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RÄNKESCHMIEDE Texte zur internationalen ArbeiterInnenbewegung Wolfgang Schaumberg Eine andere Welt ist vorstellbar? Schritte zur konkreten Vision... Oder: Zur Aufgabe von postkapitalistisch orientierten Linken am Beispiel des Kampfes in Auto-Multis Herausgeber: tie – Internationales Bildungswerk e.V. AFP e.V., express-Redaktion No. 16 Juni 2006 9. Jahrgang

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R Ä N K E S C H M I E D ETexte zur

internationalen ArbeiterInnenbewegung

Wolfgang Schaumberg

Eine andere Welt ist vorstellbar?

Schritte zur konkreten Vision...

Oder: Zur Aufgabe von postkapitalistisch orientiertenLinken am Beispiel des Kampfes in Auto-Multis

Herausgeber: tie – Internationales Bildungswerk e.V.AFP e.V., express-Redaktion

No. 16Juni 2006

9. Jahrgang

Im März 2005 hatte ich einen »1. Entwurf« dieses Textes an Interessierte geschickt.Die erfolgte Kritik hat mir sehr bei der Überarbeitung geholfen. Für die zahlreichenVerbesserungsvorschläge und die Korrekturarbeit möchte ich ganz herzlich RobertSchlosser danken, ebenso wie Lothar Galow-Bergemann, Wolf Göhring, KirstenHuckenbeck, Rainer Roth, Nadja Rakowitz, Irmgard Schaffrin und Georg Wolter.

Wir danken der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt in Berlin für die finanzielleUnterstützung bei der Produktion der vorliegenden Broschüre.

Herausgeber:tie – Internationales Bildungswerk e.V.Heidestraße 13160385 FrankfurtTelefon (069) 97 76 06 66Fax (069) 97 76 06 69E-Mail [email protected] Internet www.tie-germany.org

AFP – Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der politischen Bildung e.V.express-RedaktionNiddastraße 6460329 FrankfurtTelefon (069) 67 99 84E-Mail [email protected]

1. Auflage 2006

Redaktionelle Bearbeitung: Kirsten HuckenbeckLayout/Satz: Birgit LetschDruck: Kopierwerk, Frankfurt

RÄNKESCHMIEDE erscheint in unregelmäßiger Folge

3

Inhalt

Einleitung 4

Teil I Bestandsaufnahme

1. Zur politischen Bedeutung und zur Lage der Auto-Beschäftigten 7

2. Zur Bedeutung der Gewerkschaften 9

3. Kritischer Rückblick auf die Theorie und Praxis der GOG 14

Teil II Orientierungshilfen?

1. Michael Hardt u. Antonio Negri 21

2. Moishe Postone 22

3. Stefan Meretz 23

4. Wolf Göhring 23

5. Helmut Weiss 25

6. Wilfried Glißmann und Klaus Peters 25

Teil III Praktische Schritte, oder: Untereinander

und mit den Leuten öfter mal anders diskutieren!

1. Zur Rationalisierung: Zeit-Druck und Zeit-Gewinn. Die Zeit erobern! 28

2. Zur Gruppenarbeit: neue Erfahrungen der Zusammenarbeit nutzen 33

2.1 Einleitung 33

2.2 Gruppengespräche – Gruppenbesuche – Versammlungen 37

2.3 GruppensprecherInnen und Demokratie 49

2.4 Erfahrungen austauschen heißt Lehren und Lernen 50

3. Schluss: Verteidigung und Attacke 54

Anhang

1. GoG/Standorte-Gruppe 56

2. Stefan Meretz 61

3. Wolf Göhring 64

4. Helmut Weiss 66

Die sich als »Linke« definierenden Menschen eint ihre Kritik an den kapitalistischen Verhältnissen –und zersplittert sie zugleich: Wie analysiert man den heutigen »Kapitalismus« denn genauer? Und:Was will man wie erreichen?

»Postkapitalistisch orientierte Linke« fragen nicht nach einem humaner gestalteten, re-formierten Ka-pitalismus, sondern nach einer nicht auf Verwertung, auf Kapitalakkumulation, sondern allein auf Be-dürfnisbefriedigung ausgerichteten Produktionsweise auf der Grundlage demokratischer Absprachenüber das Was und Wie der Produktion und der Verteilung der Produkte. »Das ist unrealistisch!«, sa-gen unsere Kritiker, »zumindest noch in weiter Ferne!« Zu Recht, und bleibt es auch, solange einenichtkapitalistische Gesellschaft nicht vorstellbar wird. Solange wir nicht zumindest gedanklichSchritte dahin machen, die für viele Menschen nachvollziehbar und hoffnungsträchtig sind. Schritte,die mehr Menschen motivieren können zum Mitdenken und Mitgehen. Auf einen »fertigen Plan« vonExperten zu warten hieße, die »andere Welt« wieder einer Minderheiten-Elite zu überlassen. DasAufzeigen und die Kritik des kausalen Zusammenhangs zwischen kapitalistischer Warenproduktionund den immer bedrückenderen sozialen Problemen bleibt gleichzeitig unabdingbare Aufgabe.

In der »Charta der Grundsätze des Weltsozialforums«, verabschiedet vom Internationalen Rat desWSF am 10. Juni 2001, heißt es (in Punkt 4): »Die auf dem WSF vorgeschlagenen Alternativen wi-dersetzen sich einem Prozess der Globalisierung, der von den großen multinationalen Konzernen undden ihren Interessen dienenden internationalen Institutionen, bei Komplizenschaft der nationalen Re-gierungen, gelenkt wird.« Und in Punkt 11: »Das WSF ist als Ort der Debatte eine Bewegung vonIdeen, die zum Nachdenken anregen, und Ort der transparenten Verbreitung der Ergebnisse diesesNachdenkens über die Herrschaftsmechanismen und Herrschaftsinstrumente des Kapitals, über dieMittel und Aktionen des Widerstands gegen seine Herrschaft und für ihre Überwindung.«

Die WSF-Parole »Eine andere Welt ist möglich« scheint hiernach die Entmachtung der »großen mul-tinationalen Konzerne« vorauszusetzen. Eine andere Welt ist in der Tat nur vorstellbar ohne »Herr-schaft des Kapitals«, das heißt auch ohne die Macht solcher Multis wie Microsoft, Deutsche Bank,Siemens, VW, Toyota, General Motors/Opel usw. – Wie ist deren Macht jemals zu brechen? WelcheAufgaben stellen sich uns, den postkapitalistisch orientierten Linken, in Bezug auf die Konzernherr-schaft und ihre Voraussetzungen?

Ich möchte insbesondere nach unseren Aufgaben in den Betrieben und Gewerkschaften fragen. Ei-nerseits, da ich nach 30 Jahren als Arbeiter (und 25 Jahren als Betriebsratsmitglied) bei Opel inBochum und als IG Metall-Linker immer noch im Rahmen der Kollegengruppe »Gegenwehr ohneGrenzen« (GoG) an der Betriebsarbeit, an den alltäglichen Auseinandersetzungen ebenso wie an denZukunftsdiskussionen teilnehme. Andererseits, da ich den Blick auf die Alltagserfahrungen der Pro-duzierenden bei vielen Linken sträflich vernachlässigt sehe, wobei ich jedoch die erst in den letztenzehn Jahren wieder aufgenommenen kapitalismuskritischen Diskussionen – etwa im Rahmen derWelt-, Europa- und lokalen Sozialforen – absolut mitreißend und vorwärts treibend finde.

4

Einleitung

5

Bloß kein Mythos »Arbeiter«! Doch für die im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung kleine Minderheitder aktiven Linken und wegen ihrer sozialen Zusammensetzung scheint mir nicht unbedeutend, dassviele Linke meiner Erfahrung nach oft einen schwierig zu beschreibenden bewusstseinsmäßigen Be-zug zum Gebrauch ihrer Sachen haben. Sie fahren mit Bahn, Bus, Auto, Rad usw., benutzen Duschen,Tassen und Kulis, essen Bananen und Pommes, ohne eine Anschauung davon zu haben, dass und wieall diese Sachen nicht um ihrer selbst willen produziert worden sind, sondern zuerst deswegen, Mehr-wert zu erzeugen. Und gleichzeitig für den Gebrauch. Und dass sie – zum großen Teil – auch in Zu-kunft gewünscht werden und hergestellt werden müssen! Dass außerdem hinter all solchen ProduktenProduzierende gesehen werden müssen, die sich anstrengen, unter Druck sind, Ängste haben, ihr Le-ben meist nicht anders kennen, als sich tagtäglich in einer Fabrik, einem Büro rumzuärgern, in Wech-selschicht, in täglichen Auseinandersetzungen mit Vorgesetzten und mit Debatten untereinanderohne Ende – und auch mal mit Spaß bei ihrer Arbeit! Unsicherheit, auch Missachtung der »Norma-los« als Bild-Leser, usw. scheinen oft genug dazu zu führen, dass sich Linke eher unter ihresgleichennur wohlfühlen, dort ihren Streit führen, ihren Feierabend, ihre Freizeit leben, oft auch ihren Berufs-alltag, oder sich nach ödem Berufsalltag mit wenig erlebtem Agitationserfolg verständlicherweise lie-ber schnell unter ihresgleichen mischen – und sich wundern, warum die Leute sich so wenig wehren.

So bewirkt die verbreitete Unterschätzung der Rolle der Produktionssphäre, und damit der Produzie-renden, ihrer Erfahrungen, ihrer Bewusstseinslage, dass das für unser aller Leben grundlegende Feldder materiellen Reproduktion weitgehend der Aktivität und ideologisch-politischen Ausrichtungdurch die Herrschenden überlassen bleibt.

Linke Schwärmerei über »die Arbeiter« oder gar »die Arbeiterklasse«, über ihre Bedeutung für dienotwendige Umwälzung der Gesellschaft und über ihre Rolle in einer »neuen« Gesellschaft ist oftAusdruck einer ebenso schiefen und oberflächlichen Einschätzung, nur mit umgekehrtem Vorzei-chen.

In seiner Auseinandersetzung mit dem »traditionellen Marxismus« versucht Moishe Postone »einneues Verständnis des Verhältnisses der Arbeiterklasse zur Möglichkeit der Aufhebung des Kapita-lismus« anzuregen. »Die Aufhebung des Kapitalismus muss auch im Sinne der Abschaffung der pro-letarischen Arbeit verstanden werden und folglich auch im Sinne der Abschaffung des Proletariats.Das gestaltet die Frage nach dem Verhältnis des gesellschaftlichen und politischen Handelns derArbeiterklasse zur möglichen Abschaffung des Kapitalismus äußerst schwierig. Es impliziert, dasssolches Handeln und das, was gewöhnlich als Klassenbewusstsein der Arbeiter bezeichnet wird, in-nerhalb der Grenzen der kapitalistischen Gesellschaftsformation verbleibt – und zwar nicht notwen-digerweise deshalb, weil die Arbeiter materiell und geistig korrumpiert würden, sondern weil prole-tarische Arbeit dem Kapital nicht grundlegend widerspricht. Die politischen und gesellschaftlichenAktionen der organisierten Arbeiterklasse waren historisch bedeutsam für die Prozesse, durch diedie Arbeiter sich selbst als Klasse innerhalb des Kapitalismus konstituiert und verteidigt haben, beider Entfaltung der Dynamik zwischen Lohnarbeit und Kapital und, besonders in Westeuropa, bei derDemokratisierung und Humanisierung der kapitalistischen Ordnung. Wie militant auch immer dieAktionen und die mit der Selbstbehauptung des Proletariats verbundenen Subjektivitätsformen ge-wesen sind, sie weisen dennoch nicht in die Richtung einer Aufhebung des Kapitalismus. Sie stelleneher kapitalkonstituierende denn über das Kapital hinaus weisende Formen von Handeln und Be-wußtsein dar. Das wäre selbst dann der Fall, wenn die Struktur der Lohnarbeit wirklich global wür-de – was im Zuge der gegenwärtigen Form der Globalisierung des Kapitals auch erreicht werden

dürfte – und sich die Arbeiter entsprechend organisierten. Es geht nicht nur einfach um die Frage, inwelchem Umfang das Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit sich globalisiert hat (obwohl auf einerkonkreteren Ebene der Analyse die räumliche Ausdehnung des Kapitals bedeutende Konsequenzenhat). Es geht auch nicht um ›Reformismus‹ – das grundlegende Problem ist nicht, dass Politik, dieauf der Existenz der Arbeitskraft als Ware fußt, zu gewerkschaftlichem Bewusstsein führt. Es gehtvielmehr darum, dass das Kapital letztlich auf proletarischer Arbeit beruht – daher kann die Aufhe-bung des Kapitals nicht auf der Selbstbehauptung der Arbeiterklasse basieren. Selbst die ›radikale‹Auffassung, dass zum Beispiel die Arbeiter das Mehrprodukt produzieren und deshalb seine ›recht-mäßigen‹ Besitzer wären, läuft auf die Abschaffung der Kapitalistenklasse hinaus – aber nicht aufdie Aufhebung des Kapitals. Das würde die Aufhebung der Wertform des Mehrprodukts und der ka-pitalbestimmten Form des Arbeitsprozesses erfordern.«1

In diesem Sinne (auch wenn Postone hier militante Aktionen und Kämpfe um Reformen zu einseitigals »kapitalkonstituierend«, statt auch die Widersprüche vorantreibend ansieht) in die Richtung einerAufhebung des Kapitalismus weisende Erfahrungen und Überlegungen sind aus der Theorie – im Sin-ne gesammelter und aufgearbeiteter Erfahrungen – sowie aus der Wirklichkeit der heutigen Repro-duktion der Gesellschaft zu gewinnen und mit der Vorstellung einer anderen Produktionsweise zu ver-knüpfen.

Im Folgenden geht es darum, Produktions- und Kampferfahrungen in der Auto-Fabrik beispielhaft inden Blick zu nehmen, um so die Chance zu nutzen, einer anderen Welt vielleicht auch auf diesem Wegein Stück näher zu kommen.

6

1) M. Postone: »Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft«, ca-ira Verlag, Freiburg 2003, S. 557f.

7

Ein Angriff auf die »Macht der Multis« mussauch von innen heraus entwickelt werden, vonden Beschäftigten. Ihr Bewusstsein davon, ihreProduktions- und Lebenserfahrungen anderseinsetzen zu wollen und zu können, wäre dabeieine wichtige Voraussetzung.

1.1 Die Beschäftigten in den Hersteller- wieZulieferbetrieben der Autoindustrie weltweitproduzieren eines der wichtigsten und ökolo-gisch wie friedenspolitisch (»Krieg um Öl«)problematischsten Massenkonsumgüter. ImVerbund mit vielen Menschen in vor- und nach-gelagerten Bereichen erarbeiten sie den Profitvon einigen der stärksten und mächtigsten Mul-tis der Erde und damit auch die Macht von poli-tisch sehr einflussreichen Menschen, Mana-gern, Aktionären. Sie sind folglich objektiv fürden Erhalt der kapitalistischen Wirtschafts- undGesellschaftsordnung in den größten Industrie-ländern der Erde an wichtiger Stelle jede Wocherund 40 Stunden aktiv.

Selbst wenn beispielsweise in Deutschland vonden insgesamt 2,8 Millionen Unternehmen über99 Prozent zu den Kleinen und Mittleren mitweniger als 500 Beschäftigten zählen und dieseBetriebe 70 Prozent aller Beschäftigten ein-schließen2, bleiben die Belegschaften in denAuto-Betrieben von besonderer gesellschaftli-cher Bedeutung. Allein von 1993 bis 2003 istzwar die Anzahl der Erwerbstätigen im Produ-

zierenden Gewerbe in Deutschland von 38,8Prozent aller Erwerbstätigen auf 31,1 Prozentzurückgegangen, während sie im Dienstleis-tungsbereich von 57,8 Prozent auf 66,4 Prozentgewachsen ist (Ergebnisse des Mikrozensus),doch sollte man entgegen mancherlei Vorurtei-len ob des Verschwindens von Industriearbeitdaran erinnern: In Deutschland waren 2003noch 773 000 Menschen in der Autoindustrieeinschließlich Zulieferer beschäftigt (803 000 in1991).3

Die Anzahl und Bedeutung der Automobilbe-schäftigten in den wichtigsten Industrie- undsog. Entwicklungsländern (z.B. China) kannhier nicht im Einzelnen analysiert werden. DieAutoindustrie ist jedenfalls für eine beispiel-hafte Auseinandersetzung über die Chancenund Aufgaben postkapitalistisch orientierterLinker – seien sie nun innerhalb einer der Be-legschaften aktiv oder außerhalb – von beson-derer Bedeutung.

1.2 Die Beschäftigten äußern als ihr »Interes-se« derzeit in der Regel, keine Verschlechterungihrer Lage hinnehmen zu müssen.

Bei der Frage nach den »Interessen« der Be-schäftigten ist jedoch eine wesentliche Schwie-rigkeit zu bedenken: In welchem Kontext wirdvon wem gefragt? Meine Erfahrung ist: Diemeisten Kolleginnen und Kollegen haben –

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Bestandsaufnahme

2) s. Eva Roth: »IG Metall will enger mit dem Mittelstand zusammenarbeiten«, in: FR, 16. Juni 20043) Statistisches Bundesamt, s. metall, Monatsmagazin der IG Metall, Nr. 7-8/2004, S. 20

1. Zur politischen Bedeutungund zur Lage der Auto-Beschäftigten

wenn sie ehrlich und offen antworten – wohleher das »Interesse«, möglichst schnell auf ihreArt von Arbeit pfeifen zu können. Man spieltnämlich massenhaft Lotto, träumt vom unhin-terfragten Geldregen, um sich überhaupt nichtmehr einem Arbeitgeber andienen zu müssen.»Arbeit habe ich zuhause genug!«, heißt danndie stehende Redewendung.

Bei einer Umfrage von Gewerkschaftsvertretern(oder ihren Beauftragten) würden die meistenauf die Frage, was sie von ihrer Arbeit erhoffen,derzeit wohl antworten: »Einen einigermaßensicheren Arbeitsplatz«. Entsprechend verkün-den alle politischen wie gewerkschaftlichen»Interessenvertreter« als Leitparole »Arbeits-platz sichern!«. Das heißt für die Auto-Arbei-terInnen also, das im Vergleich zu den übrigenLohnabhängigen des Landes (und oft erst rechtder allermeisten Länder der Erde) relativ guteEinkommen samt der in Mittel- und Kleinbe-trieben oft unvorstellbaren betrieblichen Son-dervergütungen und -Regelungen zu »sichern«,um so für sich und die Familie weiterhin ein Le-ben zu ermöglichen, das für die Masse der übri-gen Beschäftigten und schon gar der Arbeitslo-sen kaum erreichbar erscheint.

Mehrheitlich ist die Sorge um den Erhalt desstatus quo bei den Kolleginnen und Kollegen inwidersprüchlichster Weise eingebunden in dieIdeologie der betriebswirtschaftlichen Erforder-nisse von Kostensparen und »Sicherung derWettbewerbsfähigkeit« als anscheinend natur-gegebener Grundbedingung des Überlebens.Daraus folgt: Unternehmer wie Staat könnensich gerade in den wichtigsten multinationalenBetrieben auf Mehrheiten in den Belegschaftenstützen, die – noch – relativ viele Privilegien zuverlieren haben und »ihren« Betrieb erhaltenwollen. So wurde der staatliche Sozialabbau inDeutschland beispielsweise bei den Beschäftig-ten in der Autoindustrie stimmungsmäßig schonseit Anfang der 90er Jahre vorbereitet durch ei-ne betrieblich abgeschlossene Verzichtsverein-barung nach der anderen.

Ähnlich ist die Situation nach meiner Erfahrungin Osteuropa, ebenso in Brasilien, in Mexico, inChina, in USA oder wo auch immer die Multisaktiv sind einzuschätzen: Sollte ein Auto-Multiirgendwo Arbeitsplätze anbieten, drängeln sichdie Leute massenhaft darum, und wer dort nocheinen Arbeitsplatz hat, will ihn auf keinen Fallverlieren. »Que se vayan todos! – Die sollendoch alle abhauen!« Diese Parole von Kollegin-nen und Kollegen in Argentinien, die »ihren«Betrieb nach der Flucht ihres Fabrikbesitzers be-setzt und in eigene Regie genommen haben, wirdeben nicht auf die Multis angewendet, im Gegen-teil: Diese drohen (!) genau damit abzuhauen –nach Osteuropa, China usw. – und erpressen mitdieser Drohung eine Verzichtsvereinbarung nachder anderen. Eine Regierungspolitik, die dieseGroßkonzerne empfindlich angreifen würde,brächte große Teile der Beschäftigten dagegenund für den Schutz »ihrer« Betriebe auf dieStraße. Eine wirksame »linke Bewegung« gegendie Macht solcher Multis ist ohne Erarbeitung ei-ner hoffnungsträchtigen Alternative unter Betei-ligung von großen Teilen der Beschäftigten, dergesamten Bevölkerung, nicht vorstellbar.

1.3 Weltweit herrscht in den allermeisten Au-tofabriken Angst. Angst vor Jobverlust, Ein-kommenseinbußen, Verschärfung von Gesund-heitsbelastung, noch unmenschlicheren Arbeits-zeiten. Verzichtserpressungen bestimmen denAlltag, immer mit der Androhung, über kurzoder lang womöglich alles zu verlieren, wennman nicht etwas zu geben bereit ist. TäglichesSchimpfen, Aufregung über das betrieblicheGeschehen sowie über die gesellschaftliche Ent-wicklung insgesamt gehören zur normalen At-mosphäre im Produktionsalltag. »Man müsstees denen mal so richtig zeigen!«, und »Die Ge-werkschaften müssten ganz anders rangehen!«sind typischer Ausdruck der Empörung. Dochgleichzeitig wollen die meisten unserer Kolle-ginnen und Kollegen verständlicherweise ehermöglichst schnelle Kompromisslösungen, ohneallzu viel riskieren zu müssen.

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1.4 Sicher gibt es immer wieder auch Ab-wehrkämpfe, kleine und größere Aktionengegen die Angriffe auf die Arbeitsplätze, Ein-kommen und Arbeitsbedingungen. Tagtäglichpreschen einzelne vor im Widerstand und versu-chen, die anderen mitzuziehen. Die individuel-len, oft auch miteinander abgesprochenen Ver-suche, die Spielregeln zu unterlaufen, sich einPäuschen rauszuholen, Belastungen abzubauen,die Vorgesetzten und die Firma zu leimen,gehören ebenso zum Alltag im Betrieb. Von op-portunistischer Anbiederei beim Vorgesetzten,

konkurrenzlauerndem Karriereverhalten kannebenfalls jeder aus dem Arbeitsalltag ohne Endeberichten. Kurzum: die Beschäftigten machenwährend etwa der Hälfte ihrer wachen Lebens-zeit, die sie am Arbeitsplatz und in seinem Um-feld verbringen, ganz widersprüchliche Erfah-rungen und bewegen sich ständig im Wider-spruch zwischen der verlangten »corporateidentity« und der immer wieder erforderlichenund praktizierten Solidarisierung im allgemein-sten Sinne des »Wir hier unten«.

2. Zur Bedeutung der Gewerkschaften

Vorauszuschicken ist hier der Verweis auf dieTatsache, dass kapitalseitig durch die aktuellenUmstrukturierungen, durch neue Formen glo-baler Vernetzung und Anwendung neuer Tech-nologien die Rolle der Gewerkschaften massivunter Druck geraten ist. Mit der Zergliederungder Großbelegschaften durch Outsourcing z.B.verliert die Gewerkschaft als Schutzorganisa-tion im Betrieb an Macht. 500 Vertrauensleutestarke Vertrauenskörper, mit einer Sonderver-einbarung wie bei Opel-Bochum, nämlich alle14 Tage während der Arbeitszeit eineinviertelStunden mit dem Betriebsrat zur Informationund Diskussion zusammenkommen zu können,wird es immer seltener geben. Das Prinzip »einBetrieb – eine Gewerkschaft« ist angesichts derAufspaltung innerhalb der Fabrik, auf dem In-dustrie-Park-Gelände und innerhalb der Pro-duktionskette obsolet geworden. Die Flächen-Tarifverträge verlieren ein Stück ihrer Fläche,ihrer organisatorischen Basis. Die Betriebsrätemit ihren Betriebsvereinbarungen gewinnen anBedeutung für die innerbetriebliche Regula-tion, aber nicht an Durchsetzungsmacht gegendie Profitinteressen.

Die Notwendigkeit und Möglichkeit von Kämp-fen einzelner Belegschaften, zunächst relativisoliert, nimmt zu. Der enge Verbund der Pro-

duktionskette gibt einzelnen Belegschaften dieMacht, Druck auf das Unternehmerlager aus-zuüben, zig andere Belegschaften mit in dieAuseinandersetzung zu holen.

Doch bei der Beurteilung der aktuellen gewerk-schaftlichen Lage und offiziellen Gewerk-schaftspolitik geht es hier eher um den tradi-tionellen und heute hauptsächlich wirksamenErfahrungszusammenhang der Beschäftigten.

2.1 Diese sind in den Auto-Multis immernoch überdurchschnittlich gut in der Gewerk-schaft organisiert. Sie gehören zur Kernklien-tel, die die Machtbasis für die traditionelle Ge-werkschaftspolitik der herrschenden Gewerk-schaftsbürokratie in den Industrieländern bil-det. Die Wirksamkeit ihrer ideologischen undpolitischen Macht auf das Bewusstsein der Be-schäftigten ist genauer zu beurteilen, will mannach Ansatzpunkten und Barrieren für eineDebatte über eine nicht kapitalistisch organi-sierte Gesellschaft fragen.

2.2 Bei uns in Deutschland ist die Macht dieserBürokratie nicht nur an ihrer Rolle im Rahmenvon Tarifauseinandersetzungen festzumachen.

In ihrem Aufsatz »Der Reformismus – Realitätund Ideologie« zitiert Ursula Schmiederer4

Marx: »Aber innerhalb der bürgerlichen, aufdem Tauschwert beruhenden Gesellschaft er-zeugen sich sowohl Verkehrs- als Produktions-verhältnisse, die ebenso viel Minen sind, um siezu sprengen. Eine Masse gegensätzlicher For-men der gesellschaftlichen Einheit, deren ge-gensätzlicher Charakter jedoch nie durch stilleMetamorphosen zu sprengen ist«, und fährtdann fort: »Die Hoffnung auf die stille Meta-morphose ist die Hoffnung des Reformismus,die Hoffnung auf die Zirkulationssphäre, aufpolitische Maßnahmen und auf die ausgleichen-de Gerechtigkeit. Die Minen, das zeigen die Ar-beiterkämpfe und Konflikte der letzten Jahre,liegen im Produktionsbereich. Dort werden Er-fahrungen gemacht, die zugleich Aneignungs-prozesse sind. Dies ist allerdings das Wirkungs-feld der Gewerkschaften. So ergibt sich, dassgerade die Interessenorganisation, die von ihrerFunktion und Legitimation her nicht eigentlichüber die Grenzen der bürgerlichen Gesellschafthinausstrebt, am unmittelbarsten konfrontiert istmit den Widerspruchsmomenten der Integrationder Klasse einerseits und den ›Minenfeldern›andererseits, wo die neuen Elemente für dieProduktivkraft Arbeit liegen.« Sicherlich liegendie »Minen« nicht nur im Produktionsbereich,aber eben auch dort.

Zur Einschätzung der Rolle und Bedeutung derGewerkschaften für das Bewusstsein der Be-schäftigten ist sicher die Verhandlungsmacht inTarifauseinandersetzungen in den Blick zu neh-men, noch wichtiger aber ihre politische undideologische Macht im Produktionsalltag. DieBedeutung der auf IGM-Werbe-Kulis oder -Flaschenöffnern eingravierten Parole »IGM –kompetent in Sachen Arbeit« wird in der Linkenoft gar nicht verstanden: Die Gewerkschaft ist –zumindest in den Großbetrieben – tagtäglich inbestimmter Art und Weise unmittelbar »vor

Ort« aktiv, prägt die Alltagsdebatten der Kolle-ginnen und Kollegen mit, ebenso wie ihre Suchenach Lösungen ihrer immer sorgenvoller disku-tierten Probleme als Lohnabhängige.

2.3 Bei jedem Alltagskonflikt am Arbeits-platz erlebt man (zumindest in den deutschenAuto-Betrieben) das gleiche Spiel: Manschimpft gemeinsam über schlechte Arbeitsbe-dingungen oder Lohnprobleme usw. und holtden gewerkschaftlichen Vertrauensmann hinzu.Der holt den Betriebsrat, den entscheidendenGewerkschaftsrepräsentanten vor Ort. Der ver-spricht, sich um das Problem zu »kümmern«,macht sich auf den geregelten Weg, die BR-Gre-mien einzuschalten. Bei harten Problemen gehtdie Debatte sogar bis hin zum Gesamt- oder garEuro-BR, und am Ende dann zurück zu den Ar-beitenden, zumeist mit einer Lösung nach demMotto »Mehr war nicht drin« – ein Kompro-miss, der nicht auf der Basis mobilisierter (undd.h. auch umfassend aufgeklärter) Gewerk-schaftsmitglieder, deren Aktionsbereitschaftman sorgfältig abgefragt hätte, zustande gekom-men ist, sondern auf der Basis von Verhandlun-gen von Experten, die in ihrer Mehrheit dieWettbewerbsfähigkeit »ihres« Unternehmens –sowie der so genannten »deutschen Wirtschaft«– nicht gefährden, sondern eher verbessern wol-len. Dass für diese tagtägliche Bestätigung undHerstellung des Alltagsbewusstseins mit dereingeübten Delegation der Interessen an die»Belegschaftsvertreter« und dem Hoffen aufKonfliktlösung auf dem geregelten, gesetzli-chen Weg gerade die gängige gewerkschaftlichePolitik jeden Tag vor Ort von wesentlicher Be-deutung ist, wird in der Linken weitgehend un-terschätzt.

2.4 »Es gibt zu unserem Vorgehen keine Al-ternative!« hören die Kolleginnen und Kollegen

10

4) U. Schmiederer, in: »Grenzen gewerkschaftlicher Politik«, Fischer Taschenbuch-Verlag, Frankfurt a.M. 1979, S. 23

11

von Seiten der allermeisten Interessenvertreterauch bei jedem großen Konflikt mit den Unter-nehmern. Gerade im Fall gesamtgesellschaft-licher Auseinandersetzungen – wie z.B. imKampf gegen den Sozialabbau, gegen Arbeits-zeitverlängerung oder in Tarifrunden – wäre dieNotwendigkeit einer Debatte um eine andere,nichtkapitalistische Welt am besten massenhaftverständlich zu führen. Doch genau in solchenSituationen versperrt die gewerkschaftsoffiziel-le politische Linie geradezu die Eröffnung die-ser Debatte:

»Es geht um die Hauptaufgabe der Gegenwartund die Schlüsselfrage der Zukunft: ›Wie, mitwelchen Mitteln und zu welchem Ziel kann undmuss der globale Kapitalismus politisch gestal-tet und sozial reguliert werden?‹ Im Mittelpunktstehen nicht gesellschaftliche Visionen und po-litische Alternativen jenseits des Kapitalismus,sondern realistische Optionen und konkreteProjekte im Kapitalismus, die diesen verän-dern.« Mit dieser Ausrichtung der IG Metall-Führung für die gewerkschaftsoffizielle Zu-kunftsdebatte5 ist die offizielle Gewerkschafts-politik nicht nur nicht gewillt, sondern auch garnicht in der Lage, eine Debatte über eine nichtauf Verwertung ausgerichtete Produktionsweisezu initiieren.

Traditionell geht es der Gewerkschaftsführungauch in den Autokonzernen um den Erhalt der –»wettbewerbsfähigen« – Arbeitsplätze und da-mit der relativ guten Lage der Automobilbe-schäftigten, und so zugleich auch um den Erhaltihrer Form von Gewerkschaftsorganisation, samtder vielen Gewerkschaftsangestellten-Posten.

Als unabdingbar wird dazu der Erhalt genau desSystems angesehen, das bisher die relativ guteLage ermöglicht hat, einschließlich unhinter-fragter Autoproduktion, Multi-Profiten und demdazu gehörenden politischen Machtgefüge.

2.5 An Beispielen aus der IG Metall möchteich zeigen, wie diese Ausrichtung auch die Vor-stellung von sich als »Linke« verstehenden, en-gagierten wissenschaftlichen Mitarbeitern undgewerkschaftsnahen Beratern prägt. Das ist vonbesonderer Relevanz, wenn dort Positionen ver-treten werden, die viele von uns innerhalb derGewerkschaftslinken mehr oder weniger diffe-renziert unterstützen. Der als »Chefdenker« derIG Metall angesehene Mitarbeiter des IGM-Vorsitzenden Peters, Hans-Jürgen Urban, hatmit seinem »Statement auf dem Gewerkschafts-und gesellschaftspolitischen Forum der IG Me-tall« am 11./12. Juni 2003 in Berlin unter demTitel »Zukunft des Sozialstaates – Eigenverant-wortung und Finanzierung« (nachzulesen unter:www.labournet.de) die meines Erachtens ambesten ausgearbeitete Position vorgelegt. EinBlick auf seine Vorstellungen »eines radikalenPolitikwechsels«, »eines gewerkschaftlichenGegenentwurfs« zum »Sozialstaats-Projekt derNeuen Sozialdemokratie« lohnt sich:

»Solange wir in einer kapitalistischen Privat-wirtschaft leben, bedürfen Markt und Gesell-schaft der bewussten Regulierung durch den de-mokratischen Sozialstaat«, fordert Urban. An-scheinend bleibt seine Perspektive damit offenfür eine Gesellschaft, die nicht auf einer »kapi-talistischen Privatwirtschaft« basiert. Wozu solldie »neue Wirtschafts-, Finanz- und Beschäfti-gungspolitik« führen, wie sie Urban mit seinemPlädoyer »für einen wachstumspolitisch geläu-terten Euro-Keynesianismus« entwirft? »DiePrinzipien der Belastung nach wirtschaftlicherLeistungsfähigkeit sowie der Parität zwischenKapital und Arbeit« sollten laut Urban dazu die-nen, »emanzipierte Lebensweisen und eine in-novative solidarische Gesellschaft entstehen«zu lassen. Ist das vorstellbar, solange wir in ei-ner kapitalistischen Privatwirtschaft leben?Hans-Jürgen Urban baut eine Endlosschleifeauf. Alle seine ausführlich begründeten Einzel-

5) in: Gewerkschaftliche Monats-Hefte 2/2001

forderungen wie »eine sozial gerechte (was im-mer das ist, d. Verf.) Reform des Steuer-systems«, seine Ziele wie »Beseitigung der Ar-beitslosigkeit« landen unter dem Motto »derMarkt ist als wirtschaftlicher Mechanismushöchst produktiv« wieder beim Erhalt der »ka-pitalistischen Privatwirtschaft«.

