ende und 'nachleben' des ostrakismos in athen

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Ende und 'Nachleben' des Ostrakismos in Athen Author(s): Herbert Heftner Source: Historia: Zeitschrift für Alte Geschichte, Bd. 52, H. 1 (2003), pp. 23-38 Published by: Franz Steiner Verlag Stable URL: http://www.jstor.org/stable/4436676 . Accessed: 09/09/2013 18:14 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Franz Steiner Verlag is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Historia: Zeitschrift für Alte Geschichte. http://www.jstor.org This content downloaded from 147.8.204.164 on Mon, 9 Sep 2013 18:14:27 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

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Page 1: Ende und 'Nachleben' des Ostrakismos in Athen

Ende und 'Nachleben' des Ostrakismos in AthenAuthor(s): Herbert HeftnerSource: Historia: Zeitschrift für Alte Geschichte, Bd. 52, H. 1 (2003), pp. 23-38Published by: Franz Steiner VerlagStable URL: http://www.jstor.org/stable/4436676 .

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Page 2: Ende und 'Nachleben' des Ostrakismos in Athen

ENDE UND ,NACHLEBEN' DES OSTRAKISMOS IN ATHEN1

I. Allgemeines

Die Ostrakisierung des Hyperbolos im Jahre 416 v. Chr.2 stellt bekanntlich die letzte bezeugte Anwendung des Ostrakismos in Athen dar. Plutarch, unsere einzige ausfuhrliche Quelle, berichtet dieses Ereignis in drei Versionen, die in Bezug auf die beteiligten Personen und in manchen Einzelheiten voneinander abweichen, aber in der Grundkonstellation ubereinstimmen: In allen drei plut- archischen Versionen erscheint die Ostrakisierung des Hyperbolos als das Ergebnis eines Geheimpaktes zwischen zwei an sich bei weitem starker gefahr- deten Kandidaten (Alkibiades und Nikias bzw. Alkibiades und Phaiax), und es wird betont, daB der Demagoge Hyperbolos allgemein als ein hochst unpassen- des Opfer empfunden wurde.3

In der Aristeidesvita vermerkt Plutarch im AnschluB an den Bericht uber die Vorgange der Ostrakophorie, die durch diese irregularen Umstande hervor- gerufene allgemeine Emporung habe das athenische Volk dazu bewogen, den Ostrakismos abzuschaffen oder zumindest in Hinkunft nicht mehr zur Anwen- dung zu bringen: ,,das Volk gab das [Ostrakismos-]Verfahren, das ihm nun als verachtlich gemacht und in den Schmutz gezogen erschien, zur Ganze auf." (Plut. Arist. 7,4 6o &5io; 6 KOa uptzasvov 'or ipayptcxa Kcaci tpoivXataK1gC- vov a'OlcrE tavEXw; Kca KaicaTXxacEv).

Der vorliegende Aufsatz ist aus den Arbeiten an dem von Peter Siewert geleiteten Projekt zur Erstellung einer kommentierten Edition der Testimonien zum athenischen Ostrakis- mos hervorgegangen, von der nunmehr der erste Band im Druck vorliegt: P. Siewert (Hrsg.), Ostrakismos-Testimonien I: Die Zeugnisse antiker Autoren, der Inschriften und Ostraka Uber das athenische Scherbengericht aus vorhellenistischer Zeit (487-322 v. Chr.), Stuttgart 2002 [Historia-Einzelschriften Bd. 1551 (im folgenden zitiert: Ostrakis- mos-Testimonien I). Herrn Professor Siewert sei an dieser Stelle fur seine stete Bereit- schaft zur kritischen Diskussion meiner Ergebnisse wie uberhaupt fiur seine wohlwollen- de Anteilnahme an meinen Ostrakismos-Forschungen ein herzlicher Dank ausgespro- chen.

2 Zu diesem Datierungsansatz s. H. Heftner, Zur Datierung der Ostrakisierung des Hyper- bolos, RSA 30, 2000, 27-45 mit der alteren Lit.

3 Fur einen Uberblick Uber die plutarchischen Versionen s. A. E. Raubitschek, Theopom- pos on Hyperbolos, Phoenix 9, 1955, 1 22f. und H. Heftner, Der Ostrakismos des Hyper- bolos: Plutarch, Pseudo-Andokides und die Ostraka, RhM 143, 2000, 35-42.

Historia, Band LlI/l (2003) ? Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart

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24 HERBERT HEFTNER

Im Parallelbericht der Nikiasvita beschrankt sich Plutarch auf die Feststel- lung, es sei nach Hyperbolos niemand mehr ostrakisiert worden (K(A To nipa; oi86i; ETt T6 nap6iav ? tQXPaKiGOfl 4cO' Ynppokov), ohne expressis verbis einen Kausalzusammenhang zwischen diesen Fakten herzustellen,4 im ,,Alkibiades" begnugt er sich damit, auf die ausfuhrlichere Behandlung in den anderen Viten zu verweisen.5

In der Forschung ist die in Plutarchs ,,Aristeides" gebotene Begrundung des AuBer-Gebrauch-Kommens des Ostrakismos nach 415 als Folge des Erlebnis- ses der ,mi8glhckten' Hyperbolos-Ostrakophorie, wenngleich mitunter durch Uberlegungen uber die Ersetzung des Ostrakismos durch andere Instrumente erganzt, bis heute weithin akzeptiert worden: Der Ostrakismos wird als eine Institution gesehen, die nach 415 in den Augen der athenischen Burgermehrheit unrettbar diskreditiert gewesen sei.6 Bei naherer Betrachtung der Evidenz er- gibt sich jedoch eine Reihe von Indizien, die geeignet scheinen, Zweifel an der von Plutarch tradierten Vorstellung einer volligen Diskreditierung des Ostra- kismos in Folge der Hyperbolos-Ostrakophorie aufkommen zu lassen, und es nahelegen, die Glaubwurdigkeit dieser plutarchischen Behauptung einer kriti- schen Uberprufung zu unterziehen. Eine solche Uberprufung soll im folgenden versucht werden.

II. Aristot. Ath. Pol. 43,5 als Zeugnis fur die Existenz des Ostrakismos zur Zeit der Abfassung der Athenaion Politeia

Will man die Glaubwurdigkeit von Plutarchs Uberlieferung uber das Ende des Ostrakismos untersuchen, so ist zunachst die Frage von Belang, ob man tatsachlich, wie es der Wortlaut der oben zitierten Stelle aus Plutarchs ,,Aristei- des" nahelegt, von einer formellen Abschaffung des Ostrakismos im Gefolge der Hyperbolos-Ostrakophorie auszugehen hat, oder ob es sich um eine bloI3e Nichtanwendung bei formellem Weiterbestehen der Institution handelte.7

4 Plut. Nik. 11,8. Die Diskrepanz dieser Angabe zu der im Text zitierten Parallelstelle

Arist. 7,4 bemerkte bereits J. Carcopino, L'ostracisme ath6nien, Paris 21935, 233.

5 Plut. Alk. 13,9. 6 So zuletzt P. J. Rhodes, The Ostracism of Hyperbolus, in: R. Osborne / S. Hornblower

(Hrsgg.), Ritual, Finance, Politics. Athenian Democratic Accounts Presented to D. Lewis,

Oxford 1995, 98. S. daneben besonders G. A. Lehmann, Oberlegungen zur Krise der

attischen Demokratie im Peloponnesischen Krieg: Vom Ostrakismos des Hyperbolos

zum Thargelion 411 v. Chr., ZPE 69, 1987, 48-52.

