ein reader zur einführung in die didaktik des religionsunterrichts · 2011. 12. 16. · gibt es...
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UUnniivveerrssiittäätt SSiieeggeenn –– FFBB 11::
EEvvaannggeelliisscchhee TThheeoollooggiiee
Inhaltsverzeichnis
Lesehinweise .......................................................................................................................................................3
Teil 1 Konzeptionen & Modelle religiösen Lernens in der öffentlichen Schule.............................................4
Volksertüchtigender, kulturprotestantischer Religionsunterricht (Friedrich Niebergall).......................................5
Verkündigungsorientierter Religionsunterricht (Evangelische Unterweisung) (Helmuth Kittel)...........................9
Hermeneutischer Religionsunterricht (Gert Otto) ..............................................................................................12
Problem- und lernzielorientierter Religionsunterricht (Hans-Bernhard Kaufmann) ...........................................15
Interaktiver, therapeutisch-sozialisationsbegleitender Religionsunterricht (Dieter Stoodt) ...............................18
Symboldidaktischer Religionsunterricht in katholischer Perspektive (Hubertus Halbfas) .................................21
Symboldidaktischer Religionsunterricht in evangelischer Perspektive (Peter Biehl) ........................................24
Interreligiöser Religionsunterricht (Folkert Rickers)...........................................................................................27
Profaner Religionsunterricht (Bernd Beuscher/Dietrich Zilleßen)......................................................................30
Konstruktivistischer (kindertheologischer) Religionsunterricht (Gerhard Büttner).............................................33
Performativer Religionsunterricht (Thomas Klie) ...............................................................................................36
Teil 2 Formen religiösen Lernens in der öffentlichen Schule........................................................................40
Methodik und Didaktik (Rainer Lachmann)........................................................................................................41
Erzählen als eine methodische Grundform zur Erschließung biblischer Texte (Ingo Baldermann) ..................45
Teil 3 Entwicklungspsychologische Bedingungen religiösen Lernens in der öffentlichen Schule ..........49
Entwicklungsstufen der Struktur der Gottesbeziehung (Fritz Oser/Paul Gmünder) ..........................................50
Entwicklungsstufen der Glaubensstruktur (James W. Fowler) ..........................................................................58
Geschlechtsspezifische Sozialisation und Religionsunterricht (Helga Kohler-Spiegel) ....................................64
Teil 4 Grundlegende Perspektiven religiösen Lernens in der öffentlichen Schule.....................................68
Konfessioneller Religionsunterricht (Friedrich Schweitzer) ...............................................................................69
Allgemeiner Religionsunterricht (Landesschulbeirat Hamburg) ........................................................................73
Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde (Jürgen Lott) ................................................................................76
3
Lesehinweise
Der vorliegende Reader bietet Schlüsseltexte zum Verständnis religionspädagogischer Modelle, Bedingungen
und Formen. Selbstverständlich ist diese Auswahl nicht erschöpfend. Hoffentlich aber vermag sie exemplarisch
in Grundfragen der Religionsdidaktik einzuführen.
Die Anregung für diesen Reader sowie den Grundstock an Texten habe ich von Prof. Dr. Horst Heinemann vom
Institut für Evangelische Theologie/Religionspädagogik der Universität Kassel erhalten. Ihm sei dafür herzlich
gedankt.
Zum Aufbau sei folgendes gesagt: Die Texte sind in Auszügen präsentiert, die – auch für Studieneinsteiger
verständlich – Wesentliches auf den Punkt bringen sollen. Zum Anschluss an jeden Text sind zunächst allge-
meine Leitfragen formuliert und dann Hinweise und konkrete Fragen zur Erschließung des Inhalts gegeben.
Dies alles soll die Leserin, den Leser dazu befähigen, die Kernaussage(n) des jeweiligen Textes in eigenen
Worten – knapp! – auf den Punkt zu bringen. Nicht jedes Detail kann dabei Berücksichtigung finden. Wichtig ist
jedoch, dass das jeweilige Hauptanliegen, und zwar in Auseinandersetzung mit bzw. Abgrenzung von anderen
Positionen, erfasst wird.
Zur Texterfassung einige konkrete Hilfen:
I. Intuitives Erfassen
ú Worum geht’s?
ú Könnte ich das HHaauuppttaannlliieeggeenn des Texts in 2–3 Sätzen nennen?
ú Erahne ich so etwas wie SScchhllüüsssseellssäättzzee? Markieren!
ú Gibt es SScchhllüüsssseellbbeeggrriiffffee? Markieren!
ú Gibt es Begriffe oder sogar ganze Sätze, die ich nniicchhtt vveerrsstteehhee?
Markieren & nachschauen!
II. Systematisches Erfassen
1. Wer ist AAuuttoorrIInn des Texts?
ú Wie alt ist er/sie bzw. wann hat er/sie gelebt?
ú Wo lehrt er/sie bzw. hat/er sie gelehrt?
ú Welche FFoorrsscchhuunnggsssscchhwweerrppuunnkkttee hat er/sie (gehabt)?
ú [einfach mal auf einem Buchcover oder im Lexikon der Religionspädagogik nachsehen,
googeln oder, für Theologie, konkret unter http://www.bautz.de/bbkl/ suchen]
2. Was ist TThheemmaa des Texts?
ú Wie stellt der Autor/die Autorin den wissenschaftlichen GGeesspprrääcchhssssttaanndd dar,
welchen ssppeezziiffiisscchheenn BBeeiittrraagg möchte er/sie leisten?
ú Wogegen ggrreennzztt er/sie sich aabb,
worüber möchte er/sie hhiinnaauussffüühhrreenn?
3. Wie ist die AArrgguummeennttaattiioonnssssttrraatteeggiiee des Texts?
ú Wo wird bbeeggrrüünnddeett („da, weil, denn“ o.ä.), wo eeiinnggeerrääuummtt („obschon“, „allerdings“ o.ä.), wo eeiinn--
ggeesscchhrräännkktt („sofern“ o.ä.), wo aabbggeeggrreennzztt („indes“ o.ä.), wo bbeekkrrääffttiiggtt („insbesondere“ o.ä.), wo
ein ZZiieell oder eine FFoollggee formuliert etc. („damit“ o.ä.; „so dass“ o.ä.)?
Bei Schlüsselsätzen Präpositionen markieren, Diagramm erstellen!
ú Welche konkreten BBeeiissppiieellee demonstrieren das Gesagte?
4. Wie üübbeerrzzeeuuggeenndd / rreelleevvaanntt ist das im Text Gesagte?
ú Welche Dinge kann ich nnaacchhvvoollllzziieehheenn, welche „„uunntteerrsscchhrreeiibbeenn““, wo würde ich KKrriittiikk anbringen?
Begründen!