»Eine andere Welt ist möglich!« – diese wieverschwommen auch immer von der globalisie-rungskritischen Bewegung weltweit postuliertegrundsätzliche gesellschaftliche Veränderungbleibt bei Urban den Zwängen der Kapitalakku-mulation, einer regulierten (europäischen)Marktwirtschaft untergeordnet. Überlegungenetwa zur Abschaffung des Lohnsystems sindnicht einbeziehbar. Für die notwendige Bünd-nispolitik der Gewerkschaftslinken ist die Tatsa-che sicher nicht unbedeutend, dass diePeters/Urban-Richtung in der IGM für breite»Mobilisierungs-Allianzen«, einen »neuenBündnis-Pragmatismus« und eine »offene De-batte« plädiert. Welche Zielvorstellungen H.-J.Urban damit allerdings anstrebt, müssen wir alspostkapitalistisch orientierte Linke genauso inunserer Diskussion berücksichtigen wie seinetaktische Gesamtausrichtung: »Die Gewerk-schaften können und wollen auf die SPD alsBündnisakteur nicht gänzlich und dauerhaftverzichten; doch solange die SPD den falschenDritten Weg nicht verlassen will, müssen dieGewerkschaften den ›Umweg über die Aktivie-rung der Zivilgesellschaft‹ gehen.« Wozu sollenda letztendlich die Gewerkschaftsmitglieder ak-tiviert werden? Dass die große Mehrheit derKolleginnen und Kollegen auch die »Marktwirt-schaft« samt Wettbewerbsdogma und Standort-konkurrenz als alternativlos sieht, macht sie fürden »radikalen Politikwechsel« der Peters/Urban-Richtung umso empfänglicher.

Ein anderes Beispiel lieferte vor kurzem derauch beim Vorstand der IGM engagierte Kolle-

ge Klaus Pickshaus mit seiner Ausrichtung derIGM-Kampagne ›Gute Arbeit‹ in seinem Auf-satz »Revitalisierung der Arbeitspolitik«6: »Diebetriebliche Realität zeigt, dass Investitionen indas Humankapital dann zurückgenommen wer-den, wenn sie ihren Beitrag zur Wettbewerbs-stärkung in der geforderten (unter Shareholder-Value-Kriterien immer kürzeren) Frist nichtnachzuweisen vermögen. Das wettbewerbspoli-tische Paradigma bietet deshalb keinen verläss-lichen Begründungsrahmen für eine Initiative›Gute Arbeit‹. Angesichts der vorherrschendenund vornehmlich auf Kostensenkung fokussie-renden Wettbewerbspolitiken ist eine gewerk-schaftliche Initiative eher als ›gegentendenziel-les Projekt‹ zu konzipieren und zu praktizieren.Dieses Projekt bringt in erster Linie die gesund-heitlichen, sozialen und arbeitsinhaltlichen In-teressen der Beschäftigten zur Geltung, beziehtaber aus den produktivitäts- und wettbewerbs-fördernden Impulsen dennoch Bewegungsener-gie. Sie erhebt sie aber nicht zum zentralen Be-wertungs- und Rechtfertigungskriterium. Damitträgt eine Initiative ›Gute Arbeit‹ aber durchauszur Auseinandersetzung mit den dominierendenunternehmenspolitischen Konzeptionen einer›Ökonomie der kurzen Fristen‹ bei und liefertArgumente für ein ›alternatives Wettbewerbs-modell‹. Ein solches Modell setzt auf Qualitätder Arbeit als zentrale Innovationsstrategie, beider Investitionen in die Humanressourcen(Kompetenz – Motivation – Gesundheit) eineSchlüsselrolle einnehmen.« Ein typisches Argu-mentationsmuster scheint mir auch hier in derWendung von einer – angedeuteten – prinzipiel-len Kritik des »wettbewerbspolitischen Paradig-mas« zu einem »alternativen Wettbewerbsmo-dell« zu liegen. In der alltäglichen Auseinander-setzung vor Ort in den Betrieben ist damit diegleichsam als naturgesetzlich geforderte Rück-sichtnahme auf die Wettbewerbsfähigkeit desEinzelbetriebs wieder festgeschrieben. Wird sonicht die notwendige Debatte über Gesundheits-

12

6) K. Pickshaus, in: Sozialismus, Heft 7-8/2004, S. 49ff.

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gefährdung am Arbeitsplatz als Ausdruck vonLohnabhängigkeit und Verwertungsproduktiongeradezu versperrt?

Dagegen hatte Hans Matthöfer 19687 – neben-bei: Er beklagt hier den Einflussverlust der Ge-werkschaften: Der Organisationsgrad in derMetallindustrie »sank z.B. von 56 Prozent imJahre 1952 auf 39 Prozent 1962 und 38 Prozentim Jahre 1968« – verlangt: »GewerkschaftlicheBildungsarbeit muss aufzeigen, wie betrieblicheKonflikte gesamtgesellschaftlich bedingt sind–dass z.B. der Arbeitgeber in bestimmten Situa-tionen nicht aus schlechtem Willen, sondern als›Personifizierung ökonomischer Kategorien‹handelt – und wie man sich eine menschenwür-dige Gesellschaft in unserer Zeit vorstellenkann. So wäre dann im Bewusstsein der Mit-glieder die Vermittlung herzustellen zwischenden Auseinandersetzungen und Konflikten umdie Verbesserung der Verhältnisse im Betriebund der Notwendigkeit des Kampfes um dieZentralen der gesellschaftlichen, politischenund wirtschaftlichen Macht, in denen in zuneh-menden Maße die wirklich wichtigen Entschei-dungen fallen.«

2.6 Thesenhaft sei hier nur angedeutet, dasssich aus den aktuellen Positionen der führen-den Gewerkschafter auch für den offiziellengewerkschaftlichen Internationalismus keineanderen Leitgedanken ergeben können als die,die die IG Metall verbreitet: »Decent work« alsberechtigte Reformforderung nach humaner ge-stalteten Arbeitsplätzen bleibt ideologisch-poli-tisch mit dem unhinterfragten Festhalten anLohnarbeit verzahnt, »Verhaltensrichtlinien«,»Codes of Conduct« als berechtigte Forderun-gen an die Multinationalen Konzerne bleiben andie Illusion von »fairem Wettbewerb« gebun-den. Die berechtigte Forderung der Beschäftig-

ten nach demokratischer Mitwirkung wird aufdie »Einrichtung von Euro- und Welt-Betriebs-räten« zugespitzt im Sinne einer Hoffnung aufbeidseitig erträgliche und dauerhafte Regulie-rung des Widerspruchs zwischen Kapital undArbeit, wobei statt wirklicher Massendemokra-tie die althergebrachten Interessenvertretungs-gremien auch die Macht der Gewerkschafts-bürokraten erhalten sollen. So bilden diese zen-tralen Forderungen auch gleichzeitig denanscheinend nicht zu sprengenden Rahmen fürdie gewerkschaftsoffizielle Vorstellung einer»anderen Welt« im Sinne eines »besseren« Ka-pitalismus.

2.7 Insgesamt ergibt sich für uns als postkapi-talistisch orientierte Linke also die Aufgabe, dieWirksamkeit der gewerkschaftsoffiziellen Poli-tik auf das Massenbewusstsein genauer in denBlick zu nehmen. Sinnlos erweist sich dann derimmer wieder zu hörende, oft empörte oderauch fast flehentliche Appell an »die Gewerk-schaften«, im Stile von »die Gewerkschaftenmüssen...«. Wer Anforderungen zur Verände-rung an »die Gewerkschaften« richtet, ist ge-zwungen, jeweils genauer anzugeben, ob mandie Führungsspitze meint, die hauptamtlich beider Gewerkschaft ihr Einkommen verdienendenFunktionäre, die Gewerkschaftsrepräsentantenim Betrieb, ob man dabei speziell an die mäch-tigen Betriebsratsfürsten denkt, oder ob mansich auf die Aktiven an der Basis, auf aktiveVertrauensleute oder gar aktive Linke bezieht,oder ob man mit »die Gewerkschaften« die anInteressendelegation gewöhnte, meist unbeach-tete große Mehrheit der Mitglieder meint? Sinn-voll zu fragen ist, was wir, die postkapitalistischorientierten Linken, tun müssen.

7) H. Matthöfer: »Die Bedeutung der Mitbestimmung am Arbeitsplatz und im Betrieb für die politische Bildungsarbeitder Gewerkschaften«, Sonderdruck aus der Zeitschrift »Die neue Gesellschaft«, Nr. 15, 1968, S. 42

3.1 Im Anschluss an die internationale Tagungvon TIE (Transnationals Information Exchange,Internationales Bildungswerk e.V.) und der Zei-tung express im März 1995 in Geseke wurdenvon KonferenzteilnehmerInnen Positionspapie-re erarbeitet unter dem Titel »Gegen die Kon-kurrenz- und Standortlogik und gegen ihre Ak-zeptanz durch die Gewerkschaften«8. Zusam-men mit einigen KollegInnen der GoG – unsereBetriebsgruppe hatte von 1993 bis 2000 denNamen »Standorte-Gruppe« – habe ich in unse-rem Positionspapier9 (siehe auch: Anhang 1)nach gründlicher Kritik der Theorie und derPraxis der IGM-Führung u.a. folgendes »Fazit«formuliert10:

»4. Die global sichtbaren Bedrohungen von Mas-senarbeitslosigkeit, sozialer Verelendung, Krie-gen und ökologischen Katastrophen zwingen unsmehr denn je dazu, in unseren Gewerkschaftenund Belegschaften die breite Debatte um gesell-schaftliche Alternativen zur kapitalistischen Pri-vatwirtschaft einzufordern und voranzutreiben.Diese Debatte muss inhaltlicher Bestandteil un-seres Ausbaus von Vernetzung sein.

Fragen für die Perspektivendebatte sind zumBeispiel:

� Wo zeigen sich die Widersprüche zwischenvergesellschafteter Produktion und privaterAneignung heute am deutlichsten, sozusa-gen als breit erkennbare und von uns zunutzende Bruchpunkte der Entwicklung?Ist mit einer neuen Stufe der globalen Ver-gesellschaftung der Arbeit auch eine neueChance geplanter Produktion mit dem Zielder möglichst besten Bedürfnisbefriedi-gung aller ermöglicht? Mit einer neudefi-nierten Vorstellung von »Wachstum«: öko-logisch vernünftig, möglichst global zu-kunftssicher, global emanzipativ, massen-dienlich?

� Wie ist solch ein System von Produktionund Verteilung auf der Grundlage heutigerTechnologie, Produktion und Verteilungund ihrer globalen Vernetzung vorstellbar?(An dieser Stelle möchte ich heute ergän-zen: Was wäre wie und wo herzustellen: dienötigen Güter, Lebens- wie Produktions-mittel, Energie, gesellschaftliche Organisa-tion von Kindheit, Alter, Gesundheit, Bil-dung, Kultur insgesamt...)

� Welche Bedeutung käme dabei den Großre-gionen, Ländern, Kommunen zu?

� Wie ist die Enteignung und Entmachtungder Kapitaleigner und ihrer politischen

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8) vgl. express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Jahrgang 19959) s. www. labournet.de/diskussion/gewerkschaft/stratpap.html

10) Sozusagen ein »Vorläufer« dieses Positionspapiers war mein Aufsatz von 1982: »Massive Rationalisierungsangriffeder Konzerne und warum uns die IGM-Führung noch tiefer in den Schlamassel führt«, veröffentlicht in: »Kapitalisti-sche Krise und soziale Gegenmacht«, Hrsg. Kommunistische Gruppe Bochum/Essen, Opel-Kollektiv, November1982, S. 5-42 (mit den Anmerkungen Nr. 1-151, S. 63ff.). Hier habe ich allerdings noch Marx’ Forderung an die Ge-werkschaften unhinterfragt auf die heutigen Verhältnisse übertragen: »Die Scheidelinie für die Strömungen in derwestdeutschen Gewerkschaftsopposition wird an den praktischen Konsequenzen sichtbarer werden, die wir aus derMarx’schen These ziehen bzw. nicht ziehen: ›Sie (sc. die Gewerkschaften) verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald siesich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitigzu versuchen, es zu verändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als Hebel zur schließlichen Befreiung derArbeiterklasse, d.h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.‹ (Karl Marx, Lohn, Preis und Profit, Berlin 1968,S. 70) Im Grundsatz stützen sich viele auf diese These und fordern wie wir auch für die heutige Gewerkschaftsbewe-gung ihre praktische Umsetzung.« (S. 41) Hier wird die Aufgabe, die sich postkapitalistisch orientierten Linken stellt,auch noch an »die Gewerkschaften«, also undifferenziert auch an die Gewerkschaftsführung gerichtet, ohne klarzu-stellen, dass Marx das Ausmaß ihrer Integration in den Kapitalismus, ihrer staatstragenden und das Bewusstsein derMitglieder auf ein erträglicheres »Lohnsystem« orientierenden Rolle nicht vorausahnen konnte.

3. Kritischer Rückblick auf die Theorie und Praxis der GoG

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Vertretung auf globalem Niveau vorstell-bar?

� Welche Organisationsformen für demokrati-sche Gegenmacht und eine von Kapital-zwängen befreite globale Gesellschaft sindvorstellbar?

� Wie weit sind globale Reformbewegungen– z.B. für Frieden, ökologische Forderun-gen, gegen Rassismus und Sexismus, fürsoziale und politische Forderungen – gera-de von uns als GewerkschafterInnen mitvoranzutreiben und mit Hilfe welcher Or-ganisationen (Nicht-Regierungs-Organisa-tionen? ILO? Rolle von UN-Organisatio-nen? etc.), und wo liegen ihre Grenzen?

›Ein globaler (oder auch nur makro-regionaler)

Sozialstaat, d.h. aber auch das Projekt eines

globalen Reformismus, ist ebenso utopisch wie

die Weltrevolution.‹ (E. Altvater, in: »Operati-onsfeld Weltmarkt oder: Vom souveränen Na-tionalstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat«,PROKLA 97, Dez. 94, S. 525) Andererseits E.Altvater: ›In gewissem Sinne gibt es die Institu-

tionalisierung globaler Staatlichkeit tatsäch-

lich: in Gestalt von Weltbank, IWF, GATT/WTO,

UNO... Aber ... ohne die Regelungskompetenzen

von Nationalstaaten tatsächlich zu ersetzen.‹

(a.a.O., S. 537f.) Und: ›Auch auf dem Detroiter

Gipfel der G7 im März 1994 wurde zum ersten

mal ... Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspoli-

tik thematisiert – ein Indiz dafür, dass sich jen-

seits des Keynesianismus, aber auch jenseits des

neoklassischen Marktliberalismus ein neues po-

litisches Projekt staatlicher Regulation und Ko-

ordinierung von Wettbewerbspolitik heraus-

schält. Dies zielt offensichtlich auf die Erhal-

tung eines beschäftigungspolitischen Minimal-

konsenses, an dem alle Staaten, gleichgültig wie

sehr sie gegeneinander konkurrieren, doch in-

teressiert sind.‹ (in: »Beschäftigungspolitik jen-

seits von Nationalstaat und ›Arbeitszentriert-heit‹«, WSI-Mitteilungen 6/94, S. 350)

Solch eine widersprüchliche Hoffnung auf ein›neues politisches Projekt‹ globaler Regulationscheint sich heute zu verbreiten. (vgl. auch J.Brecher, T. Costello, »Global Village or globalPillage«, Boston 1994). Hoffnungsträchtiger istunsere Zukunftsperspektive allerdings, wennwir uns all den angesprochenen grundsätzlichenFragen des Wirtschafts- und Gesellschafts-systems stellen und darauf setzen, dass wir unsden Lösungen am ehesten nähern, je mehr Men-schen sich in der Auseinandersetzung um unse-re Alltagskonflikte wie um unsere Zukunft inBewegung setzen. Und das hängt eben auch vonuns ab.«

Anhand unserer seit 1972 erscheinenden Be-triebszeitung »GoG-Info« – bzw. von 1993 bis2000 »Standorte«11 – ist wohl gut nachzuweisen,dass wir uns kontinuierlich um die geforderteEntlarvungsarbeit und die Organisation von Wi-derstand bemüht haben.12 Doch haben wir hier,1995, noch nicht klar differenziert: Ist es über-haupt sinnvoll, Aufgaben zu formulieren, die»die Gewerkschaften« heute erfüllen müssten?Aufgabenstellungen an »die Gewerkschaftsbe-wegung« oder gar an die postkapitalistisch orien-tierte Linke zu formulieren, erfordert, die Fragenach den eigenen Schwächen und Möglichkeiteneinzuschließen. 1995 haben wir den Gedankeneiner »neuen Bewertung von Arbeit und Leben«noch gekoppelt an die Hoffnung, die »außerbe-trieblichen und außergewerkschaftlichen Bewe-gungen« würden uns den Anstoß dazu geben,nicht auch unsere Alltagserfahrungen in der sichverändernden Produktion selbst.

Wie haben wir die unter Punkt 4 unseres »Fa-zits« geforderte »breite Debatte um gesell-

11) s. www.labournet.de/branchen/auto/gm-opel/bochum12) Heiße Debatten um unsere gewerkschaftlichen und politischen Positionen gab es immer auch auf den vierteljährlichen

Belegschaftsversammlungen, insbesondere in den 70er Jahren. 30 Jahre lang habe ich fast alle oft bis zu acht Stundendauernden Versammlungen mitprotokolliert, allerdings bisher noch nicht auswerten können.

schaftliche Alternativen zur kapitalistischenPrivatproduktion« in die alltägliche Auseinan-dersetzung im Betrieb einzubringen versucht?

3.2 In unserer Betriebszeitung haben wir demtäglichen Abwehrkampf unter dem Druck derAngriffe seitens der Geschäftsleitung den meis-ten Raum gewidmet. Die Auseinandersetzungum die Reaktionen des Betriebsrats gehörtennotwendig dazu – und bei uns auch immer dieDiskussion um die Rolle der Gewerkschafts-führung. Dass deren Ideologie den meisten Kol-leginnen und Kollegen näher liegt und plausi-bler erscheint als unsere Einschätzung der Kon-fliktursachen, haben wir wohl kontinuierlichmitbedacht. Zur überbetrieblichen politischenEntwicklung gibt es ebenfalls ständig Artikel inunserem »Info«.

Die 1995 geforderte Zukunftsdebatte haben wirin unserer Zeitung und damit auch in unserenGoG-Diskussionen jedoch relativ selten eröff-net.

Dazu drei Beispiele aus dem GoG-Info:

a) aus GoG-Info Nr. 4, November 2000:

»Debatte:Weltweit eine kleine Clique von Menschen ver-konsumiert den gesamten Reichtum, der ge-ringste Teil der Weltbelegschaft darf, trotz har-ter (Lohn)Arbeit, ein klein wenig daran schnup-pern, der größte Teil der Weltbelegschaft lebt in›Sack + Asche‹, verhungert fleißig, fristet intäglicher Armut sein Dasein.

Arbeit, Arbeit, Arbeit – oder eine Reise aufder Siegerstraße (!)

Ich deutscher Arbeitsmensch liebe die Ausbeu-tung! Garantiert sie mir doch ein so tolles Lebenin Freiheit + Kaufrausch. Ich danke der Gesell-schaft und dem Staat für meine Identität – Leis-

tung muss sich lohnen. Tägliche befreiende Ar-beit, Arbeit, Arbeit verschafft mir den nötigenZugang zu den Stätten des Konsums, zu den Or-ten, wo bzw. wofür sich das Leben lohnt. JedeÜberstunde macht mir Spaß, bringt sie michdoch ein Stück näher an den eigentlichen Sinndes Lebens – zu kaufen, kaufen, kaufen.

Und reicht der Tag nicht aus: Nachtschicht –kein Problem. Samstag + Sonntag – kein Pro-blem. Hauptsache, die DM fließt reichlich inmeine Taschen. Ich liebe meine Wertschöpfung.

Der Wettlauf um die Arbeit, Arbeit, Arbeit ge-winnt an Beschleunigung. Ich bin endlich aufder Überholspur. Klasse! Es macht Spaß, ganzvorne mitzumachen. Wer hinten ist, fällt raus.Gut! Jedes mal einer weniger. Stärke ist Lebens-qualität, bringt sie doch den richtigen Pep fürdie nächste Runde Arbeit, Arbeit, Arbeit.

Mein Nebenmann: träge, faul und krank; un-qualifiziert, desinteressiert und unmotiviert –unnötiger Ballast, weg damit aus dieser Rundeund jeder weiteren.

Ich will Weltmeister der Arbeit, Arbeit, Arbeitwerden, bin den Gewerkschaften und Betriebs-räten dankbar für die Unterstützung meinesTeams. Sie helfen mir: weg mit allem, was nichtunmittelbar zum Kerngeschäft in diesem Wett-kampf gehört. Mehr kaufen, kaufen, kaufen istdas ureigenste Ziel. Es kommt zwar schon amHorizont in Sicht, aber es ist noch ein gutesStück bis dahin. Ich tu’ was, ich habe verstan-den, nichts ist mir unmöglich! Von M.S.

Ohne Arbeit gehst Du tot ...

... kriegst Du kein einziges Butterbrot. Denn so-wohl Brot wie Butter muss erstmal hergestelltwerden. Dazu ist außer Ackerboden und Küheneben auch Arbeit nötig. Und die hat mensch sichseit langem aufgeteilt. Die einen erarbeitenBrot, die andern Butter oder Autos oder sind

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Friseur oder Arzt oder bei der Müllabfuhr. Mitwenigen Ausnahmen braucht diese Arbeit nichtam Wochenende passieren, nicht in der Nacht.Heutzutage, mit unseren modernen Maschinen,mit unseren Millionen von Leuten, die auch be-reit sind, mitzuarbeiten, aber nicht dürfen, wür-den 6 Stunden Arbeiten pro Tag satt reichen, umalle satt zu machen, sogar in Afrika.

Wenn das Wörtchen ›Wenn‹ nicht wär. Wennwir uns darüber einig wären:

Eine kleine Clique von Superreichen gab esschon vor 1 000 Jahren, auch Menschenmassenunter Arbeitsdruck und Not. Heute allerdingshat diese kleine Clique uns anders im Griff alsfrüher:

Denen gehören die teuren Maschinen und Anla-gen und Fabriken. Und die bestimmen nicht nur,was wie erarbeitet wird. Die verfolgen mit derArbeit einen ganz anderen Zweck. Denen gehtes gar nicht um gute Autos, Brot oder Butter.Die geben Geld aus für unsere Löhne undGehälter und für Maschinen usw. allein mit demZiel, nach Herstellung und Verkauf irgendwel-cher Produkte noch mehr Geld zu haben. Nicht,weil sie geldgierig sind. Die können nicht an-ders. Würde ein Unternehmer sagen ›Ich binreich genug. Von jetzt an behandle ich meineLeute besser, stelle noch mehr ein, zahle mehrLohn‹ – dann ginge er pleite. Er würde wenigerReibach aus seinen Leuten rausholen als seineKonkurrenten. Bald hätte er weniger Geld zurVerfügung für modernere Maschinen, für dieModernisierung seiner Produkte, seiner Ver-kaufsmethoden usw. Ruckzuck würden ihn sei-ne Konkurrenten platt machen. Insofern beutenuns die Unternehmer nicht bloß systematischaus. Sie hängen wie wir fest in einem Systemvon Gesellschaft, das auf Ausbeutung basiert.

Wenn wir uns darüber einig wären, dass es nichtnur um die Umverteilung des Reichtums geht,dass wir den Superreichen nicht nur die Verfü-gung über die Maschinen und Fabriken wegneh-

men müssen, sondern dass wir die notwendigeArbeit gemeinsam neu organisieren müssen,und zwar nur zu dem Zweck, mit möglichst we-nig Mühe und möglichst viel Spaß die mög-lichst beste Versorgung für uns alle zu erarbei-ten, wenn wir uns darüber einig wären, dannwürde der blöde Ruf nach »Arbeit Arbeit Ar-beit« oder nach »Geld Geld Geld« verstummen.Wir würden nach was anderem rufen: Wie krie-gen wir mehr Solidarität hin, für eine solidari-sche Gesellschaft zu kämpfen?

Illusion? � Erstens haben wir bei unserem Streik im

Juni doch ansatzweise spüren können, dasswir, gehen wir solidarisch vor, doch aller-hand Macht haben, die Manager der Super-reichen (und ihre Co-Manager in oberenGewerkschafts- und Betriebsratsetagen!)unter Druck zu setzen. Wären wir, diegroße Masse der Lohnabhängigen, uns die-ser Macht bewusst, könnten wir sie einesTages vielleicht auch auf Dauer entmach-ten.

� Zweitens haben wir doch viele neue Erfah-rungen gesammelt, die uns Mut machenkönnten, die Organisation der Arbeit in ei-gener Regie überhaupt mal durch zu über-legen: Viele von uns arbeiten Hand in Handin Gruppenarbeit, mit (noch) regelmäßigenGesprächen über die Produktionsprobleme,oft EDV-vernetzt in ständigem Kontakt mitanderen Abteilungen, Opel/GM-Betriebenoder Zulieferern. Obwohl uns die Produkti-onsanlagen nicht gehören, arbeiten wir oft-mals qualitätsverantwortlicher als diestückzahlbesessenen Profitmanager. Diesind so scharf auf unsere Ideen und Verbes-serungsvorschläge, weil sie wissen, dasswir in vieler Hinsicht mehr können undwissen. Warum trauen wir uns nicht an denGedanken ran, eines Tages selber die ge-samte gesellschaftliche Arbeit und die Ver-teilung der Produkte sinnvoller zu organi-sieren?

Von W.S.«

Hier haben zwei aus unserer Gruppe eine »De-batte« in die Belegschaft zu bringen versucht.Dem selbstkritisch-ironischen Anprangern der»Arbeits«-Ideologie von M.S. wird von mirgleich ein als »Belehrung« kritisierter Artikelangehängt, der sich um verständliche System-Kritik und ein bisschen Hoffnung bemüht. AmEnde werden unsere Produktionserfahrungenzumindest angesprochen, ein Ansatz, der fürunsere weitere Debatte immer wichtiger wird.Ein Einwand eines Gruppenmitglieds bleibtimmer noch Bestandteil unserer internen Dis-kussion: »Wie die Produktion in Würde, öko-logisch sinnvoll etc. funktionieren könnte, istmit unseren Erfahrungen vorstellbar. Abernicht, wie wir eine gerechte Verteilung und da-bei die Berücksichtigung der individuellen Be-dürfnisse hinkriegen könnten!« Wie sich spä-ter zeigen wird, ist solch eine Trennung von»Produktion in Würde« und »gerechter Vertei-lung« nur zu überwinden, wenn der gesell-schaftliche Reproduktionsprozess als ganzervorgestellt wird.

b) aus GoG-Info Nr. 11, Juni 2001:

»Debatte›Unsere Zukunft? Darüber bestimmenganz andere Leute. Da können wir ehnichts dran ändern!‹

Das stimmt, solange noch so viele von uns andiesen Satz glauben. ›Neue Wege wagen!‹ –Nehmen wir diese Parole der IG Metall aus ih-rer Broschüre zur Zukunftsdebatte mal ernst.Fragen wir dabei nicht, was die Gewerkschafts-führung tun sollte, sondern wir.

Einige provokative Fragen zur Diskussion:

1. Wir haben alle Angst vor der Zukunft, umunsere Arbeitsplätze, um unsere Gesund-heit, um die Ausbildung unserer Kinder,um unser Einkommen angesichts steigen-der Lebenskosten, um die Altersversor-gung, die Krankheitskosten usw. Sind wir

zu blöd oder unfähig, die herrschende Min-derheit von Angstmachern und ihreFührungsclique von Milliardären jemals zuentmachten?

2. Um den von uns produzierten Reichtumselber zu nutzen, muss man auf die sechsRichtigen im Lotto hoffen?

3. Ist das von Natur aus so, dass wir, diegroße Mehrheit von Menschen, bei ir-gendwelchen Unternehmern um Arbeits-plätze betteln müssen, um die Sachen her-zustellen und die Dienstleistungen zu or-ganisieren, die wir brauchen und wün-schen? Tagtäglich arbeiten wir Hand inHand – muss die Regie bei den Profitan-betern bleiben?

4. Müssen wir, um zu überleben, Kolleginnenund Kollegen in anderen Betrieben oderLändern niederkonkurrieren? Können wirnichts tun, damit die Produktion so organi-siert wird, dass wir uns nicht gegenseitigfertig machen, sondern nutzen?

5. ›Der Unternehmer heißt Unternehmer, weiler was unternimmt. Der Arbeiter heißt Ar-beiter, weil er arbeitet. Würde der Arbeiterwas unternehmen, müsste der Unternehmerarbeiten.‹ – Können wir uns nicht zusam-menschließen, den kapitalistischen Unsinndurch von uns gemeinsam organisierte Pro-duktion und Verteilung loszuwerden? Oderwollen wir das nicht? Weil wir uns so wasSchwieriges gar nicht zutrauen? Weil eskeine positiven Vorbilder gibt?

6. Müssen wir nicht eine ganz andere Ge-werkschaftsbewegung schaffen, um uns ei-nerseits gegen Unternehmerangriffe besserverteidigen zu können, und um andererseitsdie Unternehmermacht jemals angreifen zukönnen? Generalstreik gegen Rentenkür-zung, Lohnkampf, der uns nutzt und denUnternehmern weh tut, keine weiteren Ver-zichtsvereinbarungen in den Betrieben,Aktionen gegen Unternehmererpressunggemeinsam in möglichst allen Betrieben,über die nationalen Grenzen hinaus – allesunvorstellbar?

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Ja, solange wir uns das nicht vorstellen könnenund wollen.

Ihr habt ja irgendwo recht! Aber dazu seid Ihr zuwenige! – Sicher, solange Du Dich hinter diesenSatz verkrabbelst und lieber nichts tust (außerweiterzittern ).«

Unsere provokative Kollegen-Schelte scheintmir hier auch nicht gerade hilfreich: Mögen dieFragen einzelne LeserInnen ein Stück zumNachdenken und zum Diskutieren am Pausen-platz bringen, so ist doch der Schritt zum eige-nen Mitmachen beim Zukunftsprojekt »andereWelt« über moralischen Druck kaum zu erwir-ken. Zumindest haben wir versucht die von derIG Metall zu diesem Zeitpunkt (im Juni 2001)eröffnete »Zukunftsdebatte« unter die Gewerk-schaftsmitglieder zu tragen.

c) aus GoG-Info Nr. 12, August 2001:

»Debatte!

These 1: Die Schließung einer Fabrik mussnicht Not und Elend für Tausende bedeuten.Werden zu viele Produkte hergestellt oder dieProdukte wegen technischer Fortschritte in im-mer kürzerer Zeit erarbeitet, könnte dieSchließung einer Fabrik zur Umverteilung derArbeit genutzt werden, indem alle eben wenigerArbeiten. 6-Stunden-Tag bei vollem Lohn istmöglich, widerspricht natürlich total dem Pro-fitinteresse der Unternehmer.

Für unsere Interessen gemeinsam zu kämpfen,dafür sind die meisten in der Gewerkschaft. DieFührung von DGB, IG Metall usw. will die»Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmer« ver-bessern helfen. Das heißt: sie wollen nicht, dasswir gemeinsam gegen die Unternehmer vorge-hen.

These 2: Die Schließung einer Fabrik kann auchsinnvoll sein. Zum Beispiel wenn bei Bayer einMedikament hergestellt wird, das sich als tödli-

ches Gift entpuppt. Auch dann zittern Tausendeum ihren Job, um ihre Existenzgrundlage... Sopervers ist Kapitalismus. Sind Produkte un-nötig, ungesund oder gar gefährlich, müssteman wieder mit Einstellung dieser Produktionund Arbeitsumverteilung, Arbeitszeitverkür-zung reagieren ...

These 3: Fahrgemeinschaften machen Sinn. ZurArbeit und zurück braucht nicht jeder in seinerBlechkiste zu sitzen. Viele von uns sparen soviel Geld, und ihr Auto hält langer. Fahrgemein-schaften sind auch Busse und Bahnen, für vieleTransportzwecke viel sinnvoller – Doch dannbleibt das Auto oft stehen oder wird nur noch zuspeziellen Zwecken, Lustreisen benutzt. Sinn-voll, aber dann werden noch weniger Autos ge-braucht, und wieder sind Arbeitsplätze über-flüssig. Reaktion: Arbeitszeitverkürzung istmöglich, wenn auch nicht einfach. Siehe oben.«

Die Autoproduktion selbst in Frage zu stellen,ist hier nur ansatzweise versucht worden. Dasssich viele KollegInnen in Widersprüche ver-wickeln, indem sie einerseits Fahrgemeinschaf-ten bilden, andererseits unsere Auto-Kritik aberablehnen, etwa mit dem häufig zu hörendenSatz »Wir leben nun mal vom Auto!«, hättenwir sicherlich noch besser für die Debatte darü-ber aufgreifen können, wie das Verkehrsweseninsgesamt als gesellschaftlich zu regelnde Auf-gabe organisiert werden könnte.