7 Diese Moglichkeit laBt Plutarchs Wortlaut in der im Text zitierten Stelle aus der Nikias-

vita offen, vgl. o., Anm. 4.

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Ende und ,Nachleben' des Ostrakismos in Athen 25

Das wichtigste Quellenzeugnis zur Entscheidung dieser Frage bietet uns eine Notiz der aristotelischen Athenaion Politeia (im folgenden Ath. pol.),8 derzufolge man in Athen zur Zeit der Abfassung des Werkes alljahrlich in der Hauptversammlung (KaickXlaict Kupia) der sechsten Prytanie uber die Frage abzustimmen pflegte, ob eine Ostrakophorie abgehalten werden solle oder nicht (Ath. Pol. 43,5 = Ostrakismos-Testimonien I T 18):

'I r? T; ti; KTTi; 1PiTaVrta; rp6; Tot; ?tp1ipEvot; ic atipl [T; I tpa-

KOoOptia ?t1?XtpOTOVtaV &t6o6 V ?t 6ol?Et itotEYv i` gd, cKat (Y1fKOOaLVT6)V

npoiokX6; Tdv 'AOiv[a]iwv Kcc't TOWv JE0tiKWV JJXpI Tpt(OV EKaTCpWV, Kav

T[t]; 1'7rcX0a%0F?v6; ~t' pnoZtan T6 8gp@.

,,In der sechsten Prytanie legen sie (sc. die Prytanen) auBer den genannten Angelegenheiten noch eine Abstimmung uber die Ostrakophorie vor, ob man eine solche abhalten solle oder nicht, sowie Probolai gegen Sykophanten, Athener und Metoken, bis zu einer Hochstzahl von jeweils drei, und fur den Fall, daB jemand dem Volk etwas versprochen, aber nicht gehalten hat."

Die vorliegende Notiz zeigt in unbestrittener Klarheit, daB der Ostrakismos zur Zeit Alexanders des GroBen, neunzig Jahre nach seiner letzten bezeugten Anwendung in Athen, als geltendes Rechtsinstitut existiert hat und daB die Frage nach einer moglichen praktischen Anwendung dieses Instituts in den Augen der Athener bedeutsam genug war, um eine alljahrliche Abstimmung in der Ekklesie daruber zu rechtfertigen.

Unsere Stelle entstammt dem zweiten Hauptabschnitt der Athenaion Po- liteia, in dem die staatlichen Institutionen Athens, so wie sie zur Zeit der Abfassung des Werkes in den 20er Jahren des 4. Jh. v. Chr.9 bestanden haben, in systematischem Uberblick zur Darstellung gebracht werden.10 Obwohl die- ser Abschnitt der Athenaion Politeia keine Aussagen uber die historische Entwicklung der beschriebenen Institutionen bietet,1 I ist die communis opinio

8 Die in der Forschung umstrittene Frage, ob es sich bei dieser Verfassungsschrift um ein genuines Werk des Aristoteles handelt oder nicht, mag hier, wo es nicht um Aristoteles' Auffassung vom Ostrakismos, sondern um die GlaubwUrdigkeit einer einzelnen histori- schen Aussage geht, auler Betracht bleiben. S. fur die skeptische Position P. J. Rhodes, A Commentary on the Aristotelian 4thenaion Politeia, Oxford 1981, 58-63, zugunsten der Authentizitat M. Chambers, Aristoteles. Staat der Athener, Darmstadt 1990, 75-82 und J. J. Keaney, The Composition of Aristotle's Athenaion Politeia, Oxford 1992, 12-14.

9 Zur Datierung der Athenaion Politeia s. jetzt zusammenfassend W. Scheidel / H. Taeuber in: Ostrakismos-Testimonien I (wie Anm. 1) 447f.

10 Ath. Pol. 42,1 sXct &' i viv catcacatot; -tc; nokXtia; r6v6e T6v Tp6iov. Zu diesem zweiten Teil der Athenaion Politeia s. aligemein Rhodes, Commentary (wie Anm. 8) 30- 37.

11 Eine soiche lieBe sich allenfalls aus der Bemerkung in Ath. Pol. 41,2 ableiten, dal die nach der RUckkehr des Demos aus Phyle 403 eingerichtete Verfassungsordnung bis auf

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der Forschung bis vor kurzem davon ausgegangen, daB die Notiz als Zeugnis nicht nur fur die Existenz des Ostrakismos in den 320er Jahren, sondern auch als Beleg fur die kontinuierliche Existenz der Institution wahrend des gesamten zwischen der Ostrakisierung des Hyperbolos und der Abfassung der Athenaion Politeia liegenden Zeitraumes gewertet werden kann.12

III. Erringtons Theorie von der Wiederbelebung des Ostrakismos im Jahre 337/6

Die oben skizzierte traditionelle Auffassung vom kontinuierlichen Weiter- bestehen des Ostrakismos nach 416 ist neuerdings von Errington in Frage gestellt worden, der darauf verweist, daB die in Ath. Pol. 43,5 beschriebene verpflichtende Abstimmung uber die Abhaltung einer Ostrakophorie in der EKKXflaia KUipia der 6. Prytanie eines jeden Buleutenjahres die Existenz einer Unterscheidung zwischen ?KKXTlc5iaL Kc'pica und gewohnlichen Ekklesien vor- aussetzt, wie wir sie in Ath. Pol. 43,3-5. beschrieben finden.13 Diese Unter- scheidung ist aber, wie Errington herausarbeitet, in der reichen epigraphischen Uberlieferung nicht vor dem Jahr 336/5 belegt; erst von diesem Datum an bildet die Spezifikation der beschlie6enden Versammlung als ?CiXT1a0ia Kupia oder E(KkXlTia (ohne Zusatz) einen regelmaBigen Bestandteil der Einleitungsformel athenischer Dekrete.14

Im Hinblick auf diesen Befund nimmt Errington an, daB das plotzliche Auftauchen dieser Spezifikationen in der Einleitungsformel auf eine um das Jahr 337/6 durchgefuhrte Reform des athenischen Staatsrechtes zuruckzufuh- ren sei, im Zuge derer die Abhaltung von Xaknial cAupiat an bestimmten Terminen des Prytanenjahres und die Behandlung bestimmter Themen auf

diesen Versammlungen festgelegt worden sei. Dabei sei dann auch die Bestim- mung betreffs der alljahrlichen Abstimmung uber die Abhaltung einer Ostrako- phorie, wie sie in Ath. Pol. 43,5 beschrieben ist, auf die cKKkTcXria KUpica der

sechsten Prytanie festgelegt worden.15

die Zeit der Abfassung der Schrift in Kraft geblieben sei. Diese Angabe ist jedoch viel zu

aligemein gehalten, als daI man sie als Zeugnis fur das unveranderte Bestehen einzelner

Verfassungsinstitute verstehen durfte (zu den Anderungen einzelner Verfassungsinstitu-

tionen nach 403 s. etwa P. J. Rhodes, Athenian Democracy after 403 B. C., CJ 75, 1980,

305-323). 12 S. jetzt die eingehende Kommentierung der Stelle durch W. Scheidel / H. Taeuber in:

Ostrakismos-Testimonien I (wie Anm. 1) 465-471 (dort auch die weiterfUhrende Lit.).

