente erforderlich sind. Die Einführung von Eurobonds, mit denen sich nationale Haushalte refinanzieren können, würde weitreichende Schritte zu einer fis-kalischen und politischen Union voraussetzen. Man kann nicht die Steuerzahler eines Landes für die Neuverschuldung eines Partnerlandes haftbar machen, wenn keine Kontrolle oder Mit-sprache über die Politik möglich ist. Gemeinsame Staatsanleihen setzen einen zumindest partiellen Verzicht auf nationale Souve-ränität voraus, der zurzeit wohl kaum konsensfähig wäre. Aber es mag andere sinnvolle Finanzierungsinstrumente geben, die in allen Mitgliedsländern eingesetzt werden, jedoch nicht mit einer Vergemeinschaftung der Schulden einhergehen.

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1638.4 Geeignete Wege des Krisenmanagements …

Ein solches Instrument wäre die Idee eines „Eurobasketbonds“. Hierbei würde eine gemeinsame Anleihe der Euroländer ausge-geben, aber jedes Land nur für seinen Teil an den Erlösen haf-ten. Der Preis für eine solche Korbanleihe würde sich nach dem durchschnittlichen Risiko der Euroländer bemessen. Die Rendite läge höher als in Deutschland, aber niedriger als beispielsweise in Portugal. Manche Länder würden von einer solchen Anleihe profitieren, andere hätten etwas höhere Zinsen zu zahlen. Daher müssten Ausgleichszahlungen geleistet werden, die beispielswei-se vom Fortschritt beim Schuldenabbau abhängig gemacht wer-den könnten. Ziel solcher Korbanleihen wäre es, einen Markt mit „sicheren Anleihen“ zu schaffen, der den institutionellen In-vestoren und Zentralbanken dieser Welt attraktiv erschiene. Die Konstruktion solcher Korbanleihen ist allerdings recht komplex und die politische Durchsetzbarkeit daher fraglich. Ein ähnlicher Vorschlag der EU-Kommission, als „Eurobond Light“ bezeichnet, fand 2011 nicht die Zustimmung des EU-Rats.

Eine bessere Alternative könnte es sein, gemeinsame Anlei-hen der Euroländer oder auch der EU-Länder zur Finanzierung von dringend benötigten Infrastrukturausgaben aufzulegen. Verschiedene Varianten sind vorstellbar. Die sogenannten Pro-jektbonds, die zur Finanzierung einzelner Infrastrukturprojekte dienen und mit einer Teilgarantie der europäischen Investitions-bank versehen sind, könnten deutlich ausgeweitet werden. Darü-ber hinaus wäre es möglich, durch die Emission von EU-Infras-trukturbonds finanzielle Mittel für den Ausbau der Infrastruktur zu mobilisieren und zugleich neue Investitionsmöglichkeiten für Anleger zu schaffen, die ein hohes Maß an Sicherheit verlangen. Solche EU-Infrastrukturbonds wären, wie heute schon die Anlei-hen der EIB, durch alle EU-Staaten gedeckt. Der Unterschied zu Eurobonds besteht darin, dass die Erlöse dieser Bonds nicht in die allgemeinen Länderhaushalte fließen, sondern ausschließlich

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164 8 Krisenmanagement muss Reformanreize setzen

für Infrastrukturinvestitionen zu verwenden sind. Die Anleihen sollten entweder durch die Erlöse aus den Infrastrukturinvestitio-nen oder allgemeine Steuermittel der Länder besichert werden, um ein höchstmögliches Bonitätsniveau zu erreichen. Solche Ins-trumente würden das Wachstum der EU stimulieren, gleichzeitig aber neue, attraktive Anlagemärkte für Investoren schaffen.