3.3 Stolz waren wir von der GoG immer aufunsere internationalistische Arbeit »an der Ba-sis«.

Seit Beginn der 80er Jahre hat uns die Organisa-tion TIE. (Transnationals Information Exchan-ge) mit ihren basisorientierten GM- und Autoin-dustrie-Weltkonferenzen wesentlich beim Auf-bau der Kontakte zu vielen GM-Belegschaftenunterstützt. Über TIE-Bildungswerk und andereBildungsträger wie Humanistische Union, »Fo-rum Eltern und Schule/Dortmund« und oft mit

finanzieller Hilfe der Berliner Stiftung »Men-schenwürde und Arbeitswelt« haben wir Konfe-renzteilnahmen, Austausch-Besuche und insbe-sondere auch offizielle Bildungsurlaube zwecksKontaktaufbau und Erfahrungsaustausch orga-nisiert, an denen immer rund 25 KollegInnenteilgenommen haben: z.B. eine Woche in Liver-pool (GM-Kollegen von Ellesmereport), eine inZaragoza, eine in Warschau, eine in Gliwiceusw., außerdem mehrwöchige Gruppenreisen indie Philippinen, nach Kanada und USA – La-bornotes-Konferenzen –, Mexiko, Brasilienusw. Von 1993 bis 1998 haben wir bei Opel-Bo-chum noch ein Extra-Organ zusammen mit eini-gen gewerkschaftlichen Vertrauensleuten her-ausgegeben, das »Info-International« (der »Arbeitsgruppe für internationale Belegschafts-kontakte«), sowie 1996 eine viel beachtete Bro-schüre erarbeitet: »General Motors, ›Wir sindkeine Wohlfahrtseinrichtung‹, Der größte Kon-zern der Welt unter der Lupe« mit einer exaktenAnalyse des GM-Konzerns weltweit.

Doch unsere internationalen Kontakte sind zumgrößten Teil eingeschlafen, nur wenige noch fürdie aktuelle Betriebsarbeit und unsere politi-schen Überlegungen zu nutzen. Meines Erach-tens haben wir uns inhaltlich zu sehr auf »besse-re Verteidigung gegen die GM-Angriffe« ausge-richtet, unseren Blick zu sehr auf die Auto-In-dustrie beschränkt, auf den Versuch unsere rela-tiv privilegierte Situation als Auto-Beschäftigteweltweit zu retten. Kaum haben wir bei unserenAuslandskontakten offen und ehrlich debattiert,wie wir zu den Konkurrenz-Zwängen stehen,zum Profitzwang, zur möglichen/anzustreben-den Überwindung des oft beklagten »Kriegs der

Konzerne«, zur Lohnabhängigkeit. Bei unserenunzähligen Diskussionen und Abspracheversu-chen mit Kolleginnen und Kollegen anderer Be-triebe und Länder haben wir kaum unsere Mei-nungen zur gesellschaftlichen Entwicklung aus-getauscht und uns an die Frage herangewagt, wieeine andere Welt aussehen und erkämpft werdenkönnte. (Das gilt im Übrigen auch für die Ver-netzungsversuche in dem halbjährlich stattfin-denden Treffen der »Autokoordination«, alsodem Treffen von Linken aus zahlreichen deut-schen Automobil- und Zuliefererbetrieben.) Sohaben wir uns zu wenig um Kontakte bemüht,die über Betriebsräte, Shop Stewards, also aktiveGewerkschaftsdelegierte hinausgingen; zu we-nig um politische Kontakte und den Austauschüber Erfahrungen und Zielvorstellungen mitpostkapitalistisch orientierten Aktiven.

3.4 Zusammenfassend ist festzustellen, dassdie GoG bisher wenige Schritte versucht hat,über das Anprangern von Kapitalangriffen, dieAufklärungsversuche über ihre Ursachen unddie Mobilisierung der Gegenwehr hinaus dieDebatte über eine nicht kapitalistisch organi-sierte Gesellschaft anzustoßen. Eine unmittel-bare Einflussnahme auf die Diskussionen unterden KollegInnen mag kaum nachweisbar sein,doch würde ich behaupten, dass wir damit in derBelegschaft das Ansehen unserer Zeitung eherverbessert haben. Aufgrund der aktuellen Pro-blem-Erfahrungen im Betrieb und in der Gesell-schaft insgesamt gibt es heute eine von postka-pitalistisch orientierten Linken unbedingt zunutzende Offenheit und Anerkennung für unse-re Fragen und Überlegungen.

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Anregend für die notwendige Veränderung derpolitischen Arbeit der Linken fand ich Beiträgeeiniger Autoren, die ich näher vorstellen möch-te, auch wenn ich sie hier nur unter einzelnenAspekten zitieren und mit nur wenigen Anmer-kungen kritisieren kann.

1. Wie überraschend viele Leserinnen undLeser haben Michael Hardt und Antonio Negri

auch mich mit ihrem Buch »Empire«13

zunächst begeistert: Sie ermutigen, die Weltge-sellschaft in den Blick zu nehmen, im Elendnicht nur das Elend zu sehen, sondern nachMöglichkeiten der Abschaffung des Kapitalis-mus zu fragen und zu dem Zweck zukunftsprä-gende Veränderungen in der Produktion zu re-flektieren. Nur ein Zitat dazu möchte ich an-führen, um zu belegen, warum ich nach derLektüre doch sehr enttäuscht war: »Der Toyo-tismus basiert auf einer Umkehrung der fordis-tischen Kommunikationsstruktur zwischenProduktion und Konsumtion. Idealerweise, alsodem Modell nach, wird hier die Produktions-planung beständig und unmittelbar mit denMärkten kommunizieren. Die Fabriken kom-men ohne Lagerbestand aus, und die Warenwerden just in time produziert, abhängig vonder gerade auf den Märkten bestehenden Nach-frage. (...) Die Produktionsentscheidung sollhier, zumindest der Theorie nach, auf Markt-entscheidungen folgen, auf sie tatsächlich rea-gieren. Dieser industrielle Kontext liefert einerstes Verständnis von der neuen zentralen Be-deutung, die Kommunikation und Informationin der Produktion annehmen werden... Hinzu-zufügen wäre allerdings gleich, dass es sich bei

dem bisher Dargestellten um einen verarmtenBegriff von Kommunikation handelt, nämlichum die reine Übermittlung von Marktdaten.«14

Hardt und Negri fordern dann eine »Wiederan-eignung«: »... das Recht auf Wiederaneignung... ist zuallererst das Recht auf Wiederaneig-nung der Produktionsmittel. (...) Im Kontextimmaterieller und biopolitischer Produktion er-scheint diese traditionelle Forderung jedoch inneuer Form: ...Wiederaneignung bedeutet ...freien Zugang zu und Kontrolle über Wissen,Information, Kommunikation und Affekte zuhaben ... denn dies sind einige der wichtigstenbiopolitischen Produktionsmittel«. Und sie for-dern das »Recht der Menge auf Selbstkontrolleund autonome Eigenproduktion«.15

Diese Veränderungen genauer zu untersuchen,die neuen Erfahrungen der Produzierenden, diesich verändernden Entfremdungsformen, dieneuartigen Widersprüche beim Prozess der Ver-ringerung von menschlicher Arbeitskraft in derProduktion exakter zu erfassen, halten Hardtund Negri wohl nicht für notwendig. In der»Menge« verschwinden die Produzierenden.Die Forderung nach Wiederaneignung bleibt –vernebelt in Begriffen wie »immaterielle Pro-duktion« und »biopolitische Produktion« – indem Sinne philosophisch, als kein Ansatz zupraktischer Veränderung erkennbar wird.

Erinnern sollte man hier vielleicht an OskarNegts Begriff der »proletarischen Öffentlich-keit«: Er verlangte damit das genaue Erfassendes Bewusstseins: »Proletarische Öffentlichkeitist also zunächst die Veröffentlichung des Pro-

II

Orientierungshilfen?

13) Michael Hardt, Antonio Negri: »Empire«, Campus Verlag, Frankfurt a.M. 200014) a.a.O., S. 301f.15) a.a.O., S. 413

duktionsprozesses der toten Arbeit im Verhält-nis zur lebendigen.«16 »Es gibt diese proletari-sche Öffentlichkeit als Bedürfnis und als nicht-öffentlichen Rohstoff, der in der Geschichtealler bisherigen Produktion verborgen ist.«17

2.Moishe Postone18 will – bei gut begründeterAbwehr der »Annahme eines automatischenZusammenbruchs der kapitalistischen Gesell-schaft« oder auch der Annahme, »es würde sichmit Notwendigkeit eine Form oppositionellenoder kritischen Bewusstseins konstituieren, dasüber die bestehende Gesellschaftsform hinaus-wiese« – aus seiner Analyse des modernen Ka-pitalismus zumindest Untersuchungsaufgabenableiten, die sich auf die neuen Erfahrungen derProduzierenden beziehen:

»Zwar kann ich eine derartige soziohistorischeTheorie hier nicht ausarbeiten, es sei aber dar-auf hingewiesen, dass, folgt man Marx, einwichtiges Element darin der wachsende Wider-spruch zwischen Notwendigkeit und Nicht-Notwendigkeit wertproduzierender Arbeit seinmüsste, also die Einsicht, dass genau das, wasdie Gesellschaftsformation konstituiert und fürdiese notwendig ist, – Arbeit, die als gesell-schaftlich vermittelnde Tätigkeit fungiert – zu-nehmend, ganz im Sinne des von ihr hervorge-brachten Potentials, unnötig wird. Dies weistseinerseits auf eine wachsende Kluft zwischender Art von Arbeit hin, die die Menschen in ei-ner durch Arbeit vermittelten Gesellschaft wei-terhin leisten, und der Art von Arbeit, die sieausführen könnten, gäbe es nicht diese durchden Kapitalismus bedingte ›Notwendigkeit‹ (...)Man könnte beispielsweise sich veränderndeEinstellungen zur Arbeit untersuchen und dieFrage aufwerfen, was sinnvolle Tätigkeit im

Sinne dieser widersprüchlichen Entwicklungbedeutet. Das würde eine Analyse des histori-schen Auftretens neuer Bedürfnisse und Sub-jektivitätsformen im Sinne wachsender struktu-reller Spannungen zwischen dem zunehmendanachronistischen Charakter der Struktur derArbeit (und anderer Institutionen gesellschaftli-cher Reproduktion), und ihrer fortdauerndenZentralität in der modernen Gesellschaft erfor-dern.«19

Postone geht also davon aus, »dass es keine li-neare Beziehung oder direkte Kontinuität gibtzwischen den mit der Selbstbehauptung der Ar-beiterklasse verbundenen Aktionen und politi-schen Orientierungen (wie radikal oder militantsie immer sein mögen) auf der einen Seite undAktionen und politischen Orientierungen, dieüber den Kapitalismus hinaus weisen würden,auf der anderen. Hier ist in der Tat impliziert,dass es eine tiefgreifende Spannung zwischenAktionen und politischen Orientierungen gibt,die die Arbeiter ausschließlich als Arbeiter re-präsentieren (und deshalb sich ausschließlichauf Arbeitsplätze, wie sie innerhalb des beste-henden sozioökonomischen Gefüges als not-wendiges Mittel individueller Reproduktion de-finiert sind, konzentrieren) und jenen, die übereine solche Definition hinausgehen würden.«Postones anschließende Schlussfolgerung findeich jedoch fragwürdig: »Dies unterstellt, dasseine den Arbeitern verpflichtete Bewegung, dieüber den Kapitalismus hinausgehen wollte, so-wohl Arbeiterinteressen zu verteidigen hätte alsauch an deren Transformation mitwirken müss-te – zum Beispiel, indem sie die gegebeneStruktur der Arbeit infrage stellt, Menschennicht länger nur im Sinne dieser Struktur kate-gorisiert und sich an der kritischen Reflexiondieser Interessen beteiligt.«20

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16) s. Negt, O. und Kluge, A.: »Geschichte und Eigensinn«, Verlag 2001, 1. Aufl. 1981, S. 10217) a.a.O., S. 8818) Moishe Postone, a.a.O., S. 55519) a.a.O., S. 55620) a.a.O., S. 558f.

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Was für eine Art »über den Kapitalismus hinaus-gehende Bewegung«, die den »den Arbeiternverpflichtet« sein soll, stellt er sich vor? Wie ichspäter begründen werde, ergibt sich für postkapi-talistisch orientierte Linke die Aufgabe eher so,als Teil der Lohnabhängigen im alltäglichen Ver-teidigungskampf die längerfristigen »Interessen«der Menschen zu hinterfragen und ihre wider-sprüchlichen Erfahrungen samt widersprüchli-chem Verhalten als Diskussionsanlass über dieMöglichkeit und Notwendigkeit einer nichtkapi-talistischen Gesellschaftsform zu nutzen.

3. Stefan Meretz21 setzt sich mit den Wesens-merkmalen, Auswirkungen und Möglichkeitender modernen Produktivitätsentwicklung undinsbesondere der Bedeutung des Internet ausein-ander. »Der Kapitalismus gilt als effizientes Ak-kumulationssystem materieller Ressourcen.Knappheit, private Verfügung über die Produk-tionsmittel und Einsaugung lebendiger Arbeitsind die entscheidenden Faktoren, die die blindekybernetische Wertmaschine schmieren. Mit derzunehmenden Immaterialisierung der Produk-tion wird die Akkumulation von Wissen immerbedeutsamer. Hier gerät der Kapitalismus in ei-nen Widerspruch zu sich selbst: Wissen mussdurch Patente, Lizenzen und andere Beschrän-kungen künstlich verknappt und privatisiert wer-den, was die Akkumulation von Wissen gleich-zeitig untergräbt. Die freie Softwarebewegungführt die Alternative praktisch vor; die unbe-schränkte, freie, nicht mehr an die Verwertungs-logik gebundene Akkumulation von Wissen isteffizienter – ›Information wants to be free‹. Da-mit scheint die Alternative einer freien Gesell-schaft jenseits von Geld, Markt und Tausch auf.«

Trotz Meretz’ Formulierung, dem Kapitalismusein »effizientes Akkumulationssystem materi-eller Ressourcen« und »zunehmende Immate-rialisierung der Produktion« zu unterstellen,

halte ich den Hinweis auf seine Auseinanderset-zung mit den neuen Widersprüchen und Mög-lichkeiten EDV-organisierter Produktion unbe-dingt für nötig. In seinem Aufsatz »Die doppel-te algorithmische Revolution des Kapitalismus– oder: Von der Anarchie des Marktes zurselbstgeplanten Wirtschaft« (Anlage 2 ) arbeitetMeretz die sich mit dem Internet entwickelndenMöglichkeiten geplanter Produktion heraus.Kritisieren möchte ich hier nur eine Schlussfol-gerung: Meretz erklärt im Abschnitt »Entwick-lungswidersprüche« zurecht, dass im Toyotis-mus »der Marktdruck auf die Fraktale in der Fa-brik durchgereicht wird«, diese für effizientesProduzieren die Planungs- und Verfügungskom-petenz eigentlich beanspruchen und benötigenwürden, aber vom Kapital eben prinzipiell nichtbzw. nur sehr begrenzt erhalten könnten. Ausdiesem Widerspruch folgert Meretz: »DerSchlüssel zum Erfolg der Produktionsfraktaleist der einzelne Mensch. Seine volle und unbe-schränkte Entfaltung von Kreativität und Fähig-keiten ist die Voraussetzung des Fraktals.« Hierwird m.E. die Analyse toyotistischer Produktionauf eine Einschätzung zugespitzt, die das Indi-viduum aus dem gesamten Produktionszusam-menhang herauslöst. Stefan Meretz scheint mirin dieser Sichtweise auch bei seiner Suche nachnichtkapitalistischer Arbeit kleben zu bleiben.Wie ich später am Beispiel der Erfahrungen vonGruppenarbeit aufzeigen werde, sind die allsei-tigen Entwicklungsmöglichkeiten der Indivi-duen in ihrem gesamten gesellschaftlichen Zu-sammenwirken herauszuarbeiten.

4. Auch Wolf Göhring bemüht sich in seinemAufsatz »E-Commerce – Und was kommt da-nach? Eine Perspektive für die Informationsge-sellschaft«22 darum, über die Produktion vonTauschwerten mit Hilfe der neuen technologi-schen Möglichkeiten EDV-vernetzter Güterpro-duktion und -verteilung hinauszudenken:

21) Stefan Meretz, in: http://www.opentheory.org/freies_wissen/text.phtml 22) Wolf Göhring, in: www.ais.fraunhofer.de/~goehring

»Wenn die Individuen als Produzenten die Infor-matisierung vervollständigen und vollständignutzen sollen, um konkurrenzfähige Produkteherzustellen, so werden die Individuen als Kon-sumenten mittels der Vernetzung günstig angünstige Produkte heran kommen wollen. Pro-duktion und Konsumtion werden zusammen-hängender und die einzelnen Bereiche abhängi-ger voneinander, was in der Vernetzung ein vir-tuelles Spiegelbild findet, das zugleich einenganz materiellen Apparat, ein allseitig zugängli-ches und gleichzeitig ein einziges Gerät bildet.Die von der Vernetzung getragene Kommunika-tion und die Transportmaschinerie ermöglichenneue Verkehrsverhältnisse, die auf den Punktzuführen könnten, von dem an nicht mehr ein-sichtig ist, warum isoliert, unabhängig vonein-ander und aneinander vorbei produziert werdensoll, obwohl die Produktion sichtlich vernetztist, obwohl die Pflege der ›Kundenbeziehung‹auch die Konsumtion mit der Produktion verbin-det sowie Konsumenten und Produzenten – die-se zwei Seiten der Individuen – miteinander dis-kutieren lässt. Soll man die Produktion weiter-hin in Isolation und Unabhängigkeit halten unddadurch zufällige und schwankende Austausch-verhältnisse provozieren, wo man andererseitsmittels Informatisierung und Vernetzung derProduktion alles unternimmt, um diese Zufälleund Schwankungen auszuschließen? Von demMoment an, wo diese Frage zu verneinen ist,wird für den Tauschwert die Sinnfrage gestellt.Die Produktion von Tauschwerten wird dannkeinen Sinn mehr machen, wenn individuelles,lokales, regionales Wissen und Fähigkeiten ineiner weltweit zugänglichen Informationsma-schine verfügbar sind, indem jedes IndividuumBezug auf diesen Schatz an Informationen neh-men und sich zweckgerichtet mit anderen unterZugriff auf das produktive Vermögen zu prakti-schem Tun verabreden kann – und zur Siche-rung seines Lebensunterhalts auch muss. (...)Man hat zuvor untereinander zu verabreden, waswie wozu, für wen und mit wem zu produzierenist, so dass es gar nicht mehr zum Austausch vonProdukten kommt. Diese Planung ist zeitauf-

wendig und wird nur in dem Maß geleistet, wiesie möglich ist und wie sich ein Nutzen erwartenlässt, wie sich ein Vorteil gegenüber wenigerverbundener, isolierter Arbeit einstellt. Die Ver-abredungszeit gehört zur Arbeitszeit in der Pro-duktion. (...) Die Individuen können trotz allerInformiertheit keine absoluten Vereinbarungentreffen, sondern nur relativ richtige, einiger-maßen zweckmäßige. Ihre verabredeten Tätig-keiten werden dann zu Widersprüchen führen,die jedoch von anderer Natur sein dürften alsdie Widersprüche, die zu erleben sind, wenn inden zufälligen und stets schwankenden Aus-tauschverhältnissen Werte post festum gegeneinander gerückt werden. Die ›Zukunft der Ar-beit‹ sieht anders aus, als wenn man sie nur mitBlick auf den Austausch isoliert erzeugter Pro-dukte erörtert und sich am Tauschwert fixiert,denn Lohnarbeit und Arbeitslosigkeit werdenentfallen, wenn die Individuen die gesellschaft-liche Produktion ›als ihr gemeinsames Vermö-gen‹ handhaben. Die kapitalistische Produk-tionsweise, in scheinbar unbesiegbarer Höhe,produziert in der Vernetzung, deren plakativerAusdruck E-Commerce ist, die Mittel ihrer eige-nen Aufhebung und animiert zu Verbindungenin Produktion und Handel, die den Tauschwertantiquiert erscheinen lassen können. ...«

Im GoG-Info Nr. 6 vom Februar 2001 hatten wireinen anderen Artikel Wolf Göhrings in Thesenzusammen gefasst und der Opel-Belegschaftzur Diskussion gestellt (s. Anlage 3).

Bei der Diskussion in der GoG über diese Ver-öffentlichung in unserer Zeitung gab es vieleEinwände, die bewiesen, dass wir uns innerhalbder Gruppe nicht einig sind, in welchem Um-fang wir Zeit und Raum für diese zukunftsge-richtete Debatte einsetzen sollten. Die Skepsisvor derartigen Überlegungen verführt anschei-nend immer wieder dazu, sich ihnen eher ganzzu verweigern, bei gleichzeitigem Gejammerdarüber, dass die Linke nur sehr schwammigeAlternativen zum Kapitalismus hat. Als postka-pitalistisch orientierte Linke jedenfalls können

24

25

wir Göhrings Kritik an der Warenproduktionund seine Überlegungen zu ihrer Aufhebungsehr gut nutzen.

5. Helmut Weiss knüpft an die Überlegungenvon Göhring und Meretz an und fragt in seinemDiskussionsbeitrag »Computer, Gewerkschaften,Zukunft: [email protected]?« nach den»›gesellschaftsverändernden‹ Potentialen derneuen IK-Technologien« und den Möglichkeitenund Aufgaben einer zukunftsorientierten Debatteder Linken (s. Anlage 4) Weiss begründet mit ei-nem langen Zitat aus der »Deutschen Ideologie«die Bedeutung von Marx’ Begriff der »Aneig-nung«. Für die aktuelle Debatte hebt Weiss dreiAspekte hervor: Erstens gilt es, »die Aneignungeiner Totalität von Produktionsinstrumenten ...als Entwicklung einer Totalität von Fähigkeitenin den Individuen selbst« (Marx) und zweitensdie Rolle der »Arbeiterklasse« kritisch zu disku-tieren. Drittens sei »die Frage der Übernahmeder Produktionsinstrumente« neu zu stellen. AlsAufgabe hebt Weiss hervor: »Was – keineswegsals Maschine, aber eben auch als gesellschaftlichgeprägte und entwickelte Technologie – über-nommen werden soll, das muss mensch auchkennen, damit umgehen können.«

Ermutigend für meine Überlegungen finde ichWeiss’ Schlussbemerkung: »Unser Herangehenist eines, das sich traditionell dem Vorwurf des›Eklektizismus‹ aussetzt: Aber angesichts desScheiterns der traditionellen linken Großansät-ze und der zunehmenden Uneinheitlichkeit di-verser Lebenswelten – trotz (oder wegen) welt-weiter kapitalistischer Gleichmacherei – ist dieSuche nach dem Richtigen in den verschiedenenAnsätzen für eine Neukonstitution antikapitalis-tischer Bewegung unseres Erachtens geradezuGrundbedingung.«

6.Wilfried Glißmann kommt das Verdienst zu,praktische Erfahrungen als aktiver Gewerk-schafter und IGM-Betriebsrat bei IBM-Düssel-dorf in die zukunftsweisende Debatte um diemodernen Arbeitsformen eingebracht zu haben:

»Es geht einerseits um ›sich-selbst-organisie-rende Prozesse‹, die aber andererseits durch dieneue Kunst einer indirekten Steuerung vomTop-Management gelenkt werden können, ob-wohl sich diese Prozesse doch von selbst orga-nisieren. Der eigentliche Kern des Neuen istdarin zu sehen, dass ich als Beschäftigter nichtnur wie bisher für den Gebrauchswert-Aspekt,sondern auch für den Verwertungs-Aspekt mei-ner Arbeit zuständig bin. Der sich-selbst-orga-nisierende Prozess ist nichts anderes als dasProzessieren dieser beiden Momente von Arbeitin meinem praktischen Tun. Das bedeutet aber,dass ich als Person in meiner täglichen Arbeitmit beiden Aspekten von Notwendigkeit oderGesetzmäßigkeit unmittelbar konfrontiert bin.Einerseits mit den Gesetzmäßigkeiten im tech-nischen Sinne (hinsichtlich der Schaffung vonGebrauchswerten) und andererseits mit den Ge-setzmäßigkeiten der Verwertung. Ich bin alsPerson immer wieder vor Entscheidungen ge-stellt. Die beiden Aspekte zerreißen mich gera-dezu, und ich erlebe dies als eine persönlich-sachliche Verstrickung.«23

Art und Ursache von Verhaltensänderungen derKolleginnen und Kollegen nimmt Glißmann zu-sammen mit Klaus Peters in dem Aufsatz »DieFrage der Solidarität« unter die Lupe24: DieKollegInnen »arbeiten länger als sie müssen,und fühlen sich für Dinge verantwortlich, dieweit über ihr eigentliches Aufgabenfeld hinaus-gehen. ...nicht aus übertriebenem Pflichtgefühloder aus einer übermäßigen Identifizierung mitdem Unternehmen. Sie reagieren vielmehr auf

23) Wilfried Glißmann: »Die neue Selbständigkeit in der Arbeit und Mechanismen sozialer Ausgrenzung«, in: SebastianHerkommer (Hrsg.): »Soziale Ausgrenzungen. Gesichter des neuen Kapitalismus«, VSA, Hamburg 1999, S. 152

24) Ders., in: »Mehr Druck durch mehr Freiheit. Die neue Autonomie in der Arbeit und ihre paradoxen Folgen«, VSA,Hamburg 2001, S. 41ff.

die faktischen Rahmenbedingungen ihrer Ar-beit, die von dieser Kollegin oder diesem Kolle-gen selbst weitreichende Entscheidungen for-dern.« Mit den neuen Unternehmenskonzeptenwird der Markt segmentiert, »jedem Marktseg-ment wird ein Unternehmenssegment gegen-über gestellt, die Mitarbeiter und Mitarbeiterin-nen ... haben die Aufgabe, den Anforderungen›ihres‹ Marksegmentes in jeder Hinsicht gerechtzu werden, ... Sinn dieser Änderungen ist es, dieMenschen im Unternehmenssegment nicht län-ger durch Command-and-Control zu steuern,sondern indirekt durch die Rahmenbedingun-gen ihrer eignen Arbeit. Für sie gilt das Prinzip:Macht, was ihr wollt, aber seid profitabel«25. Sokommt es zu der »paradoxen Folge, dass derZwang verschwindet, aber der Leistungsdruckzunimmt! Das Phänomen ist für abhängig Be-schäftigte völlig neu; für andere ist es aberschon Jahrhunderte alt. Es war und ist das per-sönliche Problem des Unternehmers: Niemandkontrolliert ihn, niemand zwingt ihn. Und trotz-dem steht er unter Druck. Er kann zwar machen,was er selber will – aber er kann deswegen nochlange nicht machen, was er will! Er ist nicht ab-hängig von Anweisungen, aber er ist einer Ab-hängigkeit und Unfreiheit ganz anderer Art un-terworfen, wie sie sich zum Beispiel in seinemVerhältnis zum Markt zeigt. (...) Diese Formvon Unternehmer-Unfreiheit ist übertragbar aufdas Innenverhältnis eines Unternehmens, ohnedass eine Aufhebung der Macht- und Eigen-tumsverhältnisse stattfindet. Genau darum gehtes bei der neuen Organisation der Arbeit!«26

Als praktische gewerkschaftspolitische Konse-quenz wird hier erklärt:

»Erst in dem Maß, in dem es gelingt, die neuenOrganisationsformen zur Entwicklung und Er-

oberung wirklicher Selbständigkeit zu nutzen,kann unserer Meinung nach unter den heutigenBedingungen ein neues Fundament für kollek-tives und solidarisches Handeln entstehen. Erstdie Auseinandersetzung mit der Instrumenta-lisierung der eigenen Selbständigkeit für fremdeZwecke kann nämlich deutlich machen, dass derdadurch entstehende Interessengegensatz zwi-schen den einzelnen unselbständigen Selbstän-digen ihrem wirklichen individuellen Interesseentgegengesetzt und selbst ein Resultat der In-strumentalisierung ist. Erst dadurch kann klarwerden, dass mein Zusammenhang mit anderen,Kommunikation, Kollektivität etc. wirklich gutfür mich ist und eine Bedingung meiner Selbst-verwirklichung – während die Verwandlungdieses Zusammenhangs in eine bloße Konkur-renz von ›Leistungs-‹ und ›Qualifikationsan-bietern‹ schlecht für mich ist und der Entwick-lung meiner eigenen Selbständigkeit im Wegesteht.«27

Hier wird allerdings »kollektives und solidari-sches Handeln« angestrebt, ohne das Problemzur Sprache zu bringen, worum es denn eigent-lich geht bei dem »wirklichen individuellen In-teresse« der Kolleginnen und Kollegen.

Wilfried Glißmann formuliert an anderer Stel-le28 folgende Ziele für eine den modernen Un-ternehmenskonzepten adäquate Gewerkschafts-politik vor Ort: »Es kommt darauf an, die fakti-sche (oder betriebspolitische) Ebene zu betreten.Wie können unter den neuen Bedingungen neueKampfformen entwickelt werden? Wie kannz.B. Druck dafür entwickelt werden, dass mehrMenschen für die Arbeit eines Teams eingestelltwerden?«29 Dieser berechtigten Forderung wirddann aber eine zu hinterfragende Grundausrich-tung angeschlossen:

26

25) a.a.O., S. 41f. 26) a.a.O., S. 44 27) a.a.O., S. 5028) W. Glißmann: »Abschaffung der Zeiterfassung – Vertrauensarbeitszeit«, in: K. Pickshaus, K. Peters, W. Glißmann:

»Der Arbeit wieder ein Maß geben«, Supplement der Zeitschrift. Sozialismus 2/2000, S. 30ff.

27

»Die neue unternehmerische Herrschaftsformbesteht in der Instrumentalisierung der Selb-ständigkeit der Individuen durch Methoden derindirekten Steuerung. Mit der Selbständigkeitwirklich Ernst zu machen heißt daher: den indi-rekt steuernden Arbeitgeber wieder in den Blickzu nehmen: Aufzuzeigen, was er faktisch tutund was er mit diesem Tun bezweckt. (...) UnserHandeln muss am wirklichen Arbeitsprozessansetzen. Warum stehe ich so unter Druck?Worin besteht dieser Druck? (...) Also: Wastreibt mich, was macht mir Freude, was machtmir Angst, was macht mir ein schlechtes Gewis-sen? Das gilt es zu erkennen, denn darüberfunktioniert die indirekte Steuerung! UnserHandeln muss auf die Veränderung des indivi-duellen Verhaltens zielen. (...) Ich ... muss Tagfür Tag, Entscheidung für Entscheidung, kon-kret und inhaltlich bestimmen: Was will ichselbst? Ich muss mir immer wieder mein eige-nes Interesse gegen das Unternehmensinteresseaktiv erarbeiten. Ich muss mich mit der Ambi-valenz meines eigenen Willens auseinander set-zen. Unser Handeln muss auf Verständigungs-prozesse unter den Beschäftigten zielen. DieVeränderung des faktischen Verhaltens der Indi-viduen wird nur gelingen, wenn diese in der Ar-beit immer wieder die Prozesse unterbrechenund sich von Individuum zu Individuum ver-ständigen: Was läuft hier ab? Was will ich wirk-lich selbst? Was willst Du wirklich selbst? Wiebringen wir das, was wir wollen, in der Arbeitzur Geltung? (...) Unser Handeln muss auf dieFähigkeit zur wirklichen Selbständigkeit zielen.Es geht um die zunehmende Entwicklung derFähigkeit, das eigene Interesse herauszufindenund dieses Interesse zur Geltung zu bringen.Unser Handeln muss immer auch das unterneh-merische Problem bearbeiten. Früher reichte es,durch Aktionen gegen den Arbeitgeber Druckzu machen, nach dem Motto: ›Das ist ein Prob-lem, Du, Arbeitgeber, löse es!‹ Jetzt kommt es

immer zugleich darauf an, mögliche unterneh-merische Lösungen des zugrunde liegendenProblems zu bedenken (eben solche Lösungen,die in unserem Interesse als Beschäftigte sind).Ansonsten kann es passieren, dass die Lösungschlimmer ist als das ursprüngliche Problem.Inhaltliche Probleme – fachliche wie unterneh-merische Probleme – sind unter den neuen Be-dingungen grundsätzlich Sache der Beschäftig-ten.«30

Wird hier nicht die Forderung, »das eigene In-teresse gegen das Unternehmerinteresse aktivzu erarbeiten« als quasi naturgegebene Grund-bedingung mit dem sog. »unternehmerischenProblem« verkettet, ohne den Widerspruch alsKernproblem zu thematisieren, dass wir als ab-hängig Beschäftigte »unternehmerische Lösun-gen« als »Lösungen, die in unserem Interesseals Beschäftigte sind«, unter den systembeding-ten Verwertungszwängen nicht in Deckungbringen können? Glißmanns hervorzuhebenderAppell »Es geht um die zunehmende Entwick-lung der Fähigkeit, das eigene Interesse heraus-zufinden und dieses Interesse zur Geltung zubringen«, bleibt auf die Hoffnung einer indivi-duellen Entwicklung der Individuen im Rahmender kapitalistischen Produktionsweise be-schränkt. Insofern sind die Überlegungen vonW. Glißmann und K. Peters für unsere Debatteüber neuartige Erfahrungen in dem sich verän-dernden Produktionsprozess zwar sehr lehr-reich. Insbesondere die bei IBM in Düsseldorfvon Wilfried Glißmann als Betriebsrat mitange-führte Kampagne »Meine Zeit ist mein Leben«ist ein Lehrbeispiel für die Einbeziehung der ge-samten Belegschaft in einen Kampf um Verbes-serung der Arbeitsbedingungen im Zusammen-hang mit der Eröffnung einer sehr grundsätzli-chen Diskussion. Ihre Zielrichtung jedoch ver-harrt illusorisch im Kapitalismus.

