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Die Organe eines Toten können andere Menschen retten. SWISSTRANSPLANT entscheidet über die Zuteilung. Eine Reportage über Leiden, Leben und zu lange Listen.
TEXT MARCEL HUWYLER FOTOS KURT REICHENBACH
An einem Morgen im April
dieses Jahres, exakt um
7.18 Uhr, lösen die Chir-
urgen im Zürcher Kinder-
spital die Klemme an der
Hauptschlagader, und das eingenähte,
neue, kleine Herz in Ivanas aufgesägtem
Brustkorb beginnt sich zu regen, bewe-
gen – und schlägt. Ivana ist vier Jahre
alt. Vor zwei Jahren wurde sie «gelis-
tet», man setzte sie auf die Warteliste
für Patienten, die hoffen, dass ihnen ein
neues Herz transplantiert wird. Derzeit
hängt überall in der Schweiz Werbung
für Organspende. Auch Ivana lacht von
einem der Plakate und wird zitiert: «Ich
bin seit 5 Monaten tot … eigentlich. Da
war aber jemand, der mir nach seinem
Tod sein Herz gespendet hat.»
Stirbt ein Mensch, können seine
Organe einen anderen vor dem Tod
retten. Spenden und empfangen, von
einem Leben zum anderen. Die Zutei-
lung der Organe übernimmt die Stiftung
Swisstransplant in Bern. Im Jlmenhof
9a, einem 200-jährigen, verträumt wir-
kenden Haus mit Mansardendach und
Sprossenfenstern werden Spender er-
fasst, Empfänger gelistet und Organ-
Verpflanzungen koordiniert. Hier ist die
Schaltstelle des Schweizer Transplanta-
tionswesens. Dessen Herz sozusagen.
Ein Tag im August. 1246 Personen
stehen heute Morgen auf der Warteliste,
1246 hoffen auf eine neue Lunge, Leber,
Niere, auf ein Herz oder eine Bauchspei-
cheldrüse. 1246 Menschen läuft die Zeit
davon. Im Dachgeschoss von Swisstrans-
plant arbeiten sechs Koordinatoren.
Überall stehen farbige Ordner mit Auf-
schriften wie «Daten Herzbericht» oder
«European children heart list», auf
einem Regal liegt ein Schoggikäfer mit
einer Dankeskarte: «Liebe Grüsse, Insel-
spital Bern». Bei Swisstransplant wird
365 Tage im Jahr gearbeitet, 24 Stun-
Eindrückliche Plakate In der Schweiz machen derzeit Organempfänger auf ihr Schicksal aufmerksam. Auch Ivana Rellstab, 4, macht bei dieser Kampagne von Swisstransplant mit.
Organe nehmen und geben Swisstransplant-Chef Franz Immer und Koordinatorin Franziska Beyeler in der Berner Zentrale.
Eine Spende fürs Leben
Ihr neues, kleines HerzIvana Rellstab, 4, aus Rapperswil-Jona SG kommt mit einem Herzfehler zur Welt. Täglich schluckt sie Dutzende Medika-mente, aus Angst vor Infektionen darf sie nicht mit anderen Kindern spielen, und da sie selbst zum Essen zu schwach ist, wird sie künstlich ernährt. Vor drei Jahren über-lebt sie einen 45-minütigen Herz stillstand. Seit April 2013 hat Ivana ein neues Herz. Es geht ihr gut. Fragt man sie, wie sie sich fühlt, deutet sie strahlend auf ihre Brust – da, wo ihr neues Herz schlägt.
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den. Denn 80 Prozent der Organ-
spenden passieren ausserhalb der Büro-
zeiten. So wie gestern Abend.
Gegen 17 Uhr ist ein Spender gemel-
det worden, eine junge Frau, Mutter von
drei Kindern, Hirnblutung, Hirntod. Die
Frau hat einen Organspendeausweis,
auch ihre Angehörigen stimmen einer
Organspende zu. Damit beginnt für
Swisstransplant eine hektische Nacht.
Franziska Beyeler, 46, ist Leiterin
Nationale Koordination bei Swisstrans-
plant. Früher war sie Pflegefachfrau mit
Zusatzausbildung in Intensivpflege, heu-
te begegnen ihr Tod und Leben nur noch
in Tabellenform auf ihrem Computer.