8.5 Warum nicht die Eurozone umbauen?

Nach Jahren der ökonomischen Divergenz zwischen verschiede-nen Euro-Mitgliedsländern hat sich bei vielen Menschen der Ein-druck festgesetzt, dass die Ländergruppe für eine Währungsunion zu unterschiedlich und eine Restrukturierung unter Umständen sinnvoll sei. In den Jahren der Krise wurden allerlei Varianten für einen Umbau der Eurozone diskutiert: ein Nord- und ein Süd-euro, eine Kern- und eine Nicht-Kernwährungsunion, ein Euro von 14 Ländern unter Ausschluss der Programmländer oder ein Austritt Deutschlands und ein Verbleib der anderen Euroländer. Auch wenn solche Vorschläge aus heutiger Sicht wie Glasperlen-spiele aussehen, ist es durchaus legitim, alternative Formen einer Währungsunion zu diskutieren. Allerdings muss man dann auch einen Plan haben, wie man von dem heutigen Zustand in einen er-wünschten neuen Zustand kommt. Glaubwürdige und praktikable Übergangspläne fehlten in der Diskussion komplett. Die Schwie-rigkeiten sind keinesfalls trivial. In einer Situation erhöhter Risi-koscheu – und das ist noch eine Untertreibung für die Stimmung am Höhepunkt der Krise – hätte jeder Hinweis auf einen politisch denkbaren Austritt eines Landes systemische Rückwirkungen. Die Erwartung eines Ausstiegs und damit einer Währungsab-wertung würde die Kapitalmärkte für dieses Land praktisch un-zugänglich machen. Die Risikoprämien, die man Mitte 2012 für

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1658.5 Warum nicht die Eurozone umbauen?

hochverschuldete Länder gesehen hat, wären klein im Vergleich zu jenen, die sich im Falle eines wahrscheinlichen Euro-Austritts eines Landes bilden würden. Die in dem Land ansässigen Ban-ken, die größere Bestände an heimischen Staatsanleihen halten, würden massive Kapitalverluste auf diese Bestände erleiden. Es würde eine Kapitalflucht in die Kernländer der Währungsunion einsetzen. Grenzüberschreitendes Bankgeschäft fände nicht mehr statt. Der Liquiditätsabfluss müsste durch die EZB kompensiert werden – mit all den Risiken, die damit verbunden sind.

Dies sind keine theoretischen Bedenken, sondern reale Proble-me, die man ansatzweise am Beispiel Griechenlands beobachten konnte. Als mit dem Aufkommen einer Anti-Euro-Bewegung ein Ausstieg Griechenlands aus dem Euro zu einer realen politischen Alternative zu werden schien, reagierten die Finanzmärkte umge-hend. Kapital strömte ins Ausland, griechische Geschäftsbanken konnten sich nicht über die normalen Märkte finanzieren, son-dern sie wurden abhängig von ihrer Zentralbank, die eine erheb-liche Schuldenposition im Zahlungsverkehrssystem gegenüber dem System europäischer Zentralbanken anhäufte. Die Abwer-tungsbefürchtungen führten zu massiven Wertverlusten griechi-scher Anleihen. Das wiederum erodierte die Kapitalbasis griechi-scher Banken.

Keineswegs trivial ist auch die Frage, wie denn ein Übergangs-plan zu einer neuen Währungsunion aussehen könnte, der sol-che Risiken vermeidet. In einer Krisensituation dürfte es nahezu unmöglich sein, einen einigermaßen geordneten Übergang her-zustellen. Denn Umbaupläne für eine Währungsunion können nicht ohne eine öffentliche Diskussion entwickelt werden. Der Übergang in ein neues Währungssystem ist für ein Land eine zu-tiefst politische Angelegenheit, die nicht in Hinterzimmern der Regierungen oder Notenbanken ausgearbeitet werden kann. In einer Krisensituation ist jede öffentliche Debatte über den bevor-

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stehenden Ausstieg eines oder mehrerer Länder aus der Wäh-rungsunion ein Alarmzeichen, das erhebliche Wirkungen auf die Kapitalmärkte und die wirtschaftliche Situation eines Landes ha-ben kann. Um dies weiter zu verdeutlichen, sollen einige Punkte angeführt werden, die beim Währungsübergang eines Landes zu klären und festzulegen wären:

• Was ist der Anfangswechselkurs der neuenWährung gegen-über dem Euro?

