„einen blick über den tellerrand anbieten“

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Prof. Dipl.-Ing. Norbert Schaub Vorsitzender des Programmausschusses der VDI-Tagung „Erprobung und Simulation“ „Einen Blick über den Tellerrand anbieten“ Berechnung, Erprobung und Simulation wachsen im industriellen Alltag immer enger zusammen. Darauf reagiert der VDI mit der Fusion zweier bislang eigenständiger Fachtagungen. Prof. Dipl.-Ing. Norbert Schaub, Vorsitzender des Programmausschusses der Tagung „Erprobung und Simulation – Mess- und Versuchstechnik in der Fahrzeugentwicklung“, erklärt die Hintergründe. ATZ Herr Prof. Schaub, die Automobilin- dustrie steht vor großen technischen und wirtschaftlichen Herausforde- rungen. Inwieweit können Erprobung und Simulation dazu beitragen, Druck aus den Prozessen zu nehmen? Schaub Wir haben aktuell nicht nur die Wirtschaftskrise zu bewältigen, sondern auch den Technologiewandel in der An- triebstechnik hin zu alternativen Antrie- ben mit geringem CO 2 -Ausstoß. In der Praxis bedeutet dies, dass viele Varianten gleichzeitig bearbeitet werden müssen. Erprobungen und Simulationen können in dieser Zeit natürlich einen erheb- lichen Beitrag liefern, Entwicklungen ef- fizient voranzutreiben, während des Ent- wicklungsprozesses den Reifegrad zu steigern und so die Entwicklungszeiten zu optimieren. ATZ Bitte nennen Sie beispielhaft die ef- fizienzsteigernden Effekte eines zielge- richteten Einsatzes von Simulationsmaß- nahmen. Schaub In einer frühen Phase kann ohne Hardware eine ganze Reihe von unter- schiedlichen Varianten durchgerechnet und simuliert werden und eine interdis- ziplinäre Untersuchung stattfinden. Gleichzeitig können auch sich gegenseitig beeinflussende und sich zum Teil wider- sprechende Anforderungen bewertet und berücksichtigt werden, um einen optimal abgestimmten Kompromiss zu finden. Beispiele sind Crashanforderungen, NVH- Anforderungen und Betriebsfestigkeitsan- forderungen am Rohbau. ATZ Auch die Erprobung und die Simula- tion selbst stehen im Zentrum eines Technologiewandels. Bitte skizzieren Sie die aktuellen Herausforderungen. Schaub Das ist sehr vielschichtig. So gilt es zunächst einmal, die Aussagefähigkeit der Berechnung bei Idealisierungen und Diskretisierungen sicherzustellen. Bei- spiele dafür sind Materialmodelle für neue Verbundwerkstoffe, die Berücksich- tigung von Fertigungseinflüssen oder auch Modelle zur zuverlässigen Progno- se von Rissentstehung. Bei der versuchs- seitigen Absicherung möchte ich bei- spielhaft die Idealisierungen in frühen Fahrzeugentwicklungsphasen sowie pro- totypenspezifische Bauteile und Füge- techniken nennen. ATZ Und wie lauten Ihre Visionen für den Einsatz von Erprobung und Simula- tion im Jahr 2025? Schaub Meine Vision für das Jahr 2025 ist, dass alle Tools rund um Berechnung, Simulation und Erprobung so optimiert sind, dass ein Entwicklungsingenieur diese jederzeit über vernetzte, gleiche Bedienoberflächen verfügbar hat. Damit könnte ein Betriebsfestigkeitsingenieur kurzfristig entscheiden, ob er den virtu- ellen Karosserieprüfstand mit entspre- chenden virtuellen Fahrzeugmodellen für seine Aufgabe anwendet, oder ob er die Hardware auf einem Prüfstand er- probt. Beide Systeme sind mit der glei- chen Bedienoberfläche mit jeweiligen Spezifika nutzbar. ATZ Über die Ablösung praktischer Er- probungen mit Prototypen durch Arbei- ten im virtuellen Raum ist in der Vergan- genheit viel geschrieben worden. Wie ist SIMULATION VDI-FVT-Jahrbuch 2010 48 Erprobung Würzburg DOI: 10.1365/s35778-010-0366-4

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Page 1: „Einen Blick über den Tellerrand anbieten“

Prof. Dipl.-Ing. Norbert Schaub Vorsitzender des Programmausschusses der VDI-Tagung „Erprobung und Simulation“

„Einen Blick über den Tellerrand anbieten“Berechnung, Erprobung und Simulation wachsen im industriellen Alltag immer enger zusammen. Darauf reagiert der VDI mit der Fusion zweier bislang eigenständiger Fachtagungen. Prof. Dipl.-Ing. Norbert Schaub, Vorsitzender des Programmausschusses der Tagung „Erprobung und Simulation – Mess- und Versuchstechnik in der Fahrzeugentwicklung“, erklärt die Hintergründe.

