englischsprachige philosophie der musik: ein blick von irgendwo

6
DZPhil, Akademie Verlag, 57 (2009) 6, 879–884 Englischsprachige Philosophie der Musik: Ein Blick von Irgendwo Von PHILIP ALPERSON (Philadelphia) Aber weil die Musik eine Sprache ist, mittels derer Botschaften gebildet werden, von denen zumindest einige von der großen Mehrheit verstanden werden, während nur eine sehr kleine Minderheit fähig ist, sie auszusenden, und weil zwischen allen Sprachen nur diese die widersprüchlichen Eigenschaften in sich vereinigt, näm- lich zugleich verständlich und unübersetzbar zu sein, wird der Schöpfer von Musik zu einem göttergleichen Wesen und die Musik selbst zum höchsten Geheimnis der Wissenschaften vom Menschen, demjenigen, gegen das sie stoßen und in dem der Schlüssel ihres Fortschritts liegt. Claude Lévi-Strauss Von allen Künsten ist der Musik in den letzten 30 Jahren wahrscheinlich mehr Aufmerksam- keit von englischsprachigen Ästhetikern zuteil geworden als irgendeiner anderen Kunst. Wir können nicht alle Gründe hierfür kennen, sicher ist jedoch ein Hauptgrund die großartige Pio- nierleistung von Peter Kivy, dessen elegante, gelehrte, musikalisch einfühlsame und schlag- kräftige Verteidigung des „erweiterten Formalismus“ unter Philosophen viele Diskussionen über Musik ausgelöst hat, ähnlich wie Susanne Langers Verteidigung des musikalischen Expressionismus eine Generation zuvor in den 950ern und 960ern. 2 Im Großen und Ganzen jedoch sind Entwicklungen auf dem Gebiet der analytischen Phi- losophie der Musik primär von Philosophen verfolgt worden und ziehen weitaus weniger Aufmerksamkeit von Wissenschaftlern anderer Disziplinen auf sich, ganz zu schweigen von Musikliebhabern der laienhaften Öffentlichkeit. Dies ist kein exklusives Phänomen der analytischen Musikästhetik. Philosophen schrei- ben im Allgemeinen für einander, und obwohl die Philosophie einen Ehrenplatz unter den ältesten akademischen und kulturellen Forschungen zu Fragen des Menschseins einnimmt, C. Lévi-Strauss, Das Rohe und das Gekochte [969], Frankfurt/M. 976. 2 Vgl. insbesondere P. Kivy, The Cordell Shell: Reflections on Musical Expression, Princeton 1980; ders., Sound and Semblance: Reflections on Musical Representation, Princeton 1984; und: ders., Music Alone: Philosophical Reflections on the Purely Musical Experience, Ithaca 1990. Jerrold Levinson war ebenfalls einflussreich beim Wiederaufleben des Interesses an Musik innerhalb der analytischen Ästhetik. Seine frühen Aufsätze sind gesammelt in: J. Levinson, Musik, Art, and Meta- physics: Essays in Philosophical Aesthetics, Ithaca 990.

Upload: philip

Post on 03-Dec-2016

219 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Englischsprachige Philosophie der Musik: Ein Blick von Irgendwo

DZPhil, Akademie Verlag, 57 (2009) 6, 879–884

Englischsprachige Philosophie der Musik: Ein Blick von Irgendwo

Von PhiliP AlPerson (Philadelphia)

Aber weil die Musik eine Sprache ist, mittels derer Botschaften gebildet werden, von denen zumindest einige von der großen Mehrheit verstanden werden, während nur eine sehr kleine Minderheit fähig ist, sie auszusenden, und weil zwischen allen Sprachen nur diese die widersprüchlichen Eigenschaften in sich vereinigt, näm-lich zugleich verständlich und unübersetzbar zu sein, wird der Schöpfer von Musik zu einem göttergleichen Wesen und die Musik selbst zum höchsten Geheimnis der Wissenschaften vom Menschen, demjenigen, gegen das sie stoßen und in dem der Schlüssel ihres Fortschritts liegt.