13 S. dazu Rhodes, Commentary (wie Anm. 8) 521f.

14 M. Errington, Exickijoia Kcupia in Athens, Chiron 24, 1994, 139-143. S. jedoch u., Anm.

18. 15 Errington, 'EKiCXr1oia KcUpia (wie Anm. 14) 146-158, bes. 153f.

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Errington auBert sich nicht explizit zu der Frage, ob und in welcher Form der Ostrakismos zwischen der Hyperbolos-Ostrakophorie und 337/6 bestanden habe, er neigt jedoch sichtlich der Auffassung zu, daB es sich zumindest in praktischer Hinsicht um eine tote Rechtsnorm gehandelt habe, die im Zuge der Reform von 337/6 bewuBt ,wiederbelebt' worden sei. Das Motiv fur diese Wiederbelebung mochte Errington in der nach der Niederlage von Chaironeia verbreiteten Furcht der Athener vor einem antidemokratischen Umsturz erbli- cken, einer Furcht, die etwa im zeitlich nahestehenden Antityrannis-Gesetz des Eukrates (SEG 12,87) deutlichen Ausdruck gefunden habe.16

Erringtons Auffassung von der ,Wiederbelebung' des Ostrakismos blieb nicht unwidersprochen. Im Zuge einer ausfuhrlichen Auseinandersetzung mit Erringtons Arbeit17 verweist Rhodes unter anderem darauf, daB eine Anderung der Dekret-Einleitungsformel nicht zwangslaufig als Beweis fur eine Reform der dahinterstehenden Verfassungsinstitutionen gewertet werden miisse. 18 Was den Ostrakismos betreffe, so ist es nach Rhodes a priori nicht wahrscheinlich, daB 337/6 eine jahrliche Abstimmung uber die Abhaltung einer Ostrakophorie eingefuhrt worden sein solle, nachdem es 80 Jahre lang kein Verlangen nach einem derartigen Votum gegeben habet9 - eine Auffassung, die aus grundsatz- lichen Erwagungen heraus viel fur sich hat, aber mangels fester Quellenbelege auf ebenso unsicherem Grund steht wie Erringtons Vermutung uber die Wie- derbelebung des Ostrakismos 337/6. Es scheint daher angebracht, nach weite- ren Uberlegungen und, wenn moglich, quellengestiitzten Indizien zu suchen, die uns in der Frage der Existenz des Ostrakismos zwischen 415 und 336 zu einem hoheren Grad an Wahrscheinlichkeit verhelfen konnen.

IV. Argumente gegen die Vorstellung von der Umsturzfurcht als Motiv fur eine Wiederbelebung des Ostrakismos um 337/6

Will man die Moglichkeit einer ,Wiederbelebung' des Ostrakismos um 336 einer kritischen Prufung unterziehen, so bietet es sich an, hierbei zunachst von

16 Errington, 'EKKXTlcia UKJpia (wie Anm. 14) 152-155. 17 P. J. Rhodes, Ekklesia Kyria and the Schedule of Assemblies in Athens, Chiron 25, 1995,

187-198. Akzeptiert von G. A. Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen, Opladen 1997, 104, Anm. 130.

18 Rhodes, Ekklesia Kyria (wie Anm. 17) 188f.; fur diese Auffassung s. neuerdings auch S. V. Tracy, An Athenian Decree of the Year 335/4, Hesperia 67, 1998, 220f., der darauf verweist, daB aus der Periode von 336/5 bis 322/1 mehrere Psephismata uberliefert sind, die nicht alle Bestandteile der von Errington festgestellten ,reformierten' Formel enthal- ten. ,,This fact suggest that the change was as likely to be in the style of preambles as one that had legal or constitutional substance."

19 Rhodes, Ekklesia Kyria (wie Anm. 17) 197f.

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der zugrundeliegenden Annahme Erringtons auszugehen, derzufolge diese MaI- nahme durch die um 336 herrschende Tyrannisfurcht motiviert gewesen sei.

Es lassen sich zwei Uberlegungen geltend machen, die gegen eine Verbin- dung dieser - zweifellos historischen - Umsturzfurcht mit der Ostrakismos- Epicheirotonie von Ath. Pol. 43,5 sprechen:

1) Die Liste der alljahrlich in der ic'iXKaia Kupia der sechsten Prytanie abzuhandelnden Angelegenheiten in Ath. Pol. 43,5 enthalt neben der Ostrakis- mos-Epicheirotonie zwei weitere fixe Programmpunkte, die icpolokXai gegen Sykophanten und wegen Nichteinhaltung der gegenuber dem Demos gemach- ten Versprechungen, fur die sich - wie Errington selbst bemerkt2() - kein Zusammenhang mit der Umsturzfurcht von 337/6 deutlich machen ld3t.21 Kann man aber im Falle dieser beiden itpol3okaX nicht von einer durch die Situation von 337/6 bedingten Neueinfuhrung (bzw. Wiederbelebung) ausgehen, so wird man auch die Ostrakismos-Epicheirotonie ohne zusatzliche Evidenz nicht zwangslaufig als eine solche interpretieren konnen.

2) Errington fuhrt zu Recht das sogenannte Antityrannis-Gesetz des Eukra- tes (SEG 12,87)22 als Beleg fur die nach der Schlacht von Chaironeia in Athen herrschende Umsturzfurcht an. Vergleicht man jedoch die Bestimmungen des Eukrates-Gesetzes mit der Regelung der Ostrakismos-Epicheirotonie von Ath. Pol. 43,5, erhalt man nicht den Eindruck, daB beide MaBnahmen als Reaktionen auf ein- und dieselbe politische Situation zu verstehen seien. Dem Antrag des Eukrates scheint die Furcht vor einem revolutionaren, mit gewaltsamen Mitteln durchgefuhrten Umsturz der demokratischen Staatsordnung zugrunde zu lie- gen.23 Es fallt schwer, zu glauben, daB die durch die C7ttXEpotovita auf einen engbegrenzten Zeitraum innerhalb des Jahreslaufs beschrankte Moglichkeit der Abhaltung einer Ostrakophorie als adaquates Hilfsmittel gegen Bedrohungen dieser Art gelten konnte.24

20 Errington, 'EKKXTjOia cupia (wie Anm. 14) 15 1.

21 Uberlegungen zu moglichen inhaltlichen Zusammenhangen zwischen den in Ath. Pol.

43,5 genannten Programmpunkten bietet M. R. Christ, Ostracism, Sycophancy and De-

ception of the Demos: Ath. Pol. 43,5, CQ 42, 1992, 336-341 und 346, der die Verbindung

dieser Punkte im Programm der KicikTiia i.pia der sechsten Prytanie vermutungsweise

in die Zeit der demokratischen Restauration nach 403 datieren mochte.

22 Beschlossen ca. Mai / Juni 336; zu diesem Gesetz s. die neueren Arbeiten von J. Engels

(Das Eukratesgesetz und der ProzeB der Kompetenzerweiterung des Areiopags der Eubu-

los- und Lykurgara, ZPE 74, 1988, 195-204) und R. W. Wallace (The Areiopagos

Council to 307 B. C., Baltimore 1989, 179-184), mit der alteren Literatur.

