ein semiotischer blick auf die psychologie des mathematiklernens

20
265 Falk Seeger Ein semiotischer Blick auf die Psychologie des Mathematiklernens Kurzfassung Der vorliegende Beitrag steHt einige Uberlegungen vor, wie die Perspeictive der kulturhistorischen Psychologie die semiotische Analyse des Mathematiklernens erganzen und befruchten kann. Diese "Erganzung" betrifft die notwendige Einheit von semiotischen Prozessen, die sich auf Gegenstan- de beziehen, und solchen, die sich auf eine soziale Ebene zwischen Menschen beziehen. Am Bei- spiel von Ergebnissen aus der kulturhistorischen Psychologie werden exemplarisch die Umrisse der soziale Fassung einer semiotischen Perspektive insbesondere in Hinblick auf die Fragen von "Kontext und Lemen" und "Denken - intern und extern" erlautert. Konsequenzen fiir die Mathe- matikdidaktik werden diskutiert. Summary This paper presents some thoughts on how semiotics in mathematics education might benefit from a perspective of cultural-historical psychology. These thoughts address the question of the neces- sary unity of semiotic processes relating to objects and semiotic processes relating to persons on a social plane. Using examples from cultural-historical psychology two issues are discussed: "con- text and learning" and "internal and external." Consequences for mathematics education are pre- sented in the closing section. 1 Theoretischer Teil Musset im Naturbetrachten Immer eins wie aHes achten; Nichts ist drinnen, nichts ist drauf3en: Denn was innen, das ist auf3en. (Goethe, Epirrhema) Wir sind es, die in ihm (dem Denken, F.S.) sind, anstatt daf3 es in irgendeinem von uns ware (Peirce, An William James, Collected Papers 8.256) In der Psychologie des Lemens erscheint es schon immer entscheidend fUr ihre ange- nommene praktische und theoretische Relevanz und Bedeutsamkeit, ob es gelingt, eine Konzeption auf ein Verstandnis von Kognition und Lemen zu grunden, das genetisch, entwicklungsbezogen interpretiert werden kann. Diese Notwendigkeit ergibt sich zum (JMD 27 (2006) H. 3/4, S. 265-284)

Upload: falk

Post on 23-Dec-2016

216 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Ein semiotischer Blick auf die Psychologie des Mathematiklernens

265

Falk Seeger

Ein semiotischer Blick auf die Psychologie des Mathematiklernens

Kurzfassung

Der vorliegende Beitrag steHt einige Uberlegungen vor, wie die Perspeictive der kulturhistorischen Psychologie die semiotische Analyse des Mathematiklernens erganzen und befruchten kann. Diese "Erganzung" betrifft die notwendige Einheit von semiotischen Prozessen, die sich auf Gegenstan­de beziehen, und solchen, die sich auf eine soziale Ebene zwischen Menschen beziehen. Am Bei­spiel von Ergebnissen aus der kulturhistorischen Psychologie werden exemplarisch die Umrisse der soziale Fassung einer semiotischen Perspektive insbesondere in Hinblick auf die Fragen von "Kontext und Lemen" und "Denken - intern und extern" erlautert. Konsequenzen fiir die Mathe­matikdidaktik werden diskutiert.

Summary

This paper presents some thoughts on how semiotics in mathematics education might benefit from a perspective of cultural-historical psychology. These thoughts address the question of the neces­sary unity of semiotic processes relating to objects and semiotic processes relating to persons on a social plane. Using examples from cultural-historical psychology two issues are discussed: "con­text and learning" and "internal and external." Consequences for mathematics education are pre­sented in the closing section.

1 Theoretischer Teil

Musset im Naturbetrachten Immer eins wie aHes achten;

Nichts ist drinnen, nichts ist drauf3en: Denn was innen, das ist auf3en.

(Goethe, Epirrhema)

Wir sind es, die in ihm (dem Denken, F.S.) sind,

anstatt daf3 es in irgendeinem von uns ware

(Peirce, An William James,

Collected Papers 8.256)

In der Psychologie des Lemens erscheint es schon immer entscheidend fUr ihre ange­nommene praktische und theoretische Relevanz und Bedeutsamkeit, ob es gelingt, eine Konzeption auf ein Verstandnis von Kognition und Lemen zu grunden, das genetisch, entwicklungsbezogen interpretiert werden kann. Diese Notwendigkeit ergibt sich zum

(JMD 27 (2006) H. 3/4, S. 265-284)

Page 2: Ein semiotischer Blick auf die Psychologie des Mathematiklernens

266 Falk Seeger

einen aus der Tatsache, dass Unterricht immer auch als Prozess, als Entwicklung, als fortschreitende Strukturierung oder Schematisierung gesehen wird, wobei die Entwick­lung des Kindes mehr oder weniger die Voraussetzungen fUr seine Erziehbarkeit und Er­ziehung schafft - so wie andererseits die Erziehung Schrittmacher der Entwicklung sein kann. Mit seiner These von der Bedeutung der 'Zone der niichsten Entwicklung, die lau­tet: "Der Unterricht ist nur dann gut, wenn er Schrittmacher der Entwicklung ist" (2002, S. 333) hat Lev S. Vygotskij die wichtige Einsicht formuliert, dass Unterricht, Lemen und Entwicklung zusammen gehOren.

Ich mochte in dem hier vorliegenden Beitrag eine Reihe von theoretischen Argumen­ten und Darstellungen von Fqrschungsergebnissen unterbreiten, die es plausibel erschei­nen lassen, gerade von einer kulturhistorischen Psychologie in der Folge von Vygotskij einen wichtigen Beitrag zu erwarten, wenn es urn die Frage geht, ob und wie die Semio­tik in der Mathematik-Didaktik eine groBere Rolle spielen kann.

Die Psychologie hat sich praktisch im Moment ihrer institutionellen Geburt als Dis­ziplin in eine "kognitivistisch-experimentelle" und eine "Kultur"-Psychologie aufgespal­ten. Diese beiden Zweige der Psychologie wurden vom Grundungsvater der wissen­schaftlichen Psychologie Wilhelm Wundt noch als experimentelle Psychologie und Vol­kerpsychologie zusammen gesehen (vgl. Cole 1996). Es scheint, a1s wiirde es ganz ent­sprechend dieser Aufspaltung auch zwei analoge Moglichkeiten geben, an die Semiotik von C.S. Peirce anzukniipfen. 1 Zum einen besteht die Moglichkeit, an die Thematik des "Rationalismus" anzukniipfen - wie sie etwa in Form der AusfUhrungen zum diagram­matischen Denken oder zum abduktiven Schlussfolgern vorliegen. Zum anderen kann an das Peircesche Thema des "Sozialen", der Kommunitat, angekniipft werden - die etwa in Form der Begriindung des Pragmatismus und der Theorie des Selbst eine Rolle spielen. Es ist nun auffallend zu sehen, dass von bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen2 fUr die Konzeptualisierung des Lehrens und Lernens von Mathematik in erster Linie die ers­te Bedeutung von Psychologie als kognitivistische, experimentelle Psychologie herange­zogen wird. Alternative Deutungsversuche soziologischer Herkunft schlieBen oft an die Praxis des Psychologie-Verstandnisses der interpretativen Unterrichtsforschung an und kritisieren die Abwesenheit des Sozialen in diesem psychologischen Verstandnis an­scheinend ohne die kultur-historische Psychologieals Alternative zu kennen.

Die soziale Seite, die "Kommunitat" des Zeichenbegriffs gerat bei der konzep­tionellen Arbeit haufig in den Hintergrund. Otte et al. (1997) haben aber zu Recht betont, dass es gerade auf die Dualitat von Subjektbezug und Objektivitat ankommt.

Die soziale StoBrichtung der Peirceschen Semiotik findet in der Mathematikdidaktik ahnlich selten Anwendung wie die kulturhistorische Psychologie. Eine Annaherung die­ser beiden Ideen, eine Annaherung von Peirce und Vygotskij mit anderen Worten, wiirde semiotische Ansatze fUr das Lehren und Lemen von Mathematik fcirdem. Gegeniiber den iiblichen Anwendungen der Rolle der Abduktion beim schOpferischen Denken oder des vermittelten Charakters des Diagramtnatischen konnte es dann zu Einschatzungen von

1 C.S. Peirce ist der "grofie Abwesende" in meiner Darstellung - dabei ist sein Einfluss auf das hier Vorgestellte ist jedoch keinesfalls als gering anzusehen. lch wollte vielmehr unnotige Wiederholungen der Darstellung seiner Positionen vermeiden (vgl. auch Seeger 2003,2005)

2 Eine solche Ausnahme stellen unter anderem die Arbeiten von Luis Radford dar (siehe z.B. Radford 2003, 2006), die eine kulturhistorische Deutung der Semiosen versuchen.

Page 3: Ein semiotischer Blick auf die Psychologie des Mathematiklernens

Semiotik und Psychologie des Mathematiklernens 267

der grundlegenden Bedeutung gestischer Kommunikation im Vergleich und Unterschied etwa zu phonetischer Kommunikation kommen, aber auch beispielsweise zu einer Neu­fassung des "contrat didactique" (Brousseau 1980; Chevallard 1985; zusammenfassend Sarrazy 1995) im Sinne der wechselseitigen Intentionalitat beim Lehren und Lemen, das, was in der Entwicklungspsychologie als "geteilte Intentionalitat" (Tomasello et al. 2005) uber den Begriff des "common ground" oder des ,joint attentional frame" hinausgeht.