«Der PC-Bildschirm schafft eine gewisse
Distanz und Nüchternheit, das erleichtert
die Arbeit», sagt sie. Doch manchmal be-
kommen Fälle Gesichter. Etwa wenn
Organempfänger Briefe an Swisstrans-
plant schicken, mit der Bitte, diese an die
Spenderfamilie weiterzu leiten. Da das
Transplantationswesen anonym abläuft,
schwärzt Franziska Beyeler heikle Brief-
passagen wie Wohnort, Datum, Namen
und leitet die Post dann weiter.
Chef von Swisstransplant ist
Franz Immer, 46, ein Mann mit warmer
Stimme und schlanken Fingern, wie sie
Ärzten und Musikern eigen sind. Viele
Jahre arbeitete er als Herzchirurg, leite-
te 1000 Herzoperationen und assistierte
bei über 4500. Er sagt: «Nicht wir ent-
scheiden, an wen die Organe gehen; wir
sammeln nur alle Daten von Spendern
und Empfängern, und eine Software er-
rechnet, wer ein Organ bekommt.» Das
Problem sei, dass 80 Prozent der Schwei-
zer ein transplantiertes Organ anneh-
men, aber nur 40 Prozent eines geben
würden. In keinem anderen Land Euro-
pas werden so wenig Organe gespendet
und ist die Spendebereitschaft so tief.
2012 waren lediglich 96 Verstorbene
Organspender, dazu kamen 101 Le-
bendspender (Nieren und Leber) und 37
aus dem Ausland importierte Organe.
Im Durchschnitt werden 3,5 Organe pro
Spender transplantiert; 2012 erhielten
somit 453 Patienten ein neues Organ.
Gleichzeitig sterben Jahr für Jahr 100
Menschen, weil für sie nicht rechtzeitig
ein Transplantat gefunden wurde.
Vier Organe der hirntoten jungen
Mutter werden schliesslich freigege-
ben – und nun von Swisstransplant an-
geboten. Franziska Beyeler kontrolliert
Hunderte medizinischer Daten der Ver-
storbenen im Computerprogramm
SOAS (Swiss Organ Allocation System).
Das Schweizer Organ-Zuteilungssystem
vergleicht die Spenderdaten mit der Lis-
te der 1246 Wartenden. Zuteilungskrite-
rien sind: medizinische Dringlichkeit,
medizinischer Nutzen und Wartezeit.
Für jedes Spende-Organ erscheint
Spenderin als Schutzengel
«Da bin ich herzlos …»
Michelle Hug, 28, aus Auw AG hat einen angeborenen Herzfehler. Lange Jahre führt sie mithilfe von Medikamenten ein normales Leben. Weil sie und ihr Partner Kinder möchten, werden die Medikamen-te dementsprechend umgestellt. Doch sie verträgt die neuen Mittel so schlecht, dass sie im Februar 2012 ein Spenderherz er-hält. Heute geht es ihr gut. Zur Spender-familie hat sie anonymen Kontakt. Ihre Herzspenderin (ein Mädchen im Gymi-Alter) nennt sie «meinen Schutzengel».
Marcel Steiner, 51, aus Steffisburg BE hat einen angeborenen Herzfehler. Seit 1996 lebt er mit einem Spenderherz. Er habe beschlossen, sagt Steiner und lacht, mit diesem Herz alt zu werden. Dreimal die Woche macht er Sport und engagiert sich im Schweizerischen Transplantierten Ver-ein. Steiner hat nie nachgeforscht, woher sein Herz stammt, er wolle das gar nicht wissen. «In der Sache», scherzt er, «bin ich wohl herzlos. Aber ich habe den Eindruck, mein Spender war ein guter Mensch.»
Michelle Hug geht es mit dem neuen Herz so gut, dass sie heute gar bei der Feuerwehr mitmachen kann.
Vom Herzchirurgen zum Organmanager Die Herz-Skulptur in Immers Büro schenkte ihm der Walliser Transplantierten- Verein A cœur ouvert.
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schliesslich eine Tabelle mit Namen,
einer ist auf Position 1, ganz zuoberst:
der oder die Glückliche. Aus der Warte-
liste ist eine Rangliste geworden.
Franziska Beyeler ruft das zuständi-
ge Transplantationszentrum an, sechs
gibt es in der Schweiz, in Basel, Zürich,
St. Gallen, Bern, Lausanne und Genf.