23 SEG 12, 87 Z. 7 ?av rt; ?navcaPrc tr 8i.p irnt Jtipavvi8t ... 24 Vgl. L. G. Hall, Remarks on the Law of Ostracism, Tyche 4, 1989, 93 . a dangerous

individual or group prepared to resort to extra-legal means in pursuance of their goals

would be rendered not a bit less dangerous by the law of ostracism."

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V. Positive Indizien fur die kontinuierliche Weiterexistenz des Ostrakismos nach 415

Sind die im voranstehenden gebotenen Uberlegungen geeignet, die Vorstel- lung von einem Zusammenhang zwischen der Umsturzfurcht von 337/6 und der Fixierung der Ostrakismos-Epicheirotonie in Frage zu stelten, so lassen sich in der Uberlieferung daruber hinaus drei positive Indizien finden, die fur die institutionelle Existenz des Ostrakismos zwischen der Zeit der Hyperbolos- Ostrakophorie und der Epoche des Eukrates-Gesetzes zu sprechen scheinen:

1) In der unter dem Namen des Andokides uiberlieferten Rede ,Gegen Alkibiades', einer Schrift, die wir aller Wahrscheinlichkeit als ein in den Jahren zwischen 403 und 395 v. Chr. entstandenes politisches Pamphlet zu verstehen haben,25 findet sich eine ausfiihrliche und grundsatzliche Kritik an der Institu- tion des Ostrakismos.26 Die Bedeutung, die der Autor der Schrift dieser Ostra- kismoskritik zuweist, wird nicht nur an ihrer Plazierung am Beginn der Rede deutlich, sondern auch an der Tatsache, daB sie gewissermaBen einen Fremd- korper bildet, der mit dem eigentlichen Argumentationsziel des fiktiven Spre- chers in keinem logischen Zusammenhang steht.27

Diese auffallende Prominenz des Themas ,Ostrakismos' in der pseudo- andokideischen Rede laBt den SchluB zu, daB, wie bereits Gernet vermutet hat,28 die Frage nach einer moglichen Wiederanwendung des Scherbengerichts in den Augen des Verfassers ein aktuelles Thema der athenischen Innenpolitik seiner Zeit dargestelit hat. Wenn dies auch, rein fur sich genommen, nicht als zwingender Beweis fur die gleichzeitige Existenz der Institution gelten kann, darf man doch die Feststellung treffen, daB sich Pseudo-Andokides' Ausfuh-

25 Zur Diskussion um Verfasserschaft, Datierung und Zweck der Rede gegen Alkibiades s. die neuen Kommentare von P. Cobetto Ghiggia ([Andocide] Contro Alcibiade, Pisa 1995) und F. Gazzano (Pseudo-Andocide. Contro Alcibiade. Introduzione, traduzione e com- mento storico, Genua 1999). Gegen den Versuch der letztgenannten Autorin, die Rede als einen authentischen Beitrag zu einer im Fruhjahr 415 abgehaltenen Ostrakophorie zu erweisen (im genannten Kommentar S. XXVIII-LVI; vgl. dies., Gli ,,errori" dello Ps.- Andocide, MGR 21, 1997, 45-60), s. jetzt H. Heftner, Die pseudo-andokideische Rede ,,Gegen Alkibiades" (QAnd.] 4) - ein authentischer Beitrag zu einer Ostrakophoriedebatte des Jahres 415 v. Chr.?, Philologus 145, 2001, 39-56.

26 [And.] 4,2-8; s. dazu jetzt den Kommentar von B. Eder / H. Heftner in: Ostrakismos- Testimonien I (wie Anm. 1), 283-301 mit weiteren Literaturangaben.

27 Man beachte den Widerspruch zwischen der Ostrakismoskritik in [And.] 4, 2-7 und den Ausfuhrungen in ?? 35.40.42, wo dem Ostrakismos durchaus eine gewisse Berechtigung zuerkannt wird; s. dazu H. Heftner, Ps.-Andokides' Rede gegen Alkibiades [And.] 4 und die politische Diskussion nach dem Sturz der ,DreiBig' in Athen, Klio 77, 1995, 98-103; vgl. jetzt auch dens. in: Ostrakismos-Testimonien I (wie Anm. 1), 322f.

28 L. Gemet (Notes sur Andocide II. Le discours Contre Alcibiade, RPh 5 [571, 1931, 314; vgl. Heftner, Ps.-Andokides' Recle (wie Anm. 27) 102.

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rungen mit der Annahme einer solchen Existenz eher vereinbaren lassen als mit der Vorstellung, die Kritik dieses Pamphletisten hatte sich an einem auch formal bereits abgeschafften Rechtsinstitut entzundet.

2) Ein mogliches Indiz fur die Aktualitat des Ostrakismos nach 416 findet sich auch in einer authentischen Andokides-Passage: In seiner 399 gehaltenen ,,Mysterienrede" zitiert der Redner ein nach der Wiederherstellung der Demo- kratie im Jahre 403 erlassenes Gesetz, demzufolge es ,,nicht erlaubt sein solle, ein Gesetz zu erlassen, das sich gegen einen einzelnen richtet ohne gleichermaBen fur alle anderen Athener zu gelten, wenn es nicht von 6000 [Burgern] in geheimer Abstimmung beschlossen wird" (,jUT&? ?JI' av6pt v6gov 6eivat OCtvat, E'av 1l1 Tov act6v E''t iaotv 'AOqvatot;, ?av Pln ?tactaXtXiot; 60 KPU6rv Vrn?oIiRvot; - And. 1,87; mit geringen Abweichungen auch bei Demosth. 24,59).

Die hier festgelegte Erfordemis einer Mindestzahl von 6000 Abstimmen- den wie auch einer geheimen Abstimmung legt die Ansicht nahe, daB der Gesetzgeber beim ErlaB der Klausel Eh6tv jP itawcotXiot; 606n Kpvlj4lv

w1i4jloiovot; das Verfahren bei der Ostrakophorie im Auge hatte,29 fur das uns die Erfordemis eines Quorums von 6000 und die geheime Abstimmung aus- drucklich uberliefert sind.30 Trifft dies zu, so haben wir die betreffende Bestim- mung wohl als einen Versuch zu werten, die radikal-demokratische Institution des Ostrakismos auch in dem ansonsten von einer Tendenz zur Einschrankung der Volkssouveranitat gekennzeichneten Klima von 403 aufrechtzuerhalten.31

3) Aristoteles spricht in einer aller Wahrscheinlichkeit nach vor 336/5 entstandenen32 Passage des dritten Buches seiner ,,Politik" im Prasens vom Ostrakismos als einem bestehenden Rechtsinstitut der demokratischen Staaten (Aristot. Pol. 3, 1284 a 17-22 = Ostrakismos-Testimonien I T 34):

... 5o iKat TiOEvTat 6Ov 0oTpaKct(gov ai 8,u?oKpatoX,JJtvat 1no x?t;, 6tai

Tilv totaxrT"v actiavc airat y'ap Tj 6o0COikUt &6CEIv tnIV t'CoTTa gaktucsta

29 So bereits Maidment in einer Anmerkung zu seiner Ubersetzung von And. 1,87 (K. J.

Maidment [Hrsg.], Minor Attic Orators 1, Cambridge MA / London 1941, S. 407, Anm.