Claude Lévi-Strauss�

Von allen Künsten ist der Musik in den letzten 30 Jahren wahrscheinlich mehr Aufmerksam-keit von englischsprachigen Ästhetikern zuteil geworden als irgendeiner anderen Kunst. Wir können nicht alle Gründe hierfür kennen, sicher ist jedoch ein Hauptgrund die großartige Pio-nierleistung von Peter Kivy, dessen elegante, gelehrte, musikalisch einfühlsame und schlag-kräftige Verteidigung des „erweiterten Formalismus“ unter Philosophen viele Diskussionen über Musik ausgelöst hat, ähnlich wie Susanne Langers Verteidigung des musikalischen Expressionismus eine Generation zuvor in den �950ern und �960ern.2 Im Großen und Ganzen jedoch sind Entwicklungen auf dem Gebiet der analytischen Phi-losophie der Musik primär von Philosophen verfolgt worden und ziehen weitaus weniger Aufmerksamkeit von Wissenschaftlern anderer Disziplinen auf sich, ganz zu schweigen von Musikliebhabern der laienhaften Öffentlichkeit. Dies ist kein exklusives Phänomen der analytischen Musikästhetik. Philosophen schrei-ben im Allgemeinen für einander, und obwohl die Philosophie einen Ehrenplatz unter den ältesten akademischen und kulturellen Forschungen zu Fragen des Menschseins einnimmt,

� C. Lévi-Strauss, Das Rohe und das Gekochte [�969], Frankfurt/M. �976.2 Vgl.insbesondereP.Kivy,TheCordellShell:ReflectionsonMusicalExpression,Princeton1980;

ders.,SoundandSemblance:ReflectionsonMusicalRepresentation,Princeton1984;und:ders.,MusicAlone: Philosophical Reflections on the PurelyMusical Experience, Ithaca 1990. JerroldLevinsonwarebenfallseinflussreichbeimWiederauflebendes InteressesanMusik innerhalbderanalytischen Ästhetik. Seine frühen Aufsätze sind gesammelt in: J. Levinson, Musik, Art, and Meta-physics: Essays in Philosophical Aesthetics, Ithaca �990.