29) a.a.O., S. 35 30) a.a.O., S. 37f.

»Her mit dem schönen Leben! – Eine andereWelt ist möglich!« Unter dieser Parole demon-strierten im September 2002 – organisiert vonder IG Metall und von attac – in Köln rund40 000 Menschen. Was mich dabei besondersbeeindruckte, dass es meist Jugendliche waren,die rotzfrech »Her mit dem schönen Leben«verlangten. Eher skeptisch reagiert man imnächsten Moment wieder im Gedanken an dieFrage, ob eine andere Welt, die ein »schönes Le-ben« ermöglicht, machbar ist und wie. Zur

Annäherung leisten die sechs vorgenanntenBeispiele in unterschiedlicher Weise einen Bei-trag. Damit sollte zunächst die Debatte über ei-ne nicht auf Kapitalverwertung ausgerichtete,»postkapitalistische« Produktionsweise provo-ziert werden.

Wenn auch nur thesenhaft, möchte ich nun An-regungen aus den Beiträgen mit dem Blick aufmeine Erfahrungen in der Produktion konkreteraufgreifen.

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III

Praktische Schritte

oder: Untereinander und mit den Leutenöfter mal anders diskutieren!

1. Zur Rationalisierung:Zeit-Druck und Zeit-Gewinn. Die Zeit erobern!

1.1 »Noch mehr Arbeitsplätze weg!« – das istmeistens der erste Gedanke beim Stichwort»Rationalisierung« – »Weniger Leute sollendieselbe Stückzahl oder möglichst noch mehrschaffen!« Weit verbreitet dann die Klage:»Was für ein Wahnsinn, immer mehr werden ar-beitslos, und der Rest malocht immer härter, biszum Umfallen!« In der Tat: Die Zeit für die Her-stellung der einzelnen Produkte soll verkürztwerden. Und das machen wir ja selbst auch beijeder Arbeit, zu Hause wie in der Fabrik: DenArbeitsvorgang durch Anwendung von Maschi-nen, von Erfahrungstricks usw. verbessern, be-quemer machen, Zeit sparen. Wir müssen anden Anfang der Diskussion stellen: Unser Inter-esse ist an sich ja auch was Vernünftiges, Ratio-nales, was Gutes, dass wir tagtäglich die Pro-duktivität verbessern! Je weniger Zeit die Men-schen für die Herstellung ihrer erforderlichenund gewünschten Produkte benötigen, desto

mehr müsste doch übrig bleiben für allerhandanderen schönen Zeitvertreib! Doch der Zeitge-winn kommt den Produzierenden, der Masseder Menschen nicht zugute, im Gegenteil. Unddamit rückt der Nervpunkt kapitalistischer Pro-duktion in den Blick. Der Unternehmer will ausseinem eingesetzten Geld mehr Geld machen.Und das muss er auch wollen, sonst machen ihnseine Konkurrenten fertig. Er kann Zeiterspar-nis nur für sich wollen, muss versuchen, die vonden Produzierenden entwickelten Ideen mög-lichst für sich, geheim zu halten. Er lässt für denMarkt, für den Austausch produzieren. Und wasbeim Tausch miteinander verglichen wird undsozusagen die Basis für die angestrebten Preiseund Profite bildet, ist die für das jeweilige Pro-dukt benötigte Arbeitszeit.

Moishe Postone befasst sich in seiner Marx-Re-zeption ausführlich mit dem Zeitproblem. Das

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müssen wir wohl bei unserer Frage nach einemnichtkapitalistischen Wirtschaftssystem mehrins Zentrum rücken: »Die Tyrannei der Zeit inder kapitalistischen Gesellschaft ist für dieMarxsche kategoriale Analyse zentral.«31 »Diefür die Produktion einer bestimmten Ware ver-ausgabte Zeit wird auf gesellschaftlich-allge-meine Weise vermittelt und in einen Durch-schnitt umgewandelt, der die Wertgröße desProdukts bestimmt. Somit drückt die Kategorieder gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit ei-ne allgemeine zeitliche Norm aus, die aus denHandlungen der Produzenten resultiert undnach der diese sich zu richten haben. Wer über-leben will, ist nicht nur gezwungen, Waren zuproduzieren und auszutauschen, sondern dieseZeit muss darüber hinaus auch – wenn man den›vollen Wert‹ seiner Arbeitszeit erhalten will –mit der zeitlichen Norm übereinstimmen, dieals gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit aus-gedrückt wird. Als Kategorie der Totalitätbringt die gesellschaftlich notwendige Arbeits-zeit eine quasi-objektive gesellschaftliche Not-wendigkeit zum Ausdruck, die den Produzen-ten gegenübertritt. Es ist die der abstraktenHerrschaft innewohnende Zeitdimension, wel-che die Strukturen entfremdeter gesellschaftli-cher Beziehungen im Kapitalismus kennzeich-net.«32

Daher trifft auch der Kampf um Arbeitszeitver-kürzung das Kapital am Lebensnerv. »DerKampf um die Länge des Arbeitstages ist nichtnur, wie Anthony Giddens feststellt, ›der direk-teste Ausdruck des Klassenkonflikts in der ka-pitalistischen Ökonomie‹, sondern auch einAusdruck der (und ein Beitrag zur) gesellschaft-lichen Konstitution von Zeit als abstraktemMaßstab für Tätigkeit.«33 Insofern macht es kei-nen Sinn, die Forderung nach Arbeitszeitver-

kürzung nur defensiv mit dem Kampf gegen Ar-beitslosigkeit zu verbinden. Wir verkürzen dieArbeitszeit, die für das einzelne Produkt nötigist, ja selbst ständig weiter. Unter dem kapitalis-tischen Zeit-Terror provozieren wir selbst wie-der neue »Arbeitslosigkeit«, wie der Esel seineschwere Karre immer weiter zieht, wenn er hin-ter der vorgehaltenen Möhre hertrabt.

1.2 Wird »Rationalisierung« bei der Masseder Menschen mit dem beängstigten Gefühl derArbeitsplatzbedrohung aufgenommen, so mitdem der Erleichterung bei der Minderheit derKapitaleigner: Zeitersparnis bedeutet für siebessere Ertragslage und damit verbesserte Wett-bewerbsfähigkeit. Der meines Wissens letzte,breit wirksame Zukunftsentwurf aus dem bür-gerlichen Lager mit enthusiastischer Verspre-chung einer »anderen, besseren Welt« ist inder MIT-Studie »Die zweite Revolution in derAutoindustrie«34 beschrieben, das 1990 mit sei-ner Propaganda der Rationalisierung durch»Schlanke Produktion« weltweit zur Bibel derManager, nicht nur in der Autoindustrie, avan-cierte: Im Mittelpunkt schlanker Produktionsteht bekanntlich der Kampf gegen »muda«, ge-gen die Verschwendung von Produktionsmittelnjeglicher Art und insbesondere von Arbeits-kraft, alles in allem von Zeit. Verschwendung zuvermeiden, kontinuierlich den Arbeitsprozesszu verbessern, »just in time« zuzuliefern, dassind doch eigentlich alles ganz rationale Maß-nahmen, auf die Produzierende – egal wo aufder Welt – beim Arbeiten gekommen sind. DasBuch der drei MIT-Wissenschaftler schließt pa-thetisch: »Am Ende aber, glauben wir, wird dieschlanke Produktion die Massenproduktion unddie verbliebenen Vertreter der handwerklichenFertigung in allen Bereichen industrieller

31) Moishe Postone, a.a.O., S. 32632) a.a.O., S. 29433) a.a.O., S. 32234) »Die zweite Revolution in der Autoindustrie«, MIT-Studie von James P. Womack, Daniel T. Jones und Daniel Roos,

Campus Verlag, Frankfurt/New York 1991

Betätigung ersetzen, um das weltweite Stan-dardproduktionssystem des 21. Jahrhunderts zuwerden. Diese Welt wird völlig anders und sehrviel besser sein.«35 Keine zehn Jahre später hatsich diese die Kapitalverwertungsprobleme ig-norierende Prognose längst als dummes Zeugerwiesen und die »schlanke Produktion« unterdem Zeitregime der sich bekämpfenden Unter-nehmer als Teil des Armuts-Motors.

1.3 Zeitdruck, heute als »zunehmenderStress« beklagt, prägt die Alltagsdebatte im Ar-beitsprozess, die Gesundheitsbeschwerden im-mer mehr. Ist man zum Verkauf seiner Arbeits-kraft gezwungen, bedeutet das Zwang zum Ver-kauf eines wesentlichen Teils der Lebenszeit.Schon das ist ungesund. Und erst recht der sys-tembedingte Zeitdruck, unter dem jede mehr-wertbezweckende Arbeit steht, so sehr manauch um »gute Arbeit« oder »Humanisierungder Arbeit« kämpfen mag. Systeme vorgegebe-ner Zeiten wie das MTM-System (Methods-time Measurement; Methodenzeit-Messung)sind immer noch Grundlage für die Zeitplanungin der Autoindustrie. Die MTM-Anwendungnimmt sogar weiter zu.36 »Jeder Handgriff istbis auf die Sekunde geplant« ist ein Pressebe-richt über die Gruppenarbeit im neuen Opel-Werk in Rüsselsheim überschrieben37, »... auchlaufen, bücken, stehen, hinsetzen kostet Zeit.(...) Ein Schritt ist ein Meter, ist eine Sekunde.Geht›s auch schneller?« heißt es dort. Im ergän-zenden Bericht über Daimler-Chrysler kommtein Kollege zu Wort: »›Ohne Ablösung kann ichnicht mal auf die Toilette gehen!‹« Und dannwird resümiert: »Kurze Takte, hoher Zeitdruckund eintönige Handgriffe bestimmen die Fließ-bandarbeit.«

Jahrelang haben wir als Betriebsräte zusammenmit Kolleginnen und Kollegen bei Opel-Bochum

in sog. Gesundheitszirkeln Krankheiten verursa-chende Arbeitsbedingungen herausgearbeitetund Verbesserungsvorschläge ohne Ende ge-macht. Die Umsetzung scheiterte meist an denKosten, und zwar besonders dann, wenn einezeitlich erfassbare (und nicht langfristig vermu-tete) Reduzierung von krankheitsbedingten Ab-wesenheitszeiten nicht klar vorausberechnetwerden konnte. Wieder ein Zeitproblem. MehrAusgaben, auch für die Gesundheit, müssen sichfür den Unternehmer nachweislich rentieren.

Auch die Manager sind in diesen Zeit-Terroreingebunden. Jeder Betriebsrat in einer Auto-Fabrik hat wohl schon miterlebt, dass auch dieVorgesetzten über Zeitdruck klagen und Mana-ger immer wieder stöhnen »Ich arbeite zwölfStunden am Tag!« – trotz des vielen Geldes, un-ter Druck, in Konkurrenzkämpfe verstrickt,unfähig zum Abstoppen.

Gerade im Blick auf die Gesundheit können undmüssen wir als postkapitalistisch orientierteLinke die Debatte mit vielen Menschen ver-schiedenster Schichten über die Unmöglichkeit»gesunder Arbeit« im Kapitalismus führen, undob es nicht allein schon von daher ziemlich blödist und dem allgemeinen menschlichen Interes-se, gesund zu bleiben, widerspricht, wie das Er-arbeiten von gewünschten Gütern und Dienst-leistungen heute organisiert wird.

1.4Auch der Alltagsärger über »die Qualität«ist im Zusammenhang mit dem Zeitdruck zudiskutieren: »Qualität unser 1. Ziel« und ähnli-che Sprüche hängen über vielen Arbeitsberei-chen. Unbestritten sind auch viele Qualitätsver-besserungen erreicht worden, trotz aller Rück-rufaktionen von Fahrzeugen wegen manchmalsogar lebensgefährlicher Qualitätsmängel. DerKonsumentendruck auf gute Warenqualität ist

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35) a.a.O., S. 291f.36) s. direkt, IG Metall-Vertrauensleutezeitung, Nr. 12/2001, S. 437) in: Frankfurter Rundschau, 29. April 2003.

31

groß. Und die Produzierenden wollen ja auchkeinen Mist bauen, sondern gute Produkte, ins-besondere wenn sie zum eigenen Bedarfshaus-halt gehören. Dennoch ist am Fließband jedenTag die Klage zu hören: »Wenn wir hier Qua-lität liefern sollen, brauchen wir mehr Leute!Qualität braucht Zeit!« »Zeit ist Geld!« antwor-tet der Vorgesetzte, »und wir müssen Kostensparen!« Als frustrierend und unwürdig erlebtman dann das Kommando »Lass die Sache solaufen!«, wenn man genau gemerkt hat, dass dieQualität nicht ok ist und der Vorgesetzte alleindavon ausgeht, dass er dafür als Verantwortli-cher nicht gepackt werden kann, weil der Fehlerauch einer anderen Abteilung zugeordnet odererst sehr viel später entdeckt werden kann. Sobleibt das Qualitätsziel im Widerspruch zumZeitdruck. Das ist auch der eigentliche Hinter-grund für die sogar noch zunehmenden Rück-rufaktionen in der Autoindustrie.38

Und das gilt auch für die eigentlich anzustre-bende maximale Langlebigkeit der Produkte:Eingebauter Verschleiß zwecks kürzerer Halt-barkeit und Einkalkulieren des Reparatur- undErsatzteilgeschäftes gehören zur privaten Kon-kurrenzproduktion. Das ist doch entwürdigend,wenn die Produzierenden, die Planer oder Tech-niker ihre Produkte nicht in bestmöglicher Formpraktisch umsetzen dürfen.

1.5 Zur Beurteilung von Outsourcing-Maß-nahmen, der heute weit verbreiteten Rationali-sierungsmethode zwecks Abbau von Arbeits-plätzen in der Autoindustrie, haben wir von derGoG 1999 ein ausführliches Diskussionspapiervorgelegt und speziell die negativen Auswir-kungen am Beispiel GM/Opel analysiert.39

Doch wäre auch hier noch genauer zu erfragen,was an den einzelnen Maßnahmen sinnvoll ist,unnötigen Arbeitsaufwand erspart und uns viel

Zeitgewinn erbringen könnte. Zum Beispielbraucht nicht jede Autobus-Fabrik ein eigenesPresswerk oder einen eigenen Achsenbau. Beisinnvoller gesellschaftlicher Planung würdenwir genau abwägen, was einerseits durch Mas-senherstellung benötigter Zuliefer-Teile undModule an Zeit und Mühe gespart werden könn-te, andererseits durch Transportwege und -be-lastungen verloren ginge.

1.6 Heiße Debatten gibt es immer wieder,wenn wir unter unseren Kolleginnen und Kolle-gen die Auto-Produktion generell in Frage stel-len. Auf den Einwand »Wir leben nun mal vomAuto« hilft erfahrungsgemäß der Einstieg in dieDiskussion mit einem Vortrag über die Tatsachewenig, dass auch Beschäftigte in der Auto-In-dustrie nicht »vom Auto«, sondern vom Verkaufihrer Arbeitskraft leben und sofort ihren Jobwechseln würden, wenn nebenan eine Nudel-(oder auch sogar Panzer-) Fabrik eindeutig ei-nen besseren Lohn, einen sichereren Arbeits-platz etc. anbieten würde. Aber fragen wir etwadanach, ob unsere Diskussionspartner nicht so-gar selbst per Mitfahrgemeinschaft zur Arbeitkommen, ergibt sich vielleicht ein sinnvollerStreit über die Widersprüche im eigenen Verhal-ten und Reden: Wer glaubt, er lebe »vom Auto«,der müsste konsequenterweise mit dem eigenenPKW zur Arbeit kommen, damit dieser zügigverbraucht wird, Ersatz produziert werdenmuss, damit wir weiter »vom Auto« leben kön-nen. Die meisten KollegInnen geben dann auchzu, dass sie selbstverständlich mit einem »Opel-Bus« zur Arbeit kommen würden, falls der täg-lich zum Abholen und Zurückbringen seineRunden durchs Revier drehen würde. Und wie-der würden bei einer derartigen Verkehrsrege-lung, die ja in vielen Punkten – z.B. Nulltarif imÖPNV – weiter ausgemalt werden kann, vielweniger Autos zu produzieren sein, enorm viel

38) »Auto-Rückrufe erreichen Rekordhöhe«, in: Handelsblatt, 6. Januar 2005, S. 1 und 4 39) s. http://www.labournet.de/branchen/auto/gm-opel/ausl-end.html

Zeit gespart werden können. Das Auto bekämeeinen ganz anderen Stellenwert in einem ganzanderen System der Regelung unserer benötig-ten und gewünschten Transporte von hier nachda. Bei der Frage nach dem »Was« unserer Gü-terproduktion ergibt sich schnell die Erkenntnis,dass wir riesige Mengen blöd verausgabter Pro-duktionszeit einsparen könnten.

1.7 Mit dem Einsatz der Informations- undKommunikationstechnologien wird das Zeit-problem immer brisanter. »Mit Virtual Enginee-ring lässt sich die Entwicklungszeit neuer Mo-delle ganz erheblich verkürzen«, berichtet dieOpel-Werkszeitung im Dezember 2004.40 AmComputer entstand das neue Astra-Modell, »mitdem ich alles machen konnte, was ich auch miteinem echten Modell machen kann«, schwärmtder Leiter des Montage-Simulationsbereiches.41

»Acht Module werden in Versorgungszentrenvormontiert, das gesamte Auto kann nun in gutneun Stunden in 248 Bandtakten zusammenge-setzt werden«, so wird die neue BMW-Fabrik inLeipzig charakterisiert.42 Per Internet könntendie Forscher und Entwickler, die Techniker undPlaner ihre Entwürfe, ihre Ideen und Erkennt-nisse weltweit problemlos austauschen und da-durch unendlich viel doppelte Anstrengung undsinnlose Zeitverschwendung vermeiden, stündedem nicht das zwanghafte Interesse des Einzel-unternehmers am Geheimhalten zwecks Kon-kurrenzvorteil entgegen.

1.8 Wir können und müssen in unseren De-batten die Wut darüber schüren, dass ein men-schenwürdiger Umgang mit der Zeit bei derHerstellung von Produkten wie Dienstleistun-

gen unter kapitalistischen Bedingungen einfachunmöglich ist. Bleibt wieder die Frage: Wiekann man sich das denn auf gesellschaftlicherEbene anders vorstellen? Einige Diskussions-schritte zur Annäherung an das Problem:

a) Ein Kollege, Elektriker im Achsenbau,meinte in unserer Zeitdebatte: »Ich möchtemanchmal gern länger arbeiten, bis das Problemgelöst ist!« Macht die Erledigung einer AufgabeSpaß, gehen wir mit unserer Zeit anders um.

b) Bei unseren Arbeiten im Hause gilt ja auchnicht die Devise »Hauptsache, schnell fertig«.Selbst wenn wir bestimmte Arbeiten nicht gernemachen, aber für notwendig erachten, geht eszuerst um gute, vernünftige Fertigstellung undum Zeitersparnis mit Rücksicht auf die Güteund Lebensdauer unseres Produktes.

c) Gegenseitige Hilfe organisieren wir beivielen privaten Arbeiten, ob Tapezieren oderUmzug usw. Zu mehreren, in der Gruppe, führtdie Gemeinschaftsarbeit meist zu besseren Ar-beitsergebnissen, ist nebenbei auch schnellerfertig und macht auch mehr Spaß.

d) Je umfassender die Aufgabe und je mehrmitmachen, desto sinnvoller ist es, sich vor Be-ginn genug Zeit für die Planung, Absprachen,Aufteilung zu geben. Wir sind auf dem heutigenProduktionsniveau in der Lage, ohne Verzichtauf irgendwas tagtäglich viel Zeit für Abspra-chen zu verwenden, wie noch weiter auszu-führen ist.

e) »6-Stunden-Tag! 30-Stunden-Woche!«usw.: Mit diesen Forderungen knüpfen wirzunächst an die Erfahrung von einem so ge-

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40) s. Opel-Post 12/2004, S. 841) vgl. auch Frankfurter Rundschau, 29. Juni 2004: Artikel von Dierk Jensen: »Rückkehr von der Laserbank. Beim Ra-

pid Manufacturing entstehen aus Computerdaten dreidimensionale Modelle für die Medizintechnik oder den Werk-zeugbau«

42) G.G. Feth: »Kostensenkung. Die Flexibilität am Band hilft BMW, den Erfolg zu sichern«, in: FAZ, 30. November2004

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nannten »Normalarbeitstag« an, einem kapita-listischen Arbeitstag, wie er sich unter demZwang zum Verkauf der Arbeitskraft ent-wickelt hat. Ohne weiteres vorstellbar ist heutebei Einbeziehung aller »Arbeitswilligen« undAusnutzen aller Zeitsparmöglichkeiten ein »4-Stunden-Tag« als »normale« Arbeitszeit. Diesewäre sicherlich absolut leichter zu ertragen,selbst bei derart verkürzter Nacht- und Schicht-arbeit. Doch sich von der Verteidigungshaltungzu lösen, also Arbeitszeitverkürzung nicht nurzur Reduzierung der Massenarbeitslosigkeitoder zum Gewinn von »etwas mehr Lebens-zeit« zu diskutieren, erfordert von postkapita-listisch orientierten Linken eine andere, um-fassende Debatte über einen völlig anderenArbeitstag, was die Ziele unserer Gemein-schaftsarbeit betrifft, ihre Organisation undGestaltung, ihre Auswirkungen etc. Ohne dieTatsache zu leugnen, dass auch in einer anderenGesellschaft die Notwendigkeit unserer Repro-duktion auch mit mühsamen oder ungeliebtenTätigkeiten verbunden sein wird, wird doch un-sere altgewohnte Trennung von Arbeit undFreizeit hinfällig (was im Folgenden an der Be-

handlung des Themas Gruppenarbeit deutlichwerden sollte).

f) Die unter uns zu treffenden Absprachenüber die Herstellungszeiten der gewünschtenund benötigten Güter und Dienstleistungen be-deuten sicherlich eine große Herausforderung.Vieles ist nur gesamtgesellschaftlich planbarund erfordert sogar internationale Absprachen.In jedem Fall haben wir, die große Mehrheit derMenschen, ungeheuer viel dazuzulernen, um daszu schaffen. Auch wenn wir viele Erfahrungenheutiger überregionaler und internationaler Pro-duktionsvernetzung auf den Müllhaufen der Ge-schichte befördern müssen (wie zum BeispielMTM als bestimmende Grundlage für einebenötigte Produktionszeit), so wird doch dieKenntnis vieler Leute über die heute schon lau-fenden Absprachen in den multinationalen Kon-zernen mithelfen können, Brauchbares vonUnnützem, Unwürdigem zu unterscheiden. Dieauf lokaler und überregionaler Ebene zu schaf-fende Absprachekultur selber ist vielleicht diewesentliche Aufgabe.

2. Zur Gruppenarbeit: neue Erfahrungender Zusammenarbeit und neue Möglichkeiten nutzen

2.1 Einleitung

In der kritischen gewerkschaftlichen Diskussionder Gruppenarbeit werden emanzipatorischeElemente regelmäßig herausgestellt, wie zumBeispiel von Rainer Salm, ehemaliger Betriebs-rat, dann IGM-Betriebsräteberater, wenn er z.B.von einem »wachsenden Selbstbewusstsein ge-genüber der Hierarchie« durch regelmäßigeGruppengespräche spricht43 oder konstatiert:»Gruppenarbeit könnte soziales Lernen fördern,

nicht im Sinne einer Übernahme der Ideologieder Betriebsfamilie, sondern als Lernen überMacht und Gerechtigkeit.« Salm zitiert dann dieUntersuchung des SOFI (Soziologisches For-schungsinstitut Göttingen) unter der Leitungvon Kuhlmann/Schumann aus dem Jahr 2000:»›In den Gruppen finden soziale Lernprozessestatt, die aus Sicht der Beschäftigten in starkemKontrast zur übrigen Betriebsrealität stehen unddadurch Ausgangspunkte für eine von einem er-weiterten demokratischen Selbstverständnis ge-

43) Rainer Salm: »Abschied vom Leitbild humaner Gruppenarbeit?«, in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus 9/2001,S. 30

tragene Kritik der betrieblichen Realitäten seinkönnen. An den Beispielen der Urlaubsvergabeoder des Umgangs mit eingeschränkt leistungs-fähigen Kollegen wird deutlich, dass das Ge-rechtigkeitsverständnis der Gruppen keines-wegs ein formal rigides ist, sondern die indivi-duellen Lebenssituationen und Interessen dereinzelnen sehr wohl berücksichtigt.‹«44

Rainer Salms Zielsetzung aber bleibt defensiv,an den Kapitalismus gebunden: Es gilt, »...dieStellung des Menschen als vereinzeltes und ent-mündigtes Arbeitstier zu beenden und auch un-ter kapitalistischen Bedingungen menschenwür-dige Arbeit durch erweiterte Handlungsspielräu-me und vermehrte Entscheidungsmöglichkeitenzu realisieren.«45 Ist das nicht illusorisch? In-dem so »menschenwürdige Arbeit« als im Kapi-talismus realisierbar hingestellt wird, wird dieAufklärung über die bleibende Inhumanität vonLohnabhängigkeit und eine Auswertung derProduktionserfahrungen für eine vielleicht ganzandere Zukunft geradezu versperrt.

»Gelobt wird das breitere Spektrum der zu ver-richtenden Tätigkeiten. (...) ›Durch die Eigen-verantwortung macht die Arbeit auch mehrSpaß‹, sagt Asuman Aslan. Die junge Frau fin-det es prima, dass man sich gegenseitig helfenkann, wenn jemand mal nicht so gut drauf ist.«So berichtet auch Peter Ziller positiv in seinemArtikel »Lob der Gruppenarbeit« über die Er-fahrungen bei VW in Braunschweig. Dass essich dabei um massenhaft stattfindende Erfah-rungen handelt, hebt er hervor mit einem Zitatdes Göttinger Wissenschaftlers Martin Kuhl-mann: »In der deutschen Autoindustrie sei dieGruppenarbeit ›flächendeckend realisiert ...wenn auch auf unterschiedlichen Niveaus‹.«46

Der Philosoph Klaus Peters beschreibt die Er-gebnisse seiner Untersuchungen von Angestell-ten-Teamarbeit folgendermaßen: »Es geht umeinen realen Zuwachs an Selbständigkeit, unddarum wird mit dem Leistungsdruck die Identi-fikation mit der Arbeit verstärkt. Im Erfolgsfallkann sich ein abhängig Beschäftigter wie einselbständiger Unternehmer fühlen. Dann kön-nen sogar Hochgefühle entstehen. Das ist gut,aber gleichzeitig gefährlich, weil die Firma ei-nen mit Haut und Haaren verschlingen kann undkeine Freizeit und kein Privatleben übrig bleibt.Ein irrer Zwiespalt, an dem ein Einzelner irrewerden kann.«47 Dem Herausstellen positiverWirkungen der Gruppenarbeit wird oft eine der-artige Warnung vor negativen Folgen angehängt.

Inzwischen dominieren in den gewerkschaftli-chen Kommentaren die Klagen über die Verän-derung der Gruppenarbeit in Richtung kürzererTaktzeiten bei limitierter Rotation unter demLabel »Standardisierte Gruppenarbeit«. »Grup-penarbeit – Rückkehr zur Monotonie«, lauteteine Artikel-Überschrift in der IGM-Zeitung»direkt«.48 Zitiert wird der Betriebsrat GünterMichel von Opel-Rüsselsheim: »Für das neueProduktionssystem in Rüsselsheim wurde dieGruppenarbeit gänzlich umgestaltet. DieFreiräume der Gruppen wurden wesentlich ein-geschränkt, die Arbeitsorganisation ist jetzt bisaufs Komma geregelt.« Und der DaimlerChrysler-Betriebsrat Dieter Gerlach klagt angleicher Stelle: »Um die vorgegebenen Kosten-ziele zu erreichen, kommt die Arbeitsorganisa-tion stark unter Druck. Das Produktionssystemist ganz auf wertschöpfende Tätigkeiten kon-zentriert: Just-in-time und Null-Puffer, das passtnicht mit unserem Anspruch an Gruppenarbeitzusammen.« »Kehrt der Taylorismus zurück?«,

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44) a.a.O., S. 3345) a.a.O., S. 3446) Peter Ziller: »Lob der Gruppenarbeit«, in: Frankfurter Rundschau, 27. April 200247) Klaus Peters: »Arbeit ohne Ende. Unternehmen wie SAP setzen auf das autonome Handeln ihrer Beschäftigten«, in

Frankfurter Rundschau, 27. August 200448) IG Metall-Zeitung »direkt«, Nr. 2/2003, 5. Februar 2003, s. auch www.igmetall.de/direkt/index.html

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fragt die IG Metall den Chemnitzer Betriebs-wirtschaftler Manfred Moldaschl. Seine Ant-wort: »Besser wäre es, von einem Rollbackhochfliegender Erwartungen zu sprechen. Dennzwischen dem, was als teilautonome Gruppen-arbeit in der industriellen Massenfertigung pro-pagiert wurde und dem, was Praxis war, bestandeine große Kluft.« Moldaschls Schlussfolge-rung mündet in ein Arbeitsmodell, »wo Arbeit-nehmer und Arbeitgeber gewinnen« sollen:»Echte autonome Gruppenarbeit ist effizient,wenn die Voraussetzungen stimmen. Diese her-zustellen ist mühsam und braucht Zeit. (Hierwäre an meine Ausführungen zum system-immanenten Zeitdruck zu erinnern, d. Verf.)Gemeint sind unter anderem: Engagement undSelbstverantwortung der Individuen, ein Mana-gement, das das eingeräumte Selbstbestim-mungsrecht der Gruppen respektiert, eine Un-ternehmensleitung, wonach das Kapital nichtsofort, sondern langfristig rentabel seinmuss.«49 Die Frage nach Gruppenarbeitserfah-rungen und Bewusstseinsveränderungen, diesich für eine Debatte eines ganz anderen Pro-duktionsmodells nutzen ließen, kommt so nichtin den Blick.

Richard Sennett gelangte in seiner berühmtenUntersuchung »Der flexible Mensch« zu einer

vernichtenden Verurteilung der Teamarbeit:»Das moderne Arbeitsethos konzentriert sichauf die Teamarbeit. Sie propagiert sensiblesVerhalten gegenüber anderen, sie erfordert sol-che ›weichen Fähigkeiten‹ wie gutes Zuhörenund Kooperationsfähigkeit; am meisten betontdie Teamarbeit die Anpassungsfähigkeit desTeams an die Umstände. Teamarbeit ist die pas-sende Arbeitsethik für eine flexible politischeÖkonomie. Trotz all des Psycho-Geredes, mitdem sich das moderne Teamwork in Büros undFabriken umgibt, ist es ein Arbeitsethos, das ander Oberfläche der Erfahrung bleibt. Teamworkist die Gruppenerfahrung der erniedrigendenOberflächlichkeit.«50 Die Teamarbeit »behan-delt menschliche Beziehungen als Farce.«51 AlsSchlussfolgerung stellt er die Aufgabe: »DieAnstrengung, den neuen Kapitalismus vonaußen zu kontrollieren, muss ein anderesGrundprinzip haben: Welchen Wert hat die Fir-ma für die Gemeinde, in welcher Weise dient siegemeinschaftlichen Interessen statt ausschließ-lich denen von Gewinn und Verlust?«52 Die»Firma«, das kapitalistische Unternehmen, demgegenüber sich die Beschäftigten »loyal« zuverhalten hätten, wird aber auch bei Sennettnicht prinzipiell in Frage gestellt, es sollte ebenaußer der Gewinnmaximierung auch »gemein-schaftlichen Interessen« dienen.53

49) In: »metall«, Mitgliederzeitung der IGM, Nr. 5, 2003, S. 17. Moldaschls »Arbeitsmodell« ist typisch für die große Zahlder so genannten gewerkschaftsnahen WissenschaftlerInnen, die die Unternehmer überzeugen möchten, win-win-Lö-sungen zu praktizieren, damit nicht nur sie profitieren, sondern auch die Beschäftigten. Wohlgemerkt: Im alltäglichenKampf um Verbesserungen, gegen Verschlechterungen kann man aus taktischen Gründen im Zusammenhang mit derMobilisierung der Kolleginnen und Kollegen dem Einzelunternehmer gegenüber auch mal argumentieren, dass be-stimmte Maßnahmen auch ihm Vorteile bringen könnten. Die »win-win-Professoren« aber machen ihre Vorschlägezumeist verbunden mit der Behauptung eines »vernünftigen« Kapitalismus. Da erweist sich die Quadratur des Kreisesallerdings als schwierig.