ú Welche Bedeutung hat der Text für die FFrraaggeesstteelllluunngg ddeess SSeemmiinnaarrss?
Wie die einzelnen Autoren mit ihren Texten für uns Leserinnen und Leser Gesprächspartner sein sollen, ereig-
net sich tieferes Verstehen dieser Texte erst im Dialog mit anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Ein-
führungsseminars. Dazu viel Freude und Erfolg!
Johannes Woyke, im September 2007
Teil 1
Konzeptionen & Modelle
religiösen Lernens in der öffentlichen Schule
5
Volksertüchtigender, kulturprotestantischer Religionsunterricht
Auszug aus: Friedrich Niebergall, Der neue Religionsunterricht, Langensalza 1922, 5–46
Unsre Aufgabe ist, eine Lehre vom Religionsunterricht in der Volksschule aufzustellen. Dazu bedarf es einer
Klärung der Begriffe, die in dieser Bestimmung der Aufgabe in ein Verhältnis zueinander gesetzt sind. Wir müs-
sen uns also vor allem darüber klar werden, was wir unter der Religion verstehen, in der Unterrichtet [sic!] wer-
den soll; ferner wer der verantwortliche Träger dieses Unterrichtes in der Volksschule ist; endlich, wozu dieser
Unterricht dienen soll. […]
§ 1. Notwendigkeit eines Religionsunterrichtes.
Auch wenn man sich heute vor verallgemeinernden Übertreibungen fernhält, wird man sagen können, daß zwar
nicht das ganze deutsche Volk, aber ein überraschend großer Teil von ihm in den ersten Zeiten des großen
Krieges viel stärker auf die gewaltigen Ereignisse zumal des Anfangs religiös geantwortet hat, als die meisten
es für möglich gehalten haben. Mag es auch nur eine vorübergehende Aufwallung, mag es auch zum guten Teil
die Religion der Angst gewesen sein, die sich da aus den Gründen der Volksseele erhob, es ist nicht zu leug-
nen, daß sie eben darum in diesen Gründen vorhanden gewesen sein muß. Und in der Zeit der Umwälzung
zeigten sich die neuen Machthaber sehr überrascht, als sich, zumal gegenüber den täppischen Versuchen ge-
wisser Fanatiker des Atheismus, eine starke Welle des Verlangens nach Beibehaltung des Religionsunterrich-
tes erhob; hierin sprach weniger die Angst als der entschlossene Wille, die Religion als Fundament eines sittlich
gerichteten Volkslebens und als Grund zu seiner Erneuerung beizubehalten. Daraus läßt sich ohne Gewaltsam-
keit der Schluß ziehen, daß Religion zur Ausstattung des Volkes gehört, wenn man dabei an einen Durchschnitt
oder einen Typus denkt und darum alle abweichenden Fälle als Ausnahmen wertet.
Eine andere Erkenntnis, die der Krieg gebracht hat, dürfte die sein, daß die ganz außerordentlichen Anforde-
rungen, die er an die sittliche Tüchtigkeit und an die alles Schwere ertragende Geduld gestellt hat, weithin den
tiefen Zusammenhang zwischen solchen seelischen Leistungen und der Religion ans Licht brachte und wirksam
machte. Nicht nur die großen, an das innerste Leben greifenden Ereignisse, sondern auch die mit ihnen ver-
bundenen Aufgaben haben es immer an sich, daß sie die religiösen Urgefühle selbsttätig in Bewegung setzen.
[…] Jener Ruf nach Beibehaltung des Religionsunterrichtes als eines Mittels zur Erneuerung des Volkslebens
[…] weist in dieselbe Richtung. Damit stoßen wir auf einen weitreichenden und für unsere ganze Ausführung
entscheidenden Zusammenhang: Wenn ein Volk sich unter nicht gar zu ungünstigen wirtschaftlichen und politi-
schen Verhältnissen nur durch seine moralische Kraft behauptet, die es in den Stand setzt, etwas zu leisten und
etwas zu ertragen, und wenn diese moralische Kraft organisch zusammenhängt mit religiösen Urkräften, dann
gibt es für ein Volk kaum eine wichtigere Aufgabe, als im Dienst seiner Selbsterhaltung diese Kraftquellen zu
hüten und zu pflegen.
Und noch ein dritter Gesichtspunkt kommt in Betracht. Religion gehört nicht nur zu den menschlichen Uremp-
findungen und zu den Urkräften eines Volkes, sondern auch zu dem geistigen Besitzstand, den es zu wahren
und zu vererben hat. Dieser ist aber nicht nur in jenen Urempfindungen und Urkräften enthalten, sondern er ist
als ein Erbe geschichtlich bedingt; mit anderen Worten, er besteht nicht in Religion, sondern im Christentum.
[…] Daß dabei die Schule in erster Linie in Betracht kommt, versteht sich von selbst. […] Nicht der Kirche, nicht
der Erwerbstätigkeit zuerst, sondern dem Volke Nachwuchs zuzuführen, wird uns immer mehr als ein Ziel er-
scheinen, das […] das ernsteste Nachdenken über wirkliche Zusammenhänge und Aufgaben des Volkslebens
anregen soll. Dann aber wird wohl dem Schlusse kaum auszuweichen sein, daß diese Volksschule Religion zu
treiben hat, Religion als in menschlicher Anlage gegebne Urempfindung, Religion als Quelle schaffender und
tragender Kraft, Religion, und zwar christliche Religion, als Bestandteil des Bildungsgutes, das unserm Volk
noch immer wesentlich zugehört. Religion bildet darum einen Teil der Güter, die die Schule im Dienst des Vol-
kes zu pflegen hat, weil sie als Urmitgift und als geschichtlicher Erwerb zu seiner Ausstattung gehört, und weil
sie ein lebensnotwendiges Stück seiner Kraft im Kampfe um die Erhaltung seines Bestandes ausmacht. […]
§ 2. Kirche, Staat, Schule.