ATZ Herr Prof. Schaub, die Automobilin-dustrie steht vor großen technischen und wirtschaftlichen Herausforde-rungen. Inwieweit können Erprobung und Simulation dazu beitragen, Druck aus den Prozessen zu nehmen?Schaub Wir haben aktuell nicht nur die Wirtschaftskrise zu bewältigen, sondern auch den Technologiewandel in der An-triebstechnik hin zu alternativen Antrie-ben mit geringem CO2-Ausstoß. In der Praxis bedeutet dies, dass viele Varianten gleichzeitig bearbeitet werden müssen. Erprobungen und Simulationen können in dieser Zeit natürlich einen erheb-lichen Beitrag liefern, Entwicklungen ef-fizient voranzutreiben, während des Ent-wicklungsprozesses den Reifegrad zu steigern und so die Entwicklungszeiten zu optimieren.

ATZ Bitte nennen Sie beispielhaft die ef-fizienzsteigernden Effekte eines zielge-richteten Einsatzes von Simulationsmaß-nahmen.Schaub In einer frühen Phase kann ohne Hardware eine ganze Reihe von unter-

schiedlichen Varianten durchgerechnet und simuliert werden und eine interdis-ziplinäre Untersuchung stattfinden. Gleichzeitig können auch sich gegenseitig beeinflussende und sich zum Teil wider-sprechende Anforderungen bewertet und berücksichtigt werden, um einen optimal abgestimmten Kompromiss zu finden. Beispiele sind Crashanforderungen, NVH-Anforderungen und Betriebsfestigkeitsan-forderungen am Rohbau.

ATZ Auch die Erprobung und die Simula-tion selbst stehen im Zentrum eines Technologiewandels. Bitte skizzieren Sie die aktuellen Herausforderungen.Schaub Das ist sehr vielschichtig. So gilt es zunächst einmal, die Aussagefähigkeit der Berechnung bei Idealisierungen und Diskretisierungen sicherzustellen. Bei-spiele dafür sind Materialmodelle für neue Verbundwerkstoffe, die Berücksich-tigung von Fertigungseinflüssen oder auch Modelle zur zuverlässigen Progno-se von Rissentstehung. Bei der versuchs-seitigen Absicherung möchte ich bei-spielhaft die Idealisierungen in frühen

Fahrzeugentwicklungsphasen sowie pro-totypenspezifische Bauteile und Füge-techniken nennen. ATZ Und wie lauten Ihre Visionen für den Einsatz von Erprobung und Simula-tion im Jahr 2025?Schaub Meine Vision für das Jahr 2025 ist, dass alle Tools rund um Berechnung, Simulation und Erprobung so optimiert sind, dass ein Entwicklungsingenieur diese jederzeit über vernetzte, gleiche Bedienoberflächen verfügbar hat. Damit könnte ein Betriebsfestigkeitsingenieur kurzfristig entscheiden, ob er den virtu-ellen Karosserieprüfstand mit entspre-chenden virtuellen Fahrzeugmodellen für seine Aufgabe anwendet, oder ob er die Hardware auf einem Prüfstand er-probt. Beide Systeme sind mit der glei-chen Bedienoberfläche mit jeweiligen Spezifika nutzbar.

ATZ Über die Ablösung praktischer Er-probungen mit Prototypen durch Arbei-ten im virtuellen Raum ist in der Vergan-genheit viel geschrieben worden. Wie ist

Simulation

VDi-FVt-Jahrbuch 201048

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Norbert Schaub

nach dem Studium maschinenbau

und Produktionstechnik an der

Hochschule Esslingen befasste

sich Prof. norbert Schaub bis 1998

in der mercedes-Benz Cars/Ent-

wicklung mit der Prüftechnologie-

Entwicklung und leitete dort die

abteilung Prüfstandstechnik. Seit

1998 ist er leiter der abteilung

Prüfungen „Passive Sicherheit“,

Betriebsfestigkeit, nVH und Fahr-

zeugfunktionen. Zusätzlich lehrt er

an der Hochschule Esslingen die

Fächer Projektmanagement und

Fahrzeugsicherheit und ist als

Gastdozent an der technischen

universität Graz tätig. im VDi-Pro-

grammausschuss für die internati-

onale tagung „Erprobung und

Simulation – mess- und Versuchs-

technik in der Fahrzeugentwick-

lung“ ist er seit 2003 als Vorsitzen-

der tätig.