50) Richard Sennett: »Der flexible Mensch«, Berlin Verlag 1998, S. 13351) a.a.O., S. 14252) a.a.O., S. 18853) vgl. dazu auch: Richard Sennett: »Das neue ›eherne Gehäuse‹. Die Globalisierung, die neue Marktwirtschaft und der

fatale Versuch, ihre Werte und Organisationsformen auf Sozialsysteme zu übertragen«, in: Frankfurter Rundschau, 2.September 2003, S. 7: »Die Wegrationalisierung der mittleren Ebene (erg. in den Betrieben) führt zur Zerstörung dermenschlichen Ressourcen, die ein Unternehmen Konjunkturkrisen überstehen lassen. Das gilt nun genauso für die Ra-tionalisierung des Wohlfahrtsstaates. Sie schwächt die staatlichen Institutionen. Der Verlust an Loyalität, über die siebisher verfügen, wirkt sich politisch noch fataler aus als in der Privatwirtschaft: ›Reformen‹ erzeugen keinerlei Loya-lität – weder den reformierten Institutionen noch den Reformern gegenüber.«

Wir von der GoG bei Opel in Bochum haben an-fänglich auch nur vor den negativen Folgen, vorden Versuchen verschärfter Ausbeutung durchGruppenarbeit gewarnt. Doch im GoG-Papierzum Thema Auslagerung/Outsourcing54 habenwir nicht nur die negativen Auswirkungen aus-führlich analysiert, sondern auch die von uns füreine andere Zukunft zu nutzenden neuartigenErfahrungen in neuen Arbeitsformen ansatz-weise in den Blick genommen:

»Die Kolleginnen und Kollegen machen heuteim Produktionsprozess viele neue Erfahrungen.Die enge Anbindung der Produktion der Zulie-ferer-Belegschaften an unsere Arbeit bei Opel,just in time, alles per EDV miteinander ver-knüpft, erleben wir tagtäglich. Fast Hand inHand arbeiten wir auch mit Kolleginnen undKollegen aus anderen Firmen innerhalb desWerkes zusammen. Falls Opels Pläne aufgehen,arbeiten wir bald noch enger mit Zuliefer-Be-legschaften auf dem Opel-Gelände und auch ingrößeren Entfernungen zusammen. Viele vonuns sind per PC mit Kolleginnen und Kollegenaus anderen Produktionsbereichen und anderenUnternehmen bei der Arbeit in Kontakt. In einerriesigen vernetzten Produktionskette stellen wirgemeinsam Produkte her. Die kann man baldper Computer so auswählen und bestellen, wiewir sie dann produzieren sollen. Kann solch ei-ne Gesamtproduktion nur so organisiert sein,dass wir uns bei der Arbeit durch Konkurrenz-kampf gegenseitig fertig machen? StändigAngst haben müssen vor Einkommensverlustoder Verschlechterung unserer Arbeitsbedin-gungen? Brauchen wir bei der Arbeit all die gutbezahlten Aufpasser, all die Oberbosse, die mitihren Profit-Köpfen die Zusammenarbeit zwi-schen den einzelnen Belegschaften bloß behin-dern? In der Gruppen-Arbeit können wir unsereGruppensprecher wählen und wieder abwählen.Kann man sich das nicht auch mit Meistern, Be-

triebsleitern usw. vorstellen, mit Leuten, die ei-ne zeitlang bestimmte Organisationsaufgaben inunserer betriebsübergreifenden Zusammenar-beit zu regeln hätten? Haben wir nicht gelernt,uns weiterzuqualifizieren? Will man nicht an-dauernd in den Gruppengesprächen, den KVP(Kontinuierlicher Verbesserungsprozess)-Workshops, durch Verbesserungsvorschläge anunsere Erfahrungen und Ideen heran? Muss dasmit dem Ergebnis enden, dass wir noch mehrausgemistet werden? Was hindert uns an einervernünftigen Zusammenarbeit, an gut erträgli-chen Arbeitsbedingungen, an sinnvoller Pla-nung der notwendigen und gewünschten Pro-dukte und Dienstleistungen? Trauen wir uns ru-hig an solche Diskussionen heran. Über denwachsenden Unterschied von Reichtum und Ar-mut bei uns und auf der Welt regen sich fast al-le auf. Über unsere Möglichkeiten, in einer »an-deren Welt« besser miteinander zu leben, strei-ten wir zu wenig. Wir machen »vor Ort« genugErfahrungen, wie und mit welcher Zielvorgabeder Reichtum einiger weniger tagtäglich vonuns erarbeitet wird. Wir können uns das auchanders vorstellen.«

Soweit der Rückblick auf unsere ersten Diskus-sionsanregungen, die es nun weiter zu entwickelngilt in Richtung der Möglichkeiten von zukunfts-weisenden Abspracheformen und -inhalten.

Gruppenarbeit als neuartigen Bestandteil ge-sellschaftlicher Arbeit zu betrachten, die ehschon in Gruppen, Abteilungen, Fabriken, Pro-duktionsverbünden, Herstellungsketten, Ausbil-dungs- und Versorgungsstrukturen etc. vernetztist, und dabei die private Aneignung, die Aus-richtung auf Mehrwert bezweckende Warenpro-duktion sozusagen als ärgerliches Hindernissichtbar zu machen, das könnte ein hoffnungs-trächtiger Ansatz für die postkapitalistischorientierte Linke sein, mehr Menschen für das

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54) Standorte (GoG): »Auslagerung (Outsourcing). Bericht über den Stand unserer Diskussion in der ›Standorte-Gruppe‹bei Opel/GM-Bochum«, November 1999, veröffentlicht in: www.labournet.de/branchen/gm-opel/ausl-end.html

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Mitüberlegen, Mitdiskutieren von Schritten zur»anderen Welt« zu motivieren.

2.2 Gruppengespräche – Gruppen-

besuche – Versammlungen

2.2.1 »Gruppengespräche sind Arbeitsbe-sprechungen von bis zu einer Stunde und solleneinmal wöchentlich stattfinden. (...) Das Ge-spräch findet möglichst in der Arbeitszeit statt.(...) Die Gruppe ist frei in der Wahl der Themenim Hinblick auf die oben genannten Aufgaben(zu denen außer unmittelbar die Durchführungund Verbesserung der Produktionsaufgaben be-treffenden Passagen auch die »Erhöhung derArbeitszufriedenheit und Motivation« und die»Förderung des kreativen, innovativen undselbständigen Denkens und Handelns bei denMitarbeiter/innen« gehören, Anm. d. Verf.) alsauch in der Frage, wen sie zu den Gruppenge-sprächen einlädt.« So lautet die Vorgabe in derBetriebsvereinbarung 179 vom 4. April 1991für alle Werke der Adam Opel AG.

Das Management hatte von Anfang an unge-heure Probleme mit der Gewährung der verein-barten Zeit für Gruppengespräche. Die Produk-tionsunterbrechungen erwiesen sich auf Grunddes Zeitdrucks als zu kostenträchtig. Im Verlaufder Auseinandersetzung um die sog. »Standort-sicherungsvereinbarungen« in den 90er Jahrenwurde den Belegschaften eine Konzession nachder anderen in Bezug auf die Zeitgewährung fürdie Gruppengespräche abgepresst. An denFließbändern blieb schließlich ein Zeitrahmenvon 30 Minuten alle 14 Tage übrig, der aberauch bald wieder von der Geschäftsleitung inFrage gestellt wurde: »So wird man nicht müdezu erklären, die bisher stattfindenden Gruppen-gespräche in den Linien (14-tägig/30 Minuten)müssten entfallen. Statt dessen sollen täglich in5-minütigen Gruppengesprächen die Sorgenund Nöte vor Ort behandelt werden. (...) Wirhaben in den laufenden Verhandlungen immer

wieder deutlich gemacht, dass 30 Minuten alle14 Tage schon äußerst knapp bemessen sind undauf jeden Fall erhalten bleiben müssen!«, heißtes im »IGM-BR-Info Opel Bochum« (unter-zeichnet: Biagotti, Gabriel u.a.) vom 20. Sep-tember 2000.

Dass der Opel-Geschäftsleitung nicht nur dieverlorene Produktionszeit missfiel, sondernauch die inhaltliche Entwicklung der Gruppen-gespräche, wurde in Bochum 1997 deutlich aus-gesprochen: »Die sozialen Aspekte der Grup-penarbeit stehen so stark im Mittelpunkt, dassdie qualitätsbewusste Arbeit vernachlässigtwird«, heißt es in der »DiskussionsvorlageSteuerkomitee Gruppenarbeit 1997. T 3000/1998 (so das Kürzel für das neue Astra-Modell,Anm. d. Verf.) und Gruppenarbeit. Anforderun-gen und Anpassung« der Abteilung QNPS(»Quality network Production System«, Anm.d. Verf.) in Bochum.

Offensichtlich bekommt das Management denWiderspruch nicht in den Griff, einerseits denProduzierenden Austauschmöglichkeiten überihren Arbeitsprozess einräumen zu müssen, um»an das Gold in den Köpfen der Mitarbeiter«heranzukommen und ihr Wissen und ihre Er-fahrungen systematisch auszunutzen, anderer-seits dabei ein Stück Kontrolle aufgeben zumüssen, da Gruppengespräche »soziale Aspek-te« niemals ausklammern konnten und können.Diskutieren wir über unsere Arbeit, reden wirbei der Frage unserer Arbeitseinteilung auchüber unsere und der Vorgesetzten unterschied-lichen Fähigkeiten, wir reden über die unsererArbeitsaufgabe vor- und nachgelagerten Pro-zesse, über Ursachen und soziale Folgen derstressigen Zeitprobleme, über Lohnunterschie-de und -forderungen, über die Probleme vonKaufkraftsenkung und Profitmaximierungusw. Als BR-Mitglied war ich oft genug zuGruppengesprächen eingeladen, um sowohlden Druck als auch die Möglichkeit kennen zulernen, dass wir bei der Diskussion von Einzel-problemen des Arbeitsprozesses immer wieder

viel generellere Debatten über ihre Hintergrün-de und die Regulierungsschwierigkeiten sei-tens des Managements reden konnten undmussten.

Im Team, besonders in den Gruppengesprächen,erleben die Produzierenden den Vorteil gemein-samer Ideen-Abwägung und gegenseitiger Un-terstützung. Als unwürdig, erniedrigend könnenpostkapitalistisch orientierte Linke insbesonde-re den Zwang zum Diskussionsanlass nehmen,dass man sinnvolle Zusammenarbeit gleichzei-tig auf das Niederkonkurrieren anderer Men-schen in ähnlichen Produktionsbereichen aus-richten soll. Man soll in den Prozess eingreifen,ihn kontinuierlich verbessern, aber gleichzeitigdas Unvernünftige mitorganisieren, die Be-schränkung auf die kurzfristige Gewinnsteige-rung für die, die die Macht über den Produk-tionsprozess haben. Aus Frust reagieren vieleKollegInnen dann wiederholt mit innerer Kün-digung, mit dem Alltagswiderstand durch Zeit-schinden, Geschäftigkeit-Vortäuschen, heimli-che PC-Spiele usw. Typisch dafür auch derüberall bekannte Slogan »Solange mein Chef sotut, als würde er mich ordentlich bezahlen, tueich so, als würde ich ordentlich arbeiten.« Undtrotzdem hat man auch dabei wieder das Gefühl,sich erniedrigen zu lassen zu einem dummenund unwürdigen Verhalten.

2.2.2 Jede Minute Zeitgewährung für Grup-pengespräche zu verteidigen, gehört zu unse-rem Alltagskampf in den Betrieben. Dass imkapitalistischen Unternehmen zwecks Kosten-sparen jeder Sekunde nachgejagt wird, erlebenwir Tag für Tag. Dass gleichzeitig bezogen aufdie ganze Gesellschaft bei der gegenwärtigenArbeitsorganisation ungeheuer viel Zeit ver-plempert wird, kann niemand bestreiten, ange-sichts von Abermillionen Menschen, die mannicht mitarbeiten lässt, angesichts der Problemevon Überproduktion und Unterauslastung, vondurch den Konkurrenzkampf »Betrieb gegenBetrieb« verursachte, eigentlich überflüssige

Doppelanstrengungen, angesichts des Zeitauf-wandes für unnütze oder minderwertige Güterusw. (s.o., Teil III.1) Die gesamte Gütermenge– selbst wenn wir sie so komplett erhalten woll-ten, wie sie derzeit erarbeitet wird – könntenwir sicherlich bei sinnvollerer Arbeitsorganisa-tion und Einbeziehung aller Arbeitssuchendenmit vier Stunden täglicher Arbeitszeit hinkrie-gen. Man stelle sich nun einmal vor, wir wür-den uns in jeder Schicht, sozusagen jeden Tag,zwei weitere Stunden Zeit nehmen für Grup-pengespräche. Sicherlich würden wir sehr vielintensiver und umfassender als bisher darüberreden, was uns an unserer alltäglichen Arbeiteigentlich gefällt und was nicht, wie wir lieberarbeiten würden.

Zum einen möchte ich an dieser Stelle auf dieoben beschriebenen Überlegungen verweisen,wie wir ohne den Zeitdruck des kapitalistischenVerwertungszwangs unsere Arbeit anders an-packen könnten. (s.o., Punkt 1.8)

Zum andern soll hier einer meiner Freunde zuWort kommen, der marxistische Autor RobertSchlosser. Er hat in den letzten 30 Jahren zahl-reiche und sehr unterschiedliche Arbeiten vomBandarbeiter bei Opel bis zu hochqualifizierterTechnikerarbeit kennen gelernt. Sein Fazit (ineinem Brief an mich, Mai 2004) bietet einenäußerst anregenden Diskussionsanlass:

»›Kommunistisch arbeiten‹ heißt für mich:

� bestimmte Arbeiten ganz abschaffen. Wodas nicht geht, monotone, anstrengende Ar-beiten vielleicht auf maximal eine Stundebeschränken. Viele Situationen können ein-fach durch Wechsel der Tätigkeiten ent-schärft werden.

� Bandarbeit sollte ganz verschwinden. Sta-tionäre Produktionseinheiten, wie bei Vol-vo mal versucht, bieten einen Ansatz. Autoauf schwenkbarer Bühne, eine Gruppe leis-tet die gesamte Montagearbeit. Das könnterichtig Spaß machen.

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� Überhaupt ganzheitliches Arbeiten in derGruppe: Eine Anzahl von Leuten stellt einmöglichst vollständiges Produkt her, dasfür sich funktionsfähig und ästhetisch ist.Zur eigenen Erbauung und zur Erbauunganderer: Für Lust bei der Arbeit ist ganzwichtig, was das Resultat der Arbeit ist.Darum muss die Arbeit auf ein solchesfunktionales und ästhetisches Resultat aus-gerichtet werden. (...) Herstellen heißt, vonder Konstruktion bis zur Endmontage. Sieplanen die Arbeit selbst und verteilen sieunter sich. Es steht ein PC mit Bibliothekzur Verfügung. Sie verstehen es, miteinan-der zu kommunizieren und beherrschenauch diese Sozialtechnik (Transaktionsana-lyse, zuhören können, sich ausdrücken kön-nen, präsentieren können usw.) Die Arbeitist geistig anspruchsvoll und erfordert ver-schiedene manuelle Fertigkeiten (Umgangmit Handwerkzeugen und Maschinen), dieKenntnisse in Arbeitssicherheit und erfor-derlicher Maschinen/Techniksicherheitsind ebenso vorhanden und fließen ein indie Organisation der Arbeit und die Kon-struktion des technischen Gerätes. Die Ar-beit wird so organisiert, dass dabei auch an-dere angelernt werden können. Wissen wei-tergeben! Dafür sorgen, dass man nicht im-merzu stehen muss. Lärm vermeiden, kurz-um: ergonomische Gesichtspunkte bestim-men wesentlich die Arbeit. (Dafür gibt esMaterial ohne Ende).

� (...) Was muss die Arbeit dem/r einzelnenbringen? Lust durch Kreativität, Abwechs-lung, Verbindung von Konzeption und Aus-führung, körperlicher und geistiger Arbeit,Produktivität, soziale Anerkennung, Stolzund Selbstbewusstsein in der Gemein-schaft, der Gemeinschaft etwas geben kön-nen, selbst Hilfe erfahren. So sagen es mirmeine Erfahrungen. Man könnte einen Kri-terienkatalog entwickeln und schauen, wowas wenigstens rudimentär heute ent-wickelt ist. Und ohne Schere im Kopf ...brainstorming.«

Dass die Beschäftigten sich gemeinsam denKopf zerbrechen, will die Geschäftsleitung jaauch. »Brainstorming« steht nicht umsonst anerster Stelle der aktuell auch in Bochum gelehr-ten Analyse-Methode im neuen »GM-GMSTrainingsmodul Problemlösung« (Opel Bo-chum, 29. April 2003, S. 9. Das weltweit ein-heitliche Produktionssystem General Motors –Global Manufacturing System/GM-GMS wirdseit 2003 eingeführt): »Selbstverständlichgehört der Austausch von Informationen sowieIdeen zu jeder Problemlösung, daher sollte jederVorschlag von allen Mitarbeitern in den Pro-blemlösungsprozess mit eingebracht werden.«Nutzen wir die Methode für uns, für unsereIdeen-Sammlung für eine »andere Welt«!

2.2.3 Dabei können wir auch die Tatsachenutzen, dass die Unternehmer durch die Verän-derungen der Arbeitsanforderungen im moder-nen Produktionsprozess unter Druck sind, diealte Unterscheidung und Spaltung der Beschäf-tigten in Arbeiter einerseits und Angestellte an-dererseits aufzugeben, wie auch der Konfliktum den neuen Entgeltrahmenvertrag ERA ge-zeigt hat und weiterhin zeigt. Einen flexiblerenEinsatz aller »EntgeltempfängerInnen« im ge-samten Produktionsprozess will der Unterneh-mer natürlich, um Kosten zu sparen und Profitzu maximieren. Die althergebrachten Arbeiter-und Angestelltenabteilungen rücken so immermehr zusammen.

Die tägliche Zeit für Gruppengespräche ließesich auch systematisch dazu zu nutzen, über dieeigene Abteilung hinaus die ganze Fabrik samtder traditionellen Angestellten-Sektoren kennenzu lernen. Diese Möglichkeit erhalten ja heuteschon die freigestellten Betriebsrats-Mitglieder:So konnte ich mit der Zeit die Kolleginnen undKollegen im gesamten Bochumer Produktions-prozess, im Chassis- wie im Karosseriebau, inder Logistik, Instandhaltung, Prozessabteilungusw. besuchen, musste mich in den BR-Sitzun-gen mit Problemen aller Abteilungen befassen,

lernte die Arbeit der Personalmanager und Ab-teilungsvorgesetzten kennen, die der Sicher-heitsingenieure und Werksärzte, der Planer wieder Lohn- und Gehaltsexperten, der Angestell-ten im Einkauf wie zahlloser Beschäftigter inden sog. »Fremdfirmen«, die immer zahlreicherauf dem Opel-Gelände auftauchten. Dass an je-dem Schichtende ca. 600 fertige Autos dasWerk verließen und wie dieser ganze Prozessfunktionieren konnte, fand ich dann immer we-niger erstaunlich.

Mit der Einführung der Gruppenarbeit habendie Kolleginnen und Kollegen immer wieder dieGelegenheit genutzt, höhere Vorgesetzte bis hinzum Werksleiter und Experten aller möglichenBereiche zum Gruppengespräch einzuladen.Auch dadurch hat man schon etwas Respekt vordiesen Experten verloren. Was gut als konkreteVision vorstellbar ist: Wir müssten bei denGruppengesprächen gegenseitige Besuche or-ganisieren, Leute von der Endmontage nehmenan Gesprächen im Presswerk teil, reihum in deneinzelnen Produktionsbereichen samt ihren»Dienstleistern« und umgekehrt. Teamsitzun-gen der Verwaltung, der Sozialabteilung oderder zentralen Leitung etc. haben Leute aus derProduktion zu Gast und umgekehrt. Viele Kol-legInnen hätten sicherlich auch Interesse, dieArbeit der Menschen in den Forschungs- undEntwicklungsabteilungen näher kennen zu ler-nen. Und umgekehrt sollten die sich ruhig auchöfter die Arbeit in der direkten Produktion anse-hen.

So wie jetzt schon gruppenweise Buch geführtwird über die Teilnahme an Lehrgängen, kannjeder und jede mit der Zeit die Möglichkeit be-kommen, die ganze Fabrik näher kennen zu ler-nen und besonders auch die Leute, die man jaoft viele Jahre lang nur eben vom Ansehenkennt oder höchstens in den vierteljährlichenBelegschaftsversammlungen getroffen hat. Dorthat man auch schon mal von den Problemen undForderungen aus anderen Bereichen der Fabrikgehört. Regelmäßige Abteilungs-, Schicht- und

Bereichsversammlungen mit der Möglichkeitgegenseitiger Besuche könnten kleinere Grup-pengespräche sicherlich oft sinnvoll ergänzenoder ersetzen.

2.2.4 Im nächsten Schritt müssen die vor-und nachgelagerten Produktions- und Vertriebs-stätten in solch einen Austauschprozess ein-bezogen werden. Absprachen zwischen deneinzelnen Unternehmern, die die Vorprodukteliefern, die den Vertrieb der hergestellten Güterübernehmen usw. müssen jetzt schon verlässlichfunktionieren, und viele Beschäftigte sind ja indie Realisierung dieser Zusammenarbeit längsttagtäglich einbezogen, kennen allerdings ihreGesprächspartner in den anderen Firmen fastnur von Telefon- oder PC-Kontakten.

Zu erinnern wäre hier an den Besuch und dieRedebeiträge von Kollegen aus der Stahlindus-trie auf einer Opel-Bochum-Belegschaftsver-sammlung 1993, als wir den überbetrieblichenSchulterschluss gegen den Sozialabbau suchtenund lernen konnten, dass unsere Stahl-Kollegenvor ähnlichen Problemen standen wie wir undauch den gemeinsamen Abwehrkampf unter-stützten. Genauso spannend wären gegenseitigeBesuche auf solchen Versammlungen sicherlichauch in Bezug auf alle anderen Probleme unse-rer Arbeit und unseres Zusammenlebens...

Wie komplette Produktions- und Verwaltungs-ketten geregelt werden, dass Lieferanten wie-derum Lieferanten haben, dass alle Produkti-onsbereiche, sei es die Kohleförderung oder dieStahlindustrie und der Maschinenbau, die Che-mie- oder Elektroindustrie etc., miteinanderverbunden sind, ebenso mit den Transport- wieVertriebsunternehmen, was dabei für Problemeund Verbesserungsmöglichkeiten entstehen,können wir bei systematischen Besuchspro-grammen alle besser verstehen und praktischmit überlegen lernen.

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2.2.5 Immer wieder wurden Kolleginnenund Kollegen in andere GM-Werke im Inlandwie im Ausland geschickt, waren in Eisenach,Zaragoza oder Ellesmereport/Liverpool odersogar in Sao Paulo/Brasilien usw., um bei be-stimmten Aufgaben dort zu helfen oder ange-lernt zu werden. In Bochum waren viele Kolle-gen aus Thailand zum Anlernen zu Gast, alsGM dort das Zafira-Werk geplant hatte. Oft ka-men Kolleginnen oder Kollegen aus den ande-ren GM-Werken ins Bochumer Werk zwecksUnterstützung oder zum Anlernen. Diese ArtAustauschprogramm ließe sich doch sehr leichtfür alle Interessierten organisieren. Dass GMdie Welt wie ein Dorf behandelt, ihre Managerum den ganzen Erdball geschickt werden, alleBeschäftigten in einen globalen Produktions-prozess eingebunden sind, das erleben sie der-zeit meistens als Basis für das Ausspielen einerBelegschaft gegen die andere und für die Er-pressungsmanöver der Bosse. Wir können dieseEntwicklung aber auch für eine ganz andereForm internationaler Zusammenarbeit bei brei-tester Beteiligung der ProduzentInnen nutzen.

2.2.6 An dieser Stelle lohnt es sich, zur Be-kräftigung und auch zur Erweiterung meiner Er-fahrungen und Überlegungen diejenigen ande-rer Kolleginnen und Kollegen hinzuzuziehen:Seit Oktober 2001 halten die Beschäftigten derKeramikfabrik Zanon in Argentinien »ihren«Betrieb besetzt. Einige von ihnen haben in aus-führlichen Interviews ihren Kampf, ihre neuar-tigen Erfahrungen und ihre Schlussfolgerungenbeschrieben, sehr gut dokumentiert in der Zeit-schrift wildcat.55 Lassen wir hier die Frage nachden speziellen historischen Umständen undinsbesondere die Frage beiseite, was einzelneBetriebsbesetzungen in einem nationalen undglobalen kapitalistischen Umfeld, unter Markt-

bedingungen, an Veränderungen eigentlich er-reichen können. Vor gefährlichen Illusionen,per Besetzung von Einzelbetrieben die gesell-schaftliche Produktionsweise ändern zu können,ist oft und zurecht gewarnt worden. Konzentrie-ren wir uns hier auf die Frage nach den neuen,bewusstseinsverändernden Erfahrungen undden Möglichkeiten, die sich daraus für die ge-meinsame Entwicklung der Vorstellung eineranderen Produktionsweise ergeben, und lassenwir die im Jahr 2003 von der wildcat-AutorinAlix befragten Kolleginnen und Kollegen ein-fach selber zu Wort kommen56:

»›Cepillo‹, der mir die Fabrik zeigt, hat früheran den Mühlen gearbeitet. Damals kannte er nurdie Arbeit in dieser einen Abteilung. Durch sei-ne Tätigkeit im Betriebsrat hat er Überblicküber die Produktion bekommen, und in derbesetzten Fabrik wurde er zum Koordinator ge-wählt. Gemeinsam mit einem anderen com-

pañero koordiniert er heute den gesamten Pro-duktionsprozess »... und dabei habe ich noch

nicht mal Abitur!« Diesen Satz werde ich in denfolgenden Wochen noch häufiger hören. Danielhat 1981 bei Zanon angefangen. Er ist Betriebs-mechaniker und nimmt an den Treffen von Ko-ordinatoren und Gewerkschaftern teil, ohneselbst eine Funktion zu haben:

»Erst heute, mit diesem Konflikt, lerne ich die

Fabrik wirklich kennen. Wenn ich vorher meine

Abteilung verlassen habe, kam ein Ingenieur an

und fragte, was ich da zu suchen hätte. Und

wenn man dann keine gute Erklärung hatte,

konnte das sogar eine Abmahnung zur Folge ha-

ben. Heute laufe ich durch die ganze Fabrik und

lerne alle kennen. In den zwanzig Jahren, die

ich hier gearbeitet habe, hatte ich noch nie ge-

sehen, wie an den Atomisatoren und an den

Mühlen da hinten gearbeitet wird! Heute laufe

55) Wildcat: »Eine Fabrik in Patagonien. Zanon gehört den Arbeitern«, Beilage zur Nr. 68, Winter 2003/2004,s. www.wildcat-www.de/wildcat/68/w68_zanon.pdf; im Folgenden nur in Ausschnitten zitiert – es lohnt sich unbe-dingt das Studium der gesamten Broschüre!

56) Die Angaben zu den einzelnen zitierten Personen sind alle auf S. 2 der o.g. wildcat-Broschüre zu finden.

ich bei den compañeros darum und kann sie fra-

gen, wie das funktioniert. Aber ich frage, als

hätte ich gerade erst hier angefangen. Erst heu-

te begreifst du die Dimension davon, wo du ge-

arbeitet hast.«

Julian ist seit 7 Jahren im Betrieb, war Produk-tionsarbeiter am Glasurband und wurde nachder Besetzung zum Koordinator seiner Abtei-lung gewählt:

»Als wir die Arbeit wieder aufgenommen haben,

wusste jeder, was er zu tun hatte. Aber wir muss-

ten eine Menge Dinge lernen, die wir vorher

nicht gemacht hatten. Da hat man die Kreati-

vität der Keramikarbeiter gesehen. Wir haben

gezeigt, dass wir kreativ genug sind, um ganz

verschiedene Aufgaben zu übernehmen, um

neue Produktionsmodelle und neue Kachel-

modelle zu entwickeln. Das war eine enorme

Veränderung. Wir sind dabei besser geworden.

Nicht in dem Sinn von Konkurrenz, sondern in-

dem wir für alle gearbeitet haben und versucht

haben, das Beste zu geben, für alle. Wir haben

geheime Fähigkeiten entwickelt, die wir vorher

allenfalls zu hause gezeigt haben, in der Fami-

lie. Diese Kreativität wird unterdrückt, wenn dir

ein Chef die Anweisungen gibt, immer nur mehr

von dir verlangt, ohne was dafür zurückzuge-

ben. Dann hältst du dich zurück und sagst dir:

›Mehr gebe ich dem nicht‹. In dieser neuen Pha-

se ist all diese Kreativität aufgeblüht, die Lust,

Sachen zu machen, neue Sachen zu lernen.

Denn wir mussten viel lernen. Wir mussten ler-

nen, uns zu strukturieren. Wir mussten lernen,

dass wir nicht alle als wilde Kugeln durcheinan-

derrollen können. Wir konnten nicht im Betrieb

rumlaufen, ohne zu wissen, was zu tun war. Wir

haben gelernt, alles zu machen. Du hast mit den

alten Sachen angefangen, aber dann wolltest du

mehr lernen, die Verwaltung, den Verkauf. Wenn

die Firma das vorher von dir verlangt hat, hast

du gesagt: ›Nein, ich mache meine Arbeit, und

den Rest könnt ihr regeln. Ich bin schon genug

unterdrückt, ich übernehme nicht noch mehr

Verantwortung, damit ihr mich dann noch mehr

fertig macht.‹ Diese Kreativität ist dann aufge-

blüht. Wir haben eine Menge gelernt.«

Carlos ›Manotas‹ ist ehemaliger Vorarbeiter. Erhat sich in dem Konflikt auf die Seite der Arbei-ter gestellt und ist zum Hauptkoordinator desBetriebes gewählt worden:

»Jeder einzelne kannte seine Arbeit und wusste,

was er zu tun hatte. Aber das war nicht organi-

siert. Wie sollten wir uns in der Fabrik bewe-

gen, wie sollten wir das alles regeln, damit

nicht jeder für sich seine Arbeit so gut wie mög-

lich macht und am Ende kommt doch nichts da-

bei raus? Im Juli letzten Jahres wurde klar, dass

wir uns besser organisieren mussten. In einer

Versammlung haben wir beschlossen, Koordi-

natoren für die verschiedenen Abteilungen zu

wählen. Die Fabrik ist in verschiedene Abtei-

lungen aufgeteilt – Pulverisierung, Pressen,

Öfen, Qualitätskontrolle, Verkauf. Und weil je-

der nur über die Arbeit in seiner Abteilung Be-

scheid wusste, haben wir gesagt: eine Produkti-

onslinie hat z.B. pro Schicht zwölf compañeros,

und die sollen einen Koordinator wählen. Das-

selbe bei der Pulverisierung, bei den Öfen, im

Verkauf usw. Wir Koordinatoren haben ange-

fangen, uns zweimal pro Woche zu treffen, und

die Veränderung war sehr schnell spürbar. Die

Produktion lief viel besser. Wir konnten besser

planen. Ich bin Hauptkoordinator geworden.

Das hat die Versammlung beschlossen. Das ist

eine große Verantwortung, die einige Stunden

mehr an Einsatz bedeutet, aber ich mache das

mit Stolz.«

Julian: »Ich bin Koordinator für den Bereich

Pressen und Glasur. Ich bin von meinen com-

pañeros demokratisch gewählt worden, und ich

bin immer noch einer von ihnen. Das war vor-

her anders. Wenn da einer auf der Leiter aufge-

stiegen ist, dann hat er auf die anderen runter-

geguckt.«

Daniel: »Fast keiner von uns hatte vorher in der

Organisation der Firma gearbeitet. Wir sind al-

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le Produktionsarbeiter. Das ist eine schwierige

Rolle für uns. Aber wir haben Treffen gemacht

und darüber geredet, und wir hatten Unterstüt-

zung von Leuten von außen, die sich mit dem

Thema auskennen. Verschiedene Buchhalter

und Verwaltungsleute sind gekommen, um den

Kampf zu unterstützen. Wir haben daraus unse-

re Schlüsse gezogen, und haben uns organi-

siert.«

Julian: »Du konntest dich noch nicht mal fünfMinuten mit einem compañero unterhalten. Siewollten nicht, dass wir uns kennen lernen. Wenndu deine compañeros nicht kennst, führt das zuIndividualismus. Sie haben nicht zugelassen,dass wir uns näher kommen.«

Daniel: »Früher habe ich meine acht Stunden

abgerissen und bin gegangen. Das war mono-

ton. Das war nur Pflicht, um ein Einkommen

nach Hause zu bringen. Heute ist es schwierig,

wegen der Situation, in der wir uns befinden.

Bei den Treffen reden wir viel darüber, dass

manche compañeros nicht mehr können. Bei mir

ist das umgekehrt. Mich motiviert das. Manch-

mal sagen mir compañeros: ›Guck mal, wie spät

es ist, und du bist immer noch hier‹. Aber mir

gefällt das: Wenn ich ein Problem habe, das ich

heute lösen kann, dann mache ich das heute fer-

tig. Auch wenn ich dafür 15 oder 16 Stunden

hier sein muss. Andere compañeros gehen nach

acht Stunden. Sie sagen, dass sie das nicht län-

ger aushalten. Wir sind eben alle verschieden,

wir denken unterschiedlich und haben unsere

Eigenheiten.«

Der Horizont hat sich erweitert. Auch nachaußen entstehen neue Kontakte. BesucherInnenaus anderen Städten und anderen Ländern kom-men nach Neuquén in die Provinz, und die Ar-beiterInnen von Zanon gehen auf Reisen.