In einem Kommentar in einem vor kurzen t::rschienenen Heft der Educational Studies in Mathematics zum Thema "Semiotic Perspectives in Mathematics Education" hat Mi­chael Hoffmann (2006) vier groBe Problembereiche mathematikdidaktischer Forschung unterschieden, in denen die semiotische Perspektive heute Anwendung findet: (1) in Be­zug auf das Problem der Reprasentation mathematischen Wissens - wie in Bezug auf das mathematische Wissen als Reprasentation, (2) in Bezug auf das Problem der "Bedeu­tung" der Mathematik, (3) die epistemologischen Aspekte der Semiotik stellen einen weiteren wichtigen Bezugspunkt dar - hier vor allem die Bedeutung der Zeichen als "Mittel," sich den mathematischen Gegenstand anzueignen, und schlieBlich (4) die "so­ziale Dimension" von Zeichenprozessen und ihre Bedeutung, die Rolle von Zeichen in Kommunikations- und Interaktionsprozessen.

Ich mochte in diesem Beitrag versuchen, die grundlegende Bedeutung der "sozialen Dimension" (4) dadurch zu illustrieren, dass ich ihre Relevanz fur die Bereiche Repra­sentation (1) und Bedeutung (2) des Wissens aufzeige. Ich gehe davon aus, dass die Probleme der Reprasentation und der Bedeutung auf der "sozialen Dimension" darge­stellt werden mussen, urn als Entwicklungsprozesse verstanden werden zu konnen. Die psychologische Analyse der Bedeutung der Zeichenprozesse fur das Lehren und Lemen richtet sich dabei nicht so sehr auf die intemen kognitiven Prozesse in den Kopfen der Menschen. Sie orientiert sich vielmehr an der Peirceschen Idee, dass eher die Menschen in den Zeichenprozessen zu finden sind, als dass die Zeichenprozesse in den Kopfen der Menschen beheimatet sind. Anknfrpfungspunkte an diese Sichtweise finden sich in der kulturhistorischen Psychologie Vygotskijs, in der die Soziogenese des Denkens und Ler­nens einen grundlegenden Stellenwert besitzt. In gewisser Weise schlieBt also dieser Versuch auch eine Verschiebung der Akzente fur die Psychologie mit ein: es stehen we­niger die "intemalistischen" Sichtweisen des Psychischen im Vordergrund als vielmehr "extemalistische" Sichtweisen, die Psychisches nicht auf das beschrankt sehen, was sich im Inneren des Kopfes abspielt.3 Es geht also weniger urn Kompetenzen, Fahigkeiten, begriffliches Wissen usw. als Eigenschaften des kognitiven Apparates, sondem vielmehr urn Kompetenzen, Fahigkeiten, begriffliches Wissen, usw. als Eigenschaften einer sozia­len Situation, als Eigenschaft der kulturellen Matrix, als Ergebnis und Voraussetzung der Interaktion zwischen Lemenden und Lehrenden. Diese Akzentverschiebung auf die "Ex­terioritat des Geistes,,4 hat nebenbei bemerkt nicht allein programmatische, sondem auch pragmatische Griinde. Letzen Endes lasst sich Lemen doch immer vor aHem in der je­weiligen Situation, in der kulturellen Teilhabe viel nachhaltiger und nachvollziehbarer

3 Vgl. flir solche "extemalistischen" psychologischen Konzeptionen zum Beispiel Cole 1996; Clark and Chalmers I998

4 Vgl. hierzu etwa Kramer und Koch (1997), Fehrmann et. al (2005)

Page 4: Ein semiotischer Blick auf die Psychologie des Mathematiklernens

268 Falk Seeger

beeinflussen als in der Fqrmierung mentaler Kompetenzen, die ja oft mehr der Verwal­tung des Lemens dienen als seiner moglichst umfassenden und gleichen Forderung.5

1.1 Lernen und Kontext

In diesem Abschnitt machte ich kurz erlautem, worin ich den besonderen grundsatzli­chen Beitrag einer semiotischen und kulturhistorischen Perspektive flir das Problem des Lemens sehe. Zentrales Problem jeder Psychologie des Lemens, die den Anspruch der Anwendbarkeit und Relevanz flir das Lemen im Unterricht hat, ist die Frage, wie Lemen auf den Kontext bezogen ist. Dies ist nicht' nur eine Frage, die sich unmittelbar aus der Anwendbarkeit ergibt, sondem auch eine, die auf die Natur des Denkens selbst abzielt. In seiner grundlegenden Arbeit tiber die "Logischen Kategorien von Lemen und Kom­munikation" von 1964 und anderen Arbeiten zu Lemen, Kommunikation und Kommu­nikationsstOrungen hat Bateson dies en Zusammenhang als "Okologie des Geistes" (Ba­teson 1972) thematisiert. Wahrend der Behaviorismus in voller Bitite stand, pladierte Ba­teson dafiir, das "Geistige" und Kognitive als Muster zu verstehen, das Lebewesen mit ihrer Umwelt verbindet. Lange bevor die Begriffe Umwelt und Okologie in jedermanns Munde waren, versuchte Bateson sie - in ziemlicher Analogie zu den Gedanken von Uexktills (vgl. Bauersfeld und Seeger 2003) - in den theoretischen Diskurs von Lemen und Kognition einzuflihren.

Nach unterschiedlichen Versuchen, das Problem der Paradoxie des Lemens und der Kommunikation zu lasen, besteht das Problem nach wie vor, eine andere, bessere La­sung der Gleichzeitigkeit von gegenstandlichen, objektbezogenen und sozialen, interak­tiven, subjektbezogenen Bedingungen des Lemens auszuarbeiten. Der Zeichenbegriff, das ist verschiedentlich hervorgehoben worden, scheint in besonderer Art und Weise da­zu geeignet, diese paradoxe dyadische Beziehung zu thematisieren, indem der Zeichen­begriff immer auch ein "Drittes" beinhaltet - neben dem Objekt und dem Zeichen selbst eben den bekannten Interpretanten. In bemerkenswerter Parallelitat ist der Gedanke des Triadischen auch von der Entwicklungspsychologie aufgegriffen worden - dies soIl wei­ter unten noch ausflihrlicher dargestellt werden.

Wir treffen hier auf einen Aspekt, eine Perspektive, die sich aus dem Peirceschen Ansatz ergibt, die moglicherweise tiefere Gemeinsarnkeiten zwischen Vygotskij und Peirce ausdrtickt, tiefere als die vielen anderen Gemeinsarnkeiten, die sich zwanglos auf­zahlen lassen: Zeichenbegriff; zentrale Rolle des Begriffs der Selbstkontrolle; Bedeutung des Praxisbegriffs; Bezug auf die Evolutionstheorie Darwins, usw.

5 Urn das Bild zu vervollstandigen, mlisste sich hier eine Darstellung anschlieBen, die sich der Bedeutung der Paradoxie des Lemens (vgl. Bateson 1972; Fodor 1980) und der "Zone der nachsten Entwicklung" als Auflosung bzw. der Entwicklung und der Moglichkeit seiner Auflosungen widmet. Flir die entwicklungspsychologische Perspektive auf die Fragen der Entwicklung von Verstehen, Intentionalitat und gemeinsamer Aufmerksamkeit hat Newson (1979, p. 208) treffend beschrieben, wie das Neue in der Entwicklung zu Wege gebracht werden kann: "Human babies become human beings because they are treated as if they already were human beings" - was sich in der schulischen Version "performance before competence" (Cazden 1981) liest, darauf werde ich weiter unten ausfiihrlicher eingehen.

Page 5: Ein semiotischer Blick auf die Psychologie des Mathematiklernens

Semiotik und Psychologie des Mathematiklernens 269

Diese tiefere Gemeinsamkeit ist nicht nur prinzipieller und konzeptioneller Natur. Diese Gemeinsamkeit lasst sich gerade durch die Ergebnisse einer Vorgehensweise erlautem, die die epistemologischen Grundfragen als Fragen fur die empirische Forschung betrach­ten kann - ganz im Sinne wie Piaget seine Fragen nach dem Grund des menschlichen Erkennens als Frage an die Untersuchung der empirischen ontogenetischen Entwicklung menschlicher Erkenntnis umformulierte. In den letzten Jahren gibt es zunehmende Ver­suche, die im weitesten Sinne semiotischen Wurzeln menschlichen Denkens als Ergeb­nisse der Evolution, der Geschichte und der Kultur zu verstehen. Diese Versuche bezie­hen sich mehr oder weniger explizit auf die Skizzen und Untersuchungen, die Vygotskij und seine Mitarbeiter als Programm einer kulturhistorischen "Schule" der Psychologie oder als Tatigkeitstheorie vorgelegt haben.

In den hier vorgetragenen Uberlegungen geht es mir also urn zweierlei: einmal dar­urn, eine "intemalistisch" verktirzte Sichtweise des Zeichens zu vermeiden, und zum an­deren, ein Verstandnis von "psychologisch" als nur individuell und auf das individuelle Subjekt bezogen zu kritisieren. Das hat sehr vie I mit einer bestimmten Auffassung von Entwicklung zu tun, die vom Sozialen zum Individuellen verlauft - also mit dem, was man gemeinhin die Entwicklung der Kultur oder die Entwicklung innerhalb einer Kultur nennt.