Sollte dieser Umrechnungskurs auf alle Vermögensbestände und Verpflichtungen – z. B. Bankeinlagen und Bankkredite an Ausländer – angewendet werden? Das wäre wohl notwendig. Es brächte Vermögensverluste für Inländer und einen Schulden-schnitt für internationale Gläubiger auch im privatwirtschaftli-chen Bereich mit sich. Sollte die neue Währung einen flexiblen Wechselkurs haben oder durch Interventionsmechanismen an den Euro gekoppelt werden?

• UmchaotischeEntwicklungenandenKapitalmärktenzuver-hindern – etwa panikartige Notverkäufe von Staatsanleihen der Länder, die aus der Währungsunion austreten könnten – müss-ten strikte Kapitalverkehrskontrollen, zumindest für eine Über-gangszeit, eingeführt werden. Auch für Privatanleger müsste es wirksame Beschränkungen geben, Depositen in andere Län-der zu verlegen oder Staatsanleihen zu verkaufen. Physische Grenzkontrollen wären erforderlich, um Bargeldbewegungen zu kontrollieren.

• SchondieseMaßnahmenerscheinensehrinvasivundrestrik-tiv, aber es ist nicht einmal sicher, dass sie ausreichen würden, um größere Instabilitäten der Finanzmärkte in den betreffen-den Ländern zu verhindern. Denn die Banken dieser Länder würden von den Interbankenmärkten abgeschnitten und müss-ten erhebliche Verluste auf ihre Bestände an Staatsanleihen

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1678.5 Warum nicht die Eurozone umbauen?

hinnehmen. Die nationalen Regierungen wären kaum in einer Position, nationale Banken zu rekapitalisieren, da sie selbst pro-hibitive Zinsen für ihre Staatsanleihen zu bezahlen hätten. Die Konsequenz dieser Entwicklung wäre, dass die Gemeinschaft der Euroländer zur Stabilisierung der Situation einspringen müsste.

All diese Themen lassen sich nicht durch die Einführung einer Parallelwährung umgehen, die in der Diskussion oft vorgeschla-gen wird. Eine Parallelwährung als technisches Konzept kann nur Sinn machen, wenn

• die Löhne im öffentlichen und privaten Sektor in der neuenParallelwährung bezahlt werden und die Einkommensverluste akzeptiert werden;

• alle inländischenVermögenundSchulden indieseneuePar-allelwährung umgerechnet werden und insofern die Nettover-mögensposition der privaten Haushalte sinkt und die Schulden dieses Landes gegenüber Auslandsgläubigern in die neue „wei-che“ Parallelwährung umgerechnet werden, Auslandsgläubiger also einen teilweisen Forderungsverzicht akzeptieren.

Diese Überlegungen implizieren, dass es zurzeit keinen prakti-kablen Plan für einen einigermaßen geordneten Umbau der Wäh-rungsunion gibt. Sicherlich wäre es besser gewesen, zu Beginn der Währungsunion mit einer kleineren und homogeneren Gruppe von Ländern in der Währungsgemeinschaft zu beginnen, aber dies sind Entscheidungen der Vergangenheit. Zurzeit hätte jeder Hinweis auf eine Fragmentierung der Eurozone massive Konse-quenzen. Man mag argumentieren, dass die Übergangsprobleme transitorisch sind und sich im Laufe der Zeit auch die austretenden Länder mit Hilfe einer schwächeren Währung erholen werden.

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168 8 Krisenmanagement muss Reformanreize setzen

Diese Position beruht allerdings auf der empirisch fragwürdigen Überzeugung, dass eine Währungsabwertung große gesamtwirt-schaftliche Vorteile und längerfristig positive Wirkungen hat. Aber selbst wenn man diesen Gedanken akzeptiert und von einer wirtschaftlichen Erholung austretender Länder ausgeht, wird der politische Schaden bleibend sein. Denn mit einer Auflösung oder einem Umbau der Währungsunion würden Schuldzuweisungen zwischen den Ländern auf der Tagesordnung stehen. Die Wirt-schaftspolitik würde den Weg der Renationalisierung gehen. Das liegt in niemandes Interesse.