1. Der Unterschied zwischen kirchlichem und Schul-Religionsunterricht
[…] Wie die Schule einmal Kirchenschule war, so war auch einmal die Kirche Staatskirche, und zwar war sie
das besonders in den Zeiten der […] Aufklärung, die der weltlichen Größe „Staat“ alles unterzuordnen versuch-
te. Jede dieser einstigen Bestimmungen des Zweckes ist verkehrt: jede der beiden Größen hat nun ihre beson-
dere Aufgabe erhalten. In der Kirche erkennen wir immer klarer eine Gemeinschaft oder eine Anstalt, die dem
Reiche Gottes im religiösen Sinne es Wortes zu dienen hat; sie hat mit der Seele des einzelnen und mit der
Herrschaft Gottes über sie und die ganze Welt zu schaffen; mit dem Evangelium, also mit dem Worte von dem
Vater, der uns erzieht, dem Herrn, der uns erlöst, und dem Geist, der unsere Kraft und unser Leben ist, will sie
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die Seelen selig machen, also in die Gemeinschaft mit Gott einführen. […] Daß sie sich auch selber zu erhal-
ten und zu fördern strebt, liegt im Grundtrieb jeder lebendigen Gemeinschaft und Anstalt beschlossen; denn sie
soll das ganz unentbehrliche Werkzeug sein, um christliche Religion in ihren Gliedern zu wecken und zu pfle-
gen, um sie der Welt, im Sinne des N.T., gegenüber zu stärken und um sie die Welt als den Ort unsrer Berufs-
und Lebensarbeit richtig auf- und anfassen zu lehren. […] Nur so erhält man eine einigermaßen befriedigende
Unterscheidung beider Zweige des religiösen Unterrichtes, so wenig sich dadurch eine völlige Trennung von
Stoffen und Methoden herstellen läßt. […]
3. Ergebnis
[…] Wenn dieser Unterricht darum in die Volksschule hineingehört, weil die Religion einen Bestandteil der durch
die Geschichte verklärten Natur, weil sie einen wichtigen Teil des völkischen Bildungsgutes und eine Quelle
völkischer Kraft bildet, dann gebührt dem Staate die Leitung, der als der rechtlich und mit Macht ausgerüstete
Gesamtwille des Volkes sowohl für seinen dauernden Bestand wie auch für die Übermittlung seiner höchsten
Schätze an den Nachwuchs verantwortlich ist. Wenn das ein Gedanke der Aufklärung sein soll, dann bekennen
wir uns wieder gern zu dieser klassischen Zeit des deutschen Geisteslebens. […]
§ 3. Gegenstand des Religionsunterrichts.
1. Christentum als Gesinnungsmacht
Wenn wir nun fragen, was von der christlichen Religion die Schule innerhalb des gezeichneten Rahmens brau-
chen kann, so heißt das nimmermehr eine Staatsreligion einführen zu wollen. Es bedeutet vielmehr nur dies
eine: an der umfassenden Gesamterscheinung „Christentum“ nimmt die Schule für sich die Seite in Anspruch,
die ihr für ihre Zwecke dienlich ist und die sie bewältigen kann. […] Dabei bleibt es der Kirche überlassen, eine
ganz andre Seite an demselben Christentum in besondre Pflege zu nehmen […]. Natürlich entspricht es dem
Christentum ganz besonders, wenn es als eine Macht dargestellt wird, die es mit der Gesinnung zu tun hat.
Man bemerke: es kommt es jetzt noch nicht auf die christliche Gesinnung selber, sondern auf das Christentum
oder auf das Evangelium an, soweit es eine solche Gesinnung erzeugen kann. […] So bedeutet das Evangeli-
um, also die Botschaft von Gott und seiner Welt, die Möglichkeit der Erhebung über alles, was uns hernieder-
ziehen kann. […] So ist unsre Gesamtauffassung durchaus optimistisch; […] – Aber sie ist zugleich durch und
durch ethisch, weil es sich in ihr um den Geist des Guten h[a]ndelt; endlich aber ist sie transzendent, weil sie
eine der Welt dieses Lebens überlegene Welt ins Auge faßt. So bietet sich in dieser geistigen Welt Gottes eine
Hilfe an, um jenes Ideal der weltüberlegenen, aber sich Gott und den menschlichen Gemeinschaften sowie dem
Nächsten unterordnenden Persönlichkeit dem, ach so widerwilligen, Menschenherzen langsam lieb zu machen.
Es gibt keinen andern Beweis des Christentums als diesen einen: das Leben in der Welt läßt sich am besten als
eine Fülle von Gelegenheiten verstehen, stärker zu werden und Liebe zu üben; der Gott, der jene schickt, ist
derselbe, der dieses fordert.
Beides, jenes Ideal und diese geistige Welt Gottes, ist aber auf das engste an eine Geschichte gebunden. Es ist
die Geschichte Jesu von Nazareth, dem die Propheten vorausgegangen und dem die Apostel gefolgt sind. In ihr
ist jenes Ideal und dieser „Glaube“ erwachsen, samt all’ den Kräften, die er in sich schließt, um ihm nahe zu
kommen. Jene Geschichte ist nicht nur der Ursprungsort dieser geistigen Gebilde, sondern auch die Stätte, da
sie dauernd gepflegt und gefördert werden; sind es ja doch Kräfte persönlicher Art, die nicht als frei umher-
schwebende Ideen, sondern als Lebenskräfte, die an Persönlichkeiten gebunden sind, übermittelt werden kön-
nen. […]
2. Christentum als Kulturmacht
Eine solche geistig-geschichtliche Größe muß mannigfaltig mit der geistigen Umwelt, also mit der Kultur und
dem Leben, verwachsen. Sie empfängt vielfach ihren Einfluß, indem sie Lebensformen und Ausdrucksweisen
von ihr entlehnt, und sie wirkt auch auf sie zurück, indem sie jene zuerst unter ihren alten Lebensformen lang-
sam umgestaltet, darnach mit ganz neuen versieht. So kommt das ewig wechselnde, immer alte und neue Stü-
cke verbindende Kleid der Religion zustande. […] Dieses Gewand der Religion zu kennen, ist für beide Teile
wichtig, sowohl für die, die an ihr innerlich Teil nehmen, wie auch für die andern, die bloß am Kultur- und Volks-
leben Anteil haben. […]
§ 4. Ziel des Religionsunterrichts.
Dem Ziele des Religionsunterrichts, das in der Teilnahme am Leben des Volkes liegt, und dem Gegenstand,
den wir in der christlichen Religion erblickt haben, entspricht nun die Bestimmung des Religionsunterrichtes im
einzelnen. Im Dienste des Gemeinschaftslebens soll die Schule aus der christlichen Religion herausholen und
ihren Schülern übermitteln, was imstande ist, sie zu tüchtigen Menschen zu machen. Der tüchtige Mensch, nicht
der Himmelserbe, nicht das Kirchenglied, nicht der bekehrte Mensch – so wichtig diese Ziele an sich kirchlicher
Arbeit sind, – der tüchtige Mensch schwebt der Schularbeit vor. Der Beitrag des Religionsunterrichtes besteht
nun darin, daß er die eben behandelten Seiten an dem gegebenen Christentum so nahe liegt, daß sie zu per-
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sönlichem Besitze werden.