Wenn man so will, geht es darum, von einer bloBen sozialen Bestimmtheit des Ler­nens zu einer Konzeption kulturellen Lemens tiberzugehen. Entscheidendes Kriterium fur die Entwicklung des spezifisch menschlichen Denk'ens ist nicht das Verstandnis der Gegenstande - hierin unterscheiden sich die kognitiven Fahigkeiten von menschlichen und nicht-menschlichen Primaten nur graduell. Der wesentliche Unterschied besteht dar­in, Artgenossen als intentionale Wesen zu verstehen, die dem Selbst ahnlich sind (vgl. Tomasello 2002).

Welche wesentlichen Fortschritte konnte es denn bringen, intentionale semiotische Prozesse starker im Mittelpunkt der Analyse und Gestaltung mathematischen Lemens zu sehen? Bei der Beantwortung dieser Frage sei zunachst daran erinnert, dass die Frage nach dem Verhaltnis von Lemen und Kontext ja immer auch eine Antwort in Hinblick auf das Metalemen oder Bildungsprozesse erwartet.

1.2 Denken - intern und extern

Nicht zuletzt aus Grunden einer immer praziser werdenden Erfassung von Himprozessen durch so genannte "bildgebende" (sic!) Verfahren ist die Frage nach dem "Innen" und "AuBen" des Denkens wieder in den Vordergrund geruckt. Dadurch, dass nun eine Rep­rasentation des Denkens moglich erscheint, die nicht in der Logik oder einer Begriffs­schrift usw. zu suchen ist, sondem in einer scheinbar "direkten" Abbildung des Denkens, stellt sich nun die Frage der Reprasentation der Reprasentation. Diese Betrachtungen fiihren einerseits auf die Ursprtinge der Diskussion der Ursprtinge der Psychologie als Wissenschaft zuruck und in ahnlicher Weise auf die Frage, was eigentlich als psycholo­gischer Beitrag gelten kann, der relevant fur mathematikdidaktische Forschung und Mo­dellbildung sein kann.6

6 Als Beispiel konnte man hier die relativ neuen Forschungsergebnisse und ihre entsprechende

Page 6: Ein semiotischer Blick auf die Psychologie des Mathematiklernens

270 Falk Seeger

FUr die Diskussion urn die Bedeutung der Semiotik fUr das Lemen und Lehren von Ma­thematik ist natiirlich auch die psychologische Forschung von Interesse, die sich mit der Entwicklung des Zahlbegriffs beschliftigt. Hier kann man eine Entwicklung konstatieren, die in den letzten Jahrzehnten die Urspriinge der Zahlbegriffentwicklung immer weiter nach vome verlegt hat - vgl. etwa die zusammenfassende Darstellung bei Stanislas De­haene (1999) oder neuere Arbeiten von Elizabeth Spelke (Barth et al. 2005; Lipton and Spelke 2005; Xu et al. 2005). Diese Arbeiten befinden sich in erstaunlicher Uberein­stimmung mit den Veranderungen, die in den letzten Jahren in der Mathematik-Didaktik der Primarstufe die Notwendigkeit der Orientierung auf die vorschulische Entwicklung des Zahlbegriffs betont haben - und damit etwa die Notwendigkeit, mehr tiber die ma­thematischen "Eigenproduktionen" der Kinder zu wissen und in den Unterricht einzube­ziehen - und sie erscheinen wie eine spate Resonanz des Schlagwortes yom "kompeten­ten Saugling" (Domes 1993).

Die Untersuchungen zur When und friihesten Ontogenese des Zahlbegriffs sollen uns allerdings nicht nur tiber die Kompetenzen von Sauglingen und Kleinkindem aufkla­ren, sondem sie sind auch als empirische Untersuchung der Bedeutung des Semiotik bzw. der semiotischen Funktionen anzusehen.7 Wir brauchen neben der Semiotik als phi­losophische und epistemologische Perspektive auch die Untersuchung der semiotischen "Funktionen," gerade auch deshalb wei 1 diese Untersuchungen, wie wir sehen werden, ein komplexeres und komplizierteres Bild ergeben werden als etwa das Bild eines modu­laren Aufbaus der kognitiven Architektur des Gehims.

Betrachtet man die Ergebnisse der Erforschung der Kognition im When Kindesalter, die sich auf die Entwicklung der Grundlagen des Zahlens und der entsprechenden semio­tischen Funktionen des Hinweisens und Interpretierens beziehen, dann ergibt sich an vie­len Stellen der Eindruck, dass die empirischen Untersuchungen die allgemeinen Aussa­gen zur Semiotik an vielen Stellen untersmtzen. Einen entscheidenden Unterschied macht es dabei offensichtlich aus, ob es sich urn das Verstehen von Dingen oder das Verstehen von Personen handelt. Was das Verstehen von Dingen betrifft, so scheinen neuere Erkenntnissen den als weitgehend gesichert geltenden Ergebnissen von Piaget zu widersprechen, nach denen die motorische Auseinandersetzung mit den realen Objekten der Ausgangpunkt allen Lemens im Sinne der Ausbildung operativer Strukturen ist: kleine Kinder haben schon ein gewisses Verstandnis der physikalischen Welt, bevor sie tiberhaupt motorisch in der Lage sind, die physikalischen Gegenstande manipulativ zu erfahren; dies wurde durch Blickbewegungsstudien belegt (vgl. z.B. zusammenfassend Spelke et al. 1992). Bislang schien es nach den epochemachenden Studien von Piaget geklart, dass die kognitive Entwicklung ihren Ausgangspunkt in der Interaktion mit den Objekten hat - sozusagen nehmen muss. Dabei war das konkrete Begreifen und Manipu-

Diskussion in der (Neuro )Psychologie des Zahlensinns nennen. Bier klafft eine betrachtliche Lucke zwischen der Verarbeitung und Diskussion der experimentellen Ergebnisse und der Benutzung dieser Ergebnisse in der didaktischen Anwendung - beispielsweise in den Testverfahren zur Rechenschwiiche des ZAREKl (von Aster 2001), die von einem mehr oder weniger fertigen Bild des Zahlensinns ausgehen, der sich aus drei Moduln zusammensetzt, die man auch im Gehim nachweisen k6nne.

7 In ganz iihnlicher Weise, in der Piaget seine Studien als "experimentelle Epistemologie" bezeichnet hat, k6nnte man diese Studien "empirische Semiotik" nennen.

Page 7: Ein semiotischer Blick auf die Psychologie des Mathematiklernens

Semiotik und Psychologie des Mathematiklernens 271

lieren der Objekte die Voraussetzung flir das "Begreifen" der Welt - fUr das Verstandnis der Dinge und fur das Verstandnis ihres Verhaltens. Was das Verstehen von Personen betrifft, so finden sich schon sehr fruh Anzeichen flir die Fahigkeiten der Sauglinge, in eine Art "Protokonversation" (M. C. Bateson 1979) mit der Mutter einzutreten, die Tre­varthen (1979, 1998) als den Ursprung der "sekundaren Intersubjektivitat" ansieht. Beim Verstehen anderer Personen sind menschliche Sauglinge in gewisser Weise "ultra­sozial" (Tomasello 2002): schon bei sechs Wochen alten Sauglingen finden Meltzoff und Moore (1994) die interaktiv induzierte M6glichkeit der Modifikation eines natiirli­chen Verhaltens wie Zunge heraus strecken (vgl. zusammenfassend Meltzoff2002).

Man kann sagen, dass die kommunikativen Fahigkeiten der Sauglinge ihre motori­schen und objektbezogenen Fahigkeiten bei weitem ubersteigen und ihnen zeitlich weit vorauseilen. Sie entstehen nicht erst auf der Grundlage handlungsbezogener Erfahrung, die im Umgang mit Objekten erworben wird. Man kann sogar sagen, dass die schon fruh ausgebildete Fahigkeit von Kommunikation und die Fahigkeit, andere Personen zu ver­stehen, gerade auch die Bildung von Wissen uber die Welt der Gegenstande und Objekte erm6glicht, das sich nicht aus dem konkreten Umgang mit diesen Objekten speist.

Von besonderem Interesse flir die Entwicklung des Lemens ist ganz offensichtlich der Zeitraum im Alter zwischen neun und zw6lfMonaten. Hier zeigen Kinder eine Viel­falt von neuen Verhaltensweisen im Bereich der gemeinsamen Aufmerksamkeit.

Ein gutes Beispiel ist die von Vygotskij ausflihrlich diskutierte Entwicklung der hin­weisenden Gebarde bei Kindem aus einer missgliickten Greifbewegung. Es ist fUr ihn das zentrale Beispiel flir die Entwicklung "h6herer psychischer Funktionen."