a); vorsichtiger W. R. Connor / J. J. Keaney, Theophrastus on the End of Ostracism, AJPh 90, 1969, 313 Anm. 5: ,,The law cited in Andocides I, 87 ... seems to make

provision for the continued existence of practices similar to ostracism." 30 Philoch. FGrHist 328 F 30 und Schol. Aristoph. equ. 855b; die Erfordemis von 6000

Stimmen erwahnt auch Plutarch (Arist. 7,6), der sie allerdings als Gesamt-Quorum darstellt, wahrend die beiden erstgenannten Stellen von 6000 gegen einen einzelnen Kandidaten gerichteten Voten sprechen. Zu dieser Streitfrage s. jetzt Errington, EKKXfl-

Cia Kcvpia (wie Anm. 14) 156f., Anm. 82 (mit der alteren Lit.) und B. Eder / H. Heftner

in: Ostrakismos-Testimonien I (wie Anm. 1) 288f. 31 Zu den verfassungspolitischen Tendenzen von 403 und den Gruinden fOr eine Beibehal-

tung des Ostrakismos s. Heftner, Ps.-Andokides' Rede (wie Anm. 27) 99f. und 102.

32 Zur Datierung von Kap. 13 der aristotelischen Politik s. jetzt H. Heftner in: Ostrakismos-

Testimonien I (wie Anm. 1) 417-419.

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Ende und ,Nachleben' des Ostrakismos in Athen 3 1

lravtwv, Coc)TE Toi; 8oKoiWva; pt?p?XElV 65iv6jit 68t RXoitov i1 toXk-uOXtav T, tJVQ XXTIV toXtrtKCTlV L'TXGL)V 6(YOTpa'Kt~0V KC. t' Oaaa cPj c~o 71 rtva akn tXTWVi%V@TaEO a gcOicracav EK T~;n6xmk?@

XPOVOUi; Wpu9vOU;.

,,Und deshalb setzen die demokratischen Staaten den Ostrakismos ein, aus dem folgenden Grund: denn diese streben offensichtlich am meisten nach Gleichheit, so daB sie immer wieder Leute, die durch Reichtum, zahlreiche Anhangerschaft oder irgendeinen anderen Faktor politischer Starke an Macht uberlegen zu sein schienen, einem Scherbengericht unterwarfen und fur be- stimmte Zeitspannen aus dem Staat entfernten."

Man hat bei der Bewertung dieser Passage zweifellos in Rechnung zu stellen, daB es Aristoteles an dieser Stelle weniger auf historische Prazision als auf die Beschreibung allgemeingUltig-uberzeitlicher Tatbestande des politi- schen Lebens ankommt, und daB seine Aussage moglicherweise auf zu seiner Zeit bestehende ostrakismosartige Institutionen auBerhalb Athens bezogen wer- den kann.33 Dennoch spricht m. E. die groBere Wahrscheinlichkeit dafur, die zitierte Passage als Zeugnis fur die Existenz des Ostrakismos im Athen der Zeit der 340er bzw. der fruhen 330er Jahre zu werten:34 Es ist schwer vorstellbar, daB Aristoteles damals den Ostrakismos als eine Institution bezeichnet haben soll, die in den 8'qogKpatoU'gvvac nox6t; immer wieder (so durfen wir wohl das Prasens ti0cvxat verstehen) in Geltung gesetzt werde und fur diese speziel- le Staatsform typisch sei, wenn dieser gerade in Athen, dem Paradigma aller hellenischen Demokratien, als definitiv abgeschafft gegolten hatte.

Angesichts der im voranstehenden ausgefuhrten Zweifel an der Tauglich- keit des Ostrakismos als Mittel der Umsturzverhinderung und der fur eine Aktualitat der Institution zwischen 415 und 336 sprechenden Indizien ist es m. E. gerechtfertigt, von einem kontinuierlichen Weiterbestehen der Ostrakis- mos-Institution in Athen zwischen 415 und 337/6 auszugehen.

Die von Errington auf Grund solider epigraphischer Indizien rekonstruierte Reform des Schemas der athenischen Ekklesien um 337/6 braucht deswegen nicht in Frage gestellt zu werden; zweifelhaft erscheint jedoch die Annahme desselben Forschers, daB der Ostrakismos im Zuge dieser Reform aus der Versenkung geholt und als Instrument des Staatsrechts wiederbelebt worden sei. Im Hinblick auf unsere oben ausgefuhrten Uberlegungen wird man die Festlegung der Epicheirotonie auf die EKKXIOtia Kcupia der sechsten Prytanie, die wir mit Errington auf die Zeit um 337/6 datieren konnen, nicht als Neuein-

33 Zu diesen Moglichkeiten s. B. Eder in: Ostrakismos-Testimonien I (wie Anm. 1) 422f Anm. 2.

34 DaB Aristoteles an der zitierten Stelle vom Ostrakismos ,,wie von einer noch zu seiner Zeit existierenden Sache spricht", bemerkt auch 0. Gigon im Kommentar zu seiner Ubersetzung der aristotelischen ,,Politik" (Aristoteles. Politik, Zurich / Munchen 21971, 313).

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32 HERBERT HEFrNER

fuhrung, sondern als eine im Zuge dieser Reform erfolgte Adaption einer regelmaBig geubten Praxis an das damals eingefuhrte neue Schema der atheni- schen Volksversammlungen zu verstehen haben.

Wir konnen daher davon ausgehen, daB das Ostrakismos-Gesetz und damit auch die jahrliche Epicheirotonie uber die Abhaltung einer Ostrakophorie wah- rend des ganzen zwischen der Hyperbolos-Ostrakophorie und der Abfassungs- zeit der Athenaion Politeia liegenden Zeitraumes (von den oligarchischen Zwischenspielen 41 1/10 und 404/3 naturlich abgesehen) Bestandteil des gel- tenden athenischen Staatsrechts gewesen ist.

VI. Zwischenbilanz: Die Fragwurdigkeit der plutarchischen Uberlieferung uber das Ende des Ostrakismos

Kehren wir nun zum Ausgangspunkt unserer Betrachtungen, der Frage nach der Historizitat von Plutarchs Angaben uber das Ende des Ostrakismos, zuruck, so haben wir nach den obigen Ausfuhrungen die Tatsache zu beruck- sichtigen, daB Athens BUrger nach der Ostrakisierung des Hyperbolos mehr als achtzig Jahre lang alljahrlich Gelegenheit gehabt haben, sich fur die Durchfuh- rung einer Ostrakophorie zu entscheiden, ohne jedoch in der Praxis von dieser Moglichkeit Gebrauch zu machen. Es widersprache aller historischen Wahr- scheinlichkeit, diese langandauernde konsequente Nichtanwendung einer an sich bestehenden Institution mit Plutarch lediglich auf die Nachwirkungen der sich an den Sonderfall der Hyperbolos-Ostrakophorie knupfenden ublen Erin- nerungen zuruckzufuhren.

