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Einführung in die Literaturwissenschaft 1: Literarizität

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Einführung in die Literaturwissenschaft

1: Literarizität

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Tutorien(Beginn: zweite Vorlesungswoche)

Katrin Becker & Luise Boege Di 16-18 LG2/315

Marie Eckhardt & Elena Stirtz Mi 12-14 LG1/124

Konstantin Schumann & Jenny Theiler Do 10-12 MG1/519

Svenja Berndt & Florian Karsubke Di 14-16 LG1/124

Lukas Burger & Mareike Klappert Mi 14-16 LG2/218a

Alle TutorInnen sind unter ihrer Uni-Adresse per mail erreich-

bar ([email protected]).

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Themenübersicht

• Literarizität: Was unterscheidet Literatur von anderen sprachlichen Äußerungen?

• Zeichen und Referenz: Wie stellt Literatur den Bezug sprachlicher Äußerungen auf ›Wirklichkeit‹ dar?

• Rhetorik: Was sind sprachliche ›Figuren‹?• Narration: Wie entstehen Geschichten?

• Autorschaft und sprachliches Handeln: Wie greift Schreiben in Wirklichkeit ein?

• Intertextualität und Intermedialität: Wie bezieht sich Literatur auf andere Texte / andere Medien?

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»Literarizität«

Was unterscheidet Literatur von anderen sprachlichen Äußerungen?

Diese Frage lässt sich nicht allgemein beantworten. Tradierte Texte, die wir heute ganz selbstverständlich als ›Literatur‹ begreifen, sind zu anderen Zeiten und in anderen kulturellen Zusammenhängen möglicherweise ganz anders betrachtet worden.

Unser heutiges Verständnis von der Besonderheit der Literatur unterscheidet sich etwa von dem, was noch im 18. Jahrhundert als eigentümliche Beschaffenheit lite-rarischer Texte verstanden wurde.

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»Zeitalter der Aufklärung« (18. Jh.)

Im 18. Jahrhundert sind die Erwartungen an die Literatur andere als die, die wir heute an literarische Texte haben.

Literatur sollte die Sinne ansprechen und erfreuen und zugleich eine Wahrheit vermitteln, die dem Leser zu moralischer Einsicht und zur Selbsterkenntnis verhilft.

Wahlspruch: „Prodesse et delectare“ („Nützen und erfreuen“)

Vgl. Horaz, Ars poetica (1. Jh. v. Chr.): „Aut prodesse volunt aut delectare poetae / aut simul et iucunda et idonea dicere vitae.“ („Die Dichter wollen entweder nützen oder unterhalten / oder zugleich Erfreuliches und für das Leben Nützliches sagen.“)

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»Zeitalter der Aufklärung« (18. Jh.)

Beispiel: Die Fabel

Die Aufgabe der Fabel ist es, »eine Lehre ganz durchsichtig zu machen«.

(Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst. Worinnen die Poetische Mahlerey in Absicht auf die Erfindung im Grunde untersuchet und mit Beyspielen aus den berühmtesten Alten und Neuern erläutert wird. Zürich 1740, S. 169f.)

Die Fabel „nützt“ durch die Lehre. Sie „erfreut“ durch die Anschauung.

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Johann Rudolf Schellenberg: Kupferstich zu Magnus Gottfried Lichtwers Fabel 'Der Fuchs' (1777)

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»Poetische Mahlerey«: Der Fuchs liest seine Geschichte UND sieht sein Bild.

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»Zeitalter der Aufklärung« (18. Jh.)

Beispiel: Die Fabel

»Wenn es der menschlichen Seele eine eigene, fortwährende Beschäftigung ist, sich Bilder zu schaffen, sie aus dem Chaos der Naturgestalten zu sondern, ihre Wirkungsart zu bemerken und solche mit einem Namen, den ihr der anschauende Sinn gab, zu bezeichnen: so konnte es unmöglich fehlen, daß nicht bald auch die äsopische Fabel entstehen mußte.«

(Johann Gottfried Herder: Über Bild, Dichtung und Fabel. In: Sämtliche Werke XV. Berlin 1888, S. 539)

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Die Rolle der Dichtung im 18. Jh.

Im 18. Jahrhundert war Literatur in besonderer Weise auf das menschliche Erkenntnisvermögen bezogen.

Es galt als die Funktion der poetischen Sprache, alle unzulänglichen Abstraktionen zu vermeiden und uns die Wahrheit anschaulich, klar, einleuchtend und einprägsam vor Augen zu führen.

Dichtung wurde verstanden als »poetische Mahlerey«, als ein Denken in Bildern. Vgl. Horaz: „ut pictura poesis“ („wie in der Malerei, so in der Dichtung“).

So ist auch einleuchtend, warum die Fabel bei den Aufklärern so beliebt war. Sie veranschaulichte eine Moral, die zugleich auch als Klartext ausgesprochen und der Erzählung hinzugefügt werden konnte.

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»Der unwissende Lehrmeister«

Diese belehrende und durch Anschaulichkeit erfreuende Funktion der Literatur wird in der Zeit um 1800 in Frage gestellt. In der Zeit Goethes und der Romantiker betrachtet man literarische Texte vor allem als sprachliche Kunstwerke, die sich durch ihre innere, gleichsam ›organische‹ Stimmigkeit, ihre Komplexität und Originalität auszeichnen. Kunstwerke (nicht nur literarische) erscheinen als ›autonom‹.

Das heißt: Seit 1800 will Literatur nichts mehr erklären. Wenn Literatur noch ›belehrt‹, dann ohne ihr Wissen, also ohne dass dafür eine bewusste belehrende Absicht maßgeblich wäre.

Literatur ist um 1800 zu einer Art »unwissendem Lehrmeister« geworden.

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»Der unwissende Lehrmeister«

Die Formulierung vom »unwissenden Lehrmeister« stammt von dem Philosophen Jacques Rancière. Rancière berichtet von dem französischen Gelehrten Joseph Jacotot, der seit dem Jahre 1818 in den Niederlanden an der Universität Löwen französische Literatur unterrichtete. Das Problem war: Jacotot konnte kein Niederländisch, während seine Studenten wiederum kein Französisch verstanden.

Jacotot brachte es tatsächlich fertig, seinen Studenten ohne eine einzige Lektion, ohne jegliche Erklärungen Französisch beizubringen. Er veranlasste sie, eigenständig und ohne fremde Hilfe Französisch zu lernen, indem er ihnen einen literarischen Text, nämlich Fénélons Telemach, in einer zweisprachigen, französisch-niederländischen Ausgabe zu lesen gab.