der aktuelle Stand und wie lautet Ihre persönliche Prognose hinsichtlich der Notwendigkeit des Prototypenbaus?Schaub Auch in Zukunft wird ein Proto-typenbau erforderlich sein. Nur die An-zahl und in welcher Phase Hardware auf-gebaut wird, wird sehr stark abhängen, wie die virtuellen Methoden dort greifen. Das Optimum wird sicherlich erzielt durch die ideale Kombination und Aus-nutzung der jeweiligen Stärken der Be-rechnung, Simulation und Erprobung. Zudem wird man immer mehr Teilsyste-me in einer Erprobung mit entspre-chenden Randbedingungen simulieren, sodass dafür nicht immer Gesamtfahr-zeuge erforderlich sind. In diesem Zusam-menhang spielt auch das Thema „von der Straße, auf den Prüfstand, in den Rech-ner“ eine große Rolle. Neue Prüftechnolo-gien ermöglichen aber auch Gesamtfahr-zeugprüfanlagen, bei denen immer mehr Randbedingungen und Umwelteinflüsse wie in der Realität dargestellt werden kön-nen. Dadurch wächst die Komplexität der Prüfanlagen.

ATZ Inwieweit handelt es sich hierbei um tatsächlich, ingenieurwissenschaft-lich begründete Notwendigkeiten für praktische Erprobungen mit physischen Prototypen und inwieweit bremsen Psy-chologie und einschlägige Gesetze ein weiteres Vordringen von Simulationen?

Schaub Reale Prüfungen sind leichter nachvollziehbar und überprüfbar als solche im Rechner, da diese von entspre-chend umfangreicher und nicht einfach überschaubarer Software getrieben wer-den. Deshalb wird vorerst die Hardware-prüfung für die Gesetzesabprüfung die wesentliche Rolle spielen. Erste Anfänge, Simulationen zur Gesetzes- und Rating-erfüllung heranzuziehen, sind allerdings erkennbar.

ATZ Die diesjährige VDI-Fachtagung „Er-probung und Simulation in der Fahr-zeugentwicklung“ war vergleichsweise schlecht besucht. Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?

Schaub Vor dem Hintergrund der aktu-ellen Wirtschaftslage war die Tagung für mich recht gut besucht. Das Interesse der Aussteller war ebenso hoch und wir hatten durchgängig hoch qualifizierte Vorträge. In Summe eine Veranstaltung auf sehr hohem Niveau. Daher denke ich, ist die Tagung inhaltlich richtig auf-gestellt. Sie muss in Zukunft vermehrt dem engen Zusammenspiel von Erpro-bung und Berechnung gerecht werden. Wir werden deshalb die beiden Ta-gungen, die „SIMVEC-Tagung, Berech-nung und Simulation“ mit der Tagung „Erprobung und Simulation“ an einem Termin in Baden-Baden zusammenlegen. Damit bilden wir organisatorisch auch den Trend in den Unternehmen nach, bei denen die Berechnung und der Ver-such immer mehr in einer Einheit ge-bündelt werden.

ATZ Welche Effekte versprechen Sie sich von der Zusammenlegung?Schaub Die Teilnehmer der Tagung tref-fen durch die Zusammenlegung auf ein sehr großes Themenspektrum rund um Berechnung, Simulation und Erpro-bung. Sie können sich zu den unter-schiedlichen Themen die Vorträge frei zusammenstellen und es gelingt uns da-durch, den Teilnehmern den berühmten Blick über den Tellerrand hinaus anzu-bieten.

ATZ Welche Themen wer-den bei der neuen Veran-staltung im Zentrum ste-hen und wie stellen Sie si-cher, dass sich die bishe-rigen Zielgruppen der bei-

den Tagungen gleichermaßen angespro-chen fühlen?Schaub Die Tagung wird in mehreren Zü-gen gestaltet, inhaltlich zwei bis drei Be-rechnungszüge, ein bis zwei Erprobungs-züge und ein kombinierter Zug für die vernetzte Anwendung Berechnung, Si-mulation und Erprobung. Dadurch kön-nen wir noch ein viel größeres Spektrum zum Thema anbieten und natürlich or-ganisatorisch gewisse Synergieeffekte mitnehmen.

ATZ Herr Prof. Schaub, vielen Dank für das Gespäch.

Das Interview führte Stefan Schlott.

„Erste anfänge, Simulationen zur Gesetzes- und Ratingerfüllung heranzuziehen, sind erkennbar“

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