Der von Plutarch betonte Unwille des athenischen Demos uber den ,,unan- gemessenen" Ausgang der Ostrakophorie, dessen Historizitat wir nicht zu bezweifeln brauchen, mag hingereicht haben, den Athenern einige Jahre lang die Anwendung des Scherbengerichts zu verleiden, kann aber seine Wirkung wohl kaum uber den groBeren Teil eines Jahrhunderts erstreckt haben, wenn nicht andere Umstande hinzukamen, die den Nichtgebrauch zum Dauerzustand werden lieBen.

Leider laBt sich die Frage nach der konkreten Natur dieser Umstande angesichts der kargen Uberlieferung nicht mit Sicherheit beantworten. In der Forschung sind diesbezuglich mehrere Vermutungen geauBert worden, von

denen insbesondere der Hinweis auf eine mogliche ,Ersetzung' des Ostrakis- mos durch die 415 erstmals belegte Graphe paranomon Beachtung verdient,35

35 Uberlegungen in diese Richtung bieten etwa J. T. Roberts, Accountability in Athenian

Government, Madison/W. 1982, 153f.; H. B. Mattingly, The Practice of Ostracism at

Athens, Antichthon 25, 1991, 25; M. H. Hansen, The Athenian Democracy in the Age of

Demosthenes, Oxford 1991, 205 und Rhodes, Ostracism of Hyperbolus (wie Anm. 6) 97.

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Ende und Nachleben' des Ostrakismos in Athen 33

doch mussen mangels positiver Quellenevidenz alle diesbezuglichen Versuche im Bereich der Spekulation bleiben.

VII. Die alternative Tradition vom Ende des Ostrakismos in Schol. Aristoph. equ. 855b

Die auLerplutarchische Uberlieferung gibt uns immerhin einen konkreten Hinweis in die Hand, in welcher Richtung wir die Erklarung fur das Abkommen des Ostrakismos zu suchen hatten: In einem moglicherweise auf Theophrast zurUckzufuhrenden36 Scholion zu Aristoph. equ. 855 findet sich im Anschluf an die mit Plutarch ubereinstimmende Feststellung, das Scherbengericht habe mit Hyperbolos sein Ende gefunden, die uberraschende Begrundung, man ,,habe das Gesetz (sc. uber den Ostrakismos) nicht mehr angewendet wegen der Schwache, in der sich die Angelegenheiten Athens hernach befanden" (Schol. Aristoph. equ. 855b = Theophrast, Nomoi fr. 18b Szegedy-Maszak = 640b Fortenbaugh: Xpt & Yl?pj Y XOA) 6 60TpaiKUt6; 7rpoao6dV ?i& c6oi5 KatEXlTf, JP vco7 &vO(av)37 TC V CC & TIv &aCOvVtav tIIV 7y7CVy CV-

TIV tot; TCOV 'AOvcvatiow lpayjaatv TTEpOV...).

Die Knappheit des Fragments, die Ambiguitat des Begriffes oOaEvcta und der Mangel jeglicher Paralleliuberlieferung stellen dem Verstandnis der in die- sem Scholion gegebenen Begrundung fur das Ende des Ostrakismos schwer uberwindbare Hindernisse entgegen. Es kann daher nicht verwundern, daB die Stelle in der Forschung wenig Beachtung gefunden hat; soweit ich sehe, sind nur zwei Versuche zur Deutung der betreffenden Passage vorgetragen worden.

36 FUr die theophrastische Herkunft von Schol. Aristoph. equ. 855b s. H. Bloch, Theophras- tus' Nomoi and Aristotle, HSCPh Suppl. I (pres. to W. S. Ferguson), 1940, 358-361; A. E. Raubitschek, Theophrastos on Ostracism, C&M 19, 1958, 78-81 und Connor / Keaney, Theophrastus (wie Anm. 29) 315f. Aufgrund der durch diese Arbeiten gewonnenen Erkenntnisse hat das Scholion Aufnahme in Szegedy-Maszaks Sammiung der Fragmente von Theophrasts Nomoi (A. Szegedy-Maszak, The Nomoi of Theophrastus, New York 1981, fr. 1 8b) wie auch in Fortenbaughs umfassende Sammlung der Theophrast-Testimo- nien (W. W. Fortenbaugh u. a., Theophrastus of Eresus. Sources for his Life, Writings, Thought and Influence II, Leiden 1992, Nr. 640b) gefunden. Fur eine skeptische Position hinsichtlich des theophrastischen Ursprungs des Fragments s. A. J. Podlecki, Theophras- tus on History and Politics, in: W. W. Fortenbaugh u. a. (Hrsg.), Theophrastus of Eresus. On his Life and Works, New Brunswick u. a. 1985, 236: ,,lt is uncertain how much, if any, of this can be credited to Theophrastus". Vgl. jetzt auch J. J. Keaney, Theophrastus on Ostracism and the Character of his NOMOI, in: M. Pierart (Hrsg.), Aristote et Athenes, Fribourg 1993, 262f.

37 Zur Emendation des in den mss. uberlieferten Partizipiums ioKaOvavTo; zu UWaKo)u-

odvToV und zu der sich daraus ergebenden Ubersetzung s. Connor/Keaney, Theophrastus (wie Anm. 29) 315.

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34 HERBERT HEF-TNER

Der erste dieser Versuche stammt von Bloch, der, gestutzt auf die Parallele einer Aristotelesstelle38 die ctad0cvca des Scholions im politischen Sinne als

,Schwache der Demokratie' verstehen mochte: Der dem Scholion zugrunde liegende Autor habe den Ostrakismos als Mittel zur Starkung der Demokratie verstanden und konsequenterweise die Ursache fur das Abkommen dieser Institution in der Schwachung des demokratischen Prinzips im spaten 5. Jh. erkannt.39

Demgegenuber mochten Connor und Keaney den Ausdruck konkret verste- hen und ihn auf die Belastungen des athenischen Burgerschaftskorpers im Zuge der Sizilienexpedition und der folgenden Kriegshandlungen beziehen, die es unmoglich gemacht hatten, das fur eine gultige Ostrakophorie vorgeschriebene Quorum von 6000 Abstimmenden zu erreichen.40

Beide Deutungen mussen als hypothetisch angesehen werden. Blochs The- orie hangt an einer Parallelstelle, die, fur sich genommen, nicht mehr belegen kann als die bloBe Moglichkeit einer politischen Verwendung des Wortfeldes

aOFEviqO;/aaOev?a in der Sprache der Peripatetiker; die Deutung von Connor und Keaney wiederum hat angesichts der Tatsache, daB die Verluste wahrend des Peloponnesischen Krieges eine dauemde Reduktion der athenischen Bur- gerzahl zur Folge hatten, einiges fur sich, muB aber doch mit Vorsicht genom- men werden, wenn man bedenkt, daB Athens Burgerschaft selbst auf ihrem Tiefstand nach 403 die Zahl von 6000 um mehr als das Doppelte uberstieg und im dritten Drittel des 4. Jh. wieder deutlich uber der 20000er-Marke gelegen haben dUrfte.41

Aber wenn auch die konkrete Deutung des Begriffes Oas0veta im Bereich

des Ungesicherten bleiben muB, so wird doch deutlich, daB in der hier zugrunde liegenden Tradition die Nichtanwendung des Ostrakismos mit einem ,Unver- mogen' der Athener begrundet worden ist: Nicht ein subjektives Nicht-mehr- Wollen wie bei Plutarch, sondern ein durch objektive Umstande bewirktes Nicht-Konnen wird hier fur das Abkommen dieser Institution verantwortlich gemacht.