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Wie lässt sich durch Literatur etwas erfahren – ohne Erklärung?

Jacotots Studenten brachten sich selbst Französisch bei, indem sie die beiden Fassungen immer wieder lasen, mitein-ander verglichen und den französischen Text gründlich lernten.

Beflügelt durch seinen Erfolg, unterrichtete Jacotot in der Folge Gegenstandsbereiche, von denen er nichts verstand, in denen er also keine Erklärungen geben konnte. (Vgl. Jacques Rancière: Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation. Wien 2009.)

Auch die Literatur – die ja bei Jacotot ebenfalls im Spiel ist – fungiert wie ein solcher »unwissender Lehrmeister«. Aber wie lässt sich durch Literatur etwas erfahren – ohne Erklärung? Dies wird nun unsere Leitfrage sein.

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Viktor Šklovskij (1893-1984)

Eine mögliche Antwort auf diese Frage finden wir bei Viktor Šklovskij, dem

• russischen Literatur- und Kunstwissenschaftler, Schriftsteller

• und Mitbegründer des russischen Formalismus.

Aufsatz: »Die Kunst als Verfahren« (1916)

Šklovskijs kritische Ausgangsfrage lautet: Ist Kunst Denken in Bildern? Er schließt somit an die aufklärerische Position an, dass Literatur durch Anschaulichkeit belehrt – um diese zu hinterfragen.

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Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren« (1916)

zwei Grundannahmen, die nach Šklovskij FALSCH sind:

1. dass Literatur etwas durch Bilder unserem Verständnis nahebringen will

2. dass Literatur den Nutzen hat, das Denken auf dem leichtesten Wege zu einem gewünschten Begriff zu bringen

Šklovskij behauptet, daß Literatur WEDER AnschaulichkeitNOCH Nützlichkeit anstrebt – im Gegenteil!

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Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren« (1916)

Grundirrtum 1: Bildlichkeit

»Viele meinen also immer noch, das Denken in Bildern [...]sei das Hauptmerkmal der Dichtung. Folglich müßten dieseLeute erwarten, die Geschichte dieser, wie sie sagen, ›bild-lichen‹ Kunst werde aus der Geschichte der Abwandlungdes Bildes bestehen. Es erweist sich aber, daß die Bilderfast unbeweglich sind; unverändert wandern sie von Jahr-hundert zu Jahrhundert, von Land zu Land, von Dichter zu Dichter. [...] Die Bilder sind vorgegeben, und in der Dichtung gibt es weit mehr Erinnerung an Bilder als ein Denken in ihnen.« (S. 5)

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Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren« (1916)

Grundirrtum 2: Nützlichkeit (großer Nutzen bei geringem sprachlichem Aufwand)

»Das Gesetz von der Ökonomie der schöpferischen Kräfte

gehört ebenfalls zur Gruppe der allseits anerkannten

Gesetze.« Es besagt: »›Der Wert eines Stils besteht

namentlich darin, eine möglichst große Anzahl von

Gedanken in eine möglichst kleine Anzahl von Worten zu

fassen.‹« (S. 9, 11)

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Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren« (1916)

Grundirrtum 2: Nützlichkeit

»Der Gedanke von der Ökonomie der Kräfte [...] ist möglicherweise richtig in einem Sonderfall der Sprache, nämlich bei der Anwendung auf die ›praktische‹ Sprache. Weil man sich über den Unterschied zwischen den Gesetzen der praktischen und der dichterischen Sprache nicht klar war, hat man diesen Gedanken auch auf letztere ausgedehnt.« (S. 11)

Nach Šklovskij sind also Alltagssprache und Literatursprache voneinander zu unterscheiden! Auf diese Weise verwirft er den Wahlspruch des 18. Jh.: »Prodesse et delectare«.

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Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren« (1916)

›praktische‹ Sprache ist wie alle Alltagshandlungen

gekennzeichnet durch:

- Routine

- Automatisierung

- Unaufmerksamkeit- Unbewußtheit

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Tagebucheintrag von Tolstoj vom 29. Februar 1897

»Ich war dabei, in meinem Zimmer aufzuräumen, und als ich bei meinem Rundgang zum Sofa kam, konnte ich mich nicht mehr erinnern, ob ich es saubergemacht hatte oder nicht. Weil diese Bewegungen gewohnt und unbewußt sind, kam ich nicht darauf und fühlte, daß es unmöglich war, sich noch daran zu erinnern. Also, wenn ich es schon saubergemacht hätte und hätte es vergessen, d.h. wenn ich unbewußt gehandelt hätte, dann wäre es ganz genau so, als wäre es nicht gewesen. Wenn [...] das ganze komplizierte Leben bei vielen unbewußt verläuft, dann hat es dieses Leben gleichsam nicht gegeben.«

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Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren« (1916)

»So kommt das Leben abhanden und verwandelt sich in nichts. [...] Und gerade, um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ›Verfremdung‹ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrneh-mung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden; die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig.« (S. 15)

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Tolstoj, »Leinwandmesser«

»Die Worte ›mein Pferd‹ bezogen sich auf mich, ein lebendiges Pferd, und erschienen mir so seltsam wie die Worte ›meine Erde‹, ›meine Luft‹, ›mein Wasser‹. Aber diese Worte hatten auf mich einen ungeheuren Einfluß. Ich dachte unaufhörlich daran, und erst lange nach den allerverschie-densten Beziehungen zu Menschen verstand ich endlich die Bedeutung, die von den Menschen diesen seltsamen Worten zugeschrieben wird. Sie bedeuten folgendes: Die Menschen lassen sich im Leben nicht von Handlungen, sondern von Worten leiten. Sie lieben nicht so sehr die Möglichkeit, etwas zu tun oder nicht zu tun, wie die Möglichkeit, über verschie-dene Gegenstände die zwischen ihnen ausgemachten Wörter zu reden.«

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Tolstoj, »Leinwandmesser«

»Zum Beispiel die Wörter: meiner, meine, meines, die sie

von verschiedenen Dingen sagen, von Wesen und

Gegenständen, sogar von Erde, von Menschen und von

Pferden. Für ein und dieselbe Sache vereinbaren sie, daß

nur einer sagt: mein. Und wer von der größten Anzahl von

Dingen nach diesem unter ihnen ausgemachten Spiel sagt:

mein, der wird von ihnen für den Glücklichsten gehalten;

weshalb es so ist, weiß ich nicht, aber es ist so.«

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Konsequenzen aus dem Verfahrensbegriff

• Tolstojs Pferd macht seine Beobachtungen, dass »Menschen über verschiedene Gegenstände die zwischen ihnen ausgemachten Wörter reden«, weil er diese Wörter nicht versteht.