"Bei der hinweisenden Gebarde handelt es sich zunachst einfach urn eine miBgluckte, auf einen Gegenstand gerichtete Greifbewegung, die die eigentlich intendierte Handlung sichtbar macht. Das Kind versucht, nach einem zu weit entfemten Gegenstand zu greifen. Seine Hande sind zum Gegenstand hinge­streckt, und die Finger flihren in der Luft eine Greifbewegung aus - diese Situa­tion bildet den Ausgangspunkt jeder weiteren Entwicklung. Hier entsteht zum ersten Mal jene hinweisende Bewegung, die wir wohl als hinweisende Geste schlechthin bezeichnen durfen. Diese kindliche Bewegung ist ein objektives Zeigen auf einen Gegenstand, und mehr nicht. Kommt nun die Mutter dem Kind zu Hilfe und legt seine Bewegung als ein Hinweisen aus, verandert sich die Situation. Die hinweisende Gebarde wird ei­ne Geste flir andere. Ais Antwort auf die miBgliickte Greitbewegung des Kin­des entsteht eine Reaktion, und zwar nicht am Gegenstand, sondem in einem anderen Menschen. Es sind also die anderen, die dieser miBgluckten Greifbe­wegung einen Sinn unterlegen. Und erst in der Folge, wenn das Kind die miBgliickte Greitbewegung bereits mit der objektiv gegebenen Situation in Zu­sammenhang bringt, kann es selbst beginnen, sich zu dieser Bewegung'zu ver­halten, als sei sie ein Zeigen. Nun andert sich allerdings die Funktion der Be­wegung: Aus der auf den Gegenstand gerichteten Bewegung wird eine an einen anderen Menschen gerichtete Bewegung, also ein Verstandigungsmittel; das Greifen wird zum Zeigen. Das flihrt zu einer Reduzierung und Verkurzung der Bewegung selbst und zur Herausbildung jener Form der hinweisenden Gebarde, die wir bereits "Geste schlechthin" nennen durfen. Doch urn zu einer Geste

Page 8: Ein semiotischer Blick auf die Psychologie des Mathematiklernens

272 Falk Seeger

schlechthin zu werden, muB diese Bewegung zunachst ein Zeigen schlechthin sein. Sie muB objektiv alle Funktionen besitzen, die Voraussetzung des Zeigens und der Geste fUr andere sind. Sie muB also zunachst fUr die Mitmenschen als Zeigen deutbar sein. Erst als letztes versteht also das Kind seine eigene Geste. Bedeutung und Funktion der Geste werden anfangs von der objektiven Situati­on und erst dann von den Mitmenschen des Kindes geschaffen. Die hinweisen­de Gebarde beginnt also als bewegungsmaBiger Hinweis auf etwas, was von anderen verstanden wird, und wird erst spater fUr das Kind selbst zum Zeigen" (Vygotskij 1992,234).

Dieses Beispiel zeigt in klaren Konturen, was Vygotskij fUr den wesentlichen Mecha­nismus beim Ubergang in bestimmte hOhere Formen des Bewusstseins gehalten hat: so­zusagen hinter dem Rucken der Kinder vollzieht sich ein Entwicklungsprozess, den die Kinder selbst erst als letzte verstehen. Anders gesagt: urn in einen Zustand weiterer Ent­wicklung zu kommen, tut das Kind etwas, was es nicht versteht. Es lemt, wenn man so will, indem andere fUr es durch Nicht-Verstehen Verstehen erzeugen, indem andere fUr das Kind aus beliebigen IrrtUmem Lemen machen - vollstandig in Einklang mit der Ma­xime Vygotskijs: "Durch andere werden wir wir selbst." Diese Orientierung Vygotskijs ist unzweife1haft von groBer Bedeutung fUr die Entwicklung des Selbst. Auch wenn sie den SchlUssel liefert fUr ein Modell von Entwicklung, das von AuBen nach Innen, yom Sozialen zum Individuellen veriauft, so hat dieses konkrete Beispiel doch einige Schwa­chen - insbesondere was die Bedeutung der Rolle der kommunikativen Kompetenz des Kindes betrifft. 8 Gerade dadurch erscheint Vygotskij, der ansonsten die Fahigkeiten der Kinder immer ausgesprochen hoch veranschlagt, plOtzlich in Ubereinstimmung mit der Ansicht Piagets, der den kleinen Kindem wesentlich weniger zutraut als sie tatsachlich k6nnen.

Dieses Beispiel von Vygotskij kann man unter semiotisch-erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten etwa in der Art und Weise untersuchen, in der das Michael Hoffmann getan hat (vgl. Hoffmann 1998). Er hat die Entwicklung sozusagen als Kreisreaktion von Dedliktion, Indnktion und Abduktion im Sinne von Peirce dargestellt. Dies ware eine klassisch "intemalistische" Verfahrensweise, insofem hier die Abfolge von Schlussfor­men als eine Art semiotischer Darstellung kognitiver Prozesse die Entwicklung der hin­weisenden Gebarde erklart. Auch wenn sich die semiotischen Prozesse sozusagen "au­Ben" abspielen, sichtbar zwischen Kind und Mutter, liegen die entscheidenden Vorgan­ge, dargestellt als Kreisreaktion, jedoch "innen." In diese Kreisreaktion hinein scheint sich die triadische Struktur der Semiose sozusagen aufzul6sen und in eine Abfolge von dyadischen Strukturen uberzugehen. In einem strikten Sinne ist eine solche Darstellung nicht-sozial.

In letzter Zeit hat sich Michael Tomasello yom Max Planck Institut fur evolutionare Anthropologie intensiv mit Fragen der Sprach- und Zeichenentwicklung in den ersten Lebensjahren befasst. Seine Thesen zur Entwicklung der gemeinsamen Aufmerksam-

Die folgenden kritischen Einsichten zu Vygotskijs Analyse der Entstehung und Entwicklung der hinweisenden Gebarde verdanke ich der Diskussion mit Martin Hildebrand-Nilshon (vgl. auch Hildebrand-Nilshon und Seeger 2006).

Page 9: Ein semiotischer Blick auf die Psychologie des Mathematiklernens

Semiotik und Psychologie des Mathematiklernens 273

keitsausrichtung gegen Ende des ersten und zu Beginn des zweiten Lebensjahres passen genau in die hier aufgeworfenen Fragen. Tomasello (2002) beschreibt aus der Perspekti­ve der entwicklungspsychologischen Forschung in ahnlicher Weise die Entwicklung von hinweisenden, hinzeigenden Tiitigkeiten, von dem, was er "geteilte Aufmerksamkeit" nennt. 1m Alter von etwa neun Monaten beginnen Kinder erstmalig, dyadische Interakti­onen mit Menschen und Menschen und Objekten in triadische zu verwandeln, d.h. in In­teraktionen in einem "Dreieck" zu sehen, wobei insbesondere der Ubergang yom deikti­schen zum deklarativen Hinweisen von Bedeutung erscheint (siehe Abbildung 1). Wah­rend das "deiktische" Hinweisen (eigentlich ein Pleonasmus) ein einfaches Zeigen auf etwas ist, was die Aufmerksamkeit des Kindes erregt oder einen bestimmten Stellenwert innerhalb einer Verhaltenssequenz oder eines Diskurses hat, erfolgt das "deklarative" Hinweisen sozusagen urn seiner selbst willen ("Schau mal was fiir ein suBer Hund!"). Das deklarative, urn seiner selbst und urn des "Teilens" und Anteilnehmens willen erfol­gende Hinweisen erscheint dabei als Indikator dafiir, dass dem Zeigen und Hinweisen eine wirkliche triadische Struktur zugrunde liegt.

Priifen der Verfolgen der Lenkender Aufmerksamkeit Aufmerksamkeit Aufmerksamkeit (9-12 Monate) (II-14 Monate) (13-15 Monate)

t~ o/~ ti t~;

Abb. 1: Verschiedene Formen gemeinsamer Aufmerksamkeit in der Entwicklung von neun bisfonfzehn Monaten (aus Tomasello 2002)

Tomasello stellt fest, dassdas Kind ca. ab dem neunten Monat in der Lage ist, bei ande­ren Personen Intentionen zu erkennen und diese auch zu beeinflussen. Als Beispiel fiihrt er die gemeinsame Aufmerksamkeitsausrichtung an. Das Kind kann mit neun Monaten eine triangulierte, triadische Beziehung herstellen zwischen. sich selbst, einem interes­santen Objekt und einer zweiten Person, die sich ebenfalls auf das interessante Objekt beziehen solI. Das Kind bemerkt z.B. ab diesem Alter, ob die Mutter sich einem interes­santen Objekt zuwendet oder nicht. Es kann dem Blick der Mutter folgen und unter­nimmt Versuche, den Blick der Mutter zu lenken oder die Mutter auf sich aufmerksam zu machen. Mit 12 oder 14 Monaten. kann das Kind diese Aufmerksamkeit dann gezielt herbeifiihren, indem es Mittel und Zeichen einsetzt, die den Blick der Mutter auf das an-

Page 10: Ein semiotischer Blick auf die Psychologie des Mathematiklernens

274 Falk Seeger

gezielte Objekt richten. Die Mutter versteht das Zeichen oder interpretiert das Verhalten des Kindes wie in Vygotskijs Beispiel so, dass sie ihren Blick auf das interessante Ob­jekt richtet.

Anders als beispielweise beim Entstehen des Zeigens aus der Greifbewegung ist das Kind hier aber von vomherein kommunikativ auf die Mutter und ihre Blicke ausgerich­tet. Das Kind registriert, ob die Mutter ihm kommunikativ zugewandt ist, und stellt diese Zuwendung durch unterschiedliche Mittel aktiv her. Dies gilt auch, wenn dafur keine konventionalisierten Zeichen verwendet werden, z.B. durch Rufen, am Armel Zupfen oder Ahnliches.