Page 2: Englischsprachige Philosophie der Musik: Ein Blick von Irgendwo

880 Philip Alperson, Englischsprachige Philosophie der Musik

isteingroßerTeilderenglischsprachigenanalytischenPhilosophieeinsehrfachspezifischerDiskurs, der nicht viel Aufmerksamkeit außerhalb der Philosophie-Institute auf sich zieht. Ähnlich war auch die analytische Ästhetik im Allgemeinen vor allem für Philosophen von Interesse. Die größte wissenschaftliche Gesellschaft für Ästhetik in der englischsprachigen Welt, die American Society for Aesthetics, besteht fast ausschließlich aus Mitgliedern von Philosophischen Instituten. Sogar in der Unterdisziplin der Literaturtheorie, die den Aufstieg von der „Theorie“ zum Wachstumsfeld in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte unddieinderenglischsprachigenWeltsichtlichunterdemEinflusseinerReihegroßereuro-päischer Schriftsteller von Sartre und de Beauvoir bis Heidegger, Gadamer, Foucault, Bar-thes, Derrida und Ricœur stand, ist nur eine englischsprachige Arbeit bekannt, Wimsatt und Beardsleys wegweisender Aufsatz von �946 The Intentional Fallacy3, die eine bedeutende Wirkung auf andere geisteswissenschaftliche Disziplinen außerhalb der Philosophie hatte. WimsattundBeardsleysAufsatzwarinsoferneinflussreich,alserdasanti-intentionalistischeDenken unter den an Literatur und der Erzählkunst interessierten Akademikern beförderte, indem er das Interesse an der Textanalyse gegenüber der an der Biographie des Autors orien-tierten Literaturkritik hervorhob und als ein Vorläufer verschiedener Versionen der Tod-des-Autors-Theorie diente, welche die Literaturkritik der �970er, der �980er und darüber hinaus beeinflusste.Esfälltjedochschwer,einezweitephilosophischeUntersuchungzubenennen,dieeinenvergleichbarenEinflussaufdemGebietderLiteraturtheoriegehabthätte.DasWerkArthur Dantos ist eine weitere die Regel bestätigende Ausnahme, indem es die Aufmerksam-keit von Philosophen, Kunsthistorikern und Kunstkritikern auf sich gezogen hat.4 Dennoch ist diese Situation im Falle der Musik besonders verwunderlich, da die Musik immerhin eine der ansprechendsten Künste ist. Wie Lévi-Strauss schreibt, räumen die meis-ten Menschen, Musiker und Nicht-Musiker, Wissenschaftler und Nicht-Wissenschaftler, der Musik einen Platz in ihrem Leben ein. Sicherlich müsste die Philosophie der Musik diesen Menschen etwas zu sagen haben, insbesondere angesichts der philosophischen Fragen, die Lévi-Strauss erwähnt – die Allgegenwärtigkeit von Musik, die verführerische Tiefgründigkeit der Musik und der scheinbare Gegensatz zwischen musikalischer Fasslichkeit und musika-lischer Unübersetzbarkeit –, sie alle stellen jene Art von theoretischen Fragen, die typischer-weise die Philosophie formuliert. Die Philosophie hat diese Art der Fragen natürlich im Laufe ihrer Geschichte angespro-chen. Angefangen bei Pythagoras’ Erforschung der mathematischen Grundlagen harmonischer IntervalleundderenmöglichenZusammenhangsmitdenGrundstrukturendesKosmos;überdie platonischen und aristotelischen Diskussionen zur Beziehung zwischen Musik, mensch-lichem Charakter und moralischem Verhalten und astronomischen Hypothesen über die Ord-nungdesUniversums;diemittelalterlichchristlicheTransformationderphilosophischenundmusikalischenSpekulationenderGriechen;biszurmetaphysischenZentralstellung,diedieMusik in der Romantik mit Bezug auf ihr Ausdrucksvermögen einnahm – die Rolle der Musik im Leben des Menschen ist ein beständiges Thema philosophischer Betrachtung gewesen. Die englischsprachige analytische Musikästhetik hat jedoch diese recht hoch angesetz-ten Fragen größtenteils gemieden und sich stattdessen auf ein Teilgebiet der Bedeutung von Musik konzentriert, insbesondere auf Fragen bezüglich der Ontologie des musikalischen Kunstwerks, des Wesens musikalischer Form, musikalischen Ausdrucks und musikalischer Darstellung sowie auf ein gewisses Spektrum musikalischer Praktiken hinsichtlich der musi-

3 W. K. Wimsatt u. M. Beardsley, The Intentional Fallacy, in: Sewanee Review, 54 (�946), 468–488.4 SiehevorallemA.C.Danto,TheTransfigurationoftheCommonplace:APhilosophyofArt,Cam-

bridge/Mass. �983.