1. Die Gesinnung
[…] Die christliche Gesinnungsmacht oder wenigstens die Anbahnung einer christlichen Gesinnung für die Bil-
dung zu verwerten, ist und bleibt die Hauptaufgabe. […] Ist das höchste Ziel tatsächlich die christliche Persön-
lichkeit, die ganz und gar eins ist mit dem Geiste Gottes und dem Geiste Jesu, so steht darunter der Christ, der
durch den Lebensbruch, wie ihn Schuld und Unglück über uns bringen, von der Gnade Gottes hindurchgerettet
worden ist. Diese beiden Ausdrücke für das Ziel gehören in die tiefgreifende seelsorgerliche Arbeit der Kirche;
auf dem Boden der Schule müssen wir bescheidener bleiben. […] Unsere Fassung des Zieles schließt zwei
Bestimmungen in sich, die je für sich allein zu gering wären, um als höchste zu dienen: der brauchbare und der
unterrichtete Mensch. […]
2. Wissen und Verständnis
Ist die christliche Religion nicht nur Gesinnungsmacht, sondern auch Bestandteil der Kultur, so ist die zweite
Aufgabe des Unterrichts, dafür zu sorgen, daß diese Seite an ihr Gegenstand des Wissens und des Verständ-
nisses werde. […] Haben wir oben darauf aufmerksam gemacht, wie aus allen Zeiten der biblischen Religions-
entwicklung einzelnes zum Besitzstand der Gegenwart geworden ist, so sei nun daran erinnert, zu welchen
Gebieten etwa diese Dinge gehören; ganz unentrinnbar treten sie an jeden heran in der Form der Zeit, wenn wir
an Gedenk- und Festtage denken; überall […] begegnet man ihnen im Raume in der Gestalt von Kirchen,
Denkmälern und andern Bauwerken, in Bildern, Sinnbildern und Zeichen; die Umgangssprache ist gesättigt mit
solchen Erinnerungen; im bürgerlichen, häuslichen und politischen Leben, sowie im sittlichen und sozialen Le-
ben stößt man oft genug auf Nachklänge aus jenen klassischen Zeiten der christlichen Religion. Diese Dinge
muß man einfach wissen, auch wenn sie ganz kalte Tatsachen darstellen sollten, die gar keine Beziehung zur
Gesinnung haben. Und nicht nur wissen sollte man sie, sondern man sollte auch verstehen, was die Wörter
bedeuten. […]
§ 5. Der konfessionelle Unterricht.
[…] Die Reichsverfassung bestimmt, daß der Religionsunterricht nach den Grundsätzen (nicht „Dogmen“) der
Religionsgemeinschaft erteilt werden soll. […] Die praktische Durchführung dieser Grundsätze im Religionsun-
terricht erfordert, daß den Kindern zunächst und vor allem das ihnen nach Inhalt und Form Zugängliche aus der
biblischen Urkunde der Offenbarung, unter starkem Vorwiegen des Neuen Testaments, speziell der Evangelien
(Person und Werk Jesu!), vorgelegt, daß ihnen weiter die Männer und Grundsätze der Reformation vorgeführt,
und daß sie schließlich mit den Lebensäußerungen, Grundsätzen und Aufgaben der gegenwärtigen evangeli-
schen Christenheit bekannt gemacht werden. Alles hindurchgegangen durch die Persönlichkeit des Lehrers und
zugespitzt auf die Förderung des persönlichen religiös-sittlichen Werdens der Kinder.
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Allgemeine Leitfragen:
1. Wie versteht der Verfasser Religionsunterricht in der Schule?
2. Was ist fundamentaler Gegenstand des schulischen Religionsunterrichts?
3. Welche Rolle hat in diesem Konzept der Schüler, die Schülerin?
4. Welche Rolle wird dem Lehrer, der Lehrerin zugewiesen?
5. Welche Ziele und Inhalte des RU werden formuliert? Wie werden sie gefunden?
6. Welche Rolle spielt in diesem Konzept die biblische bzw. christliche Überlieferung?
Spezielle Hinweise und Fragen zur Erschließung des Textes:
Neben Friedrich Niebergall ist als Hauptvertreter der sogenannten Liberalen Religionspädagogik noch Ri-
chard Kabisch (1868–1914; Grundlegendes Werk: Wie lehren wir Religion?, 1910) zu nennen
Hinsichtlich der starken Betonung des Volkes und seiner seelischen Ertüchtigung ist zu beachten, dass
Niebergall 1922, also einige Jahre vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, allerdings auch wenige
Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs schreibt.
Versuchen Sie die Eigenarten der Inhalte und Ziele eines schulischen Religionsunterrichts gegenüber dem
kirchlichen Unterricht nach Niebergall herauszuarbeiten!
„Religion als Fundament eines sittlich gerichteten Volkslebens“: Erläutern Sie diese Formulierung!
Niebergall formuliert als Ziel stattlicher religiöser Bildung den „brauchbare[n] und de[n] unterrichtete[n]
Mensch“: Erläutern Sie dies!
Artikel 149 der Weimarer Reichsverfassung vom 11.08.1919: „(1) Der Religionsunterricht ist ordentliches
Lehrfach der Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien (weltlichen) Schulen. […] Der Religionsunterricht
wird in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der betreffenden Religionsgesellschaft unbeschadet des
Aufsichtsrechtes des Staates erteilt. (2) Die Erteilung religiösen Unterrichts und die Vornahme kirchlicher
Verrichtungen bleibt der Willenserklärung der Lehrer, die Teilnahme an religiösen Unterrichtsfächern und an
kirchlichen Feiern und Handlungen der Willenserklärung desjenigen überlassen, der über die religiöse Er-
ziehung des Kindes zu bestimmen hat. (3) Die theologischen Fakultäten an den Hochschulen bleiben erhal-
ten.“ – Vergleichen Sie dazu Art. 7,3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 23.05.1949!
Im letzten Abschnitt des Textes seien folgende Formulierungen hervorgehoben: „[…] soll Kindern […] das
ihnen nach Inhalt und Form Zugängliche […] bekannt gemacht werden“, sodann „Alles hindurchgegangen
durch die Persönlichkeit des Lehrers und zugespitzt auf die Förderung des persönlichen religiös-sittlichen
Werdens der Kinder“. Was wird in diesen allgemeinen Ausführungen bereits deutlich über pädagogisch-
didaktische Kriterien des Religionsunterrichts?
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Verkündigungsorientierter Religionsunterricht
(Evangelische Unterweisung)
Auszug aus: Helmuth Kittel, Vom Religionsunterricht zur Evangelischen Unterweisung, Hannover u.a. 3
1957,
7–12.33–36
1. Religionsunterricht?
Der evangelische Religionsunterricht war lange vor dem ersten Weltkrieg besonders problematisch geworden.
[...] Sinnvoll war dieser Name Religionsunterricht, solange man ihn selbstverständlich, d.h. ohne ein Problem
dabei zu empfinden, auf die christliche Religion bezog. Also solange man darunter verstehen mußte: Unterricht
in der Religion, die die Religion schlechthin ist. Das war zunächst bis zur Reformationszeit so. [...]