Die Soziogenese der Zeichen, wie sie Vygotskij postuliert hat, bedarf also der akti­yen kommunikativen Mitwirkung des Kindes von Anfang an. Es bringt seine Definitio­nen von Kommunikation und Kommunikationsmitteln in die Situation ein, und zwar ab dem Zeitpunkt seiner Entwicklung, ab dem es in der Lage ist, die Anderen - Mutter, Va­ter oder Geschwister - als intentional Handelnde wahrzunehmen, deren Absichten man erkennen und beeinflussen kann. Dass diese Einflussmittel - die Zeichen - Umstrukturie­rungen der Psyche zur Folge haben, wie Vygotskij dies oben beschrieben hat, korres­pondiert mit dieser Sichtweise vollig. Mehr noch: Erst die aktive Rolle des Kindes im Kommunikationsprozess macht deutlich, warum es so etwas wie eine Ruckwirkung ei­nes sozialen Mittels auf die eigene Psyche gibt. Denn die Welt ist dem Kind ab dem Moment, ab dem es Zeichen aktiv und erfolgreich verwendet, in doppelter Weise ver­fugbar: unmittelbar sinnlich, sensumotorisch, emotional und kognitiv sowie symbolisch in Form von Zeichen und ihren Bedeutungen, die sich atlerdings zunachst nur auf aus­gewahlte Aspekte des Alltagslebens beziehen und erst nach und nach immer mehr As­pekte der Wirklichkeit und der eigenen Psyche betreffen.

Die Ergebnisse der Sauglingsforschung zeigen also, dass die Sauglinge im Alter von neun Monaten bereits in der Lage sind, die Absichten der anderen Akteure zu verstehen. So wie diese Fahigkeit aus der Interaktion geboren ist, ist sie zugleich wiederum Bedin­gung dafur, dass das Kind in weitere Interaktionen geteilter Aufmerksamkeit mit anderen Akteuren eintritt. Vygotskij scheint hier - wie im ubrigen auch Piaget - die Fahigkeit des Verstehens der Kinder zu unterschiitzen: das.Verstandnis fur das, was sie tun, voll­zieht sich nicht hinter ihrem Rucken, sondem ist bereits als ganz fruhe Form der interak­tiven Zuwendung geubt, verfeinert und weiterentwickelt worden.

Welch groteske AusmaBe die Unterschatzung der Fahigkeiten der Kinder annehmen kann, wird an einem Beispiel deutlich, das sich auf die schon von Piaget ausfuhrlich un­tersuchte Fahigkeit bezieht, sich in die Situation eines anderen Menschen hinein zu ver­setzen. Piaget hatte in dem bekannten "Drei-Berge-Versuch" (siehe Abbildung 2) die Frage gestellt, wann Kinder in der Lage sind, sich in die Position eines anderen (Beob­achters) hinein zu versetzen. Die Kinder wurden beispielsweise gefragt, was ein anderer sehen wurde, der sich nicht. wie sie in Position 1 befande, sondem in Position 2 oder 3. Kinder, die nicht zur "Dezentrierung" fahig waren, konnten nicht angeben, was der an­dere Beobachter von der anderen Position aus sehen wiirde - selbst dann nicht, wenn sie zuvor an diese Position gefuhrt worden waren. Piaget hat der Zentrierung einen groBen Stellenwert beigemessen: ohne "dezentriert" sein zu konnen, konne das Kind eigentlich die Umwelt in ihren charakteristischen Merkmalen nicht erkennen (vgl. fur eine weiter­fuhrende Darstellung Kesselring 1981).

Page 11: Ein semiotischer Blick auf die Psychologie des Mathematiklernens

Semiotik und Psychologie des Mathematiklernens 275

Dieser Versuch ist in dem eine Epoche der Piaget-Kritik erOffnenden Buch von Margaret Donaldson (deutsch 1991) ausflihrlich diskutiert und kritisiert. Wird der Versuch in einer Form durchgeflihrt, die eine flir Kinder als relevant und sinnvoll erkennbare Aufgaben­stellung erhalt, dann zeigten die Kinder ganz eindeutig die Fahigkeit, zu dezentrieren und die Perspektive eines Beobachters von einem anderen Standpunkt einzunehmen.

Pus

Abb. 2: Der "Drei-Berge- Versuch" von Piaget (nach Mantada 2000)

Die fehlende Dezentrierung ist ja im tibrigen verantwortlich flir viele kindliche "Irrtii­mer," die Piaget in seinen Untersuchungen aufdeckt, indem er die Kinder vor Aufgaben stellt, in denen die Menge, das Volumen oder die Masse von Dingen bei entsprechender identischer Transformation sich nicht verandert, von den Kindem aber als Veranderung wahrgenommen wird. Es ist nun auBerordentlich interessant, dass Hare et al. (2000, 2001) bereits bei Schimpansen nachweisen konnten, dass die Tiere sehr genau wussten, was ein Artgenosse sehen kann und was er nicht sehen kann9

- sie verfligten also tiber genau die Fahigkeit, die Piaget den Kindem erst in einem Alter von tiber vier lahren zu­sprechen will, namlich sich in die Position eines Betrachters von einem anderen Stand­punkt hineinzuversetzen.

Was haben die empirischen Ergebnisse tiber die Ontogenese der Intersubjektivitat und des Verstehens uns gezeigt? Sie haben eine starke empirische Unterstiitzung der These tiber die "Exterioritat des Geistes" geliefert. Wir haben angeflihrt, dass das Den-

9 Hare et al. (2000, 2001) p1atzierten ein dominantes und ein rangniederes Sehimpansen­Individuum in eine Konkurrenzsituation bezogen auf Futter, wobei das dominante Individuum zuerst auf das Futter zugreifen darf - einige Futterstiieke waren flir beide Individuen zu sehen, andere waren nur fiir das rangniedere Individuum zu sehen. Indem sie bevorzugt das Futter nahmen, das den Augen des ranghoheren Individuums verborgen war, zeigten die rangniederen Tiere, dass sie sehr woh1 wussten, was das ranghohere sehen kann und was nieht.

Page 12: Ein semiotischer Blick auf die Psychologie des Mathematiklernens

276 Falk Seeger

ken dieser Exterioritat eine wesentliche Erganzung einer "intemalistischen" Sichtweise des Denkens und Lemens darstellen kann. Es gibt nicht nur die Struktur des Gehims und die lokalen prozessierenden Strukturen - seien sie nun modularer Struktur oder nicht -sondem von Anfang an gibt es eine "exteme" kognitive Struktur zwischen Menschen. Man konnte geradezu sagen, dass die Plausibilitat des Peirceschen Diktums "Man is a sign" weniger darin besteht, dass wir uns nun vorstellen konnen, dass im Gehim Semio­sen kreiert werden und Zeichenprozesse ablaufen. Die Plausibilitat besteht weniger dar­in, dass Menschen wie Zeichen funktionieren, sondem vielmehr darin, dass die Semio­sen, die Zeichenprozesse nach dem Urbild interaktiven menschlichen Verstehens funkti­onieren, indem Sauglinge schon friih lemen, Artgenossen als intentionale We sen zu ver­stehen, die dem Selbst ahnlich sind (Tomasello 2002). Dieses Verstandnis von Intentio­nalitat, die Einsicht, dass das Verhalten eines anderen in Hinblick auf ein Drittes gesehen und verstanden werden muss, liefert eigentlich erst den Schliissel yom Ubergang von ei­ner sozialen Bestimmtheit des Denkens und Verhaltens zur kulturellen Spezifik.

Tabelle 1

Ausgewiihlte dyadische und triadische Prozesse mit Formen geteilter Intentionalitiit

Bereich

Kommunikation

Blick der anderen

Soziales Lemen

Kooperation

Lehren

Sozial

Signale

Verfolgen des Blicks

Emulation, Ritualisierung

Koordination

Unterstiitzung

Manipulation von Ge- Werkzeuge

genstanden

Kulturell

Symbole (intersubjektiv, perspektivisch)

Gemeinsame Aufmerksamkeit (Intersubjektivitat)

Kulturelles Lemen (Imitation intentionaler Akte)

Zusammenarbeit (Rolleniibemahme)

Unterricht

(mentale Zustiinde der anderen)

Artefakte

(intentionale Angebote)

Die obige Tabelle von Tomasello (2002) kann man als Darstellung der Unterscheidung von dyadischen und triadischen sozialen Prozessen verstehen. Sie fasst zusammen, in welcher Form sich geteilte Intentionalitat in verschiedenen Tatigkeiten ausdriickt. Die dyadischen Prozesse erscheinen dabei als einfache Tatbestande der Interaktion mit Per­sonen und Objekten, sie sind sozial, ohne einen triadischen, kulturellen Bezug zu haben.

Page 13: Ein semiotischer Blick auf die Psychologie des Mathematiklernens

Semiotik und Psychologie des Mathematiklernens 277

Beide sind als semiotische Prozesse zu verstehen. Die Tabelle so lIte keinesfalls so gele­sen werden, als enthielte sie eine Darstellung der eindeutigen und geklarten Unterschei­dung von "sozial" und "kulturell." Vielmehr ist es so, dass die Tabelle interessante Fra­gen fur die semiotische Forschung in Bezug auf Prozesse mathematischer Bildung auf­wirft. 1m Mittelpunkt wiirden dabei sicher soIche Fragen stehen, die sich auf die Unter­scheidung von sozialen, dyadischen und kulturellen, triadischen Bildungsprozessen be­ziehen wiirden. Hier gibt es ja bereits einen Diskussionsvorlauf, etwa in Bezug auf das "kulturelle Lemen" im Rahmen des apprenticeship model des Lehrens und Lemens (La­ve 1988; Lave and Wenger 1991; Brown et al. 1989). Dieser Diskussion etwa kann die semiotische Perspektive neue Impulse geben. Aber auch die Frage nach dem Sinn der Unterscheidung von Werkzeugen und Artefakten fur mathematische Bildungsprozesse erscheint viel versprechend.