• Nichtverstehen wird damit zur entscheidenden Herausforderung des literarischen Textes.

• Es geht darum, nicht länger von dem auszugehen, was sich von selbst versteht.

• Anstatt zu fragen: »WAS will der Autor damit sagen?« ist zu fragen: »WIE verfährt der literarische Text?«

• Tolstojs Pferd wird nichts erklärt. Es beobachtet und zieht seine eigenen Schlussfolgerungen. - Auch dem Leser des literarischen Textes wird nichts erklärt. Auch ihm bleibt nichts anderes übrig als genau zu beobachten.

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Die Rolle der Dichtung im 18. und im 20. Jh.

Im 18. Jahrhundert galt es als die Funktion der poetischen Sprache, alle unzulänglichen Abstraktionen zu vermeiden und uns eine Erkenntnis anschaulich, klar, einleuchtend und einprägsam vor Augen zu führen.

Literatur wurde verstanden als ein Denken in Bildern. Vgl. Horaz: „ut pictura poesis“ („wie in der Malerei, so in der Dichtung“).

Im 20. Jahrhundert hingegen wird die Literatur (und die Kunst überhaupt) zu einer Art „unwissendem Lehrmeister“. Das heißt sie verfolgt keine belehrenden Absichten. Sie erhält die Qualität eines Sinnlichen, das aus den uns vertrauten Zusammenhängen gelöst ist und deshalb als fremd erscheint. Sie ist nicht einem klaren und anschaulichen Denken verpflichtet, sondern eher einem Wahrnehmen, das sich dem Verstehen entzieht.

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Jacques Rancière: Die drei Regime der Kunst

Šklovskij beansprucht, auf neue Art und Weise Literatur von anderen

sprachlichen Formen zu unterscheiden. Das alte Prinzip “ut pictura

poesis” wird von ihm verworfen.

Es gibt also mehre Arten, Literatur (und Kunst) als solche zu

identifizieren. Aber welche Arten gibt es? Lassen sich dazu

allgemeine Aussagen machen?

Der Philosoph Jacques Rancière schreibt: „Wir können innerhalb

der westlichen Tradition drei große Regime der Identifizierung

dessen, was wir Kunst nennen, unterscheiden.“

Mit Regime ist hier die jeweils herrschende Praxis gemeint, nach

bestimmten Regeln / Prinzipien / Normen Kunst zu bestimmen.

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1. Das ethische Regime der Kunst

Eine erste Möglichkeit, Kunst als solche zu identifizieren,

bestand innerhalb der europäischen Tradition darin, sie

einem ethischen Maßstab zu unterwerfen. Man hat etwa

gesagt: Kunst ist nicht 'Wahrheit', sondern Täuschung,

Schein. Von ihr geht eine Gefahr sowohl für den Einzelnen

als auch für das Gemeinwesen aus, sofern Kunst die

Orientierung des Denkens und Handelns an der Wahrheit

verstellt.

Dies war etwa die Haltung Platons.

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Platon: Ausschluss der Dichteraus dem Staat

»Wenn uns jemand von einem berichtet, er habe einen Men-schen angetroffen, der alle Handwerke verstehe, und alles an-dere, was sonst jeder nur einzelne weiß, verstehe er um nichts weniger genau als irgendeiner, den muß man doch gleich darauf anreden, daß er ein einfältiger Mensch ist, den ein Taschenspieler oder ein Nachbildner angeführt hat, so daß er ihn wirklich für allweise hielt, weil er selbst nämlich nicht fähig ist, Erkenntnis und Unkenntnis und Nachbildung zu sichten.«

»Nächstdem, sprach ich, laß uns nun die Tragödie vornehmen und ihren Anführer Homeros, weil wir ja doch immer von einigen hören, daß diese Dichter alle Künste verstehen, und alles Menschliche, was sich auf Tugend und Schlechtigkeit bezieht, und alles Göttliche dazu.« (Platon, Politeia, 599c-e)

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Platon: Ausschluss der Dichteraus dem Staat

Für Platon ist also der Dichter jemand, der von sich behauptet (oder von dem behauptet wird), dass er von allem etwas verstünde. Dieser Anspruch muss als Täuschung zurückgewiesen werden. Denn der Dichter ist ein bloßer Nachbildner der produktiven Tätigkeit anderer.

Die Wahrheit, sagt Platon, ist durch ihre göttliche Herkunft begründet. Zum Beispiel die Idee eines Tisches ist göttliches Werk. Der Tischler ahmt mit seinem Handwerk die Idee nach. Der Maler aber ahmt nur die Nachahmung des Handwerkers nach, wenn er einen Tisch malt. Er bringt keinen wirklichen Tisch hervor, sondern nur eine Illusion.

Ebenso liefert der Dichter nur Illusionen. Er bringt Täuschun-gen in Bezug auf menschliche und sittliche Handlungen hervor. Er kann daher im idealen Staat nicht geduldet werden.

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2. Das poetische Regime der KunstEine zweite Möglichkeit, Kunst zu bestimmen, bestand nach Rancière darin, künstlerische Tätigkeitsformen (Gattungen) zu klassifizieren und zu hierarchisieren.

Man hat zum Beispiel die Tragödie der Komödie entgegengesetzt.

Daraus folgten einerseits bestimmte Regeln, wie die Tragödie und wie die Komödie beschaffen sein sollen. Die Tragödie z.B. sollte durch Helden von hoher Geburt ausgezeichnet sein: Herrscher, Adelige usw. Die Komödie hingegen sollte eher Personen von geringer Herkunft auf die Bühne bringen.

Andererseits ergab sich daraus eine Rangordnung der Gattungen. Die Tragödie wurde höher geschätzt als die Komödie. Man erkennt darin zugleich auch deutliche Spuren einer bestimmten sozialen Ordnung. Nicht zuletzt deshalb spricht Rancière von 'Regime' (Herrschaft).

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2. Das poetische Regime der KunstDie Klassifizierung und Hierarchisierung der künstlerischen Tätigkeitsformen (Gattungen) war die Aufgabe der Poetik.