Grundsätzlich anders wurde diese Lage aber durch die Einwirkung der Aufklärung. Jetzt wurde die selbstver-
ständliche Gleichung zwischen Religion und Christentum aufgehoben. Der neue historische Überblick, den man
gewann, ließ das Christentum nur noch als Religion unter Religionen erscheinen. Die Folge davon war, daß der
Begriff Religion zu einem Abstraktum wurde. [...] Das Abstraktum „Religion“ wurde unter der Hand zu einem
Ersatz-Konkretum. [...] An die Stelle Gottes als Inhalt eines konkreten Glaubens trat entweder ein religionsphilo-
sophischer Begriff, wie z.B. „das Absolute“ oder ein religionspsychologisches Phänomen, wie z.B. „das Gefühl
der Unendlichkeit“. [...]
Für den Religionsunterricht bedeutete diese Entwicklung, daß die konkreten evangelischen Unterrichtsgegen-
stände zwar zunächst noch erhalten blieben, aber nicht mehr gesetzgebend waren. Der neue abstrakte Begriff
der Religion wurde herrschend und die christlichen Stoffe übernahmen die Rolle eines Mittels zu fremdem
Zweck. Durch sie sollte über sie hinausgeführt werden zu jener „Religion im Allgemeinen“, die nun unendlich
viel Spielarten gewann. [...]
Evangelische Unterweisung, so heißt die neue uns gestellte Aufgabe – nie wieder Religionsunterricht! Wir wis-
sen jetzt, daß jeder überkonfessionelle Unterricht in Wahrheit weniger als konfessionell wird, jeder überchristli-
che in Wahrheit weniger als christlich. Die „Religion im Allgemeinen“ ist als inhaltslos – trotz ihres Gefühls- und
Wortreichtums – durchschaut. Wir wenden uns entschlossen den Aufgaben zu, die uns gestellt sind, seitdem
das Evangelium Jesu Christi wieder zum Wort Gottes an uns ward.
2. Bibel
Evangelische Unterweisung ist Unterweisung im rechten Umgang mit dem Evangelium.
Wir brauchen diese Unterweisung, ob wir jung sind oder erwachsen, weil wir den Umgang mit dem Evangelium
aus unserer Natur heraus immer wieder falsch verstehen. Es handelt sich vor allem um die Fehler des Histo-
risierens, des Theoretisierens und des Moralisierens. Sie haben auch die Evangelische Unterweisung beeinflußt,
tun das heute noch und werden es immer wieder tun.
Der historisierende Unterricht meint seine Aufgabe gelöst zu haben, wenn er über die Entstehung, den Inhalt
und die Verbreitung des Evangeliums belehrt. Es ist klar, daß man auf diese Weise über das Evangelium aufklä-
ren und sich aufklären lassen kann ohne Christ zu sein oder zu werden. Man wird nur in seiner geschichtlichen
Bildung bereichert.
Der theoretisierende Unterricht sieht im Evangelium wesentlich eine Sammlung bestimmter Lehrsätze über Gott,
Mensch und Welt, die er zu vermitteln hat. Er lehrt also in einer bestimmten Weise denken; man könnte sagen,
er lehrt eine bestimmte Weltanschauung. Das wird in den meisten Fällen für den Menschen mehr bedeuten als
historische Aufklärung. Aber was er gewinnt, ist doch nichts anderes, als was man auf anderen Wegen auch
gewinnen kann. Auch und besser. Wenn es schon um eine Weltanschauung geht, dann ist es doch richtiger,
sich gleich eine moderne anzueignen. Denn alle „christliche Weltanschauung“ lebt ja doch nur von einem meist
quälenden Kompromiß mit dem modernen Weltbild.
Am verbreitetsten in der Schule ist das Moralisieren beim Umgang mit dem Evangelium. Das liegt nicht nur am
moralistischen Mißverständnis des Lehrerdaseins, sondern vor allem an der Tatsache, daß die Kinder selber
ausgesprochene Moralisten zu sein pflegen und oft den Unterricht mit einer unheimlichen Gewalt in diese Bahn
zu zerren vermögen. Jede gewissenhafte Beobachtung des wirklichen Evangeliums muß demgegenüber zwei-
erlei feststellen: einmal, daß die Evangelische Unterweisung als Moralunterricht offenbar zentrale Gehalte des
Evangeliums ausklammern muß; sodann daß es Stoffe gibt, die sich für eine moralische Bildung wesentlich bes-
ser eignen als die evangelischen. Biblische Lesebücher, die von moralisierenden Tendenzen beherrscht wer-
den, pflegen deshalb in kleinerem oder größerem Maße Textfälschungen zu sein.
Was demgegenüber rechter Umgang mit dem Evangelium genannt zu werden verdient, kann man nur aus dem
Evangelium selbst lernen.
Evangelium ist nach dem Neuen Testament Gottes Wort, Fleisch geworden in Jesus Christus (Joh 1). Recht mit
10
dem Evangelium umgehen heißt also: Gottes Wort in Jesu Christi Wort und Werk hören.
Von diesem Jesus Christus zeugen Propheten, Evangelisten und Apostel. Ihr Zeugnis muß ich vernehmen.
Aber nun eben nicht so, daß ich mich von ihm nur historisch aufklären, theoretisch oder moralisch belehren
lassen, sondern so, daß ich Gottes Wort in ihrem Zeugnis vernehmen will. Und zwar des ewigen, also auch ge-
genwärtigen Gottes Wort, der auch mein Gott ist. Denn nur wenn ich diesen Gott meine, meine ich ja ernsthaft
Gott und nicht bloß eine Gottesidee der Spätantike. Wir sind also den Propheten, Evangelisten und Aposteln
gegenüber alle in der Situation des römischen Hauptmanns Kornelius in Caesarea, der den Apostel Petrus zu
sich gebeten hatte und mit den Worten begrüßte: „Jetzt nun haben wir alle (Kornelius und seine Hausgenossen)
uns hier vor Gottes Angesicht eingefunden, um alles zu vernehmen, was dir vom Herrn aufgetragen ist“ (Apg.
10, 33). „Vor dem Angesicht Gottes“ hört er die nun folgende Rede des Petrus über die Sendung Jesu Christi.
„Vor dem Angesicht Gottes“ stehend müssen auch wir das Zeugnis der Propheten, Evangelisten und Apostel
hören, dann hören wir es recht, d. h. dann hören wir Gottes in Christus an uns ergehendes Wort.
Aber wie macht man das: „vor Gottes Angesicht“ hören?