2 Konsequenzen fiir die Mathematikdidaktik

Wenn man iiber die faktische und die mogliche Rolle einer semiotischen Perspektive in der Mathematik-Didaktik nachdenkt,IO dann fallt auf, dass sich hier ebenso wie in ande­ren wissenschaftlichen Bereichen eine enorme Vielfalt an Herangehensweisen als "se­miotisch" bezeichnet - Vorgehensweisen, von denen man eher ihre Differenz als ihre Gemeinsamkeit sehen wiirde, ware da nicht der Begriff der Semiotik.

Die Vielfalt der Perspektiven bedeutet auch fur die disziplinare Orientierung der Ma­thematik-Didaktik ein gewisses zusatzliches Handicap: da die disziplinare Verortung der Mathematik-Didaktik als Wissenschaft sozusagen fortwahrend problematisch zwischen Mathematik und Padagogik, zwischen Psychologie und Geschichte, zwischen Philoso­phie und Soziologie geschieht, erscheint es folgenreich, mit der Semiotik die Vielfalt der Perspektiven noch einmal zu multiplizieren. Dies ware an sich nicht weiter zu bedauem und problematisch, wenn es sich nicht auf ein Merkmal semiotischer Ansatze in der Ma­thematik-Didaktik beziehen wiirde, das Anlass zu genauer kritischer Beobachtung gibt. Dieses Merkmal besteht darin, dass der weitaus iiberwiegende Anteil der semi otis chen Arbeiten in der Mathematik-Didaktik den Charakter des Sondierens und Experimentie­rens tragt, dass weiterhin viele Versuche, die Semiotik anzuwenden, die Fruchtbarkeit dieser Anwendung vor allem in der Zukunft sehen und wenig Beispiele fur erfolgreiche Anwendungen in der Vergangenheit geben konnen. Es scheint, als wiirde sich die unkla­re disziplinare Orientierung bei der Wegfindung in den Dickichten der Semiotik nicht unbedingt als hilfreich erweisen. 11

10 Vgl. hierzu etwa die einschlagigen Sammelbande von Anderson et al. (2003), Hoffmann (2005), Saenz-Ludlow and Presmeg (2006).

II Das Problem der einzelwissenschaftlichen Anwendung der Semiotik behandelt Wirth (2000): Er geht davon aus, dass der Schliissel zum Verstehen in der semiotischen Kompetenz liegt, sich im "Labyrinth der Zeichen" mit Hilfe pragmatischen Schlussfolgems orientieren zu konnen. Wenn dies gelange, konne man die "Logik der Zeichen" in eine semiotisch-pragmatische "Logik der Interpretation von Zeichen" integrieren und als allgemeine semiotische Grundlage fur einzelwissenschaftliche Anwendungen nutzen.

Page 14: Ein semiotischer Blick auf die Psychologie des Mathematiklernens

278 Falk Seeger

Ftir die Anwendung semiotischer Sichtweisen in der Mathematikdidaktik wird eine der interessantesten Aufgaben in der nahen Zukunft sein, den Dialog zwischen den unter­schiedlichen semiotischen Interpretationen und Schwerpunktsetzungen weiter zu entwi­ckeln. Einen wichtigen Diskussionspunkt wird dabei hoffentlich die Frage nach den in­haltlichen, stoftbezogenen und sozialen Momenten des Mathematiklemens in einer se­miotischen Perspektive bilden.

Die Fruchtbarkeit der semiotischen Perspektive wird sich rur die Mathematikdidaktik zunachst vor aHem in Hinblick auf ein neuartiges und vertieftes Verstandnis der aHge­meinen Ziele des Mathematikunterrichts erweisen. Die etwa von Heinrich Winter 1975 formulierten - und in der didaktischen Diskussion sehr einflussreichen - Ziele sind als vier stufentibergreifende Lemziele des Mathematikunterrichts bekannt: Mathematisieren - Explorieren - Argumentieren - Formalisieren.

Bei Winter heiBen die allgemeinen Lernziele: "heuristische Strategien lemen," "Be­weisen lemen," "Mathematisieren lemen" und "Formalisieren lemen" (vgl. Winter 1975, S. 116). Die folgende Abbildung (Tabelle 2) stellt diese Lernziele rur den Mathematik­unterricht in Relation zu bestimmten wesentlichen Charakterztigen des Menschen.

Tabelle 2

Allgemeine Lernziele des Mathematikunterrichts (aus Winter 1975)

allgemeines Lemziel

Mensch Mathematik der Schule des Mathematikunterrichts

als sch6pferi- als sch6pferi- Entfaltung sch6p- Heuristische Strategien ler-sches, erfinderi- sche Wissen- ferischer Krafte nen sches, spieleri- schaft sches We sen

als nachdenken- als beweisen- Forderung des ra- Beweisen lemen des, nach Grtin- de, deduzie- tionalen Denkens den, Einsicht su- rende Wissen-chendes Wesen schaft

als gestaltendes, als anwendba- F orderung des Mathematisieren lemen wirtschaftendes, re Wissen- Verstlindnisses Technik nutzen- schaft rur Wirklichkeit des Wesen und ihre Nutzung

als sprechendes als formale F orderung des Formalisieren lemen, Fer-Wesen Wissenschaft Sprachfahigkeit tigkeiten lemen

Aus einer "intemen" semiotischen Perspektive lasst sich vieles tiber allgemeine Lemzie­Ie rur den Mathematikunterricht sagen - und es liegt ja auch bereits eine Ftille von Sammelbanden und Monographien vor, die sich diesem Thema widmen. Es bieten sich dazu vor allem die "Heuristischen Strategien" und die "Formalisierung" an. Der Bereich

Page 15: Ein semiotischer Blick auf die Psychologie des Mathematiklernens

Semiotik und Psychologie des Mathematiklernens 279

der heuristischen Strategien stellt sich zum Beispiel als geeignete Anwendung flir die Peirceschen Gedanken der Abduktion dar (vgl. Hoffmann 1998, Voigt 2000), wahrend man bei der Formalisierung zum Beispiel an die Bedeutung des diagrammatischen Den­kens bei Peirce erinnert wird. Michael Hoffmann (2003) hat fur die Anwendung des Peirceschen Gedankens auf die Unterrichtspraxis prazisiert, welche Bedingungen gege­ben sein mussen: es mussen Reprasentationen von den jeweils gegebenen Problemen konstruiert werden, zweitens Experimente mit dies en "Diagrammen" durchgeflihrt wer­den und drittens die Resultate solchen Experimentierens beobachtet werden. Hoffmann weist ausdrucklich darauf hin, dass die "semiotische" Praxis eben unterschiedlich "For­mate" besitzt, sie sich etwa analog zu den Stufen des Problem16sens zeitlicher aneinan­der reihen. Aber in diesen Beispielen ist keine Rede davon, dass diese Praxisformate e­ben auch sozialer N atur sind.

Die oben dargestellten Beispiele allgemeiner Lernziele flir den Mathematikunterricht sind solche, die sich auf das beziehen, was ich oben als den "internen" Zeichenbegriff bezeichnet habe, sie dienen nur der Illustration der Winterschen Tabelle der Lernziele. Es zeigt sich aber, dass in diesem Lernzielformulierungen, die soziale Dimenions nichr berucksichtigt ist. Es zeigt sich, dass die soziale Dimension bei der Formulierung der Lernziele praktisch keine Rolle spielt.

Eine erste Konsequenz fur die Mathematikdidaktik ware es also, die allgemeinen Lernziele fur den Unterricht in Hinblick auf die uberragende Bedeutung der Sozio genese des Lernens zu uberdenken, insbesondere in Bezug auf die Bedeutung der geteilten In­tentionalitat'von Lehrern und Schiilern. Wenn es richtig ist, dass die Soziogenese des Lernens vor allem darin besteht, dass etwas, das zwischen Menschen war, sich ins Innere der Menschen begibt, dann ist es von auBerordentlicher Bedeutung, zu wissen, wie Schu­ler und Lehrer einander durchgangig und permanent interpretieren, wie sie ihre Absich­ten wahrnehmen und verstehen und wie sie auf der Grundlage dieses Verstandnisses handeln konnen. Das Verstandnis dieser Zusammenhange als semiotische Prozesse be­deutet, besonders darauf zu achten, dass vieles "erkannt" wird, was nicht unbedingt "bewusst erkannt" wird. Das "implizite Lemen" besitzt einen groBen Anteil am gesam­ten Lernprozess. Es ist zwar nach wie vor nicht Gegenstand der "veranstalteten" Mathe­matikdidaktik - aber es erscheint doch als notwendig, diesen Umstand als eine wichtige Bedingung flir das Lemen von Mathematik zu akzeptieren. Allein aus praktischen Grun­den s·cheint das erforderlich - wenn man etwa bedenkt, wie stark die emotionale Rah­mung des Lernens von Mathematik ub1icherweise ist.

Neben der Relevanz flir die Diskussion der allgemeinen Lernziele des Mathematik­unterrichts mochte ich drei Aspekte besonders hervorheben, die eine semiotisch inspi­rierte Konzeption mathematischer Bildung auszeichnen.