So hat Aristoteles in seiner 'Poetik' erklärt, dass alle Dichtung Nachahmung (Mimesis) ist; dass die verschiedenen Gattungen sich durch ihre spezifischen Arten der Nachahmung unterscheiden; dass z. B. die Tragödie eine Nachahmung von guten Menschen, die Komödie eine Nachahmung von schlechten Menschen sei; daß die Tragödie die Nachahmung einer ganzen und in sich geschlossenen Handlung mit Anfang, Mitte und Schluss sein soll usw.

Aristoteles' 'Poetik' war in der europäischen Literatur für die Etablierung eines poetischen Regimes der Kunst maßgeblich, dessen Auswirkungen sich bis ins 18. Jahrhundert beobachten lassen. Der Grundsatz, daß die Dichtung anschaulich wie die Malerei beschaffen sein soll, gehört in diesen Zusammenhang.

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Lessing: Aesopus und der Esel

»Der Esel sprach zu dem Aesopus: Wenn du wieder ein Geschichtchen von mir ausbringst, so laß mich etwas recht vernünftiges und sinnreiches sagen.

Dich etwas sinnreiches! sagte Aesop; wie würde sich das schicken? Würde man nicht sprechen, du seist der Sittenlehrer, und ich der Esel?«

Lessing klassifiziert die poetische Gattung und er hierarchi-siert zugleich ihr Personal.

1. Er hebt hervor, was sich für die Gattung der Fabel ›schickt‹: Sie soll feststehende Charaktere nachahmen (z. B. den des Esels), um zu belehren.

2. Lessing betont die Rangordnung, durch die das Verhältnis von Sittenlehrer und Esel geregelt ist.

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Lessing: Aesopus und der Esel

Lessings Verständnis der äsopischen Fabel verbleibt also im poetischen (aristotelischen) Regime der Künste.

Das hindert nicht daran, dass sich in seiner Fabel ›Aesopus und der Esel‹ wahre Abgründe eröffnen. Wenn der Wissende und der Unwissende potentiell ihre Positionen tauschen können, steht dann in jedem Fall fest, wer der Lehrmeister und wer das Anschauungsobjekt der belehrenden Dichtung ist?

Lessings Fabel appelliert an ihre Adressaten, diese Positionen beständig zu überprüfen. Sie belehrt, indem sie die Grundlage ihrer Belehrung zum Gegenstand der Hinterfragung macht. Dennoch bleibt diese Fabel dem poetischen Regime der Künste verpflichtet.

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3. Das ästhetische Regime der Kunst

Während das ethische Regime der Kunst durch einen sehr all-gemeinen Maßstab bestimmt ist – den des richtigen Bezugs zur Wahrheit – und das poetische Regime der Kunst auf eine Unterscheidung und Ordnung der verschiedenen künstlerischen Tätigkeitsbereiche ausgerichtet ist, wird erst im dritten, dem ästhetischen Regime die Kunst insgesamt als etwas wesensmäßig Besonderes erfasst.

Das heißt: Erst hier, im Zusammenhang des ästhetischen Re-gimes, gelangen wir zu der Leitfrage, die uns beschäftigt: Was unterscheidet Literatur von anderen sprachlichen Äußerungen?

Vor diesem Hintergrund ist etwa auch Šklovskijs Behauptung zu sehen, dass man bisher Literatur von Alltagssprache nicht klar genug getrennt habe, indem man ihr die Ziele der praktischen Sprache unterstellt (vor allem Klarheit und Verständlichkeit).

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3. Das ästhetische Regime der Kunst

Der Begriff des Ästhetischen leitet sich von griech. 'aisthesis' (Wahrnehmung) her. Im ästhetischen Regime der Kunst ist die Kunst als solche durch eine spezifische sinnliche Seinsweise charakterisiert.

Genau davon spricht auch Šklovskij: Für ihn zeichnet sich Kunst dadurch aus, dass sie eine besondere Wahrnehmung ermöglicht, die aus den gewöhnlichen Erfahrungs-zusammenhängen herausgelöst ist.

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3. Das ästhetische Regime der Kunst

Dem ästhetischen Regime der Kunst sind alle Regelpoetiken fremd. Schon die scheinbar banale Forderung von Aristoteles, dass die Tragödie Anfang, Mitte und Schluss haben solle, gilt für die moderne Dramatik nicht mehr.

Rancière schreibt: „Das ästhetische Regime der Künste identifiziert die Kunst als Kunst und befreit diese Kunst von jeder spezifischen Regel und Hierarchie der Gegenstände, Gattungen und Künste.“

Auch Šklovskij betont genau diese 'Befreiung' von Regeln: Er spricht von Automatismen des Wahrnehmens und des Verstehens, die außer Kraft gesetzt werden sollen.

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3. Das ästhetische Regime der KunstGerade weil die Kunst sich auf diese Weise verselbständigt und sich eigene Gesetze schafft, erscheint sie als eine Art zweite Welt, die neben der gewöhnlichen Alltagswelt besteht.

Rancière schreibt dazu: „Auf diese Weise wird […] die Grenze der mimesis gesprengt, die die künstlerischen von den übrigen Tätigkeitsformen und die Regeln der Kunst von den sozialen Beschäftigungen trennte. Das ästhetische Regime der Künste bestätigt die absolute Besonderheit der Kunst und zerstört zugleich jedes pragmatische Kriterium dieser Besonderheit. Es begründet die Autonomie der Kunst und zugleich die Identität ihrer Formen mit jenen, durch die sich das Leben selbst ausbildet.“

So erklärt sich Šklovskijs Erwartung, ausgerechnet durch die Kunst jenes 'Leben' wiederzuerlangen, dass durch die Automatismen des gesellschaftlichen Lebens verloren geht.

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Drei Perspektiven auf Kunst und Literatur

Das ethische Regime, das von einer Wahrheitsnorm ausgeht,

das poetische Regime, das von bestimmten Gattungen der Darstellung ausgeht,

das ästhetische Regime, das von einer sinnlichen Eigengesetzlichkeit der Kunst ausgeht,

sind drei historisch verschiedene kulturelle Formationen von Kunst. Sie sind aber nicht nur geschichtlich bestimmt, sondern betreffen auch drei grundsätzliche Perspektiven auf Kunst und Literatur:

die Frage nach wahr oder falsch,

die Frage danach, was dargestellt/nachgeahmt wird;

die Frage nach, wie Kunst/Literatur jeweils verfährt.