Der Bericht über den Hauptmann Kornelius gibt darauf eine sehr eindeutige Antwort. Kornelius „betete ohne Un-
terlaß zu Gott“ (Apg. 10, 2) und hatte zu Petrus geschickt auf Grund einer an ihn ergangenen Offenbarung Got-
tes (Apg. 10, 3 ff.). Um von Gott angeredet zu werden, muß man von ihm angeredet sein. Das Gebet um die
Gabe des Heiligen Geistes Gottes ist der Anfang alles rechten Umgangs mit dem Evangelium. Mit alledem
gewinnt die Bibel für die Evangelische Unterweisung zentrale Bedeutung. Denn das Zeugnis der Propheten,
Evangelisten und Apostel besitzen wir ja in der Bibel. Wir dürfen sagen: Evangelische Unterweisung ist Un-
terweisung im rechten Umgang mit der Bibel. Wenn unsere Evangelische Unterweisung in der Schule das
nicht leistet, daß sie die Kinder sachgemäß mit der Bibel umgehen lehrt, ist sie verfehlt, und mag sie noch so
„interessant“ und „lebendig“ sein. Und umgekehrt: wenn ihr das geschenkt wird, daß sie Kinder zu sinnvollem
Leben mit der Bibel führt, ist sie recht, und mag sie methodisch noch so unbeholfen sein.
Die Bibel den Kindern nicht zum bloßen historischen Dokument, nicht zur Sammlung religiöser Theorien,
nicht zum moralischen Gesetzbuch, sondern zur Heiligen Schrift, nämlich zur Offenbarung des Heiligen (per-
sönlich, nicht sächlich!) an uns werden zu lassen, dazu sind wir in der Evangelischen Unterweisung berufen.
Dazu eigentlich allein. Denn letzten Endes dient alles, was wir in ihr tun, diesem Sinn.
Das hat eine wichtige Konsequenz für uns, die Berufenen. Die Bibel als Heilige Schrift verstehen lehren, setzt
voraus, sie selbst als solche zu verstehen. Es gibt also nur einen Weg zur rechten Evangelischen Unterwei-
sung, den eigenen Umgang mit der Bibel, das eigene ständige Hören-Wollen, was Gott uns – nicht den Kin-
dern – durch seinen Christus sagt. Zum Lehrer der Heiligen Schrift wird man nur durch das Gebet um Gottes
Geist, der vor Gottes Angesicht stellt, und unser Herz zum Hören aufschließt. Wir wenden mit dieser Feststel-
lung nur oben als allgemeingültig Gefundenes auf unseren Stand an.
[...]
11. Das getaufte Kind
[...] In der modernen Gesellschaft haben wir Erziehungsbereiche entwickelt, in denen das Kind in erster Linie
als Mensch angesprochen wurde. [...] Wenn das Kind in der Evangelischen Unterweisung „als getauft“ ange-
sprochen wird, sind dagegen also keine formalen pädagogischen Einwände möglich [...]
Das Kind als getauft anzusprechen heißt zunächst, sich zu der Pflicht zu bekennen, es als Geschöpf Gottes
zu ehren und es zu lehren, sich selbst als solches zu verstehen. [...] Ehrfurcht des Lehrers vor dem Kinde
und des Kindes vor sich selbst, das ist die erste Frucht unseres Glaubens an das Sakrament der Taufe.
Sodann bekennen wir uns mit unserer Ansprache unserer Kinder als getauft zu der Überzeugung, daß Gottes
Gesetz ihnen ebenso gilt wie uns und also zu der Pflicht, sie unter dieses Gesetz zustellen, wie wir selber
unter ihm leben. [...]
Indem wir unsere Kinder als getauft ansprechen, bekennen wir uns aber auch zu der nüchternen Einsicht,
daß sie gegen Gottes Gesetz verstoßen werden, genau wie wir es taten und tun. [...] Kindern dieses Ver-
hängnis von Schuld und Sünde aufzudecken, ist nicht ohne ernste Gefahr; schon mancher junge Mensch ist
daran zerbrochen. Aber: vor die Wahl gestellt, ob ich jemand, der einem Abgrund entgegenträumt, anrufen
soll oder nicht, werde ich mich immer für das erste entscheiden. Laufe ich auch Gefahr, daß er tödlich er-
schrickt – schweige ich, dann wartet der Tod mit Sicherheit auf ihn.
Die Rettung liegt freilich in unserem Falle nicht schon im Wachwerden. Wir bekennen uns, indem wir unsere
Kinder als getauft ansprechen, zu dem Vertrauen, daß Gottes vergebende Liebe sie tragen wird, wenn sie
fallen, so wie sie uns selbst trägt, und also zu der Pflicht, sie die Berufung zur Gotteskindschaft zu lehren. Die
aus Gottes Hand kommen, sollen wieder an seine Hand finden. Verirren sie, er wird sie zurechtbringen, [...]
laden sie Schuld auf sich, er wird ihnen vergeben, verstricken sie sich in Sünde, er wird sie freimachen. Das
darf ich glauben. Mit diesem Glauben halte ich zu meinen Kindern. Das darf ich ihnen versprechen. Daß es
nichts gibt und geben wird, was sie unwürdig macht, zu Gott zu kommen, wenn Gott sie würdig macht, das
darf ich ihnen verkündigen. [...]
11
Allgemeine Leitfragen:
1. Wie versteht der Verfasser Religionsunterricht in der Schule?
2. Was ist fundamentaler Gegenstand des schulischen Religionsunterrichts?
3. Welche Rolle hat in diesem Konzept der Schüler, die Schülerin?
4. Welche Rolle wird dem Lehrer, der Lehrerin zugewiesen?
5. Welche Ziele und Inhalte des RU werden formuliert? Wie werden sie gefunden?
6. Welche Rolle spielt in diesem Konzept die biblische bzw. christliche Überlieferung?
Spezielle Hinweise und Fragen zur Erschließung des Textes:
Die Theologie der Aufklärung sah in den konkreten Religionen (z.B. Christentum, Judentum, Islam) ge-
schichtliche Manifestationen der Idee des Absoluten. In der Epoche der Romantik bildete dagegen nach
Auffassung vieler (maßgeblich: Schleiermacher) das Gefühl des Unendlichen die Grundlage des religiösen
Bewusstseins der Menschen, aus dem heraus sich religiöse Riten und Traditionen entwickelten. In beiden
Fällen sind die konkreten Religionen gegenüber der allgemeinen Idee des Absoluten bzw. dem doch eher
diffusen Gefühl des Unendlichen sekundär, nachrangig. Dies kritisiert der Autor. Was setzt er dagegen?