• Eine semiotische Konzeption mathematischer Bildung formuliert eine klare Al­ternative zur Strukturmathematik. Nun scheint die Strukturmathematik nicht ge­rade die aktuellste Form der Diskussion in der Didaktik zur reprasentieren, aber sie erscheint heute vor aHem wieder in der Ideologie der mathematischen "Kompetenzen" (vgl. Wittmann 2005). Wenn man flir die Definition einer be­liebigen mathematischen Kompetenz nicht mehr tun muss als die Aufgaben zu formulieren, die gelost werden mussen, damit man als "kompetent" gilt, wird das zentrale Problem umgangen: namlich genau anzugeben, wie in der didakti-

Page 16: Ein semiotischer Blick auf die Psychologie des Mathematiklernens

280 Falk Seeger

schen Interaktion zwischen Lehrer und Schiiler diese Kompetenz entwickelt werden kann - bzw. wie sie entwickelt werden muss.

• Eine kulturhistorische Sichtweise der Bedeutung der Semiosen im Mathematik­unterricht wtirde gleichberechtigt neben die Betonung der Mittel und Werkzeu­ge des Lemens die Betonung auf den unterrichtlichen Diskurs und die Intentio­nalitat stellen. Es zeigt sich doch, dass die Macht der Mittel nur in der Hand des­jenigen entfaltet werden kann, der tiber diese Macht informiert ist - die Analo­gie von Hammer-als Werkzeug und sagen wir SimCalc12 ist eben doch irreflih­rend. Die Potentialitat eines Hammers - selbst wenn sie ungewohnlich sein soll­te - steht eben doch vollstandig zur Handhabung bereit, ohne dass man viel tiber die Aufgaben wissen muss, die damit erledigt werden. Der gute, erkenntnisbrin­gende Einsatz von Mitteln verlangt eben nicht nur die angemessene Einflihrung in ihren Gebrauch und ihre Potentialitat - der Einsatz von Mitteln verlangt nach standiger diskursiver Einbettung. Dariiber hinaus gilt flir alle kulturellen Mittel, die mehr sind als bloBe Schlagwerkzeuge, Mittel, die Tomasello oben als Arte­fakte mit intentionalen Angeboten (siehe Tabelle 1) bezeichnet hat, dass auch ihre kulturelle Rahmung mit bedacht werden muss.

• Eine semiotische Sichtweise wiirde es femer moglich machen, sich auf eine neue Art und Weise mit dem Problem des impliziten Lemens auseinander zu setzen. In den letzten Jahren stellt sich heraus, dass die Imitation als besonders "implizite" Form des Lemens keineswegs einfach in ihrer Struktur ist, sondem von groBer Bedeutung flir Lemen tiberhaupt (vgl. z.B. Meltzoff and Prinz 2002). Es sollte bald moglich sein, das Verhaltnis von Imitation und Selbstandigkeit im Lemen auf eine neue Art und Weise zu 16sen, die Imitation nicht als inferiore, sozusagen "inoffizielle" Form des Lemens disqualifiziert. Die alleinige Beto­nung der Selbststandigkeit der Schiiler beim Mathematik}emen, die Gleichset­zung mit Mathematiklemen und Konstruktion hat ja in der Bilanz keinen be son­ders positiven praxisverandemden Eindruck hinterlassen: dies lasst sich viel­leicht am besten an der Geschichte des Konstruktivismus in der Mathematikdi­daktik aufzeigen. Es gentigt eben nicht einfach, die unbegrenzte Konstruktivitat der Schiiler zu betonen und zum Mittelpunkt des Diskurses zu machen. Die Imi­tation als sozialer Prozess setzt das Verstandnis von Intentionalitat des anderen voraus und fOrdert damit zugleich dieses Verstandnis und damit das Verstandnis der eigenen, selbstandigen Form des Lemens. Dann lasst sich auch verstehen, warum es besser ist, dass die "Performanz" einer mathematische Fahigkeit und Kompetenz vorausgeht (vgl. Cazden 1981) - und dass erst spater die mathemati­sche Kompetenz die Voraussetzung dafiir ist, in einer bestimmten Hinsicht ma­thematisch tatig zu sein.

In der DarsteUung der entwicklungspsychologischen Erforschung der geteilten Intentio­nalitat haben wir oben gesehen, dass das Lemen von den Subjekten dem Lemen von den Objekten in gewisser Weise voraus geht.13 Wir sind davon ausgegangen, dass es einen

12 Fiir Informationen iiber SimCalc siehe: http://simcalc.umassd.eduJ 13 An anderer Stelle (Seeger 2005) habe ich versucht, diesen Unterschied bezogen auf die

Zeichenprozesse als intersemiotische und intrasemiotische Prozesse zu beschreiben und die

Page 17: Ein semiotischer Blick auf die Psychologie des Mathematiklernens

Semiotik und Psychologie des Mathematiklernens 281

wichtigen Unterschied macht, ob man das Lemen primar als von den Objekten oder von den Subjekten ausgehen sieht. Wir haben femer die Imitation und das Verstandnis der Intentionalitat des Anderen als entscheidenden Faktor fUr die Einflihrung und Aneignung kulturell bestimmter Praktiken identifiziert.

Auch die Perspektiven der Semiotik scheinen sich danach unterscheiden zu lassen, ob sie sich auf eine Objekt-Semiotik oder eine Subjekt-Semiotik beziehen. Die Objekt­Semiotik sehe ich dabei als in erster Linie empirisch-stofflich orientiert, wahrend die Subjekt-Semiotik genau das beinhalten konnte, was lange als "Kritische" Perspektive verstanden worden ist. Damit wiirde der Semiotik eine kritische Funktion im Diskurs uber mathematische Bildung zuwachsen, die beispielsweise helfen wurde, die uberwalti­gende Fulle der statistischen Beziehungen und die durch sie generierten Datenmassen zu strukturieren, wie sie etwa durch die TIMSS- und PISA-Studien generiert worden sind (vgl. zur kritischen Einschatzung auch Wittmann 2005). Der strukturierende Einfluss ei­ner "Subjekt"-Semiotik wurde alles unter dem Aspekt priifen, ob es gelingt, das Verste­hen der wechselseitigen Intentionalitat zur Grundlage des mathematischen Lehrens und Lemens zu machen.

In diesem Sinne wiirde eine semiotische Perspektive geteilter Intentionalitat auch die Anspriiche verschiedener Interpretationshorizonte und Ketten von Bedeutungen kritisch priifen. Mit der Betonung der "Objekt"-Seite, der Betonung des Gegenstandes mathema­tischer Bildung geht in jiingster Zeit wieder haufiger einher, davon zu sprechen, dass man es eben akzeptieren musse, dass die Mathematik schwierig, ja sogar seltsam, sei. Unter der Perspektive geteilter Intentionalitat kann das immer nur die Halfte der Wahr­he it und schon gar keine Begriindung flir mathematische Bildung sein. Dass man gerade bei einem schwierigen Gegenstande die wechselseitigen Absichten und Motive verste­hen sollte, erscheint unabweisbar - und gerade als die Erganzung, derer der schwierige Gegenstand bedarf.

Literatur

Anderson, M., Saenz-Ludlow, A., Zellweger, S. and Cifarelli, V.V. (Eds.), Educational Perspec­tives on Mathematics as Semiosis: From Thinking to Interpreting to Knowing. Toronto: Legas.

Barth, R., La Mont, K., Lipton, J., and Spelke, E. S. (2005). Abstract number and arithmetic in young children. Proceedings ofthe National Academy of Sciences, 102(39), 14117-14121.

Bateson, G. (1972). Steps to an Ecology of Mind: Collected Essays in Anthropology, Psychiatry, Evolution, and Epistemology. San Francisco: Chandler.

Bateson, M. C. ,(1979). The epigenesis of conversationa!.interaction: A personal account of rese­arch development. In M. Bullowa (Ed.), Before Speech: The Beginning of Human Com­munication. (pp. 63-77). London: Cambridge University Press.

Begriffe "Vermittlung" und "Vemetzung" fUr semiotisch verstandene Bildungsprozesse diskutiert. Die Unterscheidung von Vermittlung und Vemetzung entspricht weitgehend der Unterscheidung von "sozial" und "kulturell", dyadischen und triadischen Prozessen, die wir oben diskutiert haben (vgl. Tabelle 1).

Page 18: Ein semiotischer Blick auf die Psychologie des Mathematiklernens

282 Falk Seeger

Bauersfeld, H. und Seeger, F. (2003). Semiotische Wende - Ein neuer Blick auf das Sprachspiel von Lehren und Lemen. In Hoffmann, M.H.G. (Hrsg.), Mathematik verstehen - Semioti­sche Perspektiven (S. 20-33). Hildesheim: Franzbecker.

Brousseau, G. (1980). Les echecs electifs dans I'enseignement des matMmatiques a I'ecole eIementaire. Revue de Laryngologie-Otologie-Rhinologie, vol. 101,3-4,107-131.

Brown, 1S., Collins, A., and Duguid, P. (1989). Situated Cognition and the culture of learning. Educational Researcher, 18,32-42.

Cazden, C.B. (1981). Performance before competence: assistance to child discourse in the zone of proximal development. The Quarterly Newsletter of the Laboratory of ComparativeHuman Cognition, 3(1), 5-8.