In dieser Vorlesung steht diese letzte Frage im Mittelpunkt.

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Thomas Glavinic: Die Arbeit der Nacht

Ein Beispiel aus der Gegenwartsliteratur kann veranschaulichen, was diese Frage nach den Verfahren der Literatur meinen kann, und inwiefern sich (nach Rancière) mit der Autonomie der Kunst paradoxerweise zugleich eine Identität ihrer Formen mit jenen des Lebens selbst ausbildet.

Der Roman Die Arbeit der Nacht (2006) des österreichischen Schriftstellers Thomas Glavinic erzählt von einer Welt, in der es eines Morgens plötzlich keine Menschen mehr gibt – außer Jonas, dem Helden des Romans. Es geht also darum, einen Helden zu zeigen, dessen Existenzbedingungen sich in einer entscheidenden Hinsicht geändert haben, so dass er gezwungen ist, die Welt mit anderen Augen wahrzunehmen.

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Thomas Glavinic: Die Arbeit der Nacht

Es ist unverkennbar, dass dies mit Šklovskijs Idee einer künstlerischen Neubegründung der Wahrnehmung durch Verfremdung sehr viel zu tun hat.

In der Zeitung Die Welt urteilte Ulrich Weinzierl: »Erzähler von Rang wie Thomas Glavinic erschaffen Welten, in denen wir uns verlieren.«

Die Intuition des Kritikers stellt hier bereits eine Konvergenz von Literatur & Leben in Aussicht – nicht weil der Roman etwa das Leben ›abbildet‹, sondern weil er ein ›Erlebnis‹ sein soll.

Vom Plot des Romans her leuchtet dies zunächst ein. Aber wie ist dieser Roman geschrieben?

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Thomas Glavinic: Die Arbeit der Nacht

»Ohne auf die Geschwindigkeitsbeschränkung zu achten, fuhr er in die Stadt. Er wünschte sich, von einem Polizisten gestoppt zu werden. Aber sofort war er sich gewiß, daß auch hier etwas nicht stimmte.

Es gab keine Fußgänger.

Die Geschäfte rechts und links der Straße waren menschenleer.

Ampeln sprangen auf Rot, doch auch auf Querverkehr wartete er vergebens.

Er hupte. Er ließ den Motor aufheulen. Trat auf die Bremse, daß die Reifen quietschten und Gummigestank aufstieg. Er hupte dreimal lang, dreimal kurz, dreimal lang. Mehrmals fuhr er dieselben Straßenzüge ab. Keine Tür öffnete sich, kein Auto kam ihm entgegen.«

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Thomas Glavinic: Die Arbeit der Nacht

Die Schreibweise des Romans steht zu seinem Sujet (dem Verschwinden aller Menschen und der Einsamkeit des Protago-nisten) in einem eklatanten Widerspruch. Während dem Helden des Romans die Welt allmählich fremd werden soll, bewegt sich der Text sprachlich in sehr konventionellen Bahnen. Wir beob-achten sprachliche Klischees (»Ampeln sprangen auf Rot«, »er ließ den Motor aufheulen«, »trat auf die Bremse, daß die Reifen quietschten«) und Allgemeinheiten (von welchen konkreten Geschäften und Straßen z.B. ist die Rede?), die keinerlei sprachliche Verfremdung und keinerlei spezifische Vorstellung mit sich bringen.

Ist diese Schreibweise eine Schwäche des Romans? Oder erfüllt sie eine Funktion? Wie immer die Antworten auf diese Fragen lauten mögen – schon diese Fragen zeigen, dass die Lektüre des Romans dem ästhetischen Regime der Künste unterworfen ist.

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Beispiel 1: Die Tierfabel beruft sich auf bestehende Vorstellungen von tierischen Charakteren, um nach bestimmten Regeln eine moralische Wahrheit zu veranschaulichen.→ poetisches Regime der Künste!

Beispiel 2: In Tolstojs ›Leinwandmesser‹ geht es darum, kulturelle Konventionen zu unterbrechen, etwa die Sicht eines Tiers an die Stelle einer menschlichen Perspektive zu setzen oder beides miteinander zu vermengen. Durch die ästhetische Eigengesetzlichkeit der Erzählung werden ›automatische‹ Denk- und Ausdrucks-weisen kenntlich gemacht und in Zweifel gezogen. Es geht um das Wie (»Kunst als Verfahren«).→ ästhetisches Regime der Künste!

Unterschiedlicher Umgang mit kulturellen Konventionen

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Tolstoj, »Leinwandmesser«: Tod des Pferdes

»Die Herde kam am Abend auf der Anhöhe vorüber, und die Pferde, die am linken Rand gingen, sahen unten etwas Rotes, an dem sich die Hunde eifrig zu schaffen machten; darüber flogen Raben und Geier. Der eine Hund hatte die Vorderbeine gegen den Kadaver gestemmt, schlenkerte den Kopf hin und her und riß das Stück, das er gerade gepackt hatte, mit einem krachenden Geräusch ab. […]Eine Woche später lagen bei dem Ziegelschuppen nur noch der große Schädel und zwei Schenkelknochen, alles andere war weggeschleppt worden. Im Sommer nahm ein Bauer, der Knochen sammelte, auch den Schenkelknochen und den Schädel mit und verkaufte sie.«

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Tolstoj, »Leinwandmesser«: Tod des Menschen

»Serpuchowskojs toter Leib, der in dieser Welt umhergewandert war und gegessen und getrunken hatte, wurde erst viel später der Erde übergeben. Weder seine Haut noch sein Fleisch noch seine Knochen waren zu irgend etwas nütze. […] Schon längst hatte ihn niemand mehr gebraucht, schon längst war er allen zur Last geworden, aber die Toten, die die Toten begraben, fanden es trotzdem nötig, diesem sogleich in Verwesung übergehenden, aufgedunsenen Leib eine schöne Uniform und schöne Stiefel anzuziehen, ihn in einen schönen Sarg […] zu legen, […] ihn nach Moskau zu bringen, dort vor langer Zeit bestattete menschliche Gebeine wieder auszugraben, an just dieser Stelle diesen faulenden, von Würmern wimmelnden Leib […] zu verbergen und alles mit Erde zuzuschütten.«

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Tolstoj, »Leinwandmesser«

Das Tier wird zu Lebzeiten gequält und erniedrigt, aber es ist noch über seinen Tod hinaus nützlich. Es hat ein ›Leben nach dem Tod‹.