Die Vertreter des verkündigungsorientierten Religionsunterrichts – in einer ersten Generation Gerhard Boh-
ne, Oskar Hammelsbeck und Helmuth Kittel, in einer zweiten Generation z.B. Martin Rang, Kurt Frör und
Helmut Angermeyer – orientieren sich stark an der sog. Dialektischen Theologie des Schweizer systemati-
schen Theologen Karl Barth (1886–1968). Barth verwendete den Religionsbegriff kritisch als vergeblichen
menschlichen Versuch, Gott zu begegnen; er lehnte jegliche Anknüpfungspunkte des Evangeliums an eine
allgemein-menschliche Religiosität ab. Vielmehr kommt dem Menschen das Evangelium ganz von außen
als gepredigtes, ihm nicht verfügbares Wort Gottes zu. Politisch bedeutsam wurde Barths Theologie als
Theologie der Krise in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. (Allerdings befand sich der Religionspä-
dagoge Helmuth Kittel trotz dieser theologiegeschichtlichen Verortung in einer unguten Nähe zur national-
sozialistischen Ideologie.)
Der Begriff »Evangelium« ist im Text nicht formal auf die neutestamentlichen Evangelien beschränkt. Viel-
mehr handelt es sich um eine inhaltliche Bestimmung. Welches Verhältnis der Autor zwischen der Inhalts-
bestimmung »Evangelium« und der Bibel sieht, wird in folgender Phrase deutlich: »Gottes Wort in Jesu
Christi Wort und Werk hören.« Wie ist das zu verstehen? Was sagt dies über die Zielsetzung der Evangeli-
schen Unterweisung aus?
Was mit »rechtem Umgang mit dem Evangelium« gemeint ist, lässt sich aus der Defizitanalyse des Histori-
sierens, Theoretisierens und Moralisierens ermitteln. Andererseits: Ist der Autor grundsätzlich gegen histori-
sche Informationen zur Bibel (»Historisieren«), gegen die gedankliche Durchdringung z.B. der Theologie
des Paulus oder des Johannes (»Theoretisieren«), gegen Wertevermittlung anhand der Bibel (»Moralisie-
ren«) eingestellt?
Lässt sich aus folgendem Satz auf eine grundsätzliche Skepsis zu durchdachter Methodenvielfalt schließen:
»Wenn unsere Evangelische Unterweisung in der Schule das nicht leistet, daß sie die Kinder sachgemäß
mit der Bibel umgehen lehrt, ist sie verfehlt, und mag sie noch so „interessant“ und „lebendig“ sein. Und
umgekehrt: wenn ihr das geschenkt wird, daß sie Kinder zu sinnvollem Leben mit der Bibel führt, ist sie
recht, und mag sie methodisch noch so unbeholfen sein.«?
Achten Sie im Abschnitt »Das getaufte Kind« auf das mehrfache »genau wie wir«! Was sagt dies über Leh-
rer- und Schülerrolle aus?
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Hermeneutischer Religionsunterricht
Auszug aus: Gert Otto, Schule – Religionsunterricht – Kirche. Stellung und Aufgabe des Religionsunterrichts in
Volksschule, Gymnasium und Berufsschule, Göttingen 2
1964, 76–82
Auslegung der Bibel als didaktischer Ansatz
Wir gehen von folgender These aus:
Fragt man hinter die durch Bildungsstufe, Alter und stoffliche Eigenart bedingten vielfältigen methodischen Wei-
sen zurück, so stößt man auf Auslegung der Bibel als didaktische Grundform des Religionsunterrichts. So soll
zu Ansätzen von selbständiger Auslegung der Bibel geführt werden. Durch Auslegung wird einerseits Verstehen
eröffnet, andererseits wird – mit zunehmenden geistigen Möglichkeiten des Schülers sich steigernd – sachge-
mäßer eigener Umgang mit biblischen Texten eingeübt.
Beides ist untrennbar aufeinander bezogen.
In der Auslegung der Bibel hat der Religionsunterricht seinen Mittelpunkt. Alle außerbiblischen Inhalte – und es
gibt keinen, der von vornherein und prinzipiell ausgeschlossen wäre – haben im Religionsunterricht ihre Berech-
tigung, wenn sie auf die Auslegung der Bibel bezogen, von ihr her oder auf sie hin verhandelt werden im Sinne
gegenseitiger Erhellung der Inhalte. So umschreibt unsere Ausgangsthese nicht primär Grenzen und schaltet
Inhalte aus, sondern sie markiert gerade angesichts der möglichen Vielfalt die Beziehung aller Einzelinhalte und
das zentrierende Moment des Religionsunterrichts. Von diesem Zentrum her wird das Fach in seinen weitge-
spannten inhaltlichen Möglichkeiten profiliert und vor den hier besonders gefährlichen Verschwommenheiten
bewahrt.
Was auch immer im einzelnen im Religionsunterricht ganz unterschiedlich geschieht, es läßt sich unter fünf
Aspekten, die den Unterricht als Auslegung charakterisieren, erfassen. Je nach der Verschiedenartigkeit der
didaktischen Situation (Unterrichtsinhalt, Altersstufe, Schultyp) werden diese Aspekte unterschiedlich deutlich.
In ihrem Zusammenspiel erfassen sie die Vielgestaltigkeit des Religionsunterrichts.
Die Voraussetzung jeder Religionsstunde ist erstens die vorangegangene Auslegung der biblischen Überliefe-
rung durch den Lehrer. Religionsunterricht geschieht von Auslegung her. Damit soll nicht das „Ergebnis“ des
Unterrichts vorher festgelegt werden, sondern erst, indem der Lehrer sich in einen – vom Unterricht absehen-
den – Auslegungsvollzug um seiner selbst willen hineinstellt, kann er Schüler zu eigenem Verstehen fähig ma-
chen. Denn der Umgang mit dem Text im Unterricht, von der Erzählung über das Gespräch bis zur angeleiteten
Erarbeitung, ist zweitens selber Auslegung biblischer Überlieferung, die auf Verstehen abzielt. Durch die Aus-
legung im Unterricht soll der Schüler zur über den Unterricht hinausgehenden eigenen Auslegung fähig ge-
macht werden. Auslegung im Unterricht möchte also drittens methodisch ermöglichen, daß der Schüler Grund-
begriffe und -techniken des Auslegens einübt. Alle Auslegung im Unterricht hat schon Auslegungen dieses Tex-
tes hinter sich und immer neue Auslegungen vor sich. Auslegung ist immer auch Rezeption von Auslegungen.