Chevallard, Y. (1985). La transposition didactique. Du savoir savant ou savoir enseigne. Grenoble: La Pensee sauvage.

Clark, A. and Chalmers, D. (1998). The extended mind. Analysis 58(1), 7-19. Colapietro, V. M. (1989). Peirce's Approach to the Self - A Semiotic Perspective on Human Su­

bjectivity. New York: State University of New York Press. Cole, M. (1996). Cultural Psychology - A Once and Future Discipline. Cambridge, MA: Harvard

University Press Dehaene, S. (1999). Der Zahlensinn oder Warum wir rechnen konnen. Basel: Birkhauser. Donaldson, M. (1991). Wie Kinder denken: Intelligenz und Schulversagen. Miinchen: Piper. Domes, M. (1993). Der kompetente Saugling: Die praverbale Entwicklung des Menschen. Frank-

furt am Main: Fischer. Fehrmann, G., Linz, E. und Epping-Jager, C. (Hrsg.) (2005). Spur. Zur Extemalitat des Symboli­

schen. Miinchen: Fink. Fodor, 1 (1980). Fixation of belief and concept acquisition. In Piattelli-Palmarini, M. (Ed.), Lan­

guage and learning - The debate between Jean Piaget and Noam Chomsky (pp. 143-149). Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

Hare, B., Agnetta, B. and Tomasello, M. (2000). Chimpanzees know what conspecifics do and do not see. Animal Behaviour, 59, 771-785.

Hare, B., Call, 1 and Tomasello, M. (2001). Do chimpanzees know what conspecifics know? A­nimal Behaviour, 61, 139-151.

Hildebrand-Nilshon, M. und Seeger, F. (2006). Anmerkungen zum Zeichenbegriff Vygotskijs. Vortrag auf dem 3. Workshop "Tatigkeitstheorie und kulturhistorische Schule" vom 23. Juni bis 25. Juni, Haus Ohrbeck bei Osnabrock.

Hoffmann, M.H.G. (1998). Erkenntnistheoretische Grundlagen des Lemens: Lemen als Verallge­meinerung. Uberarbeitete Fassung eines auf der GDM Jahrestagung 1998 in Miinchen ge­haltenen Vortrages. http://www.uni-bielefeld.de/idmlpersonenlmhoffmanipapers/GDM.htm

Hoffmann, M.H.G. (Hrsg.) (2003). Mathematik verstehen - Semiotische Perspektiven. Hildes­heim: Franzbecker.

Hoffmann, M.H.G. (2006). What is a "Semiotic Perspective", and What Could it Be? Some Com­ments on the Contributions to This Special Issue. Educational Studies in Mathematics, 61, 1-2, 279-291 (Special Issue "Semiotic Perspectives in Mathematics Education - A PME Special Issue).

Kesselring, Th. (1981). Entwicklung und Widerspruch - Ein Vergleich zwischen Piagets geneti­scher Erkenntnistheorie und Hegels Dialektik. FrankfurtlMain: Suhrkamp.

Kraemer, S. und Koch, P. (1997). Schrift, Medien, Kognition. Uber die Exterioritat des Geistes. Ti.ibingen: Stauffenburg.

Lave, J. (1988). Cognition in Practice. Mind, Mathematics and Culture in Everyday Life. Cambri­dge, Cambridge University Press.

Lave, 1 and Wenger, E. (1991). Situated learning - Legitimate peripheral participation. Cambri­dge, Cambridge University Press.

Page 19: Ein semiotischer Blick auf die Psychologie des Mathematiklernens

Semiotik und Psychologie des Mathematiklernens 283

Lipton, J.S. and Spelke, E.S. (2005). Preschool children's mapping of number words to nonsymbo­lic numerosities. Child Development, 76(5), 978-988.

Meltzoff, A.N. and Moore, K. (1994). Imitation, memory, and the representation of persons. Infant Behavior and Development, 17,83-99.

Meltzoff, A.N. (2002). Elements of a developmental theory of imitation. In A.N. Meltzoff and W. Prinz (eds.), The Imitative Mind (pp. 19-41). Cambridge: Cambridge University Press.

Meltzoff, A.N. and Prinz, W. (eds.), The Imitative Mind. Cambridge: Cambridge University Press. Newson, J. (1979). The growth of shared understandings between infant and caregiver. In M. Bul­

Iowa (Ed.), Before Speech - The Beginning of Interpersonal Communication (pp. 207-222). Cambridge: Cambridge University Press.

Otte, M., Mies, Th. und Hoffmann, M.H.G. (1997). Die Symmetrie von Subjektbezug und Objek­tivitat wissenschaftlicher Verallgemeinerung - Untersuchungen zur Begriindung wissen­schaftlicher Rationalitat im Anschluss an die mathematische Philosophie von Charles S. Peirce. Universillit Bielefeld: Institut fUr Didaktik der Mathematik. Occasional Paper 162. [online: http://www.uni-bielefeld.delidm!publikationen/occpaper/occ 162.doc]

Posner, R. (1994). Der Mensch als Zeichen. Zeitschrift rur Semiotik, 16, 195-216. Radford, L. (2003). On culture and mind. A post-Vygotskian semiotic perspective, with an exam­

ple from Greek mathematical thought. In Anderson, M., Saenz-Ludlow, A., Zellweger, S. and Cifarelli, V.V. (Eds.), Educational Perspectives on Mathematics as Semiosis: From Thinking to Interpreting to Knowing (pp. 49-79). Toronto: Legas.

Radford, L. (2006). The anthropology of meaning. Educational Studies in Mathematics, 61, 39-65. Saenz-Ludlow, A. and Presmeg, N. (2006). Semiotic Perspectives in Mathematics Education - A

PME Special Issue. Educational Studies in Mathematics, 61,1-2. Sarrazy, B. (1995). Le contrat didactique. Revue Franyaise de Pedagogie, 112, 85-118. Seeger, F.(2003). Vermittlung und Vemetzung als Grundbegriffe einer semiotisch inspirierten

Theorie des Lemens. In Hoffmann, M.H.G. (Hrsg.), Mathematik verstehen - Semiotische Perspektiven (S. 119-143). Hildesheim: Franzbecker.

Seeger, F. (2004). Beyond the Dichotomies - Semiotics in Mathematics Education Research. Zent­ralblatt rur Didaktik der Mathematik, 36(6), 206-216.

Seeger, F. (2005). Vygotskij und Peirce - Anmerkungen zur Philo sophie und Psychologie der Se­miose. In M.-C. Bertau, A. Werani und G. Kegel (Hrsg.), Psycholinguistische Studien 2. Aachen. Shaker-Verlag.

Spelke, E. S., Breinlinger, K., Macomber, J., and Jacobson, K. (1992). Origins of knowledge. Psychological Review, 99, 605-632.

Spurrett, D. and Cowley, C. (2004). How to Do Things Without Words: Infants, utterance-activity and distributed cognition. Language Sciences, 26(5), 443-466.

Tomasello, M. (2002). Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Tomasello, M., Carpenter, M., Call, J., Behne, T., & Moll, H. (2005). Understanding and sharing intentions: The origins of cultural cognition. Behavioral and Brain Sciences, 28, 675 - 691.

Trevarthen, C. 1979. Communication and Co-operation in early infancy: a description of primary intersubjectivity. In M. Bullowa (ed.) Before speech (pp. 321-347). Cambridge: Cambri­dge University Press.

Trevarthen, C. 1998. The concept and foundations of infant intersubjectivity. In S. Braten, (ed.) In­tersubjective Communication in Early Ontogeny, pp. 15-46. Cambridge: Cambridge Uni­versity Press.

Vygotskij, Lev S. (1992). Geschichte der hiiheren psychischen Funktionen. Munster: Lit Verlag. Voigt, J. (2000). Abduktion. Beitrage zum Mathematikunterricht '-- Vortrage auf der 34. Tagung

rur Didaktik der Mathematik vom 28.2. - 3.3.2000 in Potsdam (S. 694-697). Hildesheim: Franzbecker.

Wartenberg, G. (1971). Logischer Sozialismus - Die Transformation der Kantschen Transzenden­talphilosophie durch Charles S. Peirce. Frankfurt!Main: Suhrkamp.

Page 20: Ein semiotischer Blick auf die Psychologie des Mathematiklernens

284 Falk Seeger

Winter, H. (1975): Allgemeine Lernziele flir den Mathematikunterricht? Zentralblatt flir Didaktik der Mathematik, S. 106-116.

Wittmann, E. Ch. (2005). Eine Leitlinie zur Unterrichtsentwicklung vom Fach aus: (Elementar)­Mathematik als Wissenschaft von Mustem. Der Mathematikunterricht, 50, 2/3, 5 - 22

Wirth, U. (Hrsg.) (2000). Die Welt als Zeichen und Hypothese - Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles S. Peirce. FrankfurtlMain: Suhrkamp.

Von Aster, M. (2001). Die Neuropsychologische Testbatterie flir Zahlenverarbeitung und Rech­nen bei Kindem (ZAREKl). Frankfurt: Swets & Zeitlinger.

Xu, F., Spelke, E. S., and Goddard, S. (2005). Number sense in human infants. Developmental Science, 8(1), 88-101.

Adresse des Autors

Falk Seeger Institut flir Didaktik der Mathematik Universitat Bielefeld Postfach 100 131 33501 Bielefeld Email: [email protected]

Manuskripteingang: 28. Juli 2006 Typoskripteingang: 06. September 2006