Daniel: »Zum Treffen in Rosario wird eine Dele-

gation von hier fahren. Die Gewerkschafter sa-

gen immer, dass auch andere compañeros fah-

ren sollen, um Erfahrung zu bekommen. Dass

sie nach außen gehen sollen, um zu sehen, wie

der Konflikt wahrgenommen wird. Sonst besteht

die Gefahr, dass wir uns hier einigeln und gar

nicht mitbekommen, wie das von außen gesehen

wird. Viele compañeros, die rumgefahren sind,

in verschiedene Landesteile, haben von ihren

Erfahrungen berichtet: Wir hätten nicht ge-

dacht, dass sich so viele Leute für uns interes-

sieren würden, dass sie uns als Idole sehen, weil

wir hier praktisch eine Revolution machen!«

Natalio ›Chicho‹ war Produktionsarbeiter undarbeitet heute im Labor, wo die Glasuren ge-mischt und neue Kachelmodelle entwickelt wer-den. Er war Ende 2002 zusammen mit Mariano,dem Anwalt von Zanon, in Italien, London undParis: »Die Reise nach Italien war eine große

Sache. Wir waren jeden Tag in einer anderen

Stadt, ohne ein Wort zu verstehen. Es war ziem-

lich schwierig, sich zurechtzufinden. Wir haben

in den Veranstaltungen über die Geschichte un-

seres Konfliktes geredet, über die Übernahme

der Gewerkschaft, über die anderen Fabriken,

über die Regionalkoordination, die wir hier mit

der Coordinadora del Alto Valle haben, über die

Zusammenarbeit mit Brukman, über die Treffen

der besetzten Fabriken. Es ging um die Frage:

warum Arbeiterkontrolle statt Kooperativen?

Wir haben unseren Vortrag gehalten, dann fing

die Diskussion an, sie haben uns nach der Situa-

tion in Argentinien gefragt, wie lange wir so wei-

termachen könnten. Alles mögliche. Wir haben

Leute aus verschiedensten Bereichen kennen ge-

lernt, in Veranstaltungen, die von der FIOM, von

großen Gewerkschaften organisiert waren, bis

hin zu COBAS, zu Centros Sociales, verschie-

densten Gruppen. Ab der Mitte der Reise war

schon bekannt, wer wir waren und was wir zu er-

zählen hatten. Die Debatte wurde dann immer

interessanter, von den Fragen und Beiträgen her.

Es wurden Informationen ausgetauscht. Unsere

Reise wurde in den Medien verbreitet. Es kamen

immer mehr Leute, und die Veranstaltungen ver-

änderten sich. Dann waren wir bei FIAT in Sizi-

lien. Danach bekamen die Veranstaltungen eine

andere Richtung, dann wurde es internationa-

listisch. Ich hätte nicht gedacht, dass es so wer-

den würde, aber das kam so, mit den com-

pañeros von FIAT. Sie standen in einem großen

Streik. Sie hatten die Fabrik nicht besetzt, aber

sie waren im Streik. Das war kein Kampf von

270 Arbeitern, sondern von Tausenden. Das ist

schon ein kleiner Unterschied. Ein kleiner Un-

terschied in der Anzahl der Arbeiter, aber nicht

in dem, was gemacht wurde. Der Streik war we-

gen einer von FIAT behaupteten Krise, und hier

ging es um eine angebliche Krise von Zanon. In

diesem Sinn ging es um das gleiche. Wir haben

an einer Versammlung von ihnen teilgenommen.

Das kam in einigen Zeitungen und Radios. Ab

diesem Zeitpunkt fragten sie uns, ob man FIAT

auch besetzen könnte. Es gab also die Diskus-

sion, ob sie bei FIAT dasselbe machen könnten

wie wir bei Zanon. Und: was wir den FIAT-

Arbeitern raten würden. Wir haben ihnen ge-

sagt: Wir können unsere Erfahrung erzählen,

unsere Botschaft ist die Einheit, wenn sie den

Kampf weiter führen wollten, müssten sie das

gemeinsam tun, dass die Chefs sicher versuchen

würden, sie zu spalten – das ist unsere wichtigs-

te Botschaft. Wir waren 30 Tage in Italien. Jeden

Tag eine Veranstaltung, manchmal sogar zwei,

sogar an Sonntagen haben wir Veranstaltungen

gemacht. Das war Wahnsinn. Wir haben mit vie-

len Gruppen geredet, die gut finden, was wir

hier machen, und die auch Möglichkeiten sehen,

sich zu organisieren und zu koordinieren, ohne

die großen Gewerkschaften und Apparate.«

Rosa und Delia, zwei der wenigen Frauen in derProduktion, arbeiten beide am Ende der Produk-tionslinie, in der Qualitätskontrolle, seit 14 bzw.20 Jahren. Sie haben keine gewerkschaftlichenFunktionen, treten aber als Sprecherinnen beiöffentlichen Veranstaltungen und Pressetermi-nen auf. Delia war Anfang 2003 zusammen mitAlejandro López, einem der Gewerkschaftsvor-sitzenden der SOECN, beim Weltsozialforum inPorto Alegre.

Delia: »Die compañeros haben mich tatsächlich

als ihre Repräsentantin auf dem Weltsozial-

forum gewählt! Das Wichtige für mich war nicht

die Reise, sondern die Tatsache, dass meine

compañeros mich gewählt haben. Die erste

Überraschung war für mich, dass sie mich vor-

geschlagen haben. Und wenn es eine andere

Frau gewesen wäre, irgendeine von den ande-

ren, dann wäre ich genauso froh darüber gewe-

sen, denn wir sind so wenige. Das ist ein großer

Fortschritt. Auf der Versammlung wurde gesagt,

dass eine Reise ansteht, und dass jemand den

compañero Alejandro López begleiten soll.

Dafür wurden sechs Männer und eine Frau vor-

geschlagen. Es sollten nicht zwei aus der Ge-

werkschaftsleitung fahren, sondern einer von

der Gewerkschaft und ein compañero von der

Basis. Dann fragte ein compañero: ›Könnte das

nicht auch eine Frau sein?‹ ›Warum nicht‹, ha-

ben sie gesagt. Dann hat er mich vorgeschlagen.

Für mich hat sich der Horizont enorm erweitert.

Ich komme aus einer Familie, wo nicht über Po-

litik gesprochen wurde. Heute nerven mich die

Ungerechtigkeiten. Vorher habe ich dazu ge-

schwiegen. Heute würde ich gerne noch mehr

dagegen tun.«

Raul hat 1993 bei Zanon angefangen, als Pro-duktionsarbeiter an einer besonders ungünsti-gen Stelle, gleich unter dem Glaskasten der Be-triebsleitung, und neben dem Büro der unter-nehmertreuen Gewerkschaft. Er gehört zu derersten Gruppe von Zanon-Arbeitern, die sichorganisiert und den Betriebsrat übernommenhaben, und ist heute Vorsitzender der SOECN,der Keramikgewerkschaft von Neuquen: »Dass

Arbeiter nichts mit Arbeitslosen zu tun haben

wollen, das kommt von der Regierung und von

der Gewerkschaftsbürokratie. Die meisten Ge-

werkschaften betrachten die arbeitslosen com-

pañeros von oben herab. Sie sehen sie nicht als

Teil unserer Klasse. Es hat uns sehr geholfen,

dass hier in Neuquén eine wirklich unabhängige

Arbeitslosenbewegung entstanden ist, und eine

sehr progressive. Denn es ist auch bei den Ar-

beitslosen nicht einfach, compañeros zu finden,

die den Kampf der Fabrikarbeiter unterstützen

wollen. Da gibt es leider nur wenige. Die meis-

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ten führen eher korporative Kämpfe, jede Grup-

pe mit ihrer Forderung.«

Ricardo Fredy, seit 7 Jahren bei Zanon, warfrüher Produktionsarbeiter und arbeitet jetzt inder Abteilung, in der die Siebe für den Glasur-aufdruck gemacht und spezielle Kacheln vonHand hergestellt werden. Den Computer seinerAbteilung hat er genutzt, um aus Presseartikelneine genaue Chronologie des Kampfes zusam-menzustellen: »Als es hieß, dass wir die Unter-

stützung von mehr Leuten brauchen und Arbeits-

lose mit reinnehmen sollten, haben viele das

nicht so gesehen. Gerade für die Älteren war das

schwierig. Sie hatten sowas noch nie erlebt. Bis

dann auf einer Versammlung gut erklärt wurde,

warum das wichtig ist. So verstanden die Leute,

dass es in erster Linie gut für uns wäre, diese

Unterstützung zu haben, und dass es außerdem

ein politischer Erfolg wäre: dass die Arbeiter

von Zanon unter Eigenregie Arbeitslose einstel-

len, während die Regierung nichts macht.«

Raúl: »Schon als kleine Gruppe haben wir an-

gefangen, an den Demonstrationen der Lehrer,

der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst oder

der Arbeitslosen teilzunehmen. Am Anfang wa-

ren wir dabei nur zu zweit, zu dritt oder zu fünft.

Da kamen zwei mit einem Transparent, jeder auf

einer Seite – und niemand dahinter. Aber wir

haben damit gesagt: Hier sind wir. Und danach

haben wir das hier in der Fabrik erzählt und mit

den compañeros darüber geredet. Wir haben

uns hier drinnen den Freiraum genommen, we-

nigstens Versammlungen abhalten zu können.

Das hat uns einiges gekostet. Die Geschäftslei-

tung hat uns gedroht, es gab Prozesse. Die Ver-

sammlungen in der Fabrik waren verboten, die

durften nur im Gewerkschaftslokal und außer-

halb der Arbeitszeit stattfinden. Rechtlich ist

das umstritten. Alles was wir erreicht haben,

haben wir aber nur erreicht, weil wir die Regeln

gebrochen haben.«

Rolando ist seit 21 Jahren in dem Betrieb; er istProduktionsarbeiter, ohne gewerkschaftliche

oder sonstige Funktionen: »Das, was wir hier

heute erleben, hat es in Argentinien noch nicht

gegeben. Wir sind auf die Straße gegangen, ha-

ben die Straße blockiert und haben mit einer

Dose Münzen gesammelt, um was zu essen zu

haben. Wir sind in die Stadtteile gegangen, da

haben uns die Leute sehr viel geholfen. Wir sind

mit dem Lieferwagen in die Stadtteile gefahren,

von Haus zu Haus, und haben die Leute um Le-

bensmittel gebeten. Danach haben wir die unter

den compañeros aufgeteilt. Wir haben auf der

Straße Flugblätter verteilt und Geld gesammelt.

Ich war nie Gewerkschafter oder irgend sowas.

Ich bin immer nur Arbeiter gewesen, aber diese

Geschichte fand ich richtig, und deswegen habe

ich mitgemacht.«

Mario und Eugenio sind Mechaniker, beide seitelf Jahren im Betrieb. Sie sind Einrichter an denPressen. Mario: »Da fehlt sicher noch einiges,

das kann noch besser werden. Aber so wie wir

es machen, mit den Versammlungen, ist das

schon gut. Es läuft alles über die Versammlung,

das ist die Basis. Alle Entscheidungen werden

dort getroffen. Das ist das beste, dass alles von

allen entschieden wird. Die Mehrheit entschei-

det, und so wird es gemacht.«

›Manotas‹: »Wenn dieser Kampf was vorange-

bracht hat, dann liegt das meiner Meinung

nach an der demokratischen Art, mit der er ge-

führt wurde und wird. Die einzige Autorität ist

die Versammlung, die Gesamtheit der Arbeiter.

Nicht ich als Koordinator entscheide, nicht

Raúl Godoy als Generalsekretär der Gewerk-

schaft, sondern die Versammlung aller Arbeiter

entscheidet, was gemacht wird, und was nicht.

Das hat die heutige Gewerkschaftsleitung hier

eingeführt. Das muss man anerkennen. Glückli-

cherweise waren das keine Bürokraten. Wir

hatten keine Erfahrung damit. Das lief über die

Leute vom Betriebsrat, die nachher die Gewerk-

schaftsleitung übernommen haben. Die haben

die Versammlung als demokratische Entschei-

dungsmethode eingeführt. Das ist bis heute so,

und so ist das viel einfacher. In der Versamm-

lung haben wir alle das Recht, unsere Meinung

zu sagen, abzustimmen – nicht in geheimer

Wahl, wie das die Herrschenden machen, die

sich nachher an nichts mehr erinnern. Hier

wird nichts vergessen. Hier stimmt die Ver-

sammlung ab, und die Mehrheit entscheidet.

Ich habe auch schon Abstimmungen in der Ver-

sammlung verloren. Daran muss man sich dann

halten. Das ist egal, ob jemand eine Abstim-

mung gewinnt oder verliert. Das Wichtige ist,

dass wir es gemeinsam beschlossen haben. Das

ist die Art, wie wir gearbeitet haben und weiter

arbeiten. Und dann die Diskussionstage. Die

Versammlungen sind sehr wichtig, aber manch-

mal kam da keine flüssige Kommunikation zu-

stande. Bei den Diskussionstagen haben wir

270 uns in fünf Gruppen aufgeteilt. Wir haben

über alle Themen gesprochen, wie bei den Tref-

fen der Koordinatoren: über die Politik, über

die Produktion. Das hat uns geholfen, Bewusst-

sein zu bilden. Das ist sehr wichtig. Denn wir

haben hier in Argentinien ein sehr großes kultu-

relles Problem: Sie haben uns unsere Wurzeln

in den 70er Jahren umgebracht, mit der Mi-

litärdiktatur.«

Julian: Ȇberall gilt, dass sich niemand auf ei-

nem Posten festsetzen kann. Und es gibt keine

Geheimgespräche. Wenn es was zu diskutieren

gibt, dann wird das ausdiskutiert. Mir ist das

schon passiert, dass ich in politische Diskussio-

nen reingeraten bin, wo sie mich aufgefordert

haben, mich dazu zu setzen. Und diese Möglich-

keit haben alle. Du kannst dich beteiligen, und

dann fühlst du dich nützlich. Du merkst, dass

deine Meinung gefragt ist. Du kannst sagen, wie

es deiner Meinung nach besser gemacht werden

könnte. Deshalb werden auch die Abteilungs-

versammlungen gemacht. Die Leute in den Ab-

teilungen sollen sich Gedanken machen, wie die

Sache laufen soll. Der Verkauf z.B.: Da gab es

einen Plan, aber die Leute wollten es anders

machen. In den Abteilungen wird darüber gere-

det, die Leute sagen, was ihnen nicht passt, und

dann gibt es eine allgemeine Versammlung, wo

all diese Meinungen zusammengetragen wer-

den, und wo wir gucken, was das beste für uns

alle ist. Es geht nicht darum, was gut für die Ge-

werkschaft ist, oder für bestimmte Leute, son-

dern was gut für alle ist.«

Daniel: »Alle zwei bis drei Monate machen wir

Diskussionstage. Da trauen die compañeros sich

eher, zu sprechen. Es werden kleine Gruppen aus

den Abteilungen gebildet, dahin gehen com-

pañeros aus der Gewerkschaftsleitung, Koordi-

natoren und Delegierte, die diese Gruppen lei-

ten. Sie halten einen Vortrag, die Leute fragen

nach, ziehen ihre Schlüsse, sagen ihre Meinung,

und all das wird aufgeschrieben. Dann gibt es

eine Vollversammlung, wo die Ergebnisse aus

allen Gruppen zusammengetragen werden. (...)

Da sagen Leute: ›So geht das nicht‹. Dann sagen

wir: ›Gut, suchen wir eine andere Lösung, wie

das gehen kann.‹ Und dann läuft das. Man darf

sich nicht auf eine Position versteifen. Viele

compañeros, aus der Gewerkschaftsleitung, De-

legierte oder compañeros von der Basis haben

dasselbe Bedürfnis wie ich, immer nach neuen

Lösungen zu suchen. Wenn was schief geht, set-

zen wir uns hin, reden darüber, und alle sagen

ihre Meinung, wie es besser gehen könnte.«

›Manotas‹: »Jetzt treffen wir uns jeden Montag

um neun Uhr morgens. Der Anfang ist festge-

legt, das Ende nicht, denn manchmal dauern

bestimmte Themen sehr lange. Da wird beides

besprochen, die Produktion und die Politik: die

landesweite Situation, Lokalpolitik, wie wir den

Konflikt angehen, und schließlich, was in der

Produktion los ist. Über die Koordinatoren wer-

den alle diese Themen an die compañeros ver-

mittelt. An den Treffen nimmt auch noch aus

jeder Abteilung ein weiterer compañero teil.

Das hat uns sehr geholfen, viel organisierter zu

arbeiten. Denn wir sind einfache Arbeiter. Wir

müssen diese Fabrik verwalten, und das ist

manchmal nicht so einfach.«

Mario: »... Sie berufen eine Versammlung ein,

weil es eine Reihe von Themen zu besprechen

gibt. Aber es besteht immer die Möglichkeit,

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dass du dich meldest und redest und fragst, was

du willst. Du hast die Freiheit, nicht beim The-

ma zu bleiben, sondern über irgendwas ande-

res zu reden. Das passiert auch. Die Leute ha-

ben sich daran gewöhnt. Da wird über alles ge-

redet. Und die Versammlung dauert so lange,

wie es nötig ist, zwei, drei, vier Stunden, so lan-

ge, bis niemand mehr was zu sagen hat. Da

geht es auch um politische Themen. Manchen

gefällt das mehr, anderen weniger. Ich mag Po-

litik nicht. Aber andere schon. Dann gehen

Diskussionen los. Manche mischen sich da

mehr ein, andere weniger. Manchmal musst du

dich plötzlich einmischen, ohne dass du das

wolltest.«

Julian: »Ich glaube, das wichtigste ist, dass wir

demonstriert haben, dass das hier überhaupt

geht. Sie haben uns immer diskriminiert. Sie

haben uns immer gesagt, dass ein Arbeiter

überhaupt nichts kann außer arbeiten. Wir ha-

ben bewiesen, dass wir alles selbst hinkriegen,

wenn wir zusammenarbeiten. Das hier hat mit

dem Kampf um den Erhalt unserer Arbeitsplät-

ze angefangen, mit dem Kampf für eine würdige

Arbeit statt mieser Unterstützungszahlungen.

Und das soll für die anderen Arbeiter rüber-

kommen: dass der Verlust des Arbeitsplatzes

und der Kampf darum nicht bedeuten muss, ei-

nen sinnlosen Kampf zu führen. Diese Botschaft

ist unabhängig davon, wie die Geschichte bei

Zanon ausgeht. Da können die verschiedensten

Dinge bei rauskommen: vielleicht kommt der

Besitzer wieder, vielleicht verkauft er die Fa-

brik, da kann noch eine Menge passieren. Aber

unser Ziel ist klar: wir wollen die Fabrik in den

Dienst der Allgemeinheit stellen, wir wollen so

produzieren, dass es das Leben von allen ver-

bessert. Manchmal stelle ich mir vor, wie das

wäre, wenn es viele Zanons gäbe, in diesem

Land und anderswo. Das wäre eine völlig ande-

re Realität, denn wir würden alle an alle den-

ken, egal ob wir zehn Straßen voneinander ent-

fernt wohnen, zehn Kilometer oder zehntausend

Kilometer...«

2.2.7 Sinnvoll im Blick auf eine andere Pro-duktionsweise sind die Überlegungen zu organi-siertem Erfahrungsaustausch ja nur, wenn wiruns vorstellen, auch in allen anderen Bereichender Arbeit gäbe es genug Zeit für regelmäßigeTeam-Gespräche, Versammlungen und Besu-che.

Warum sollten Leute aus Auto- oder Keramik-fabriken nicht die Gelegenheit begrüßen, dieArbeit in den Kindergärten und Schulen oderUniversitäten näher kennen zu lernen, wo ihreeigenen Kinder ja genug Probleme haben undmit nach Hause bringen? Auch mit Menschen,die in Warenhäusern oder Krankenhäusern tätigsind, oder auch in den städtischen und überörtli-chen Verwaltungen, in der Landwirtschaft undLebensmittelindustrie oder im Wohnungsbauund der Städteplanung usw. hat man im Leben jaauch immer wieder direkt oder indirekt Kon-takt, ohne ihre Arbeit und Probleme gut zu ver-stehen.

Und die dort überall Beschäftigten fänden esvielleicht auch gut und sinnvoll, genug Zeit zuGruppengesprächen, Versammlungen und Aus-tauschprogrammen zu haben und u.a. in diedann, in der »anderen Welt«, nicht mehr mit Pri-vatzäunen und Werkswachen abgeschottetenStätten der Produktion ihrer nötigen oder ge-wünschten Güter öfter mal genauer hineinsehenund mit den Beschäftigten hier reden zu können.

2.2.8 Selbstverständliche Effekte solcherAusweitung von Gruppengesprächen, Besuchenund Versammlungen wären zum Beispiel:

Erstens: wir würden uns besser kennen lernenals Produzierende und Konsumierende und diegesamte gesellschaftliche Reproduktion besserverstehen.

Zweitens: wir würden über Sinn und Unsinn un-serer Arbeit miteinander reden, über all das, waswir arbeiten, wie wir das tun, wie wir die Arbeit

verteilen und was wir an Nebeneffekten bewir-ken, an Umwelt- und Nachweltbelastung usw.Als Leute aus der Auto-Industrie würden wirzum Beispiel im Austausch mit Leuten aus denBus-, Bahn- und Flugzeugunternehmen not-wendigerweise das gesamte Verkehrssystemdiskutieren und die gesamten Transportbedürf-nisse der Gesellschaft in unsere Überlegungeneinbeziehen...

Drittens: je mehr Bereiche der gesellschaftlichenArbeit wir kennen lernen, desto mehr wird sichdas Bedürfnis entwickeln zu »rotieren«, nichtnur in der Kleingruppe am Fließband oder inner-halb der eigenen Abteilung. Man kann sich dannvorstellen, in seinem Leben zeitweilig in ganzunterschiedlichen Bereichen zu arbeiten. Dieheutzutage als bedrohlich aufgezwungene Flexi-bilität würde für viele Menschen zu einer attrak-tiven Möglichkeit, eigene Fähigkeiten und Inter-essen auszuprobieren und weiter zu entwickeln.

Viertens: »Wer mag, kann bei SAP während sei-ner Arbeitszeit Hanteln stemmen, sich bei TaiChi entspannen oder die Rückenmuskeln trainie-ren. Der Partyraum steht jedem offen, der hierseinen Geburtstag feiern möchte. Wenn Privatesam Arbeitsplatz erledigt werden darf, kann manaber auch erwarten, dass sich einer in seiner Frei-zeit um die Arbeit kümmert. Arbeit und Freizeitverschmelzen miteinander. Und wer Lust hat, mitseinen Kollegen Musik zu machen, kann sichdem SAP-Chor, dem SAP-Orchester ... anschlie-ßen. (...) SAP sieht es gerne, wenn die Leute ihreFreizeit miteinander verbringen.«57

Diese Vorstellung von »Gemeinsam arbeiten –gemeinsam feiern« kommt einem ja eher gruse-lig vor, so eindeutig wird hier die Feierabend-gestaltung den Interessen der SAP-Aktionäreuntergeordnet. Gesunderhaltung nicht zum ei-genen Wohlgefühl, sondern für den Firmenpro-

fit, Hobby und Kulturgenuss zusammen und un-ter Kontrolle der ebenso unter Leistungs- undKarrieredruck leidenden Kolleginnen und Kol-legen. Wer da kritisch über die Arbeit und dieFirma reden würde, müsste sich vorher dreimalvergewissern, wer da alles noch zuhört.

Andererseits kennen wir doch in vielen Arbeits-bereichen selbständig von Kolleginnen und Kol-legen organisierte Freizeitaktivitäten, sei esdurch gemeinsamen Sport, Kegeltreffs oderKulturveranstaltungen, was einem sich aus denArbeitskontakten entwickelnden Bedürfnisnachkommt.

Und schon jetzt erfährt man am Arbeitsplatzoder bei Kollegenbesuchen oft, welche Hob-bies, künstlerischen Fähigkeiten, speziellenKenntnisse einzelne von uns – oft unerwarteterWeise – haben. Bekommt man mehr mit von dergesamten gesellschaftlichen Entwicklung undhat man mehr freie Zeit zur Verfügung, wirdsich ein viel umfassenderer Austausch über alldiese Aktivitäten und ein Interesse am Auspro-bieren entwickeln.

Fünftens: Wenn wir uns eine ganz andere Orga-nisation unserer Arbeit vorstellen, ohne Zwangzum Niederkonkurrieren anderer, bei massivverkürzter und inhaltlich zum großen Teil ganzanders geprägter Arbeitszeit, ergäbe sich not-wendigerweise auch ein ganz anderes Verhältniszur Familie und zur Hausarbeit.

An dieser Stelle sei nur angedeutet, dass dieDiskussion um Art und Aufteilung der Arbeit ingleicher Weise von Frauen und Männern ge-führt werden kann und muss. Und dabei würdenauch alle bisher nicht bezahlten, aber notwendi-gen und/oder gewünschten Arbeiten mitzubere-den sein. Weniger Zeitdruck, weniger Existenz-sorgen würden unser Zusammenleben in Fami-

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57) in: Michael Böhm: »Arbeit ohne Ende. Unternehmen wie SAP setzen auf das autonome Handeln ihrer Beschäftigten«,Frankfurter Rundschau, 27. August 2004, S. 30f.

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lien und Wohnorten verändern wie unsere Be-ziehungen insgesamt.

Sechstens: wir hätten die Chance, in der Politik,in der Organisation unseres Zusammenlebensüberall mitreden zu können. Wir alle sind Mit-glieder der Gesellschaft, leben auf lokaler, regio-naler und globaler Ebene miteinander verbun-den. Wir konsumieren alle, vom ersten Atemzugbis zum letzten. Wir erarbeiten die nötigen undgewünschten Güter und Dienstleistungen ar-beitsteilig gemeinsam. Wir können unsere Er-fahrungen, Interessen und Wünsche miteinanderbesprechen. Warum sollten wir mit Hilfe allervon uns erarbeiteten Techniken nicht in der Lagesein, planmäßig abzusprechen, was jeder und je-de von uns benötigt und gerne bekommen möch-te, und dass dann Geld eigentlich gar nicht nötigwäre? Und was und wie wir das auf lokaler Ebe-ne herstellen und verteilen können und welcheGüter und Dienstleistungen sinnvollerweise Ab-sprachen und Herstellung auf regionaler oder in-ternationaler Ebene erfordern? Im Bewusstsein,gesellschaftlich zusammenzuleben, würden wiralle zu selbstbewussten »Politikerinnen und Po-litikern« werden können.

2.3 GruppensprecherInnen

und Demokratie

Als eine besonders hervorzuhebende Erfahrungkönnen postkapitalistisch orientierte Linke diemit Einführung der Gruppenarbeit neu einge-richtete Wahlmöglichkeit von Gruppenspre-chernInnen für die Diskussion einer anderenProduktionsweise nutzen.

In der Opel-Betriebsvereinbarung 179 heißt es:»Der/die Gruppensprecher/in vertritt die Grup-pe nach innen und außen. Er/sie handelt im Auf-trag der Gruppe und hat keine Weisungs- undDisziplinarbefugnis. Der/die Gruppenspre-cher/in wird in freier geheimer Wahl mit einfa-cher Mehrheit zunächst auf 6 Monate und späterbei Wiederwahl auf ein Jahr aus der Mitte der

Gruppe gewählt. (...) eine Abwahl des Gruppen-sprechers/der Gruppensprecherin durch dieGruppe ist in geheimer Wahl mit einfacherMehrheit jederzeit möglich.«

Das Management sah sich schon nach wenigenJahren unter Druck, diese Einrichtung der »De-mokratie vor Ort« gravierend zu verändern:»Gruppensprecher, die versuchen, die sozialenund (Hervorhebung im Original) betrieblichenInteressen umzusetzen, werden erpresst und z.T.abgewählt.« Als Konsequenz verlangte die Ge-schäftsleitung: »Gruppensprecher werden mit-tels Assessment Center ausgewählt. Gruppen-sprecher werden nach Assessment Center für je-de Gruppe für T 3000 (das damalige neue Astra-Modell, Anm. d. Verf. ) ernannt. (...) Am As-sessment Center teilnehmen können: 1. Allez.Zt. gewählten Gruppensprecher 2. Bewerber,deren Bewerbung von der Fertigungsbereichs-leitung unterstützt wird«, heißt es in der »Dis-kussionsvorlage Steuerkomitee Gruppenarbeit1997, T 3000/1998 und Gruppenarbeit; Anfor-derungen und Anpassung« der Abteilung QNPS(»Quality Network Production System«) in Bo-chum. Opel versuchte also, die Auswahl- unddie Abwahlmöglichkeit der Gruppenspreche-rInnen in den Griff zu bekommen.

Bei den Verhandlungen um »Standortsiche-rungsverträge« und dem Erpressen von Zuge-ständnissen führte dieser Versuch immer wiederzu ärgerlichen Auseinandersetzungen. So wirdim »IGM-Betriebsräte-Info Opel Bochum« (un-terzeichnet: Biagotti, Gabriel u.a.) vom 20. Sep-tember 2000 berichtet: »Ein weiterer Knack-punkt ist die Wahl-/Abwahlmöglichkeit derGruppensprecher/innen. Hier versucht man vonSeiten der Unternehmensleitung massiv Ein-fluss zu nehmen! (...) Niemand anders als dieGruppenmitglieder entscheiden über ›ihre‹Gruppensprecher/innen!«

An dieser Stelle soll es nicht um die Beschrei-bung und Analyse der Entwicklung der Grup-pensprecherrolle bei Opel gehen. Die KollegIn-

nen haben mit der Auswahl- und Abwahlmög-lichkeit von SprecherInnen – anders als bei derWahl ihrer auf ganz andere Aufgaben ausge-richteten gewerkschaftlichen Vertrauensleute –ein Stück Demokratie innerhalb des unmittel-baren Arbeitsprozesses kennen gelernt. Siekonnten bei der Auswahl fachliche Kompetenzberücksichtigen und gleichzeitig ihre Spreche-rInnen wieder »in die Wüste« schicken, wennsie Vorgesetzten-Allüren anzunehmen began-nen, sich zu oft im Meisterpult herumdrücktenoder in den Gruppengesprächen »sozialen undbetrieblichen Interessen« nicht den Stellenwertzukommen ließen, den die Mehrheit der Grup-pe wollte. Dieser Zuwachs an Macht wurde alsein Stück Anerkennung und Würde erfahrbar.Und wieder musste das Kapital diese Erfahrungbeschneiden, bekam selbst die »sozialen undbetrieblichen Interessen« nicht unter einen Hut.

Warum sollten wir – alle Beschäftigten, woauch immer wir arbeiten – nicht in der Lagesein, unsere »Vorgesetzten« – besser: unsereLeute mit Koordinierungs- und Anleitungsauf-gaben – frei zu wählen und auch gegebenenfallswieder abzuwählen? Erfahrungsgemäß achtetman dabei auf beides: auf die fachliche wie die»menschliche«, solidarisches Verhalten betref-fende Fähigkeit. Und bei regelmäßigem Rotie-ren solcher Funktionen bekommen diese einensachlichen, nur auf die gemeinsame Arbeitsauf-gabe bezogenen Charakter. Kontrolle von unten,Macht im und über den Arbeitsprozess ist soebenso vorstellbar wie die Verhinderung neuerelitärer Herrschaftsclicken.

Diese Debatte ist auch im Zusammenhang mitder allgemein spürbaren Wahlmüdigkeit zuführen. Geschwundenes Vertrauen in die politi-sche Interessenvertretung durch Parteien, Parla-ment und Regierung wie auch durch Betriebsrä-te und Gewerkschaftsfunktionäre ist auch einAusdruck von der im heutigen Kapitalismus zu-

nehmenden Schwierigkeit, »soziale und be-triebliche Interessen« zusammen zu regulieren.Geklagt wird darüber selbst in der »Linken« oftgenug. Oskar Negt regte sich kürzlich beispiels-weise auf: »Die Wirtschaftseliten, die den Un-ternehmertypus gerne zum bestimmenden Men-schenbild stilisieren möchten, sind heute dabei,ihr Ansehen in einer Weise zu beschädigen, diein der deutschen Nachkriegsgeschichte beispiel-los ist. Es sind bedrohliche Zerfallserscheinun-gen einer politischen Kultur, wenn Topmanagerund Verbandsfunktionäre Tag für Tag das An-spruchsverhalten von Lohn- und Gehaltsemp-fängern der Kritik unterziehen, längere Arbeits-zeiten ohne Lohnausgleich, mehr Eigenverant-wortung für die Gesundheitsversorgung for-dern, gleichzeitig die Geldgier privilegierterManagereliten mit Schweigen oder verständnis-voller Duldung übergehen.«58 Statt einer »poli-tischen Kultur« der bürgerlichen Eliten nachzu-trauern, können wir unsere Demokratieerfah-rungen für eine viel grundsätzlichere Debattenutzen, die an den Erlebnissen und dem Demo-kratiebedürfnis im Produktionsalltag anknüpfenkann, den alten linksradikalen Spruch nutzend:»Wenn Wahlen was verändern würden, wärensie schon längst verboten!«

2.4 Erfahrungen austauschen heißt

Lehren und Lernen!

Eine mögliche »andere Welt« als Gesellschaftvon Menschen, die sich ständig über ihren Ar-beitsprozess austauschen, die die gesamte ge-sellschaftliche Reproduktion mitreflektieren,die den Zeitaufwand dafür als notwendig verste-hen und Spaß dabei haben? Ist das denn vor-stellbar?