Page 3: Englischsprachige Philosophie der Musik: Ein Blick von Irgendwo

88�DZPhil 57 (2009) 6

kalischen Komposition, der Aufführung, des Verstehens und der Kritik. Diese Fokussierung basiert hauptsächlich auf der Annahme, dass das philosophische Verständnis von Musik sich ausschließlich auf „ästhetische“ Überlegungen beziehen sollte. Die Aufführung musikalischer Kunstwerke sei der eigentliche Gegenstand von Rezeptions- und Bewertungstätigkeiten, die sich auf ästhetische Eigenschaften konzentrieren, die sich für eine interesselose ästhetische Erfahrung eignen. Diese Vorstellung von Musik als einer primär objektorientierten Praxis ist ihrerseits das Resultat eines Denkens über Musik als schöner Kunst. Sie wurde durch das so genannte Moderne System der Künste im �8. Jahrhundert festgeschrieben, dem gemäß die primäre Funktion der Künste eine Nachahmung des Schönen in der Natur ist. Die Musik hielt Ein-zug in dieses System kraft der besonderen Vielfalt von Imitationen, wobei der Ausdruck von Gefühlen durch Strukturen musikalischer Form ermöglicht wurde. Mit der zeitgleichen Verbreitung von Aufführungsstätten, wie Konzertsälen und Salons an Fürstenhöfen, wurden Komponisten, Musiker und Zuhörer Teil einer kollektiven Tätigkeit der Aufführung und Wertschätzung wiederholbarer Werke, die ausdrücklich zu dem Zweck geschaffen wurden, eigenständige Objekte zu präsentieren, die ‚interesselos‘ allein wegen ihrer musikalischen, künstlerischen intrinsisch ästhetischen Eigenschaften rezipiert werden sollten. Diese Beto-nung der Erscheinung von Objekten fand seine klassische Formulierung in einem Diskurs, der von Shaftesbury, Hutcheson und Baumgarten bis zu Kant reicht.5 Dieses Verständnis von Musik war geistesverwandt mit einigen Tendenzen analytischer Philosophie im Allgemeinen, insbesondere aber mit einer positivistischen oder naturalis-tischen Haltung gegenüber beobachtbaren Entitäten und deren Eigenschaften und der rigoro-sen Analyse von Begriffen und Aussagen, die klar und sinnvoll über diese Objekte gemacht werden können. Diese Belange sprechen außerdem auch das kulturell wichtige Verständnis von Musik als einer schönen Kunst an. Die analytische Musikästhetik hat nachweislich gehol-fen, unser Verständnis der formalen, expressiven, repräsentationalen und narrativen Aspekte musikalischer Bedeutung, der sprachähnlichen Eigenschaften der Musik, der uns in musi-kalischen Werken gebotenen ästhetischen Eigenschaften, einer Vielfalt von ähnlichkeits-basierten, auf Nachahmung beruhenden und kausal begründeten Modellen musikalischen Ausdrucks, der philosophischen Grundlagen des beschreibenden, interpretierenden und bewertenden Diskurses über musikalische Kunstwerke in der Tradition der schönen Künste und des ontologischen Status des musikalischen Kunstwerks, die Voraussetzung für all diese Themen, zu verfeinern.6

ObgleichdieseDiskussionenhäufiganerkannthaben,dasseinkultursensiblesundhisto-risch situiertes Verständnis einiger musikalischer Grundbegriffe wichtig ist, ist der Bereich musikalischer Bedeutung, der als angemessener Gegenstand philosophischer Aufmerksam-keit gelten soll, meiner Ansicht nach in vielerlei Hinsicht unnötig eingeschränkt worden. Wie ich an anderer Stelle dargelegt habe, würde es der Musikphilosophie gut tun, ihren Horizont zu erweitern und dem, was ich die „Instrumentalität“ von Musik genannt habe, das heißt der Rolle der Musik im Blick auf die weiterreichenden Fragen nach den sozialen und kulturellen

5 A. Ashley Cooper, 3. Earl of Shaftesbury, Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times [�7��], hg.v.L. F.Klein,Cambridge 1991; F.Hutcheson,An Inquiry into theOriginal of our Ideas ofBeautyandVirtue[1725],hg.v.P.Kivy,DenHaag1973;F.Hutcheson,AnInquiryintotheOrigi-nalofourIdeasofBeautyandVirtue,4.Ausg.,London1738;A.G.Baumgarten,PhilosophischeBetrachtungenübereinigeBedingungendesGedichtes[1735],hg.v.H.Paetzold,Hamburg1983;I. Kant, Kritik der Urteilskraft [�790], Akademie-Ausgabe, Bd. 5.