Literatur

European Central Bank (2011) The European Central Bank, the Euro-system, the European System of Central Banks

European Central Bank (2012) Monthly bulletin December 2012Rogoff K, Reinhart C (2011) This time is different: eight centuries of

financial folly. Princeton University Press, PrincetonSachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Ent-

wicklung (2011) Verantwortung für Europa wahrnehmen. Jahresgut-achten 2011/2012

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Ent-wicklung (2012) Stabile Architektur für Europa – Handlungsbedarf im Inland. Jahresgutachten 2012/2013

Sinn H-W (2012a) Die Europäische Fiskalunion. CESifo Working Papers No. 131

Sinn H-W (2012b) Die Target Falle: Gefahren für unser Geld und unse-re Kinder. Carl Hanser, München

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Schlusswort

M. Heise, Europa nach der Krise, DOI 10.1007/978-3-642-54620-4_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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7 Dieses Buch betrachtet die ökonomischen Mechanis-men der Integration und der Währungsunion in Europa und ihre Implikationen für die Wirtschaftspolitik. Die Nachlässigkeit und Sorglosigkeit der Wirtschaftspolitik in den ersten Jahren des Euro-Zeitalters haben letztlich in die Schuldenkrise geführt. Aber inzwischen wurden auch beeindruckende Fortschritte bei der Reduzierung der öffentlichen Defizite und der Beseitigung makro-ökonomischer Ungleichgewichte erzielt. Weder die Vereinigten Staaten noch Großbritannien konnten ähn-liche Entwicklungen beim öffentlichen Defizit oder in ihren Leistungsbilanzen gegenüber dem Ausland ver-zeichnen. Die Schuldenkrise in Europa hat zu gravieren-den Veränderungen der Finanzpolitik, der Lohnkosten sowie der Sozialversicherungssysteme und der Arbeits-marktordnung geführt. Dies wird die Union in den kom-menden Jahren stärken.

Eine wesentliche Lehre aus der Krise ist, dass die institutionellen Vorkehrungen für eine stabilitätsorientierte Fiskal- und Makro-politik verbessert werden müssen und dass das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit europäischer Institutionen erneuert werden muss. Eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen wird in den Kapiteln

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170 9 Schlusswort

dieses Buches angesprochen – es gilt, die grundlegenden Erfolgs-bedingungen für eine Währungsunion herzustellen und die Wirt-schaftspolitik in Zukunft stärker auf die Erfordernisse einer Wäh-rungsunion einzustellen. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Handlungsfelder bietet Synopsis 9.1 (Abb. 9.1).

Natürlich sind ökonomische und politische Aspekte der Wäh-rungsunion eng miteinander verbunden. Festzustellen ist, dass die Bedeutung Europas als eine ökonomische und politische Kraft in den vergangenen Jahren deutlich abgenommen hat. Die-ser Prozess wird sich in einer Welt mit emporkommenden neuen Kräften fortsetzen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Herausforderungen der Demografie und der Mobilität global dra-matisch zunehmen. Die asiatische Bevölkerung dürfte um weitere 1,7 Mrd. Menschen bis zur Mitte des Jahrhunderts zunehmen und Afrika, ein Kontinent fünfmal so groß wie Europa, wird eine Be-völkerung von 2 Mrd. aufweisen – die Hälfte davon wird unter 20 Jahre alt sein. Europa wird dagegen bis 2050 einen Rückgang seiner Bevölkerung um 20 Mio. Menschen erleben (in einer Rede stellt Michel Barnier dies als Hauptherausforderung für Europa dar) (Barnier 2011). Kein einzelnes Land in Europa wird für sich genommen in einer Position sein, wesentlichen Einfluss auf die Fundamente und die Werte unserer zukünftigen Weltordnung zu nehmen. Selbst Deutschland, mit der größten Bevölkerung unter den europäischen Ländern, macht nur etwas mehr als 1 % der Weltbevölkerung aus und mit einer alternden und schrumpfen-den Bevölkerung wird dieser schon kleine Anteil weiter sinken. Wie erfolgreich wird Deutschland sein, wenn es seine Ansichten, z. B. über umweltpolitische Fragen, soziale Werte oder marktwirt-schaftliche Prinzipien, in der internationalen Arena vorbringt, wenn es nicht den Schulterschluss mit seinen europäischen Part-nern sucht? Dieses Argument ist umso wichtiger für die kleineren Länder der europäischen Union.