»Einmal Schlosser – immer Schlosser!« Dassdiese Zeiten vorbei sind, haben die meisten Kol-legInnen doch längst begriffen. »Ob Bundesre-

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58) Oskar Negt, in: Frankfurter Rundschau, 7. Mai 2004

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gierung oder EU-Kommission, ob Arbeitgeber-verband oder Gewerkschaften: alle stimmendarin überein, dass es in Hochlohn-Volkswirt-schaften auf lebenslanges Lernen ankommt.«59

Offensichtlich verlangt der moderne Produk-tionsprozess wegen der gewachsenen Bedeu-tung von Wissen und Mitdenken, von systema-tischer Kritik der bisherigen und kollektivemVorantreiben der neuen Erfahrungen die ständi-ge Weiterbildung der Beschäftigten. So habendie Unternehmer auch in allen Gruppenarbeits-programmen die Weiterqualifizierung als we-sentlichen Bestandteil eingebaut.

Bei Opel beinhaltet die Gruppensprecher-Aus-bildung zum Beispiel: »Die Gruppe teilt eineArbeit selbständig ein und erlebt dabei kon-struktive sowie verbesserungsfähige Verhal-tensweisen im gemeinsamen Bewältigen derAufgabe. (...) Lernziel: Die Teilnehmer reflek-tieren die Zusammenarbeit und erkennen dieBedeutung von sozialer Kompetenz im gemein-samen Bewältigen von Aufgaben.«60

Derartige Bildungsinhalte aber kollidieren un-vermeidlich immer wieder mit der Zielrichtungder kapitalistischen Produktion, nämlich be-triebswirtschaftlichen Profiterfolg und das Nie-derkonkurrieren der anderen durch »Steigerungder Wettbewerbsfähigkeit« an die erste Stellesetzen zu müssen:

»Ziele der Gruppenarbeit. Leitmotive: Wettbe-werbsfähigkeit steigern, Kundenzufriedenheiterhöhen, Kosten senken und den Mitarbeiterin-nen und Mitarbeitern verbesserte individuelleEntwicklungsmöglichkeiten anbieten. Mit der

Gruppenarbeit werden wirtschaftliche Ziele(Qualitätsverbesserung, Produktivität, Arbeits-sicherheit, Abbau von Verschwendung, Anwe-senheit, Flexibilität) und soziale Ziele (verbes-serte Kommunikation, Verantwortungsübernah-me, Arbeitszufriedenheit, partnerschaftlicherFührungsstil, Integration und Teamgeist, Quali-fizierungsmöglichkeiten) verfolgt.«61 Die Kol-legInnen sind ja deswegen auch so frustriertüber die Gruppenarbeit, weil die »sozialen Zie-le« nicht zur Geltung kommen. Und das ist ebenauch nicht möglich bei der Beschneidung, diedie Unternehmer zwecks Kontrolle der Men-schen und zeitsparender Ausrichtung auf die be-triebswirtschaftlichen Ziele installieren müssen.

»Eine ggf. durchzuführende Qualifizierungmuss sich darauf beziehen, was für die konkreteTätigkeit im Betrieb notwendig ist. Der gefor-derte allgemeine Qualifizierungsanspruchkonnte abgewehrt werden«, lobt dann auch derArbeitgeberverband den neuen Tarifvertrag mitder IG Metall zur Qualifizierung62 und stelltheraus: »Weiterbildung ist nicht nur eine Aufga-be der Betriebe, sondern ebenso eine Pflicht derMitarbeiter. Deswegen führt es zum Verlust desAbgruppierungsschutzes, wenn der Arbeitneh-mer wegen seiner Nicht-Qualifizierung auf ei-nen geringerwertigen Arbeitsplatz versetzt wer-den muss.«

So wird die ständige Weiterbildung in der kapi-talistischen Gesellschaft als Zwangsveranstal-tung etabliert. Typisch ist die Darstellung vonNorbert Rank, dem Betriebsrats-Vorsitzendenim Audi-Werk Neckarsulm. »›Bei Audi habenin den letzten Jahren alle technologischen Fort-

59) in: Frankfurter Rundschau, 30. März 2002, Artikel zum Metall-Tarifvertrag Qualifizierung für Baden-Württemberg.60) »Gruppensprecher Seminar. Kommunikation und soziale Kompetenz« – Trainerleitfaden, Opel Bochum, September

2001; unterteilt in » Moderation – Kommunikation – Präsentation – Anlernen – Führungsverhalten/Arbeit in der Grup-pe«, S. 5f.

61) a.a.O., S. 1362) s. BDA, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Rundschreiben III/27 vom 20. Juni 2001: »Ver-

handlungsergebnis zum TV ›Qualifizierung‹ in der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württembergs«, im Anhang:Südwestmetall, Verband der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württembergs, Rundschreiben Nr. 81/01, vom 19.Juni 2001

schritt erlebt. (...) Die Leute wissen, wer aufdem Zug nicht mitfährt, macht irgendwann nurnoch die miesesten Jobs.‹ Rank beobachtet,dass in der Belegschaft das Interesse an Qualifi-zierung deutlich gestiegen ist.«63

»Lebenslanges Lernen« wird also derzeit sehrwidersprüchlich erfahren: einerseits als Druck,damit man mit den anderen Kolleginnen undKollegen mithalten kann, andererseits als inter-essante Gelegenheit eigener Weiterentwicklung.Einerseits werden »soziale Kompetenzen« ge-fördert, andererseits alle Lernziele auf unsozia-les Fertigmachen anderer ausgerichtet. Wir kön-nen weit mehr, als man uns lässt! An diesedemütigende, widersprüchliche Erfahrung kanneine postkapitalistisch orientierte Linke gut an-knüpfen.

Wollen wir herrschaftsfrei miteinander leben,müssen wir für die erforderlichen Abspracheneben viel Zeit investieren. Der Entwicklungs-stand der Produktivkräfte erlaubt und verlangtdas ja auch. Lebenslanges Lernen hilft uns, denZeitaufwand für die notwendig zu leistendenArbeiten noch mehr zu reduzieren. Lebenslan-ges Lernen ist auch die Voraussetzung dafür,dass nicht wieder eine kleine Minderheit in dieLage kommt, sich über die Mehrheit zu erhe-ben. Und lebenslanges Lernen aller Mitgliederder Gesellschaft heißt dann auch Teilnahmealler an der gesamten gesellschaftlichen Ent-wicklung und ihren Möglichkeiten eines befrie-digenden Lebens.

Um diesem Ziel ein Stück näher zu kommen,müssen wir unsere Diskussionen innerhalb derLinken, unsere eigene Weiterbildung, unsereAufklärungs- und Schulungsarbeit überdenken.

Ein eindrucksvolles Beispiel anderer Bildungs-arbeit haben Willi Hajek und ich im Oktober2004 während einer Bildungsurlaubswoche in

Berlin mit ca. 25 Kollegen und Kolleginnen,meist aus Auto-Betrieben, erlebt: Wir hatten aufAnregung und Bitte eines eigentlich nicht an derinhaltlichen Gestaltung des Wochenplans Betei-ligten einen von uns nicht vorgesehenen Besuchin einer Schule ins Programm aufgenommen.Beim Abschlussgespräch am Ende der Wochehaben fast alle TeilnehmerInnen diesen Pro-grammteil als das Beste beschrieben, was sie inder Woche erlebt hatten. Uns wurde nämlich ei-ne Schulform vorgeführt, bei der Kinder unter-schiedlicher Jahrgänge in einem Klassenraumzusammen unterrichtet werden, in Gruppen, diesich gegenseitig helfen und fördern. Die Kinderlernen in dieser Schule in regelmäßigen Vollver-sammlungen, sich vor großem Publikum zuäußern und ihre Projekte vorzustellen. Dasselbständige Arbeiten an Projekten, der Mutzum Mitorganisieren und öffentlichen Vermit-teln ihrer Gruppenarbeit in kleinen und großenZuhörer- und Diskussionskreisen, diese Art derbewussten Erziehung zur Eigenständigkeit hatuns alle, die wir auch zumeist als Eltern und Er-zieher aktiv und erfahren sind, total beeindrucktund neidisch gemacht auf die Eltern und Kinderan dieser Schule.

Lehrreich, fast beschämend für uns als Teamerwar die Erfahrung, dass wir bei unserer Bil-dungsplanung viel bewusster die KollegInnenals in vielen gesellschaftlichen Bereichen aktiveund nach Alternativen fragende Menschen an-sprechen können und müssen. Den wachsendenWiderspruch zwischen Arm und Reich habenwir in der Bildungswoche vielfältig besprochenund seine Ursachen herausgearbeitet. Als hoff-nungsträchtig aber in Bezug auf »eine andereWelt« haben die TeilnehmerInnen wohl eher dieErfahrungen bei dem Schulbesuch mit nachHause genommen.

Dass so viele Menschen wegen Arbeitslosig-keit – und trotz des steigenden Drucks auf Ar-

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63) s. »Lebenslang bei Audi lernen«, Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 30. März 2002

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beitslose – viel Zeit zum Lernen einsetzenkönnten und dass sie vielfältige wichtige Ar-beits- und Lebenserfahrungen gemacht haben,können wir bisher nicht für notwendige, mas-senhafte Schulungsarbeit nutzen. Die herr-schenden Eliten wollen die Leute auch mit Ein-Euro-Beschäftigung unter Kontrolle halten.Wir verbreiten tonnenweise Lesestoff mit Auf-klärung darüber, dass das Elend noch vielschlimmer ist, als die Leute glauben und selbsterfahren und dass dieses Elend seine Ursachenim Gesellschaftssystem hat und Widerstandnötig ist.Wie wir anders an die Schulungsarbeit herange-hen können, indem wir die von der Produktiv-kraftentwicklung und vom Kapital selbst be-wirkten neuen Erfahrungen und die durch ihrekapitalistische Verarbeitung bewirkten Wider-sprüche nutzen, habe ich in vielen Aspektenangesprochen.

Noch ein letztes Beispiel: Englisch lernen istangesagt.Das Management hat ohnehin die imperialisti-sche Tradition der Verbreitung des Englischenals Weltsprache für sich ausgenutzt und Eng-lisch als Produktions- und Wirtschaftsspracheglobal etabliert. Die Beschäftigten in den Multishaben unter dem Druck, diese Sprache sprechenzu können, längst massenhaft Fortschritte beimErlernen gemacht. Durch Auslandsurlaube,Nutzung des Internets etc. wird auch das Eng-lischkönnen wiederum als angenehme persönli-che Weiterentwicklung erlebt. Heute lernt inNRW jedes Kind ab dem dritten Schuljahr Eng-lisch. Nutzen wir diese Entwicklung für uns ausund diskutieren das Englischlernen anders: Bei

den zahlreichen Vernetzungsversuchen derGoG mit KollegInnen in anderen GM-Werkenweltweit, bei den dabei stattfindenden gemein-samen Diskussionen wie auch beim Feiern undQuatschen, beim Flugblatt- und Info-Austauschusw. haben wir unter den Sprachproblemen ge-litten und tun es heute noch, allerdings schonweniger als in den 80er Jahren. Die globalenund regionalen Sozialforen bringen uns der »an-deren Welt« auch ein Stück näher. Dass Eng-lischkenntnisse dabei ein noch intensiveres Er-leben ermöglichen, werden alle TeilnehmerIn-nen bestätigen. Englisch ist hilfreich insbeson-dere auch bei der Vernetzung mit fortschrittli-chen Leuten gerade in dem Land, das die globa-le Kapitalmacht auf Grund seiner militärischenund ökonomischen Stärke wesentlich miterhält,den USA. Der Widerstand und der Kampf ge-gen den Kapitalismus dort mag als noch so ent-täuschend schwach angesehen werden: Für dieZukunft ist eine Stärkung auch durch unsere in-tensivere Vernetzung unabdingbar. Für über 1,3Milliarden Menschen in China gewinnt derzeitEnglisch als Erste Fremdsprache eine immergrößere Bedeutung, und für über eine MilliardeMenschen in Indien auch. So können wir, dieErdbevölkerung insgesamt, auch ein Stück zu-sammenrücken.64

Es geht mir hier also nicht darum, Englischkur-se zu fordern. Es geht darum, Lernzwänge undInhalte, die uns aufgedrückt werden, anders zudiskutieren und zu nutzen, Lernen als Waffe zugebrauchen, hilfreich im Kampf gegen den Ka-pitalismus und für die Machbarkeit einer ande-ren Gesellschaft.

64) Klar, dass Sprachen lernen allgemein wichtig ist, besonders wäre Chinesisch hervorzuheben.

3. Schluss: Verteidigung und Attacke

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65) Aus dem an alle MitarbeiterInnen auch bei Opel in Bochum 2003 verteilten Faltblatt »GM-Global ManufacturingSystem, Opel Bochum, GM-GMS, Rev. 2.0«

66) z.B. berichtete ein Opel-BR im Oktober 2003 in der GoG von einem Manager-Appell in der BR-Sitzung mit demZitat: »Wir befinden uns doch im Krieg gegen Ford!«

67) Zitiert bei P. Funke u.a.: »Von Pilotprojekten zu flächendeckender Gruppenarbeit«, in: Bahnmüller, R., Salm, R.(Hg.): »Intelligenter, nicht härter arbeiten?«, Hamburg 1996, S. 84

68) Die Linke hat allerdings nicht an dem Widerspruch anzuknüpfen gewusst, dass genau diese Jugendlichen auf ihremWunschzettel meist »ein Auto« an erster Stelle auflisten und sich billiges Benzin wünschen würden!

»Wir stehen für Aufrichtigkeit und Verlässlich-keit in allem, was wir tun. Wir sagen, was wirmeinen und tun, was wir sagen. Wir leisten unse-ren Beitrag zum wirtschaftlichen, ethischen undumweltbewussten Wohlergehen der Gemeinwe-sen, in denen wir tätig sind«, so formulieren dieManager des größten Autokonzerns der Erde,von General Motors, ihre so genannte »Vision«im neuen »GM-GMS, General Motors – GlobalManufacturing System«, ihrem »weltweit ein-heitlichen Produktionssystem«, das 2003 das alte»QNPS – Quality Network Production System«abgelöst hat.65 Das »Wohlergehen der Gemein-wesen« können diese Leute nicht organisieren.

Organisieren müssen sie den Krieg der Konzer-ne. Von »Konkurrenzkrieg«, »Wirtschafts-schlachten« etc. ist in den Manageretagen undihrer Presse ja immer wieder zu hören.66 »Allesind Mitglieder einer Werks-Gemeinschaft, diesich in den Schützengräben des ›Weltwirt-schaftskrieges‹ zu bewähren haben«, erklärt dieGeschäftsleitung von Mercedes in Gaggenauden lieben Mitarbeitern.67 »Kein Krieg um Öl!«– Diese Parole haben bei den massenhaften De-monstrationen gegen den Irak-Krieg insbeson-dere Kinder und Jugendlichen immer wiedergezeigt.68 Es gibt ein weltweites Friedensbe-dürfnis und gleichzeitig ein weit verbreitetesHinnehmen und Mitmachen des Wirtschafts-krieges, als ob dies eine naturgegebene Bedin-gung unseres Zusammenlebens wäre.

Globaleres Zusammenrücken wird auch in denWeltsozialforen erlebt. Die Internetmöglichkei-

ten werden von immer mehr Menschen genutzt.Die erpresserische Drohung von Unternehmern,in ein anderes Land zu gehen, zwingt uns, dieVerhältnisse dort im eigenen Interesse näher zubetrachten: Wie leben und arbeiten die Leutedort? Gibt es denn dort keinen Widerstand undkeine Debatten über Alternativen? Die Notwen-digkeit, internationale Zusammenhänge zu be-denken und darauf auch zu reagieren, verbreitetsich. Bei der Tsunami-Katastrophe waren vieleerstaunt und mitgerissen von der weltweiten So-lidaritätsbewegung. Den Massentourismus un-serer Zeit müssen wir kritisieren, aber seineMöglichkeiten mitdiskutieren: Mit den »norma-len Leuten« in den bereisten Ländern könnenwir über ihre Lebens- und Arbeitserfahrungenreden, von ihnen lernen und unsere Überlegun-gen für eine andere Welt miteinander austau-schen. Ebenso mit vielen KollegInnen aus ande-ren Ländern in unserem Arbeits- und Lebens-umfeld!

Dass heute eine größere Offenheit für Zu-kunftsdebatten existiert, hat vielfältige Ursa-chen. Nehmen wir nur die häufig beklagteZerschlagung der Großbelegschaften durchArbeitsplatzabbau und Outsourcing. Das be-deutet einerseits Machtverlust für die Lohnab-hängigen, andererseits aber auch: Die materi-elle Basis für die kleinbürgerliche Lohnarbei-terzufriedenheit rutscht weg. Das »Einmal beiOpel, immer bei Opel« gilt nicht mehr, underst recht nicht: »Wenn mein Sohn, meineTochter hier eine Lehrstelle hat, hat der/dieauch ausgesorgt.« So fordert das Kapital die

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69) in: Wildcat, a.a.O., S. 27

Menschen heraus, sich einer Zukunftsdebattezu stellen.

Wie sollten wir diese voranbringen? »DieWirtschaft muss für die Menschen da sein undnicht die Menschen für die Wirtschaft«, heißteine von Linken oft verbreitete verständlicheForderung. Nur unterliegt man hiermit auchder Gefahr, einen Begriff von »Wirtschaft« zutransportieren, der sie außerhalb unseres All-tagsverhaltens verordnet. Wir machen dochselbst durch unsere Arbeit – samt Arbeitssuche– »die Wirtschaft« jeden Tag, derzeit halt nurnicht in unserem Interesse. Wichtig ist doch,dass wir uns gemeinsam den gesamten gesell-schaftlichen Produktionsprozess aneignenmüssen, diesen in eigener Regie für machbarvorstellen müssen. So könnten wir die Herr-schaft der Eliten von innen zersetzen, Wut, In-teresse und Zuversicht schüren: Die Aneig-nung der Produktion in dem beschriebenenumfassenden Sinne und die Enteignung derKapitalisten, die Abschaffung des Privateigen-tums an Produktionsmitteln können uns eine»andere Welt«, das »Her mit dem schönen Le-ben« wirklich näher bringen. So können wirein Stück wegkommen vom bloßen Anklagenund Entlarven der Mächtigen. Vom notwendi-gen Tageskampf für die Verteidigung des bis-her Erreichten zur Attacke. Und wichtig ist,nicht nach Lösungen zu suchen, die die »nor-mal« Arbeitenden und den gesellschaftlichenReproduktionsprozess in der Regie der Kon-zerne und unter den Zwängen der Kapitalver-wertung belassen wollen und für die Kritikerin-nen und Kritiker einen mehr oder weniger be-scheidenen Überlebensbereich daneben zu or-ganisieren versuchen – und somit ungewollteher das Elend zu verlängern.

Sicher bleiben 1000 Fragen offen: »Wer mehrarbeitet, soll aber auch mehr genießen dür-fen!?«, »Eigeninitiative muss sich doch loh-nen!?«, »Wie wird ermöglicht, dass man seinInteresse z.B. an Reiten oder Segeln als Hobbyanmelden und realisieren kann!?«

Mit dem gemeinsamen Absprechen über dasWas und Wie unserer Produkte und Dienstleis-tungen und über ihre Verteilung sind ja nicht al-le Probleme unseres Zusammenlebens zu lösen.Aber schöner wird das, ohne dass wir uns ge-genseitig fertig machen.

Lassen wir zum Schluss ruhig nochmal denKollegen Julian aus der argentinischen Zanon-Fabrik zu Wort kommen69:

»Ich glaube, das wichtigste ist, dass wir de-

monstriert haben, dass das hier überhaupt geht.

Sie haben uns immer diskriminiert. Sie haben

uns immer gesagt, dass ein Arbeiter überhaupt

nichts kann außer arbeiten. Wir haben bewie-

sen, dass wir alles selbst hinkriegen, wenn wir

zusammenarbeiten. Das hier hat mit dem Kampf

um den Erhalt unserer Arbeitsplätze angefan-

gen, mit dem Kampf für eine würdige Arbeit

statt mieser Unterstützungszahlungen. Und das

soll für die anderen rüberkommen: dass der

Verlust des Arbeitsplatzes und der Kampf darum

nicht bedeuten muss, einen sinnlosen Kampf zu

führen. (...) Aber unser Ziel ist klar: wir wollen

die Fabrik in den Dienst der Allgemeinheit stel-

len, wir wollen so produzieren, dass es das Le-

ben von allen verbessert. (...) Das wäre eine völ-

lig andere Realität, denn wir würden alle an

alle denken, egal ob wir zehn Straßen voneinan-

der entfernt wohnen, zehn Kilometer oder zehn-

tausend Kilometer...«

»(8) Fazit: Gewerkschaft als Organisation für unsere gemeinsame Interessenvertretung wird vonoben aufgegeben. Mit der Aufforderung, die kapitalistische Wirtschaftsordnung als alternativloszu bejahen und die einzige Chance darin zu sehen, im Konkurrenzkrieg mitzukämpfen und ande-re Lohnabhängige auf die Verliererseite zu zwingen, wird in die schrumpfende Mitgliedschaft derGewerkschaften Resignation und Mutlosigkeit getragen.(9) Aus dem bisher Gesagten ergeben sich für uns folgende Anforderungen:

1. Die Notwendigkeit von Gewerkschaften ergab sich aus ihrer Funktion, die Konkurrenzder Lohnabhängigen durch ihren organisierten Zusammenschluß ein Stück weit aufzuhe-ben. Solidarität ist für uns nicht nur ein moralisches Prinzip, sondern lebensnotwendig.

Die Orientierung an Wettbewerbsvorteilen »beläßt uns Beschäftigte in einer Tretmühle, in einem

Rennen, das wir nicht gewinnen können..., es bedeutet Konzessionen heute und noch mehr Kon-

zessionen morgen« (CAW, Canad. AutoWorkers). Sie führt uns in eine Abwärtsspirale, in der im-mer mehr Standards, die durch einen gemeinsamen und organisierten Kampf erreicht wurden, ab-gebaut werden.Wir wollen Gewerkschaften, die den Konkurrenzzwang, dem die Kapitaleigner unterliegen, nichtals Leitlinie ihrer eigenen Überlegungen und Aktivitäten akzeptieren.

Praktisch bedeutet das für uns zum Beispiel:� Wir müssen Hintergründe und Ursachen für die Konkurrenzproblematik in den Belegschaf-

ten und Gewerkschaften diskutieren und die sog.«Standortlogik« als gegen uns gerichteteUnternehmerpropaganda sorgfältig und kontinuierlich entlarven.

� Bei den typischen Managementerpressungen von Konzessionen zwecks angeblicher Investi-tionssicherung müssen wir: breitmöglichst darüber informieren, welche Investitionen mitwelchen Auswirkungen vom Management geplant werden und welche Konzessionen an wel-chen Standorten damit erpreßt werden sollen.

� Die Ausspielerei der Belegschaften müssen wir öffentlich anprangern, möglichst in Abspra-che und parallel mit unseren KollegInnen der anderen betroffenen Betriebe und Länder.

� Wir müssen uns auf gemeinsame Ablehnung von Zugeständnissen einigen und dabei dieRückendeckung unserer Gewerkschaften einfordern.

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Anhang

1. Aus dem Positionspapier der Standorte/GoG-Gruppe 1995:»Gegen die Konkurrenz- und Standortlogik und gegen ihre

Akzeptanz durch die Gewerkschaften.«s. www. labournet.de/diskussion/gewerkschaft/stratpap.html

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� Für gemeinsame Widerstandsaktionen gegen die Konzessionserpressungen müssen wir mög-lichst breite öffentliche Unterstützung organisieren, da meist viele Menschen in den Kom-munen und Ländern von den Investitionsentscheidungen mitbetroffen sind.

� In den praktischen Auseinandersetzungen um die Einführung der »Lean Production« müssenwir die Chance nutzen, daß die Unternehmer zur Erreichung ihrer Ziele auf »Mitgestaltung«,Motivation und Engagement der Beschäftigten angewiesen sind. Ständige Arbeitsintensivie-rung sowie Arbeitsplatzabbau auch noch selber »mitzugestalten«, wird umso schneller alsunerträglich und würdelos erkannt, je konsequenter wir diese Erfahrungen mit »lean produc-tion« aufgreifen, verallgemeinern und Widerstand mobilisieren. Dabei müssen wir Mut ma-chen durch Veröffentlichung von positiven Beispielen des Widerstands in aller Welt. DieseHerangehensweise bedeutet das Gegenteil von der überwiegend anzutreffenden Gewerk-schafts-und Betriebsratspraxis, die die Rücksichtnahme auf die »Wettbewerbssicherung« zurLeitlinie macht.

� Für unsere eigene Praxis müssen wir uns neu besinnen auf die Bedeutung von eigenen Ak-tionen der Betroffenen und kritische Korrektur des eigenen »Stellvertreter«-Handelns beson-ders als Betriebsräte und Betriebsrätinnen. Die Konfrontation mit dem Kapital innerhalb derBetriebe müssen wir auch nach außen offensiver bekanntmachen.

� Die Mobilisierung von Kolleginnen und Kollegen für einen derartigen Kampf in den Betrie-ben erfordert wohl auch neue Überlegungen, wie wir insbesondere jüngere KollegInnen ein-beziehen können, erfordert, den Blick nicht nur auf die unmittelbaren Lohninteressen zu rich-ten.

2. Dabei müssen wir Gewerkschaften als Interessenorganisation aller einrichten, die auf denVerkauf ihrer Arbeitskraft zur Sicherung ihres Lebensunterhalts angewiesen sind, beson-ders angesichts der Tatsache, daß immer weniger Menschen einer »normalen« Beschäfti-gung nachgehen.

Praktisch bedeutet das für uns zum Beispiel:� Bei gewerkschaftlichen Forderungen wie Aktionen sind möglichst viele Gruppen von Men-

schen auch außerhalb der Betriebe bewußt einzubeziehen. »Ein Unrecht gegen einen oder ei-

ne von uns ist ein Unrecht gegen alle«. Umgekehrt müssen wir uns bei sozialen Bewegungen,die auf emanzipative Ziele ausgerichtet sind, zum Engagement mitaufgerufen sehen undunsere Erfahrungen dabei in die betriebliche und gewerkschaftliche Diskussion bringen.Außerbetriebliche und außergewerkschaftliche Bewegungen sind auch darum von besonde-rer Bedeutung, weil sie den Gedanken einer neuen Bewertung von Arbeit und Leben in einesolidarische Gesamtbewegung tragen können.

� Die Strategie der Fremdvergabe und Auslagerung sowie die neuen rigiden Formen der An-bindung der Zuliefererbetriebe- und belegschaften an die Herstellerbetriebe macht offenbar,daß das Prinzip der Branchengewerkschaften immer mehr in Frage zu stellen ist. Einheitsge-werkschaft im Sinne politischer und organisatorischer Stärkung des DGB zu fordern, wirdallerdings zu sehr grundsätzlichen und harten Auseinandersetzungen innerhalb der Gewerk-schaften führen.

� Dabei wird eine komplizierte kritische Aufarbeitung der Verbürokratisierung der Gewerk-schaftsarbeit nicht zu umgehen sein.

� Wie schätzen die Gewerkschaftsmitglieder zum Beispiel die tagtägliche Arbeit der Betriebs-räte ein? Werden auch die BR-Mitglieder unter uns nicht meist eher als verlängerter Arm derPersonalabteilung denn als Organisatoren gewerkschaftlichen Widerstands angesehen? Ha-ben sich die Betriebsräte durch langjährige Funktionärstätigkeit, zum Teil finanzielle und ar-beitsmäßige Privilegien (Freistellung, Büro-Jobs, Seminare und Reisen, Stellvertreter- undSpezialistenbewußtsein etc.), durch Distanz zu den Alltagserfahrungen und in Lebensein-stellung wie Lebensstil nicht selber zu weit von der Masse der KollegInnen entfernt, so daßsie die BRe eigentlich nicht mehr zu den ihren rechnen?

b) Das gilt ebenso bei einer kritischen und konsequenten Analyse der Gewerkschaftsbürokratie:Die Gewerkschaftsführungen gaben in den frühen Nachkriegsjahren die politische Debatteüber Alternativen zum Kapitalismus auf und konzentrierten sich auf die Minderung der ne-gativen Auswirkungen der kapitalistischen Marktwirtschaft. Mit dieser Entwicklung ging ei-ne »Entmündigung der einfachen Mitglieder einher« (Oskar Negt). Viele Funktionäre deroberen Ebenen hatten ihre Vertragsmachterfolge; die Mitglieder wurden immer mehr bevor-mundet, hatten auf den Warnstreikpfiff zu reagieren. Wobei es um Kampfziele ging, derenInhalte und Kompromißlinien von vornherein nicht von der Diskussion und Kampfbereit-schaft der Mitgliedermassen ausging, sondern von der »Finanzierbarkeit« seitens der Kapi-talseite. »Wir mobilisieren nicht, um unsere Forderungen durchzusetzen, sondern um einen

Kompromiß möglich zu machen, der erkennbar unter dem liegen wird, was wir für berechtigt

und gerecht halten« (H.J. Arlt, DGB-Bundesvorstand) – »Also ein Demokratiedefizit in der

Mitgliedschaft, mit dem wir es noch heute zu tun haben.« (O. Negt)

»In den offiziellen Gremien ist der Umgang ritualisiert... Als Nachweis erfolgreicher Kommuni-

kationsweise dienen die unterdrückten, nicht die ausgetragenen Konflikte. Wo sie dennoch auftre-

ten, sind Treue und Verrat die entscheidenden Wertmaßstäbe für das Verhalten der Kontrahenten...

Drohung, Moralisierung und Belehrung bestimmen das Klima.« (H.J. Arlt) (Wieweit geht dieseHaltung von Funktionsverlustangst, »Treue«-Zwang schon auf Betriebsebene in BR-Gremien wieVertrauenskörpern?!)

»Bereits in ihren Lebensstilen haben sich mit Sicherheit sehr viele Funktionäre als Teil dieses Sys-

tems betrachtet und nicht als Gegenpart« (O. Negt). Bei diesen Führungsmitgliedern, oft bis aufdie Orts-und Betriebebene, hat sich auf der Grundlage ihres Mitbestimmungsbewußtseins und oftaus Minderwertigkeitsgefühlen heraus eine Imitation von Lebensstilen von Politikern, Bankern,Managern entwickelt, »eine Art Spießertum, das sich auch im gewerkschaftlichen Bereich durch-

setzte.«

... Jetzt mehr Mitsprache der Mitglieder in den Gewerkschaften zu fordern und systematisch zuorganisieren, auch mit der Zielrichtung von mehr Streitkultur und von mehr demokratischer Kon-trolle durch die Basis, wird oft zu einem verbissenen Abwehrkampf der Betroffenen zur Siche-rung ihrer Jobs, ihrer Macht und ihrer Lebensstile führen.

� Soziale, ökologische wie politisch progressive Bewegungen müssen wir als Chance zur Stär-kung auch der Gewerkschaftsbewegung unterstützen.

� Alle Möglichkeiten betrieblicher, branchenbezogener und die Zuliefererbelegschaften ein-beziehender, wie über die Einzelgewerkschaften hinausgreifender, lokaler, regionaler wie in-

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ternationaler Vernetzung müssen wir nutzen zum Erfahrungsaustausch wie zur Organisationgemeinsamer Aktionen.

3. Die Zukunft der Gewerkschaften ist international. Den veränderten ökonomischen Be-dingungen kann nur eine Gewerkschaftsstrategie gerecht werden, die nicht auf nationaleoder regionale – z.B. europazentrierte – Absicherung der Unternehmerwirtschaft setzt.

Praktisch bedeutet das für uns zum Beispiel:� Es müssen systematisch Schritte zu internationalem Zusammenschluß der Gewerkschaften

im Sinne einer Weltgewerkschaftsbewegung in Gang gesetzt werden. Das kann nur als Inter-nationalismus der Basis angestrebt werden. Zum Bsp.:

� durch breite Information über gewerkschaftliche Kämpfe in anderen Ländern und derenpraktische Unterstützung durch Solidaritätsaktionen,

� durch Austausch von Erfahrungen und programmatischen Überlegungen unter Einbeziehungmöglichst vieler Mitglieder, und damit durch den Versuch, sich punktuell auf gemeinsameForderungen und Aktionen zu einigen.

� »Global denken – lokal handeln« muß ebenso zum Prinzip werden wie umgekehrt der Ver-such, global zu handeln, in international abgesprochenen Aktionen für gemeinsame Interes-sen, um lokal Erfolg zu haben.

4. Die global sichtbaren Bedrohungen von Massenarbeitslosigkeit, sozialer Verelendung,Kriegen und ökologischen Katastrophen zwingen uns mehr denn je dazu, in unseren Ge-werkschaften und Belegschaften die breite Debatte um gesellschaftliche Alternativen zurkapitalistischen Privatwirtschaft einzufordern und voranzutreiben. Diese Debatte mußinhaltlicher Bestandteil unseres Ausbaus von Vernetzung sein.

Fragen für die Perspektivendebatte sind zum Beispiel: � Wo zeigen sich die Widersprüche zwischen vergesellschafteter Produktion und privater Aneig-

nung heute am deutlichsten, sozusagen als breit erkennbare und von uns zu nutzende Bruch-punkte der Entwicklung. Ist mit einer neuen Stufe der globalen Vergesellschaftung der Arbeitauch eine neue Chance geplanter Produktion mit dem Ziel der möglichst besten Bedürfnisbe-friedigung aller ermöglicht? Mit einer neudefinierten Vorstellung von »Wachstum«: ökolo-gisch vernünftig, möglichst global zukunftssicher, global emanzipativ, massendienlich...?

� Wie ist solch ein System von Produktion und Verteilung auf der Grundlage heutiger Tech-nologie, Produktion und Verteilung und ihrer globalen Vernetzung vorstellbar? [An dieserStelle möchte ich heute ergänzen: was wäre wie und wo herzustellen: die nötigen Güter,Lebens- wie Produktionsmittel, Energie, gesellschaftliche Organisation von Kindheit, Alter,Gesundheit, Bildung, Kultur insgesamt...]