6 EinehervorragendeErläuterungdieserThemenfindetsichbei:St.Davies,MusicalMeaningandExpression, Ithaca �994.

Page 4: Englischsprachige Philosophie der Musik: Ein Blick von Irgendwo

882 Philip Alperson, Englischsprachige Philosophie der Musik

Zwecken, denen die Musik möglicherweise dienen kann, mehr Aufmerksamkeit zu schen-ken. Dieser Zugang zur Musik würde mehrere Dimensionen beinhalten. Erstens sollte die phi-losophische Untersuchung der Ontologie der Musik ihren Bereich von der gegenwärtigen Konzentration auf Musikwerke als Erzeugnisse schöner Kunst erweitern zur Betrachtung der Kreation, Aufführung und Wertschätzung von Musik im Kontext verschiedener Praktiken kul-tureller Produktion. Dies bedeutet im Umkehrschluss, Musik, die außerhalb des Bereichs der europäischen ‚Klassischen Musik‘ (etwa �600 bis �900, also Barock, Klassik und Romantik)7 liegt, und anderen musikalischen Praktiken, die die Klassische Musik zum Vorbild haben, größere Beachtung zu schenken. Indem wir eine breitere Perspektive auf die musikalische Praxis einnehmen, sind wir gezwungen, das Spektrum nicht-ästhetischer und außer-ästhe-tischer Werte, die die gesellschaftliche Musikpraxis durchdringen, ernst zu nehmen.8 Als ein Beispiel dafür, wie diese Umorientierung vonstatten gehen könnte, betrachten wir den Fall musikalischer Improvisation.9 Die musikalische Improvisation ist ein zentrales Merkmal musikalischer Praxis in den meisten musikalischen Kulturen, teilweise deshalb, weil das Improvisieren von Musik, selbst auf einem niedrigen, rudimentären Niveau, ein wesentliches Moment jeglichen Musikmachens ist. In der Aufführung jeder Musik, wenn nicht sogar in jedem menschlichem Handeln, gibt es ein improvisatorisches Element. Außer-dem steht die Improvisation in einigen Musiktraditionen wie der westlichen Barockmusik, dem amerikanischem Jazz und den indischen Ragas im Mittelpunkt der musikalischen Praxis. Dennoch hat die analytische Musikästhetik – wenn sie diese Thematik nicht vollständig igno-riert hat – die Improvisation in der Musik weitestgehend geringschätzend behandelt, meistens aus dem Grunde, dass improvisierte Musik auf der Stelle und typischerweise von einer klei-nen Gruppe von Musikern aufgeführt wird, weshalb das Resultat den Anschein haben könnte, es sei weniger komplex und böte daher weniger Möglichkeiten für eine robuste, profunde ästhetische Erfahrung als ein vollständig durchkomponiertes Werk. Improvisation so zu verstehen, bedeutet jedoch, eine Art Kategorienfehler zu begehen. Dieser Fehler ist oft das Ergebnis eines philosophischen toten Winkels, der sich aus der man-gelnden Relevanz reproduzierbarer Kunstwerke in den meisten Improvisationstraditionen erklärt. Es stimmt, dass musikalische Improvisation sich typischerweise eher auf eine lockere Vorlage für das Improvisieren bezieht und diese ausfüllt, als dass sie eine mehr oder weni-ger getreue Umsetzung eines bereits existierenden auskomponierten Musikstücks bietet. Und dennoch liefert die musikalische Improvisation ein reiches Feld für philosophisches Analy-sieren und Verstehen. Die improvisierenden Musiker können natürlich Musikwerke spielen wie beispielsweise ein Jazzmusiker, der über einen Jazz-Standard wie Body and Soul oder On Green Dolphin Street improvisiert. Aber sogar in diesen Fällen, wo Musik improvisiert

7 Im Englischen hat sich für diese Epoche der europäischen Kunstmusik der Ausdruck ‚common practice period‘ eingebürgert, den der Autor in seinem Originaltext an dieser Stelle verwendet. Im Deutschen gibt es keine exakte Übersetzung dieses Ausdrucks, aber ‚Klassische Musik‘ meint de facto dasselbe. (Anm. d. Übers.)

8 Ich erörtere diese Position in: Ph. Alperson, The Instrumentality of Music, in: The Journal of Aes-theticsandArtCriticism,66/1(2008),37–51;ebensoin:ders.,FacingtheMusic:VoicesfromtheMargins, in: Topoi: An International Review of Philosophy, 29 (2009), 9�–96, in dem zahlreiche Ideen, die ich im vorliegenden Text anspreche, ausführlicher dargestellt sind.