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1719 Schlusswort

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Auch aus diesem Grund müssen die europäische Integration und die europäische Einheit um eine weitere Stufe angehoben werden. Ein gewisser Verzicht auf nationale Souveränität wird da-bei erforderlich sein, aber er lohnt sich allemal. Entgegen verbrei-teter Kritik ist die Bereitschaft zur weiteren Integration in Europa durch die Krise nicht völlig erloschen. Die gemeinsame Banken-aufsicht ist dafür ein gutes Beispiel. Auch die Stabilisierung des Euro ist alle Anstrengungen wert. Der Euro ist das herausragen-de Symbol für die Tiefe der Integration und die Bereitschaft der Länder zur Zusammenarbeit. Eine Auflösung des Euro würde in die andere Richtung wirken – Europa wäre geschwächt und die Wirtschaftspolitik würde renationalisiert: kaum eine Antwort auf die globalen Herausforderungen. Die Schlussfolgerung kann nur sein, dass die Schwächen in der Architektur und im institutionel-len Fundament des Euro beseitigt werden müssen und dass die Integration der EWU und der EU vorangebracht werden. Es ist keine Plattitüde, dass der Euro gestärkt aus dieser Krise hervor-gehen kann. Die richtigen Weichenstellungen müssen aber ge-troffen werden, um die europäische Währung wieder zu einem internationalen Erfolgsmodell zu machen. Über eine Weltwäh-rung zu verfügen ist ein Weg, um Einfluss auf die internationale Wirtschaftsordnung und damit die Lebensbedingungen für zu-künftige Generationen zu nehmen.

Literatur

Barnier M (2011) Towards a new Europe. Speech at Humboldt Univer-sity Berlin, 9 May 2011

9 Schlusswort

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Sachverzeichnis

173M. Heise, Europa nach der Krise, DOI 10.1007/978-3-642-54620-4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

AAbwertung, 48, 105

interne, 94Allianz Euro Monitor, 86Anlageform, risikofreie, 30Anleiheversicherung, 161Ansteckungseffekte, 156Arbeitskräftemobilität, 60Arbeitslosenquote, 89Ausfallrisiko, 30, 133, 158Auslandsvermögensposition, 86Austerität, 99

BBankenaufsicht, 136Basel III, 148Belgien, 106Beteiligung von privaten Investo-

ren, 27Binnenmarktprogramm, 15Bonität von Banken, 30Bretton Woods System, 11

DDeauville, Frankreich, 27Defizit, öffentliches, 78

Delors-Bericht, 16Deutsche Bundesbank, 14Deutschland, 60, 91, 103Direktinvestitionen zwischen den

Mitgliedsländern, 66Diversifikation der Produktions-

strukturen, 56

EEingriff, fiskalpolitischer, 134EU-Kommission, 79, 93, 120, 129EU-Parlament, 129EU-Rat, 129Euro-Austritt, 165Eurobasketbond, 135, 163Eurobonds, 135, 161Europa, Bedeutung, 170Europäische Bankenunion, 31Europäische Fonds für Wäh-

rungspolitische Zusammen-arbeit (EFWZ), 13

Europäischer Stabilitätsmechanis-mus (ESM), 31, 133

Europäisches Währungsinstitut (EWI), 18

Europäisches Währungssystem (EWS), 14

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174

Europäische Verfassung, 127Europäische Währungseinheit

(EWE), 14Europäische Wirtschaftsgemein-

schaft (EWG), 11Europäische Zentralbank (EZB),

17, 67, 136European Systemic Risk Board

(ESRB), 119, 136Export, deutscher, 47

FFinanzmarktintegration, 69Finnland, 81Fiskalkapazität, 137Frankreich, 82, 91

GGeldmarkt zwischen Banken, 151Geometrie, variable, 131Griechenland, 54, 81, 107, 165Griechischer Schuldenschnitt, 29Großbritannien, 84, 169