� Welche Bedeutung käme dabei den Großregionen, Ländern, Kommunen zu? � Wie ist die Enteignung und Entmachtung der Kapitaleigner und ihrer politischen Vertretung

auf globalem Niveau vorstellbar? � Welche Organisationsformen für demokratische Gegenmacht und perspektivischer Organisa-

tion einer von Kapitalzwängen befreiten globalen Gesellschaft sind vorstellbar?

� Wie weit sind globale Reformbewegungen – z.B. für Frieden, ökologische Forderungen,gegen Rassismus und Sexismus, für soziale und politische Forderungen – gerade von uns alsGewerkschafterInnen mit voranzutreiben und mit Hilfe welcher Organisationen (Nicht-Regierungs-Organisationen? ILO? Rolle von UN-Organisationen? etc.), und wo liegen ihreGrenzen?

»Ein globaler (oder auch nur makro-regionaler) Sozialstaat, d.h. aber auch das Projekt eines glo-

balen Reformismus, ist ebenso utopisch wie die Weltrevolution.« (E.Altvater, in »OperationsfeldWeltmarkt oder: Vom souveränen Nationalstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat«, PROKLA 97,Dez.94, S. 525) Andererseits E. Altvater: »In gewissem Sinne gibt es die Institutionalisierung glo-

baler Staatlichkeit tatsächlich: in Gestalt von Weltbank, IWF, GATT/WTO, UNO... Aber ... ohne

die Regelungskompetenzen von Nationalstaaten tatsächlich zu ersetzen.« (a.a.O S. 537f.) Und:»Auch auf dem Detroiter Gipfel der G7 im März 1994 wurde zum erstenmal ... Arbeitslosigkeit

und Beschäftigungspolitik thematisiert, – ein Indiz dafür, daß sich jenseits des Keynesianismus,

aber auch jenseits des neoklassischen Marktliberalismus ein neues politisches Projekt staatlicher

Regulation und Koordinierung von Wettbewerbspolitik herausschält. Dies zielt offensichtlich auf

die Erhaltung eines beschäftigungspolitischen Minimalkonsenses, an dem alle Staaten, gleich-

gültig wie sehr sie gegeneinander konkurrieren, doch interessiert sind.« (in: »Beschäftigungspo-litik jenseits von Nationalstaat und ›Arbeitszentriertheit‹«, WSI-Mitteilungen 6/94, S. 350)

Solch eine widersprüchliche Hoffnung auf ein »neues politisches Projekt« globaler Regulationscheint sich heute zu verbreiten. (vgl auch J.Brecher, T.Costello, »Global Village or global Pilla-ge«, Boston 1994). Hoffnungsträchtiger ist unsere Zukunftsperspektive allerdings, wenn wir unsall den angesprochenen grundsätzlichen Fragen des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems stel-len und darauf setzen, daß wir uns den Lösungen am ehesten nähern, je mehr Menschen sich inder Auseinandersetzung um unsere Alltagskonflikte wie um unsere Zukunft in Bewegung setzen.Und das hängt eben auch von uns ab.«

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2. Stefan Meretz: »Die doppelte algorithmische Revolutiondes Kapitalismus – oder: Von der Anarchie des Marktes zur

selbstgeplanten Wirtschaft«in: http://www.kritische-informatik.de/algorevl.htm, Juni 1999: Version 1.0

»... Beim Herstellen von nützlichen Gebrauchsdingen (allgemein auch für andere) ist es notwen-dig, den späteren Gebrauchszweck ideell vorwegzunehmen und den Herstellungsprozeß dement-sprechend zu organisieren. Zahlreiche Abstraktionen müssen vollzogen werden, um dem her-zustellenden Gegenstand auch die wesentlichen Eigenschaften zu verleihen. Diese gedanklicheAbbildung der sachlich-logischen Produktionserfordernisse entsprechen einem Algorithmus. (...)

Der Taylorismus bearbeitete systematisch die algorithmisch-physikalische Relation zwischenMensch und Maschine. Der Mensch wurde auf eine Ansammlung physischer Teilfunktionen re-duziert, deren jeweils benötigte Einzelfunktion gemäß aktueller wissenschaftlicher Kenntnisse(der Bewegung etc.) optimiert wurde. Dem entsprachen auf der Seite der Administration die Be-triebshierarchien und das Lohnsystem. Maschine und Mensch wurden zu Bestandteilen eines zen-tral geplanten Produktionsapparates. Seinen konsequentesten Ausdruck fand diese Sichtweise inder Fließbandproduktion, paradigmatisch verwirklicht in der Autoproduktion bei Ford (daher:›Fordismus‹). ... Die uniforme Massenproduktion ist nur solange eine angemessene Produktions-weise, wie langfristig der Absatz der Produkte ohne große Produktvariationen gesichert ist (so bisMitte der 70er Jahre). Da gesamtgesellschaftlich ungeplant, zeigt sich im Kapitalismus erst imNachhinein, ob das Produkt abgesetzt (und damit die Halde abgebaut) und der Profit realisiertwerden kann. Unter den Bedingungen eines hohen Sättigungsgrades des Marktes und verschärf-ter globaler Konkurrenz (unterschiedlich etwa ab Ende der 70er Jahre), können nurmehr die Pro-duzenten überleben, die sich rasch an Marktdifferenzierungen anpassen können. Eine Produktionfür die Vorratshalde ist dysfunktional. Idealerweise wird das Produkt erst dann hergestellt, wennder Verkauf bereits erfolgte bzw. der Auftrag vorliegt. Das bedeutet aber, daß nicht nur die Pro-duktvariation einer Modellreihe sehr stark zunimmt, sondern daß innerhalb kürzester Zeit ver-schiedene Modellreihen aufgelegt werden müssen. Tendenziell geht der Weg also wieder zurückzur Unikat-Herstellung. Damit wiederholt sich nicht etwa die Geschichte, sondern die alte uni-forme Massenproduktion wird dialektisch negiert und in der massenhaften Produktion vonUnikaten aufgehoben. Paradigmatisch wurde dieser Weg bei Toyota verfolgt, weshalb die postfor-distischen Produktionsweise auch als ›Toyotismus‹ bezeichnet wird. (...)

Wurde zu Zeiten der fordistischen Automation versucht, möglichst umfassend algorithmischesProduktionswissen in den Maschinen zu vergegenständlichen – was bedeutete, den Produktions-prozeß ›von Anfang bis Ende‹ festzulegen – so besteht in der postfordistischen Ära die Aufgabe,Variabilität und Flexibilität selbst als Bestandteil des Produktionsablaufs zu implementieren.Entsprach der alten Produktionsweise ein zentralistisch-hierarchischer Betriebsaufbau, die Tren-nung von Planungsbüro und Fertigung (»Weißkittel und Blaumänner«) etc., so können die neu-en Anforderungen nur noch von effektiven, autarken Teams (»Produktionsfraktale«), die Pla-nung und Fertigung vereinen, erfüllt werden. Dem entspricht ein »flacher« Betriebsaufbau. Ge-genüber der starr-automatisierten Fabrik des Fordismus, entsteht in der flexibel automatisierten

Fabrik des Toyotismus eine algorithmische Antizipationsanforderung zweiter Ordnung: Nichtmehr nur der Prozeß der Herstellung eines Produktes muß algorithmisch konstruiert werden,sondern auch die Änderung des Herstellungsprozesses selbst, z.B. bei der Variation eines lau-fenden Produkts oder der Umstellung auf eine neue Modellreihe. Im Extremfall löst der Markt-bedarf einer Bestellung direkt die Erstellung der dem Produkt entsprechenden algorithmischenProduktionseinstellungen aus. Im Gegensatz zu den algorithmischen Prozeßanforderungen er-ster Ordnung, bei denen eine Automatisierung für Teilbereiche realisierbar war (jedoch praktischniemals als menschenleere Fabrik), sind die Anforderungen zweiter Ordnung gänzlich nicht au-tomatisierbar. Dies würde ja bedeuten, alle potentiellen Marktanforderungen und zukünftigenModellreihen zu antizipieren und als »algorithmische Module« anzulegen, die dann automatischnur noch kombiniert werden. Noch stärker als bereits bisher, ist die postfordistische Produk-tionsweise auf den qualifizierten, kreativen und motivierten Arbeiter angewiesen. (...) Zugege-ben: Die ... massenhafte Herstellung von Einzelprodukten auf direkte Anforderung durch denBestellenden, gibt es in dieser Weise (noch) nicht. Aber die Entwicklungsrichtung ist vorge-zeichnet. Fraglich ist, ob sie unter kapitalistischen Bedingungen erreichbar ist. Die Wider-sprüche zwischen Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen soll hier jedochnicht ausführlich diskutiert werden. Nur eine Idee in dieser Hinsicht soll hier skizziert werden.

� Internet und KapitalismusIm Kapitalismus wird gesellschaftlich produziert, aber das Produkt privat angeeignet. Ob mit demProdukt auch Profit realisiert werden kann, entscheidet sich erst im Nachhinein auf dem Markt.Da die Einzelkapitale nur für sich planen, eine gesamtgesellschaftliche oder gar globale Planungaber nicht stattfindet (›Organisation der Produktion in der einzelnen Fabrik und ... Anarchie derProduktion in der ganzen Gesellschaft‹ – Engels, Anti-Dühring, MEW 20, 255), kommt es gemäßder Dynamik im Kapitalismus zu zyklischen Überproduktionskrisen, strukturellen Krisen etc.

Angenommen, das Produkt wird nicht erst nach seiner Herstellung, sondern bereits vorher ver-kauft, und angenommen, die Kauforder wird »durchgereicht« vom Hersteller des Endprodukts zuden Zulieferern und Dienstleistern, so könnte sich die Produktion auf allen Ebenen optimal amBedarf ausrichten. Das Internet könnte das vermittelnde Medium darstellen. Ein zentrales Pro-blem der realsozialistischen Länder, nämlich den Bedarf für bestimmte Güter zu ermitteln und da-nach die Produktion, die Materialbedarfe, Energieanforderungen etc. zu planen, würde sich aufdiese Weise sozusagen ‘von selbst’ erledigen – und das im Kapitalismus. Nach wie vor würde esKonkurrenz geben, nach wie vor würde der Kapitalbesitzer über die Produktionsmittel verfügenund sich den Profit aneignen. Damit bestimmen die Kapitalbesitzer weiterhin, wer an dem Prozeßbeteiligt und wer ausgeschlossen wird. Eine Minderheit verfügt mithin über die Lebenschancender Mehrheit.

� EntwicklungswidersprücheToyotismus bedeutet, daß der Marktdruck auf die Fraktale in der Fabrik durchgereicht wird. DieProduktionsfraktale müssen sich marktförmig verhalten. Sie können dies nur tun, wenn sie in ho-hem, letztlich im umfassenden Sinne ihren Produktionsprozeß eigenständig planen können. Dashöchste Maß an Planungseffizienz liegt im Produktionsfraktal selbst, sie liegt bei den tätigenMenschen. Das Fraktal saugt damit, getrieben durch Marktdruck und Konkurrenz, die Planungs-und allgemeine Verfügungskompetenz ins Fraktal. Die Verfügungsgewalt des Kapitals steht dem

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als Widerspruch gegenüber. Es tendiert zur Externalisierung der Planung und Verfügung, zurAußensteuerung der Fraktale. Es versucht durch das Setzen von Rahmenbedingungen, den über-geordneten Gesamtprozeß zu steuern. Ein solcher Versuch der externen Beherrschung und indi-rekten Steuerung des Gesamtprozesses ist jedoch immer weniger effektiv als die autonomeSelbststeuerung und Interaktion der Fraktale. Voraussetzung für eine solche übergreifend Selbst-steuerung ist das transparente Vorliegen aller produktions- und kooperationsrelevanten Informa-tionen. Auch diese können den Fraktalen zum Erhalt der externen Verfügungsgewalt nicht dauer-haft vorenthalten werden.

� Selbstplanung statt ZentralplanungDer Schlüssel zum Erfolg der Produktionsfraktale ist der einzelne Mensch. Seine volle und unbe-schränkte Entfaltung von Kreativität und Fähigkeiten ist die Voraussetzung des Fraktals. Im Frak-tal hat jeder ein unmittelbares Interesse an der Entfaltung des anderen, da nur so der Gesamterfolgerreicht werden kann. Es liegt im Interesse des Fraktals, jede Einschränkung, sei es durch Hin-dernisse im Fraktal, vor allem aber Beschränkungen von außen, zu umgehen, zu bekämpfen, auf-zuheben. Die Kapitalverwertung, die Profitrealisierung durch das Kapital, das nur über externeVerfügungsgewalt über den Gesamtprozeß realisiert werden kann, wird zum Hemmnis der unbe-schränkten Entfaltung des Prozesses selbst (...)

Das Internet als Kern einer umfassenden Kommunikation ist die Voraussetzung für eine derartselbstgeplante Wirtschaft. Daß eine Herstellung von nachhaltig sinnvollen Produkten nicht ausProfitinteresse, sondern aus dem Wunsch der Selbstentfaltung heraus gehen kann, zeigt das glo-bale Linux-Projekt. (...)

Eine selbstgeplante Wirtschaft würde im eigenen Interesse viele Probleme der verwertungsorien-tierten marktvermittelten Wirtschaft aufheben. Da im Kapitalismus der Profit erst im Nachhineinrealisiert wird, kommt es immer wieder zu Überproduktionskrisen und letztlich der Vernichtungvon Gebrauchswerten. Auch eine die Ressourcen schonende Produktionsweise liegt nicht im In-teresse des einzelnen Kapitals. Es orientiert sich kurzfristig am kaufkräftigen Bedarf. Eine selbst-geplante Wirtschaft produziert nur die Dinge, die auch wirklich gebraucht werden. In einem de-mokratischen Prozeß legt die Gesellschaft die Bedingungen für die Selbststeuerung der Fraktalefest. Die Realisierung ökologischer und sozialer Ziele liegt im Interesse der Fraktale, da nur solangfristig die Selbstentfaltung der Menschen gesichert werden kann. Gesamtgesellschaftlich ge-plant werden also nicht die Produkte, sondern die Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich derProzeß selbst organisiert.

� AbschlußbemerkungenEs fällt mir selbst schwer, eine solche Utopie zu denken. Zu verhaftet sind wir alle im Gegenwär-tigen. Viele ›abers‹ fallen mir auch sofort ein. Meine Kernthese, daß der Markt als Ort der Kapi-talverwertung zu seiner Selbstaufhebung drängt, sagt noch nichts darüber aus, wie dieser Prozeßpolitisch widergespiegelt wird oder werden kann. Mit Marx gilt immer noch: Geschichte passiertnicht von selbst, sie muß gemacht werden.«

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»Von uns – W.S. u. M.S. – zusammengestellte Thesen von Wolf Göhring (Mathematiker und Sys-tematiker am GMD-Forschungszentrum Informationstechnik, siehe http://www.ais.fraunhofer.de/~goehring)

� Warenproduktion und Handel (Ein kurzer Rückblick!)Menschen benötigen Nahrung, Bekleidung, Wohnung und Gerätschaften, um sich die ersteren zuverschaffen. Eine mittelalterliche bäuerliche Familie stellte Nahrungsmittel und Bekleidung, diesie benötigte, selbst her. Beim Hausbau, beim Schlachten, beim Pflügen, beim Ernten war auchdie dörfliche Gemeinschaft gefragt. Gerätschaften, Karren, Pflüge, Spaten – wurden von dörfli-chen Handwerkern hergestellt, die selbst auch Bauern, jedoch in dem einen oder andern Hand-werk zusätzlich geschickt waren. Entlohnt wurden sie vorzugsweise mit Naturalien. Wenigesmußte das Dorf ›importieren‹: Roheisen, Kupfer, irdene Töpfe zum Beispiel. Die mittelalterlichedörfliche Lebensweise war weitgehend selbstgenügsam und selbstbezogen. Zwischen Kindern,Alten, Frauen und Männern herrschten persönliche Abhängigkeiten. Es bestand eine grobe Ar-beitsteilung, die auf natürlichen und offensichtlichen Gegebenheiten fußte. Die weitere Arbeits-teilung erfolgte auf Zuruf, oder sie war traditionell bestimmt. Die Arbeit des Einzelnen, seineTätigkeit und sein Produkt waren ein Beitrag zum gemeinsamen, genossenschaftlichen Überlebeneines Dutzend oder einiger Dutzend Menschen.

Hinzu kam die nicht alltägliche Teilung der Arbeit, wenn dörfliche Spezialisten gefragt waren.Hier wurden Produkte getauscht, die die Produzenten nicht für den eigenen, sondern für einenfremden Gebrauch verfertigt hatten. Das Produkt begann, eine Ware zu werden.

Waren sind Produkte voneinander unabhängig betriebener Privatarbeiten. Die zur Produktion derWaren gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit und die Nützlichkeit der Waren spricht sich zwarherum, doch erst im Austausch zeigt sich, ob und wieweit die einzelne Ware einen Nutzen hat, obsie die eingesetzte Arbeitszeit wert ist. ›Nur vermittels der Entwertung oder Überwertung der Pro-dukte werden die Produzenten mit der Nase darauf gestoßen, was und wieviel davon die Gesell-schaft braucht oder nicht braucht.‹ (F. Engels)

Diese Einsicht könnte früher kommen, würde man vorher untereinander klären und verabreden,was wie und wozu zu produzieren sei. Doch dies ist ziemlich zeitaufwendig und wird nur in demMaß geleistet, wie sich ein Nutzen erwarten läßt, wie sich ein Vorteil gegenüber unverbundenerprivater, das heißt nicht abgesprochener Arbeit einstellt.

� Vernetzung pro und contra Tauschwert›Die Organisierung von Konstruktion, Produktion und Handel war lange Zeit nur ein notwendigesZubehör der kapitalistischen Vervollständigung der Welt. Seit 30 Jahren wird die – weit verstan-dene – Organisationstechnik zu einem eigenen, besonderen, enorm wachsenden Element der ka-pitalistischen Warenproduktion entwickelt. Die Möglichkeiten, die drei Zweige Konstruktion,

3. Wolf Göhring, nach: GoG-Info 6, Februar 2001:»Debatte ohne Tabus! Raus aus der Konkurrenzwirtschaft!«

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Kommunikation und Produktion zusammenzuführen und auf eine einheitliche Grundlage zu stel-len, sind erheblich gestiegen – und werden genutzt.

(...) Vernetzung soll Produktion und Absatz von Tauschwerten stützen, Vorteile im Wettbewerbeinbringen, also isoliertes, privates und trotzdem bedarfsgerechtes, auf die Gesellschaft gerichte-tes Produzieren ermöglichen.

Unternehmen verbinden sich elektronisch mit Kunden, Verbrauchern, Konsumenten, und zwargleichgültig, ob es individuelle Endverbraucher oder andere Unternehmen sind. (...)

Wettlauf um Kunden, Customer-relationship-management, Manufacturing-on-demand, Kunden-focus als Wettbewerbsfactor sind einige der Stichworte, unter denen Vernetzung angesagt ist, dieauch Lieferanten einbezieht. (...)

Die Produktion von Tauschwerten ist darin noch nicht aufgehoben. Im Gegenteil, man bemühtsich ›nur‹ um ihre Vervollkommnung. Es fließt also nach wie vor Geld, ›natürlich› elektronischesGeld, leichter herzustellen als Banknoten. (...)

Sicherlich ist diese Vernetzung noch nicht vollständig, aber die Konkurrenz um die Realisierungder Tauschwerte erzwingt es, diese Vernetzung ständig zu erweitern und bis in den Freizeitbereichzu öffnen. Wenn die Individuen als Produzenten die Informatisierung vervollständigen und voll-kommen nutzen sollen, um konkurrenzfähige Tauschwerte zu produzieren, so werden die Indivi-duen als Konsumenten mittels der Vernetzung günstig an günstige Tauschwerte herankommenwollen.

Zusammen mit den Transportmitteln ergeben sich neue Verkehrsverhältnisse, die auf den Punktzuführen könnten, von dem an nicht mehr einsichtig ist, warum isoliert, unabhängig voneinanderund aneinander vorbei produziert werden soll, obwohl die Produktion sichtlich vernetzt ist, ob-wohl die Pflege der ›Customer-relationship‹ auch die Konsumtion mit der Produktion verbindetsowie Konsumenten und Produzenten – diese zwei Seiten der Individuen – miteinander diskutie-ren läßt. Soll man die Produktion weiterhin in Isolation und Unabhängigkeit halten und dadurchzufällige und schwankende Austauschverhältnisse provozieren, wo man andererseits mittels In-formatisierung und Vernetzung der Produktion alles unternimmt, um diese Zufälle und Schwan-kungen auszuschließen?‹«

»Generell lassen sich die Debatten um ›gesellschaftsverändernde‹ Potentiale der neuen IK-Tech-nologien etwas schematisch auf drei Gedankenstränge hin zentrieren, die mit den Schlagworten›Produktivkraftentwicklung‹ – also in erster Linie traditionell-marxistische Ansätze – ›Freie Soft-ware‹ – im wesentlichen der politisch engagierte Teil der Produzentenbewegung – und ›immate-rielle Arbeit‹ – also jene Ansätze, die mehr oder minder in der Tradition des italienischen Ope-raismus stehen – zu skizzieren wären. (...)

Es geht bei unserer Fragestellung darum, Aktive aus bisher sehr entfernten Bereichen zusam-menzubringen – nicht um übereinander (schlecht) zu reden, sondern miteinander – und am bestennicht nur zu reden, sondern zu handeln. Denn die Probleme bestehen auf beiden Seiten – das Po-tential auch.

So wäre eine Kooperation zumindest zwischen jenem Teil der Entwickler, die politische Ziele mitverfolgen und Gewerkschaftern und Gewerkschafterinnen, denen es um die Stärkung emanzipati-ver Möglichkeiten geht, mit Sicherheit ein wesentliches Element der Entwicklung gesellschafts-verändernder Potentiale der IK-Technologien. Und die gemeinsame Frontstellung gegen alle ein-grenzenden Schritte – eben auch solcher wie des Urheberrechts-, wo sich auch gewerkschaftlicheLinke überlegen müssen, ob sie beim Widerspruch zwischen (eventuellen) kurzfristigen und lang-fristigen Interessen unbedingt immer auf die kurze Frist schauen sollten. Und schon gehen dieProduzenten der Infrastruktur (und mit ihnen die meist »zuständigen« – ? – Metallgewerkschaf-ten) auf die Barrikaden. (...) All die Lucent Technologies und Alcatels könnten damit erheblicheProbleme bekommen – und eine Technologie vergeblich bekämpfen, die, kollektiv und demokra-tisch entwickelt, durch ihre Effekte immer deutlicher nach einer anderen Gesellschaftsordnungverlangt. Weil die Produkte dieser Tätigkeiten und ihre Anwendung sich potenziell Verwertungentziehen können, und weil bei ihnen eventuelle hierarchische Strukturen erkannt und verändertwerden können, weil sie gemeinschaftlich entwickelt werden können – müssen – und nicht alsMarktauftrag für Spezialistengruppen in Redmond oder Walldorf, weil sie dadurch schon im Ent-stehungsprozess diskussionsfähig, ja – bedürftig sind (besser: wären), weil damit der Zugang zuanderen Erzeugnissen vereinfacht wird: Aus all diesen Gründen könnte eine solche Kooperationeine bestimmte Sprengkraft für bestehende gesellschaftliche Strukturen entfalten. Könnte, mussnicht, und schon gar nicht automatisch und bestimmt nicht ohne dauernde Versuche sowohl derUnterdrückung, als auch des Aufsaugens.

Wer also macht die Praxisvorgaben, wäre dabei die Frage. Und diese ist selbstverständlichgrundsätzlich zu stellen und nicht ›von Fall zu Fall‹. Mehr denn je trifft auf diese Situation eineAusführung zu, die bereits vor 157 Jahren gemacht wurde:

›Es ist also jetzt so weit gekommen, daß die Individuen sich die vorhandene Totalität von Pro-duktivkräften aneignen müssen, nicht nur, um zu ihrer Selbstbestätigung zu kommen, sondern

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4. Helmut Weiss: »Computer, Gewerkschaften, Zukunft:[email protected]?«, Mai 2003

in: www.labournet.de/diskussion/gewerkschaft/fachtagung.htm

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schon überhaupt, um ihre Existenz sicherzustellen. Diese Aneignung ist zuerst bedingt durch denanzueignenden Gegenstand – die zu einer Totalität entwickelten und nur innerhalb eines univer-sellen Verkehrs existierenden Produktivkräfte. Diese Aneignung muß also schon von dieser Seiteher einen den Produktivkräften und dem Verkehr entsprechenden universellen Charakter haben.Die Aneignung dieser Kräfte ist selbst weiter nichts als die Entwicklung der den materiellen Pro-duktionsinstrumenten entsprechenden individuellen Fähigkeiten. Die Aneignung einer Totalitätvon Produktionsinstrumenten ist schon deshalb die Entwicklung einer Totalität von Fähigkeitenin den Individuen selbst. Diese Aneignung ist ferner bedingt durch die aneignenden Individuen.Nur die von aller Selbstbetätigung vollständig ausgeschlossenen Proletarier der Gegenwart sindimstande, ihre vollständige, nicht mehr bornierte Selbstbetätigung, die in der Aneignung einer To-talität von Produktivkräften und der damit gesetzten Entwicklung einer Totalität von Fähigkeitenbesteht, durchzusetzen. (...) Diese Aneignung ist ferner bedingt durch die Art und Weise, wie sievollzogen werden muß. Sie kann nur vollzogen werden durch eine Vereinigung, die durch denCharakter des Proletariats selbst wieder nur eine universelle sein kann, und durch eine Revolu-tion, in der einerseits die Macht der bisherigen Produktions- und Verkehrsweise und gesellschaft-liche Gliederung gestürzt wird und andrerseits der universelle Charakter und die zur Durch-führung der Aneignung nötige Energie des Proletariats sich entwickelt, ferner das Proletariat al-les abstreift, was ihm noch aus seiner bisherigen Gesellschaftsstellung geblieben ist. Erst auf die-ser Stufe fällt die Selbstbetätigung mit dem materiellen Leben zusammen, was der Entwicklungder Individuen zu totalen Individuen und der Abstreifung aller Naturwüchsigkeit entspricht, unddann entspricht sich die Verwandlung der Arbeit in Selbstbetätigung und die Verwandlung desbisherigen bedingten Verkehrs in den Verkehr der Individuen als solcher‹, so Karl Marx: ›Diedeutsche Ideologie‹, in: ›Die Frühschriften‹ (Kröner Verlag 1964) S. 406f. [vgl. auch: MEW Bd.3, Dietz Verl. Berlin 1969, S.67f.]

Es gibt in diesem Abschnitt aus der ›Deutschen Ideologie‹ verschiedene Passagen, die für die hierzur Diskussion stehenden Fragen von höchster Aktualität sind. Das erste wäre die stetig wieder-holte Charakterisierung ›Totalität‹: in der Tat für die Diskussion um Co-Management ebensowichtig wie für das Bild des selbständiger werkelnden Informationsarbeiters im Zeitalter deskleinteiliger und vernetzter werdenden Kapitalismus.

Das zweite wäre die Frage, was es denn alles ›abzustreifen‹ gälte: Für all die Protagonisten der›Fabrikdisziplin‹, der Arbeiter, die sich gerne in der Linken tummeln, ein schwer zu verstehendesProblem – im traditionellen Verständnis sollte ›die Arbeiterklasse‹ zwar die Macht übernehmen(bzw. ihre Vertretung), aber ansonsten weitgehend bleiben, wie sie ist, z.B. im Chemiekombinatdrei Schichten arbeiten, auch wenn es die Betroffenen nicht wollen.

Aber auch drittens die Frage der Übernahme der Produktionsinstrumente – mit dem ganzen Kom-plex der Arbeitsteilung und ihrer Überwindung dahinter, die bei der Linken reichlich unbeliebt (ge-worden?) ist, ist hier direkt aufgeworfen, und sie ist heute engstens mit ›dem Computer‹ verbunden.

So sehr manche in der traditionellen Linken solche Gedanken für abstrus halten mögen, so wich-tig sind sie für eine Orientierung der für uns aktuell hier stehenden Fragen. Was – keineswegs alsMaschine, aber eben auch als gesellschaftlich geprägte und entwickelte Technologie – übernom-men werden soll, das muß mensch auch kennen, damit umgehen können.

� Was die Gesellschaft nicht qualitativ verändert – aber dazu beitragen muß.(...) Aus der zunehmenden Verwebung der Produktion mit Kommunikation und Wissenschaft, derwachsenden generellen Bedeutung der Digitalisierung in der Gesellschaft ziehen die italienischenOperaisten und die ihnen inzwischen weltweit ›zuzuordnenden‹ Theoretiker unter anderem dieKonsequenz:

›Die digitale technologische Innovation bringt ein Universum hervor, das nicht gemäß dem quan-titativen und auf Warenaustausch basierenden mechanisch-industriellen Paradigma geregelt wer-den kann. Eben dort, wo der Antrieb der Innovation liegt, im Zyklus der kreativen Produktion,verlieren die Gesetze der Ökonomie ihre Bedeutung. Die unbegrenzte Duplizierbarkeit der Pro-dukte der menschlichen Intelligenz macht das Konzept des Eigentums unbrauchbar. Das Immate-rielle läßt sich nicht zum Eigentum machen: wenn ich ein materielles Objekt benutze, kann es nie-mand anderer benutzen; aber wenn ich ein immaterielles Gut gebrauche, das ohne Kosten ver-vielfältigt werden kann, macht es keinerlei Sinn, es als Eigentumsgegenstand zu betrachten. Jegrößer die Produktivkraft der Arbeit ist, desto mehr Arbeitslosigkeit und Elend bringt sie hervor:das ökonomische Gesetz wird widersinnig. Trotzdem setzt die Ökonomie ihr Gesetz immer wie-der von neuem durch. Je unbegründeter ihr Herrschaftsanspruch ist, desto despotischer wird ereingefordert‹, so Franco Berardi: ›Mentale Arbeit in der Globalisierung‹ als Download (ascii) beiwww.textz.com, Seite 1.

(...) Die grundsätzliche Einschätzung der Probleme des ›Eigentums‹ basiert nicht nur auf bestimm-ten – zunehmend relevanten – Sektoren wie etwa audiovisuelle Produktion, Werbeindustrie, Mode-branche, Softwareerzeugung, sondern eben auch darauf, dass auch für jene Bereiche, die wenigerweit weg vom tayloristischen Modell sind, die Orientierung am Kunden, die Flexibilitätsanforde-rung etc. auch dazu führt, dass die Verbindungsarbeiten des Betriebs nach außen jene sind, in die ammeisten investiert wird (werden muß). Längst hat selbst die Autoindustrie die ›Ford-T‹-Praxis auf-geben müssen. (...)

Unser Herangehen ist eines, das sich traditionell dem Vorwurf des ›Eklektizismus‹ aussetzt: Aberangesichts des Scheiterns der traditionellen linken Großansätze und der zunehmenden Uneinheit-lichkeit diverser Lebenswelten – trotz (oder wegen) weltweiter kapitalistischer Gleichmacherei –ist die Suche nach dem Richtigen in den verschiedenen Ansätzen für eine Neukonstitution anti-kapitalistischer Bewegung unseres Erachtens geradezu Grundbedingung.«

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No. 2 Jens Huhn: »Zurück in die Zukunft«

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No. 3 Heiner Köhnen: »Für eine neue Gewerkschaftspolitik«

Strategien der Canadian Auto Workers (CAW) 5 Euro

No. 4 »Erklärung der Canadian Auto Workers (CAW)zur Schlanken Produktion« 2 Euro

No. 5 Heiner Köhnen: »Neue UnternehmensUN kultur«

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No. 6 Heiner Köhnen: »Gewerkschaftliche Reform-

bewegungen in den USA« New Directionsinnerhalb der United Auto Workers (UAW) 5 Euro

No. 7 »Krise des Kapitals – Krise der Gewerkschaft?«

Elemente, Ansatzpunkte und Strategien für eineAnti-Konzessionspolitik auf betrieblicher, tariflicher und gesetzlicher Ebene – Vorschläge aus der HBV 5 Euro

No. 8 Sam Gindin: »Ein neuer Beginn? Bemerkungen zur

ArbeiterInnenbewegung am Ende des Jahrhunderts« 5 Euro

No. 9 »Grenzüberschreitungen«. Das Ende der Normalarbeit, prekäre Beschäftigung und Perspektiven gewerkschaftlicher Politik 5 Euro

No. 10 AFP e.V. / Tie e.V. / express-Redaktion: »Last Exit ver.di?«

Sonderband 5 Euro

No. 11 Marsha Niemeijer: »Die Ontario Days of Action«.Mythos oder Grundstein einer neuen politischen Strategie für die ArbeiterInnenbewegung? 2 Euro

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No. 13 Sam Gindin & Leo Panitch: »Schätze und Schund«. Eine Rezension zu Empire von Michael Hardt und Antonio Negri 5 Euro

No. 14 McDonalds, Fnac, Virgin, EuroDisney, Arcade: »Das Solidaritätskollektiv: eine Erfahrung der etwas anderen Art«. Arbeitskämpfe und Organisationsversuche in gewerkschaftlich nicht organisierten Betrieben und Sektoren 5 Euro

No. 15 Willi Hajek: »Eisenbahnen in Europa: Wohin rollt der Zug ?«

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No. 16 Wolfgang Schaumberg: »Eine andere Welt ist vorstellbar?

Schritte zur konkreten Vision...« Oder: Zur Aufgabe von postkapitalistisch orientierten Linken am Beispiel des Kampfes in Auto-Multis 5 Euro