Der Mensch verursacht noch nach seinem Tod Kosten und Mühe, und er wird schon zu Lebzeiten nicht gebraucht. Er ist schon zu Lebzeiten ›tot‹.

Es geht hier nicht darum, WAS Tolstoj sagen will (etwa: »Der Mensch ist zuweilen weniger wert als das Tier« oder dergleichen), sondern darum, WIE sein Text verfährt: Er verfremdet die gewöhnlich geltende Hierarchie von Mensch und Tier.

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Ästhetische Autonomie: ›Kunst‹ und ›Leben‹

Dem Eindruck, die Menschen seien schon zu Lebzeiten ›tot‹, wird bei Tolstoj die ästhetische Eigengesetzlichkeit seiner Erzählung gegenübergestellt. Der literarische Text erscheint als ›lebendig‹.

Diesen Anschein erweckt die Erzählung, sofern sie an der Erweiterung von Wahrnehmungsmöglichkeiten arbeitet. So lässt sie die Leser vermeintlich an der Sichtweise einer Tierherde teilhaben: »Die Herde kam am Abend auf der Anhöhe vorüber, und die Pferde [...] sahen unten etwas Rotes.«

Das ästhetische Regime »begründet die Autonomie der Kunst und zugleich die Identität ihrer Formen mit jenen, durch die sich das Leben selbst ausbildet« (Rancière).

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Russischer Formalismus

➔ Absage an den unmittelbaren Sinnbezug des

dichterischen Wortes➔ Entblößung literarischer Verfahren

Hauptvertreter u.a.:

Viktor Šklovskij (1893-1984)

Boris Ėjchenbaum (1886-1959)

Jurij Tynjanov (1894-1943)

Roman Jakobson (1896-1982)

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Roman Jakobson: »Linguistik und Poetik« (1960)

»Die Sprache muß in bezug auf die ganze Vielfalt ihrer

Funktionen untersucht werden.«

»Der SENDER macht dem EMPFÄNGER eine MITTEILUNG.

Um wirksam zu sein, bedarf die Mitteilung eines KONTEXTS,

auf den sie sich bezieht [...]; erforderlich ist ferner ein KODE,

der ganz oder zumindest teilweise dem Sender und dem

Empfänger [...] gemeinsam ist; schließlich bedarf es auch noch

eines KONTAKTS, [...] der es den beiden ermöglicht, in

Kommunikation zu treten und zu bleiben.« (S. 88)

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Bedingungen der Rede nach R. Jakobson

Kontext

Mitteilung

Sender -----------------------------------------------------Empfänger

Kontakt

Kode

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Jakobson: äußere Faktoren und innere Funktionen der Rede (1)

Jede sprachliche Äußerung ist nach Jakobson durch diese sechs notwendigen Faktoren geprägt.

Es handelt sich aber dabei um äußere Konstitutions-bedingungen der Rede, die selbst nicht Teil der Rede sind.

Der Sprachwissenschaftler Jakobson interessiert sich nicht für die externen Bedingungen einer Äußerung – den Sprecher, den Adressaten, den Kontext usw. –, sondern für die innere sprachliche Beschaffenheit dieser Äußerung selbst.

In dieser Perspektive geht Jakobson von sechs verschiedenen sprachlichen Funktionen aus, die innerhalb jeder verbalen Äußerung den externen Faktoren korrespondieren.

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Sprachliche Funktionen nach Jakobson

Kontext (→ referentielle Funktion)

Mitteilung (→ poetische Funktion)

Sender ----------------------------------------------------Empfänger(→ emotive Funktion) (→ konative Funktion)

Kontakt (→ phatische Funktion)

Kode (→ metasprachliche Funktion)

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Sprachliche Funktionen nach Jakobson

• referentielle Funktion: Bezugnahme auf einen Kontext• emotive Funktion: bringt die Haltung des Sprechers zum

Gesprochenen zum Ausdruck (zum Beispiel in Interjektionen)

• konative Funktion: Appell an den Empfänger; lässt sich nicht in den Kategorien wahr/falsch erfassen

• phatische Funktion: zielt auf die Gewährleistung des Kontakts mit dem Empfänger (»Hallo, hören Sie mich?«)

• metasprachliche Funktion: Thematisierungen des Kodes (»Ich verstehe nicht was Sie meinen.«)

• poetische Funktion: Ausrichtung auf die Botschaft

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Faktoren und Funktionen der Rede (2)

Für jede Analyse einer sprachlichen Äußerung ist es zentral, zwischen Faktoren (Bedingungen) und Funktionen der Rede zu unterscheiden.

Man untersucht nicht die Faktoren einer sprachlichen Äußerung, also z. B. nicht:

sondern sprachliche Funktionen, also beispielsweise:

den Kontext einer Rede die Bezugnahme der Rede auf einen Kontext

die emotionale Einstellung des Sprechers

sprachliche Anzeichen einer emotionalen Einstellung des Sprechers

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Leitfrage: Welches Gewicht haben die sprachlichen Funktionen jeweils?

Die Verschiedenheit von Äußerungen ergibt sich daraus, dass sie diese Funktionen jeweils anders gewichten.

● Bei einer Gebrauchsanweisung dominiert die referentielle Funktion.

● Bei einem Werbetext dominiert die konative Funktion.● Bei einem Liebesbrief dominiert die emotive Funktion.● usw.

Literatur ist für Jakobson im Unterschied zu allen anderen Arten sprachlicher Äußerungen durch ein Überwiegen der poetischen Funktion gekennzeichnet. Die poetische Funktion ist zwar auch in anderen Äußerungen wirksam (in der Gebrauchsanweisung, in der Werbung, im Liebesbrief, usw.), aber dort nicht dominant.

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Die poetische Funktion nach Jakobson

»Jeder Versuch, die Sphäre der poetischen Funktion auf Dichtung zu reduzieren oder Dichtung auf die poetische Funktion einzuschränken, wäre eine trügerische Verein-fachung. Die poetische Funktion stellt nicht die einzige Funktion der Wortkunst dar, sondern nur eine vorherr-schende und strukturbestimmende und spielt in allen anderen sprachlichen Tätigkeiten eine untergeordnete, zusätzliche, konstitutive Rolle.« (S. 92-93)

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Poetische vs. referentielle Funktion

Die poetische Funktion steht zur referentiellen Funktion in einem spezifischen Gegensatz:

Während die referentielle Funktion sich auf Kontexte einer Mitteilung bezieht, gilt die poetische Funktion der Art der Mitteilung selbst.