9 DiefolgendeAnalysederImprovisationfindetsichausgearbeitetin:Ph.Alperson,ATopologyofImprovisation, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism (im Erscheinen). Ein großer Teil mei-ner Analyse konzentriert sich auf Improvisationen im Jazz. Der Leser kann geeignete Änderungen vornehmen, um sie auf andere Musiktraditionen anzuwenden.

Page 5: Englischsprachige Philosophie der Musik: Ein Blick von Irgendwo

883DZPhil 57 (2009) 6

wird, ist das, was uns zur Beurteilung vorgetragen wird, nicht primär die Aufführung eines Werkes, sondern vielmehr, wie ich sagen würde, etwas, das wir als Manifestation mensch-licher Freiheit in Musik beschreiben könnten. Bei der Improvisation werden wir Zeugen einer gestaltenden Tätigkeit des Musikers, als hätten wir im Augenblick spontaner Schöpfung einen privilegierten Zugang zum Geist des Künstlers gewährt bekommen. Die Manifestation menschlicher Freiheit in Musik ist zum Teil auf Grund der feinen, hochspezialisierten Fähigkeiten möglich, die zum Musikmachen gehören und die einen Hin-tergrund darstellen, vor dem die Improvisation sich entfalten und besonders geschätzt wer-den kann. Wir können beispielsweise im Falle der Jazzimprovisation den Künstler nicht nur dabei beobachten, wie er die grundlegenden Fähigkeiten anwendet, das heißt die richtigen Noten und richtig gestimmt spielt, sondern auch mit expressiver musikalischer Intelligenz improvisiert, indem er auf expressive und andere ästhetische Eigenschaften achtet und mit stilistischen Umformungen arbeitet, die sich auf bestimmte Idiome sowohl innerhalb als auch außerhalb der Jazztradition beziehen, Material entwickelt, das in kurzen wie in langen For-men interessant und kohärent ist, auf melodische, harmonische und rhythmische Entwick-lungenreagiert,diebeieinemZusammenspielmehrererMusikeranOrtundStellestattfinden,etc. Zeuge dessen zu sein, was innerhalb der Beschränkungen musikalischer Möglichkeiten vollbracht werden kann, kann sehr bereichernd sein – ob wir nun der Transkription einer von Händels glanzvollen öffentlichen Cembalo-Aufführungen seiner Oper Rinaldo zuhören oder einer 45minütigen Improvisation des Tenorsaxophon-Giganten Sonny Rollins während eines Live-Konzerts. Es ist verfehlt, solche Improvisationen lediglich für ausgeschmückte Auffüh-rungen musikalischer Werke zu halten. Zugleich sind sich Hörer, die an improvisierten Jazz gewöhnt sind, auch einer gesell-schaftlichen Dimension dieser Musik bewusst, die nicht aus den musikalischen Klangstruk-turen oder aus den rein musikalischen Fähigkeiten allein abgeleitet werden kann. Im Falle der Jazzimprovisation bewegen sich die Spieler beispielsweise innerhalb eines Regelkontextes, der sich analog zu den Regeln verbaler Konversation verhält. Es existieren Konventionen in Bezug darauf, wie ein Solist sich während einer Aufführung zu anderen Solisten verhält, in Bezug auf die Anzahl der Chorusse, die der Solist spielt, wie man die letzten Takte des vorangegangenen Solos aufnimmt und darauf aufbaut, welche Art der Begleitung die Rhyth-mussektion spielt etc. Dieses Regelwerk hilft dabei, den Kontext und den Bereich des Mög-lichenabzustecken,indemdieImprovisationstattfindet.DiesePraktikensindgleichermaßenmusikalische und gesellschaftliche. Sie spiegeln ineinander greifende soziale Verhaltenscodes oder Umgangsformen und musikalische Überlegungen wider. Der kompetente Hörer berück-sichtigt diese Vorlagen, Regeln und Beschränkungen bei der Beurteilung dieser Musik. Improvisierter Jazz legt außerdem einen hohen Wert auf die Entwicklung des individu-ellen Stils, worin die Tatsache zum Ausdruck kommt, dass ein Musiker in der Improvisation seineStimmevordemHintergrundeinerGeschichtevorherrschendermusikalischerStilefin-den muss. Eine individuelle Stimme in der Improvisation ist von derartiger Wichtigkeit, dass die Stammgäste der Jazzwelt das Gefühl haben, die Jazzmusiker als Individuen persönlich zu kennen, was sogar soweit geht, dass sie die Musiker üblicherweise bei deren Vornamen nennen („Diz,“ „Miles“ etc.). Eine Art der Intimität, die auch durch das Band ihrer Liebe zur Musik entsteht. Außerdem stellen Jazzimprovisationen oft einen ausdrücklichen Bezug zu einer konkreten historischen Situation her, die von geübten Hörern verstanden wird. Dies ist insbesondere bei der gesellschaftlich aufgeladenen Musik vieler der Jazz-Giganten der �960er Jahre, wie beispielsweise Charles Mingus, Sonny Rollins und John Coltrane, der Fall. Die gesellschaftlichen Dimensionen dieser Musik zu ignorieren, auch wenn sie nicht voll-