38 Aristot. rhet. 1360 a 25f.... otov 6l?toipaxia ov g6vov dvt??vij &o0eve TEpa yiyve-

Tat ...

39 Bloch, Theophrastus' Nomoi (wie Anm. 36) 360f.

40 Connor / Keaney, Theophrastus (wie Anm. 29) 318gf.; vgl. Keaney, Theophrastus (wie

Anm. 36) 264. 41 Zum Ruckgang der Burgerzahl wahrend des Peloponnesischen Krieges s. B. S. Strauss,

Athens after the Peloponnesian War. Class, Faction and Policy 403-386 B.C., London

1986, 70-86 bes. 80f. Im spateren Verlauf des 4. Jh. diirfte die Biirgerzahl wieder um

einiges hdher gelegen haben, s. J. M. Williams, Solon's Class System, the Manning of

Athens' Fleet, and the Number of Athenian Thetes in the Late Fourth Century, ZPE 52,

1983, 241-245 (mit einem Uberblick uber die vorangegangene Forschungsdiskussion

zwischen M. H. Hansen und E. Ruschenbusch).

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Ende und ,Nachleben' des Ostrakismos in Athen 35

Akzeptieren wir diese Grundkonstellation, ohne uns auf den Versuch zur naheren Bestimmung der im Scholion angesprochenen aioOtvEta einzulassen, so erhalten wir einen Erklarungsansatz, der geeignet scheint, die Diskrepanz zwischen der formalrechtlichen Beibehaltung des Ostrakismos und seiner prak- tischen Nichtanwendung zu uberbrucken.

Von der bei Plutarch tradierten Behauptung einer volligen Diskreditierung des Ostrakismos durch den Fall des Hyperbolos muB man, wenn man sich diesen Ansatz zu eigen macht, freilich Abschied nehmen; es steht im Gegenteil zu vermuten, daB in der Beibehaltung der Institution eine gewisse emotionale Bindung der athenischen Burgermehrheit an ein mit der groBen Zeit der Demo- kratie verbundenes Verfassungsinstitut zum Ausdruck kommt,42 das sich auch durch die (in der daOE'veta des Scholiasten ausgedruckten) Hemmnisse der praktischen Anwendung nicht hindern lieB, die Institution selbst und die Tradi- tion der regelmaBigen Epicheirotonie uber den langsten Teil eines Jahrhunderts hinweg am Leben zu halten.

VIII. Das Datum der endgultigen Abschaffung des Ostrakismos in Athen

Zum AbschluB haben wir noch kurz auf die Frage nach dem tatsachlichen Ende des athenischen Ostrakismos einzugehen.

Den Ansatzpunkt fur die Untersuchung dieser Problematik bietet uns ein namentlich uberliefertes Fragment aus den Nomoi des Theophrast, in dem sich die Feststellung findet, daB der Ostrakismos mit Hyperbolos auBer Gebrauch gekommen sei (Schol. Lukian. Timon 30 p. 1 14 Rabe = Theophrast, Nomoi fr. Nr. 18a Szegedy-Maszak = 640a Fortenbaugh): it'ti TOi6TOU [SC. 'YnFrpj36XOu]

Keai Kot6 'Oo; toi 6oyTpaKUTjo0i5 KaUTXi071, r'; ee60pacto; ev TCj iepi N6gov Xvyet.

Connor und Keaney vermuten, daB Theophrast an der dem Scholion zugrunde liegenden Stelle seiner Nomoi bewuBt den Ausdruck Oo; KateXi0ij (im Ge- gensatz zu v6oo; KQatEkX1Oi) verwendet habe, weil zur Zeit der Abfassung der Nomoi die Anwendung des Ostrakismos auBer Gebrauch gekommen, das Ge- setz selbst aber formal noch in Geltung gewesen sei. Trafe diese Deutung zu, so hatten wir damit ein Zeugnis, daB das Gesetz uber den Ostrakismos zur Zeit der - wahrscheinlich nach 322 entstandenen43 - Nomoi noch in Geltung war, daB also die in Ath. Pol. 43,5 zugrunde gelegte Situation auch nach 322 Bestand gehabt hatte.

42 Als indirektes Zeugnis fir diese GefLhlsbindung duirfen wir wohl die Ostrakismos- Partien des Pseudo-Andokides ([And. 4] 2-7) ansehen, s. Heftner, Ps.-Andokides' Rede (wie Anm. 27) 102.

43 Zur Datierung der theophrastischen Nomoi s. Szegedy-Maszak, Nomoi (wie Anm. 36) 80f.

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36 HERBERT HEFTNER

Bei einer Prufung der von Szegedy-Maszak gesammelten Nomoi-Fragmen- te ergibt sich jedoch, daB die Verwendung von iOo; statt v6lIo; auch in anderen Partien dieses theophrastischen Werkes ihre Parallele hat. Man gewinnt den Eindruck, daB der Peripatetiker den Begriff 5Oo; dort verwendet, wo er sich nicht auf eine abstrakte Gesetzesnorm, sondern auf einen auf einer solchen beruhenden staatsrechtlichen Brauch bezieht.44 Man wird daher der Verwen- dung dieses Begriffes in Fr. 18a Szegedy-Maszak keine besondere Aussage- kraft fur die Frage nach der Existenz des Ostrakismos-Nomos zuerkennen durfen. Auch die Verwendung des Passivaorists xaKQtX60T kann nicht als Argu- ment zur Entscheidung dieser Frage herangezogen werden, da das aoristische Tempus keine definitive Aussage uber das Bestehen des FOo; toi) o'GpwaK-

agoi5 zur Zeit der Abfassung des Fragments impliziert.45 Rein vom Wortlaut des Theophrastfragmentes her laUt sich daher die Moglichkeit einer Wiederein- fuhrung des Ostrakismos nach der von Theophrast berichteten Abschaffung nicht ausschlieBen.46 Auf der anderen Seite steht die Tatsache, daB nicht nur die kurze Notiz im Schol. Luc. Timon 30, sondern das wahrscheinlich ebenfalls auf Theophrast zuruckgehende Scholion zu Aristoph. equ. 855b keinerlei Hinweis auf eine Wiedereinfiihrung bieten. Zwar hat man hierbei zu beriicksichtigen, daB uns von den Scholiasten nicht der originale Wortlaut des Theophrast, sondern nur eine gekiirzte Zusammenfassung seiner Ausfiihrungen geboten wird, aber es fallt doch schwer zu glauben, daB ein sich auf Theophrast stutzen- der Scholiast den Ostrakismos definitiv mit dem Fall des Hyperbolos hatte enden lassen, wenn im Bericht des Peripatetikers eine formelle Wiedereinfuh- rung der Institution vermerkt gewesen ware. All dies muB freilich beim gegen- wartigen Stand unserer Evidenz im Bereich des Unwagbaren bleiben.