Im einen Fall geht es um das Was, im anderen Fall um das Wie einer Botschaft.

»Indem sie das Augenmerk auf die Spürbarkeit der Zeichen richtet, vertieft diese Funktion die fundamentale Dichotomie der Zeichen und Objekte.« (S. 92-93) (Hervorhebung von mir)

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Die poetische Funktion nach Jakobson

Die Zweiteilung von Zeichen und Objekten wird durch die poetische Funktion vertieft, indem sie zwei grundsätzliche sprachliche Operationen hervorkehrt, die jeder verbalen Äußerung zugrundeliegen.

1. Selektion: Aus einer Vielzahl von Zeichen, die einander ähnlich sind (Prinzip der Äquivalenz), muß ausgewählt werden (z.B. Kind oder Baby oder Knirps)

2. Kombination: Die ausgewählten Zeichen müssen in eine Reihenfolge gebracht werden. Daraus ergibt sich eine Sequenz (z.B. ein Satz).

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Die poetische Funktion nach Jakobson

»Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination. Die Äquivalenz wird zum konstitutiven Verfahren der Sequenz erhoben.« (S. 94)

Das heißt: Wenn man generell einen Satz dadurch bildet, dass man aus Gruppen von einander ähnlichen/äquivalenten Worten jeweils eins auswählt und dann die ausgewählten Worte zu einem Satz kombiniert, so führt die poetische Funktion dazu, dass sich in der Abfolge des Satzes selbst Ähnlichkeiten ergeben.

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Beispiel für die poetische Funktion: der Reim

Das zu Sagende zu sagen

ist dem Künstler aufgetragen.

Wahre Größe freilich zeigen

jene, die selbst dies ver

(Robert Gernhardt)

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Weitere mögliche Bezüge des Gernhardt-Gedichts

Das zu Sagende zu sagen

ist dem Künstler aufgetragen.

Wahre Größe freilich zeigen

jene, die selbst dies ver

poetisches Regime

ästhetisches Regime

Verfremdung („Spürbarkeit der Zeichen“)

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Achse der Selektion

Achse der Kombination

„sagen“

„aufgetragen“

Pri

nzip

der

Äqu

ival

enz

„sagen“ ... „aufgetragen“ ...

Prinzip der Äquivalenz

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Die poetische Funktion nach Jakobson

Die poetische Funktion beschränkt sich nicht auf Literatur,

sondern sie liegt jeder sprachlichen Äußerung zugrunde,

auch den nicht literarischen – allerdings in geringerem

Maße.

Literatur zeichnet sich dadurch aus, dass die poetische

Funktion deutlich akzentuiert ist. Dies geschieht, indem

›Resonanzen‹ in der Abfolge von Worten oder Zeichen

hervorgebracht werden, etwa in der Weise des Reims.

Dadurch wird der Abstand zwischen Zeichen und Objekten,

die Kluft zwischen Worten und Dingen betont.

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Beispiel Film: Der Match Cut

Um anschaulich zu machen, auf welche Weise die poetische Funktion wirkt, kann man sich etwa die filmische Technik des Match Cut vor Augen führen, bei der in der Abfolge verschiedener Bilder ebenfalls Äquivalenzen hergestellt werden.

»Match Cut. Ein Schnitt, bei dem die zwei Aufnahmen durch bildliche, tönende oder metaphorische Parallelen verbunden sind. Ein berühmtes Beispiel: Am Ende von Hitchcocks North By Northwest zieht Cary Grant Eva Marie Saint am Felsen von Mount Rushmore empor; Match Cut auf Grant, der sie in ein Schlafwagenbett emporzieht.«

(James Monaco: Film und Neue Medien. Lexikon der Fachbegriffe. Reinbek 2003, S. 103f.)

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»Spürbarkeit der Zeichen«

Am Ende von North by Northwest handelt es sich nicht nur um einen Match Cut, sondern um zwei. Sie finden jeweils auf mehreren Ebenen statt:

1. Äquivalenz der dargestellten Objekte: Es handelt sich um denselben Mann, der dieselbe Frau zu sich heraufzieht; durch Kameraeinstellung und Ton wird dies unterstrichen.

2. Metaphorische Äquivalenz: Der in den Tunnel einfahrende Zug ist als metaphorische Darstellung dessen lesbar, was im Schlafwagenabteil passiert.

3. Strukturelle Äquivalenz: zwei Match Cuts folgen aufeinander. Dadurch wird die Einstellung des in den Tunnel einfahrenden Zuges überhaupt erst als Metapher wahrnehmbar (»Spürbarkeit der Zeichen«).

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ottos mops (von Ernst Jandl)

ottos mops trotztotto: fort mops fortottos mops hopst fortotto: soso

otto holt koksotto holt obstotto horchtotto: mops mopsotto hofft

ottos mops klopftotto: komm mops kommottos mops kommtottos mops kotztotto: ogottogott

(Variante mit gering ausgeprägter poetischer Funktion – von mir:)

(Das Haustier von Otto leistet Widerstand. Er schickt es weg und es gehorcht. Er ist zufrieden.

Otto holt Brennmaterial und etwas zu Essen. Er lauscht und ruft seinen Mops und wünscht sich, daß dieser zurückkehrt.

Der Mops macht sich geräuschlich bemerkbar. Sein Herrchen ruft ihn. Er gehorcht, aber übergibt sich, woraufhin Otto stöhnt.)

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Ottos Mops mit Jakobson

Jandls Gedicht folgt einem Prinzip lautlicher Ähnlichkeit. Der einzige verwendete Vokal ist ›o‹. Dieser Laut verbindet Mann und Hund.

Es gibt auch ein Spiel mit Konsonanten, etwa mit ›s‹ und ›z‹.Wenn Otto mit Mops ist, ist auch ein ›s‹ da (Ottos Mops). Wenn Otto ohne Mops ist, ist auch das ›s‹ weg (Otto). Im »soso« von Otto klingt es ein letztes Mal nach.Das ›s‹ hängt mit dem Genitiv zusammen; Otto hat nichts ohne das ›s‹. Er muss etwas holen (Koks, Obst). Schließlich ruft er den Mops.

Das ›z‹ ist stets krisenhaft. Wenn es auftaucht, will Otto den Mops nicht (wenn er trotzt oder kotzt).