HHandel innerhalb des Euroraums,

43Hoheitsrechte, nationale, 126Hypothekenmärkte, 69

IInflation, 38, 114, 146Institutionen, neue, 128Integration

fiskalische, 125, 126

politische, 125, 126Integrationsgeschwindigkeiten,

multiple, 128Internationaler Währungsfonds

(IWF), 99Irland, 91, 104Italien, 82, 107

JJapan, 84

KKanada, 108Kapitalmobilität, 66Kapitalverkehr, 44Konsolidierungsmaßnahmen, 100Kreditgeberin der letzten Instanz,

157Kreditvergabe, grenzüberschrei-

tende, 71, 151Krisenmanagement, 155Krönungstheorie, 125

LLeistungsbilanz, 87Lohnstückkosten, 88Luxemburg, 81

MMechanismus für staatliche Insol-

venzen, 133Migration, 60Moral Hazard, 158Multiplikator, fiskalischer, 99

Sachverzeichnis

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175

NNiederlande, 82

OOffenheit der Wirtschaft, 54OMT-Programm, 157Optimaler Währungsraum, 51Österreich, 82

PParallelwährung, 167Portugal, 81Primärbudget, 106, 113Produktivität, 86, 88

RReallohnflexibilität, 60Re-Balancing in der Währungs-

union, 95Rettungsplan, 30, 132Risiko, moralisches, 158Risikoprämie, 27, 68, 115, 144Rückführung staatlicher Schul-

denstände, 82

SScala mobile, 103Schengen-Abkommen, 65Schock, asymmetrischer, 52, 53Schuldenschnitt, griechischer, 29Schuldenszenarien, 111Schuldentilgungsfonds, 161Slowakei, 59, 82Slowenien, 56Solidität der Staatsfinanzen, 86Solvency II, 148

Spanien, 82, 91, 95Staatsverschuldung, 113Stabilisierung der Staatsschulden,

116Stabilitätspakt, 79Stabilitäts- und Wachstumspakt,

19, 79Strukturreform, 103Strukturreformen, 49, 93, 137Subsidiaritätsprinzip, 127

TTARGET2-Salden, 150Transferunion, 138

UÜbergangspläne, 164Überwachung

makroökonomische, 85, 137makropotenzielle, 119

Ungleichgewicht, makroökono-misches, 68, 85, 116, 117, 119, 136

Union, fiskalische und politische, 162

Unterschiede, kulturelle, 74

VVereinigte Staaten

von Amerika, 12, 84, 169von Europa, 126

Verfahrenbei übermäßigen Defiziten, 79bei übermäßigen makroöko-

nomischen Ungleichgewich-ten, 86, 117

Sachverzeichnis

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176

Vergemeinschaftung von Schul-den, 158, 161

Vermögenspreisinflation, 148Verschuldung, private, 86Vertrag von Maastricht über die

Europäische Union, 17, 143

WWachstum, 111

ausgewogenes, 92Wechselkursmechanismus

(WKM), 17Wechselwirkung zwischen Staats-

und Bankenrisiko, 165

Werner-Gruppe, 12Wettbewerbsfähigkeit, 86, 96Wirtschaftspolitik, 72Wirtschafts- und Währungsunion

(EWU), 12

ZZentralbankliquidität, 146Zentralbankportfolio, 36Zinsen, 144Zinskonvergenz, 23Zwei-Kammer-System, 129

Sachverzeichnis