Diese prüfen das angebotene Organ und
benachrichtigen, wenn alles in Ordnung
ist, ihren Patienten. Für viele geht damit
ein oft jahrelanges Hoffen und Bangen
zu Ende. Das Warten, sagt Franz Immer,
sei für die Empfänger extrem nerven-
aufreibend. Es kommt vor, dass Patien-
ten ihn anrufen und wissen wollen, auf
welcher Position sie gelistet seien. Auf
ein neues Herz wartete man letztes Jahr
im Durchschnitt 303 Tage, 457 Tage auf
eine Lunge, 204 Tage auf eine Leber und
944 Tage auf eine Niere.
«Die meisten Spender gehen ver-
loren, weil man ihren Willen nicht
kennt», sagt Franz Immer. Lediglich je-
der zehnte Schweizer hat einen Organ-
spendeausweis. Ist der Wille des Toten
unbekannt, entscheiden die – in solch
emotionalen Momenten oft überforder-
ten – Angehörigen, in 53 Prozent sol-
cher Fälle lehnen diese eine Organspen-
de ab. Andere Länder praktizieren die
«Widerspruchslösung». Wer nicht Or-
ganspender sein will, muss sich vorher
in eine Liste eintragen. Franz Immer
wünscht sich für die Schweiz eine «Wi-
derspruchslösung soft». Wer nicht ex-
plizit verneint, gilt als Organspender, zu-
sätzlich werden die Angehörigen nach
dem Willen des Verstorbenen gefragt.
Aber auch in den Spitälern gibt es
Verbesserungsmöglichkeiten. «Beson-
ders in kleineren Spitälern werden
denkbare Spender oft gar nicht er-
kannt», sagt Franz Immer. Neuerdings
werden Pflegefachpersonen und Ärzte
speziell geschult, die in den Spitälern
dann als Koordinatoren für Organspen-
den figurieren. Sie erkennen und mel-
den mögliche Organspender und spre-
chen mit den Familien von hirntoten
Patienten über das sensible Thema.
Auf dem Bürotisch von Franziska
Beyeler liegt das Protokoll von letzter
Nacht. Alles, was mit den vier Organen
der hirntoten Frau passiert, wird no-
tiert. «Akzeptieren die Leber», steht da,
«Ambulanzfahrer wartet in ZH», «Leber
um 20.40 Uhr losgefahren» und schliess-
lich «Leber ist angekommen». Eben
kommt die Nachricht, ein Zentrum
übernehme eine Niere. «Damit sind alle
Organe vergeben», sagt die Koordinato-
rin und notiert das so im Protokoll, Zeit
10.30 Uhr. Seit dem Hirntod der jungen
Frau, der Mutter von drei Kindern, sind
18 Stunden vergangen. Für vier Men-
schen hat ein neues Leben begonnen.
Letzthin wurde Franz Immer von
einem Mann angerufen. Sein Sohn sei
vor zehn Jahren verunglückt, die Orga-
ne seien gespendet worden, wie es den
Empfängern wohl gehe? Franz Immer
recherchierte und teilte dem Vater mit,
allen Empfängern gehe es gut, nur mit
dem Herz habe man keinen Erfolg ge-
habt. Das Herz seines Sohnes schlage
also nicht mehr, meinte der Vater, das
sei gut zu wissen, dann könne er defini-
tiv Abschied nehmen.
An diesem Tag im August werden
bei Swisstransplant keine neuen Organ-
spender gemeldet. Im Laufe des Nach-
mittags setzt Franziska Beyeler vier
neue Namen auf die Warteliste, drei Pa-
tienten brauchen eine Niere, einer eine
Leber. 1250 Menschen brauchen ein
neues Organ. Dringend. 1250 Menschen
warten auf eine Spende fürs Leben. ----------Infos und Organspendeausweise unter www.swisstransplant.org
Eine englische Lunge
Heirat mit Kunstherz
Andy Röösli, 21, aus Bätterkinden BE be-kam im November 2009 eine Spender-lunge. Er weiss, dass das neue Organ aus England kam. Seit-her reist er immer wieder dorthin, «in England fühle ich mich plötzlich wie daheim». Röösli ge-niesst es, endlich beschwerdefrei le-ben zu können und jetzt sogar Fussballmatches besuchen zu dürfen – «ich bin nämlich grosser YB-Fan!».
Renata Isenschmid, 53, aus Erlenbach ZH hat seit 2004 ein neues Herz. Vor der lebensrettenden Or-ganspende ging es ihr so schlecht, dass sie noch im Spital, angeschlossen an ein Kunstherz, ihren Part-ner heiratete. Das Spenderherz bezeich-net sie als «Wahn-sinns-Geschenk». Ihr Gefühl, so Renata Isenschmid, sage ihr, dass der Spender wohl ein Mann war. «Ich denke täglich an diese Person und danke ihr.»
Nur jeder zehnte Schweizer
hat einen Organspende-
ausweis FRANZ IMMER
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