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Ottos Mops mit Jakobson

Zu den zwei Bauprinzipien jeder sprachlichen Äußerung – Selektion und Kombination, der Auswahl von Zeichen und der Bestimmung ihrer Abfolge – tritt hier eine weitere Notwendigkeit hinzu: dass sich Entsprechungsverhältnisse zwischen den ausgewählten und miteinander kombinierten Worten ergeben müssen. Das ist die poetische Funktion. (Diese Funktion ist auch in nichtliterarischen Texten wirksam – etwa wenn ich sage: »Ottos Mops mit Jakobson«. Sie ist dann aber nicht so stark ausgeprägt.)

Wichtig ist nicht, WAS das Gedicht sagt, sondern WIE es verfährt. Die Zeichen werden spürbar, und der Abstand zwischen den Zeichen und den Objekten, auf die diese sich beziehen, wird vergrößert.

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Was die poetische Funktion NICHT ist

Die Bestimmung der poetischen Funktion geht bei Jakobson mit einer Reihe von Ausschlüssen einher:

• Die poetische Funktion bringt NICHT die persönliche Stimmung eines Subjekts zum Ausdruck: ≠ emotive Funktion

• Sie soll NICHT eine bestimmte Stimmung des Rezipienten erzeugen oder ihn zu etwas bewegen: ≠ konative Funktion

• Sie dient NICHT der Herstellung eines Kontakts zwischen Autor und Leser: ≠ phatische Funktion

• Sie kommentiert NICHT den Kode: ≠ metasprachliche Funktion

• Sie stellt NICHT Bezüge zu Kontexten her, sondern vertieft die Kluft zwischen Zeichen und Objekten: ≠ referentielle Funktion

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Jakobson und Šklovskij: Gemeinsamkeiten

Jakobson knüpft an Šklovskij an.• Es geht ihm ebenfalls um das Wie des Sagens und nicht

um das Was des Gesagten, das heißt er fragt nach Verfahren.

• Indem die Zweiteilung von Zeichen und Objekten vertieft wird, findet auch im Zusammenhang mit Jakobsons poetischer Funktion eine Entautomatisierung des Verstehens, eine Verfremdung stand.

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Jakobson und Šklovskij: Unterschiede

• Die strikte Trennung zwischen literarischer Sprache und praktischer Sprache wird von Jakobson relativiert. Beide unterscheiden sich nur graduell, indem auch an der praktischen Sprache die poetische Funktion teilhat und indem die poetische Funktion in der Literatur nur in besonders hohem Maße verwirklicht wird.

• Zugleich differenziert Jakobson deutlicher zwischen poetischen Verfahren und metasprachlichen Funktionen. Tolstojs Erzählung »Leinwandmesser«, die Šklovskij als Beispiel nimmt, ist stark von der metasprachlichen Funktion geprägt (immer wenn das Pferd fragt: »Was bedeutet das?«). Bei »Ottos Mops« spielt Metasprache hingegen nur eine untergeordnete Rolle.

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Metasprache und Literatur

Bei Šklovskij sind metasprachliche und literarische Verfahren nicht deutlich getrennt.

Dagegen Jakobson: »Dichtung und Metasprache sind […] diametral entgegengesetzt: in der Metasprache dient die Sequenz zur Aufstellung einer Gleichung, in der Dichtung hingegen dient die Gleichung zum Bau einer Sequenz.«

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Literatur und die Frage der sprachlichen Funktionen

Šklovskij: »Autos werden folgendermaßen studiert: Die größten Idioten gehen zum Automobil und drücken einmal auf die Hupe. Das ist der erste Grad der Dummheit. Diejenigen, die ein klein wenig von Autos verstehen, aber ihre Kenntnis nicht richtig einzuschätzen wissen, kommen zum Auto und spielen am Schalthebel. Das ist nicht weniger dumm und sogar schädlich, denn man sollte nichts anfassen, für das die Verantwortung bei einem anderen Arbeiter liegt.Der Kundige erforscht das Auto eingehend und versteht, ›was für was ist‹: warum es so viele Zylinder und so große Räder hat, wo das Getriebe ist, warum das Heck spitz zuläuft und der Kühler nicht poliert ist.Genau so muß man lesen.«(Zitiert nach: Wolfgang Beilenhoff (Hg.): Poetika Kino. Theorie und Praxis des Films im russischen Formalismus. Frankfurt/Main 2005, S. 396.)

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Ist das Literarische messbar?Wenn Jakobson Dichtung durch das Überwiegen der poetischen Funktion definiert, erscheint das Literarische nahezu als eine messbare, objektiv feststellbare Eigenschaft.

Eine solche Objektivierung von Literatur ist weder möglich noch erstrebenswert. Viel zu sehr hängt die Wahrnehmung des Literatischen jeweils von besonderen Zusammen-hängen und kulturellen Zuschreibungen ab (vgl. Rancières ›Regime der Kunst‹).

Viel wichtiger ist ein anderer Impuls Jakobsons: Da die poetische Funktion an jeder sprachlichen Äußerung teilhat, können wir poetische Verfahren auch an Texten beobachten, bei denen es sich nicht unbedingt um Literatur handelt.

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Was ist Literaturwissenschaft?Die Literaturwissenschaft ist also nicht auf die Beschäftigung mit einer bestimmten Gruppe von sprachlichen Äußerungen beschränkt, die wir zweifelsfrei als Literatur klassifizieren könnten. Der literaturwissenschaftlichen Analyse steht vielmehr prinzipiell das ganze Feld der sprachlichen Äußerungen offen.

Zugleich aber ist der Blick der Literaturwissenschaft auf ihre sprachlichen Gegenstände – auf Texte im weitesten Sinne – sehr spezifisch: Die Literaturwissenschaft fragt nach den poetischen Verfahren, die in den Dichtungen zwar am ausgeprägtesten sind, die aber für alle sprachlichen Äußerungen eine konstitutive Rolle spielen. Wo immer äußerlich bedingende Faktoren der Rede zu berücksichtigen sind, nimmt die Literaturwissenschaft benachbarte wissenschaftliche Disziplinen zur Hilfe.

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Literarizität: Übersicht der Grundbegriffe

Verfahren

Automatisierung/Entauto-matisierung

Verfremdung

ethisches/ästhetisches/poe-tisches Regime der Künste

referentielle Funktion

poetische Funktion

emotive Funktion

phatische Funktion

konative Funktion

metasprachliche Funktion

Selektion/Kombination

Projektion des Prinzips der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination

Verhältnis von Metasprache und Dichtung nach Jakobson