Ganz unabhangig aber von ihrem moglichen Zeugniswert fur die Frage nach der kontinuierlichen Weiterexistenz des Ostrakismos zwischen 416 und den 320er-Jahren bietet uns Theophrasts Aul3erung einen Anhaltspunkt fur den zeitlichen Ansatz des endgiultigen, formell-institutionellen Endes der Institu-

44 S. Fr. 3 Szegedy-Maszak (= Harp. s. v. xcaaXactpotovia) und Fr. 17 Szegedy-Maszak (= Harp. s. v. 'Ap6&rx6; bzw. Bekker, Anekd. I 443).

45 Die aoristische Phrase T6 Oo; TOV 6aTpaOKtyo6 icaTrxiOrI sagt strenggenommen nicht mehr aus, als daB der Ostrakismos irgendwann in der Vergangenheit auBer Gebrauch gekommen sei, laWt aber die Frage nach der Existenz der Institution zur Zeit der Abfas- sung offen. Hatte Theophrast definitiv ausdrUcken wollen, daB der Ostrakismos in Folge der beschriebenen KcataXldxm auch noch zu seiner Zeit auBer Gebrauch sei, hatte er sich dazu eines perfektischen Tempus bedienen mussen wie er es in den Nomoi anscheinend an anderer Stelle getan hat (Fr. 17 Szegedy-Maszak, das uns in zwei abweichenden Formen Uberliefert ist: KcareX0 uxo o6 90o; Tojio in Harp. s. v. 'Ap68Tr6; bzw. KOcaXac-

__6_Oa_ T6 COooi ofro bei Bekker, Anekd. 1 443). 46 Den Hinweis auf diese Moglichkeit verdanke ich einer brieflichen Mitteilung von Prof.

Dieter Hennig (Regensburg), dem hierfur wie auch fur weitere nUtzliche Hinweise aufs

beste gedankt sei.

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Ende und ,Nachleben' des Ostrakismos in Athen 37

tion. Hier ist die Uberlegung maBgeblich, daB Theophrast nicht gut vom Ende des Ostrakismos reden konnte. wenn dieser noch, wie in Ath. Pol. 43,5 voraus- gesetzt, den Gegenstand einer alljahrlichen Abstimmung in der athenischen Ekklesie dargestellt hatte und somit Jahr fur Jahr die Chance eines praktischen Wiederauflebens der Institution gegeben gewesen ware. Im Grunde lieB sich die Tatsache, daB der Ostrakismos in der Praxis mit der Hyperbolos-Ostrako- phorie an sein Ende gekommen ist, erst dann definitiv feststellen, als mit der Abschaffung des Ostrakismos-Gesetzes diese Moglichkeit einer Wiederanwen- dung beseitigt war. Es ist daher sehr wahrscheinlich, daB Theophrast bei der Abfassung der unserem Fragment zugrunde liegenden Nomoi-Passage von einer Situation ausging, in der der Ostrakismos auch rechtlich und institutionell sein Ende gefunden hatte.47

Trifft dies zu, so hatten wir in der Abfassungszeit der theophrastischen Nomoi einen terminus ante quem fur die Abschaffung des Ostrakismos gewon- nen. Ziehen wir die Entwicklung der athenischen Verfassung wahrend der fraglichen Periode in Betracht, so liegt es nahe, in diesem Zusammenhang an die im Gefolge von Athens Niederlage im Lamischen Krieg erfolgte Verfas- sungsanderung zu denken, als mit der drastischen Reduktion der Burgerzahl und der Einschrankung der Rechte von Rat und Volksversammlung die traditi- onelle Demokratie durch eine Reformverfassung mit deutlich oligarchischen Zugen abgelost wurde. Von der Burgerbeteiligung her nicht ganz so oligar- chisch, aber stark autoritar ausgerichtet, war dann jenes Regime, das nach einem kurzen demokratischen Zwischenspiel von 317 bis 307 unter der Agide von Theophrasts Schulgenossen Demetrios von Phaleron die Macht in Athen innehatte.48 Die politische Ausrichtung dieser Regime ware mit der Beibehal- tung einer radikal-demokratischen, mit der Vorstellung der Volkssouveranitat verknupften Institution wie des Ostrakismos wohl kaum vereinbar gewesen. DaB der Ostrakismos aber auch nach dem Ende der Herrschaft des Phalereers in

47 Die hier wiedergegebenen Uberlegungen uber den Zeugniswert von Theophrast, Nomoi Fr. 1 8a gehen auf Uberlegungen zuruck, die im Rahmen einer im Sommer 1995 unter der Leitung von Peter Siewert an der Universitat Wien organisierten Arbeitsgemeinschaft erarbeitet wurden. Es ist mir ein Bedurfnis, Professor Siewert wie auch allen iibrigen Teilnehmern an den damaligen Diskussionen an dieser Stelle meinen herzlichen Dank auszusprechen.

48 Zu den oligarchischen Reformen von 322 und 317 in Athen s. J. M. Williams, Athens Without Democracy, Diss. Yale Univ. 1982, 117-129 und 174-203; U. Hackl, Die Aufhebung der attischen Demokratie nach dem Lamischen Krieg 322 v. Chr., Klio 69, 1987, 58-71; Ch. Habicht, Athen. Die Geschichte der Stadt in hellenistischer Zeit, Munchen 1995, 50-57.61-75; ILehmann, Oligarchische Herrschaft (wie Anm. 17) 54-85; E. Poddighe, La natura del detto censitario stabilito da Antipatro per l'accesso al politeu- ma di Atene nel 322 a.C., DHA 23, 1997, 47-82; und zuletzt B. Dreyer, Untersuchungen zur Geschichte des spatklassischen Athen, Stuttgart 1999 (Historia-Einzelschriften Bd. 137), 157-164.180-186.

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38 HERBERT HEFrNER

der unter antigonidischem Schutz wiedererrichteten Demokratie nach 307 nicht mehr aus der Versenkung geholt wurde, darf man wohl aus der Tatsache erschlieBen, daB der im friihen 3. Jh. schreibende49 Atthidograph Philochoros im Zuge seines Abrisses iuber die Geschichte der Institution mit fast den gleichen Worten wie Theophrast eine act6Xixan; des Ostrakismos nach Hyper- bolos konstatiert.50

Angesichts all dessen durfen wir wohl davon ausgehen, daB der Ostrakis- mos im Zuge der auf den Lamischen Krieg folgenden politischen Umwalzun- gen sein definitives Ende gefunden hat.

Universitat Wien Herbert Heftner

49 Zur Abfassungszeit von Philochoros' Atthis s. F. Jacoby, Die Fragmente der griechischen

Historiker IlIb (Supplement), vol. 1, 241-244 und vol. II, 178.

50 Philoch. FGrHist 328 F 30 Rpa rTOi)TOV &e KOaTEXiJO t6 EOo;. Die sich angesichts der wortlichen Ubereinstimmungen zwischen dieser Stelle und Schol. Aristoph. equ. 855b

aufdrangende Frage einer moglichen Abhangigkeit dieses Philochoros-Fragmentes von

Theophrast (dazu s. Raubitschek, Theophrastos [wie Anm. 36] 81-83 und 102) mag hier

vorlaufig auBer acht bleiben. Es steht jedoch zu erwarten, daB diese Problematik im

Rahmen des derzeit unter der Leitung von Peter Siewert in Arbeit befindlichen zweiten

Bandes der Ostrakismos-Testimonien (vgl. Anm. 1) einer eingehenden Behandlung zuge-

fuhrt werden wird.

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