Page 6: Englischsprachige Philosophie der Musik: Ein Blick von Irgendwo

884 Philip Alperson, Englischsprachige Philosophie der Musik

kommen festgelegt sind durch die Klangstrukturen selbst, heißt, einen wesentlichen Teil des Bedeutungsgehalts dieser Musik zu ignorieren. Mit diesemAusflug in dieWelt der Improvisationmöchte ich nicht unterstellen, dassmusikalische Improvisation in jeder Hinsicht ein Muster für musikalische Praxis darstellt. Was ich sagen möchte, ist, dass es in der Welt der Musik mehr gibt, als man direkt mit Blick auf die intrinsisch ästhetischen Gehalte musikalischer Strukturen erkennen kann, wie lohnend eine Untersuchung dieser Eigenschaften auch sein mag. Wenn wir musikalische Praxis hin-sichtlich ihrer Instrumentalität betrachten, indem wir beispielsweise über die Wertschätzung musikalischer Fähigkeiten, die Dynamik gesellschaftlicher und musikalischer Regeln nach-denken und die konkreten gesellschaftlichen und historischen Umstände einbeziehen, unter denen Musik entsteht und genossen wird, leugnen wir nicht den ästhetischen Ertrag, den die Musik als schöne Kunst bieten kann. Die Faszination der Musik als Klang ist die Grundlage, die Musik möglich macht. Jedoch vertiefen wir unser Verständnis des gesamten Spektrums musikalischer Praxis, wenn wir von einer Musikästhetik zu einer Musikphilosophie überge-hen. Ich möchte aber genau so wenig empfehlen, dass Musikphilosophen schreiben, um ihr Thema für Leute außerhalb der Disziplin interessant zu machen. Vielmehr sollte das Ziel sein, auf eine Weise über Musikphilosophie zu schreiben, die die ganze Komplexität musikalischer Praxis widerspiegelt. Das Interesse Anderer wird folgen.*

Aus dem Englischen von Amelie Stuart

Prof. Dr. Philip Alperson, Temple University Philadelphia, Department of Philosophy, PA 19122, USA

Abstract

Contemporary Anglophone philosophy of music has eschewed traditional philosophical concerns about the place of music in human affairs, concentrating instead on a more restricted domain of musi-cal meaning related to aesthetic considerations which are ultimately tied to the concept of disinterested aesthetic experience. I argue that this emphasis needs to be supplemented by an attention to the “instru-mentality”ofmusic,understandingmusicinrelationtoquestionsofthesocialandculturalpurposesthat music might serve and thereby broadening the idea of what it is to count as a musical practice. I illustrate how this re-orientation might proceed with reference to the case of musical improvisation.

* Ich danke Georg Mohr für seine hilfreichen Vorschläge zu diesem Beitrag.