Damit stoßen wir auf die geschichtliche Dimension, die für die Auslegung im Unterricht nicht weniger gilt als für
alle Auslegung; denn Unterricht ist nicht einfach Mitteilung der „richtigen“ Auslegung. Daß dieser vierte Aspekt
über weite Schulstufen hin vom Lehrer stellvertretend für seine Schüler wahrgenommen wird, schränkt seine
Bedeutung für das Grundverständnis des Religionsunterrichts nicht ein. Diese vier Aspekte betreffen die bibli-
sche Überlieferung im Religionsunterricht. In das Auslegungsgeschehen ist schließlich fünftens jeder außer-
biblische Stoff mit eingeschlossen. Ob es sich dabei um die Geschichte der Kirche, um den Katechismus, um
das Liedgut der Kirche, um Fremdreligionen, um die Auseinandersetzung mit geistigen Strömungen der Ge-
genwart oder Vergangenheit in Philosophie, Wissenschaft oder Dichtung handelt, alle diese Inhalte werden im
Religionsunterricht um einer Auslegung willen erörtert, die zu immer tiefer führendem Verstehen der biblischen
Überlieferung und ihrer Konsequenzen fähig machen will. Dabei geschieht immer ein Doppeltes: In dem Maße,
in dem diese Inhalte zu profiliertem Verstehen der Bibel verhelfen, werden sie auch in der Eigenart je ihrer Aus-
sage erkannt, weil sie selber nur von biblischer Auslegung her und im Gegenüber zu ihr verstehbar sind. Die
mögliche Spannung zur biblischen Aussage ist für beide Seiten gleich fruchtbar zu machen, und zwar jeweils
von der andern Seite her.
Den Religionsunterricht als Auslegungsgeschehen zu charakterisieren, erscheint deswegen angemessen, weil
damit einerseits der Grundaufgabe der Schule entsprochen ist, andererseits das breite Feld der Inhalte des
Religionsunterrichts wie auch die ganz unterschiedlichen Weisen des Unterrichtens im Sinne eines übergeord-
neten Begriffs umspannt sind. Es braucht dabei nicht besonders betont zu werden, daß in diese generelle Um-
schreibung auch die Interpretation von Christentum einbeschlossen ist, woran Martin Stallmann mit Recht so
viel liegt. Aber sie bleibt streng bezogen auf die Auslegung biblischer Texte. Insofern ist sie notwendiges „Ne-
benergebnis“ jeder Auslegung biblischer Texte, nicht aber die Hauptaufgabe.
Daß die Auslegung biblischer Texte im Zentrum des Religionsunterrichts steht, unterstreicht zugleich die unbe-
dingte sachliche Gebundenheit des Unterrichts, des Unterrichtenden und der Schüler. Es geht darum, sich lite-
rarisch fixierten Aussagen zu stellen, sich um ihr Verständnis zu bemühen und darin immer zugleich und unver-
meidlich sich selbst gefordert und gefragt zu erkennen im Blick auf Gott, sich selbst und die Welt. Denn nichts
13
anderes kann Auslegung meinen. „Es geht nicht darum, fromme Gefühle und frommes Bewußtsein des Leh-
rers ausstrahlen zu lassen, nicht darum, die religiös-sittlichen Anlagen des Kindes zu entwickeln, nicht darum,
mit erbaulichen Geschichten erhebende oder bessernde Wirkungen zu erzielen.“ [Helmuth Kittel] So gilt für den
Religionsunterricht, was für jeden andern Unterricht auch gilt, daß nämlich nicht der Lehrer mit seiner Ausstrah-
lungskraft, nicht das Kind mit seinen schöpferischen Möglichkeiten und nicht Surrogate der Sache, sondern der
Inhalt selbst in seiner Härte, in seinem Wider-Stand, in seiner Frag-Würdigkeit, in seiner An-Sprache, in seiner
Heraus-Forderung im Mittelpunkt des Unterrichts steht.
Das ist eine Grundcharakteristik des Religionsunterrichts, die noch von allen Differenzierungen absieht. An ihr
wird nun aber neben dem theologischen Anspruch, den der Inhalt dieses Faches erhebt, gleichsam aus dem
„Gesetz der Sache“ heraus, für die Situation des Lehrers auch noch etwas anderes deutlich. Die Bindung an
vorliegende Texte und der durch den Inhalt, nicht durch die Person des Lehrers bedingte Anspruch sind
zugleich eine Befreiung für den Religionslehrer. Denn Religionsunterricht kann nicht im Maß eigenen Glaubens
des Lehrers seine Basis haben. Wenn selbstproduzierte Religiosität und fromme Gefühlswelt die Substanz ab-
zugeben hätten, könnte niemand durchhaltenden Religionsunterricht erteilen, und es handelte sich dabei nicht
mehr um evangelischen Religionsunterricht. Diese Gesichtspunkte kommen gerade bei Helmuth Kittel deutlich
zur Geltung. Die Bestimmung des Religionsunterrichts als Auslegung von Texten nimmt Lehrer wie Schüler in
Zucht und unterstellt sie der Disziplin und zugleich der Hilfe, die in der Struktur des Textes liegt. So bedeutet die
Gebundenheit des Unterrichts an die Textauslegung zugleich die Bewahrung vor geistlicher Überforderung und
vor Geschwätz. Auslegung muß vor dem Text verantwortet werden.
Schon an dieser Stelle müssen wir kurz auf die Problematik eingehen, die sich daraus ergibt, daß Gegenstand
der Auslegung die Bibel ist. Wir werden das später noch ausführlicher erörtern müssen, aber eine Grundklärung
ist schon hier nötig. Wenn von der Lektüre der Bibel als Inhalt des Religionsunterrichts gesprochen wird, ge-
schieht das nicht selten mit einer ganz bestimmten Akzentuierung. Im Anschluß an Apg. 10, 33 sagt Helmuth
Kittel zum Beispiel: „,Vor dem Angesicht Gottes‘ stehend müssen auch wir das Zeugnis der Propheten, Evange-
listen und Apostel hören, dann hören wir es recht, d. h. dann hören wir Gottes in Christus an uns ergehendes
Wort.“ Wir hätten als Beispiel auch auf Martin Rang verweisen können, der ausdrücklich formuliert: „Inhalt des
Religionsunterrichts ist Gottes Wort.“ Wo immer in der neueren Religionspädagogik die Wendung „Wort Gottes“
in diesem Zusammenhang gebraucht wird, ist Ähnliches gemeint. Dabei geht es offensichtlich darum, eine der
besonderen „Qualität“ dieses Wortes entsprechende Haltung des Hörens und Weise des Umgangs im Unter-
richt zu betonen. Man will einer dem Inhalt der Bibel unangemessenen Haltung wehren, die sich über die bibli-
schen Aussagen stellt, statt unter sie. Man möchte zugleich die besondere Verbindlichkeit biblischer Aussagen
gegenüber allen andern unüberhörbar machen. Auch die Bevorzugung des Namens „Unterweisung“ statt Unter-
richt dürfte hier mit ihren Grund haben. ...
Daher sollte man nicht vom „Worte Gottes“ als Unterrichtsinhalt reden, denn Inhalt kann nur die Bibel sein, und
zwar als ein Sprachdokument eigener Art. Daß dieses Sprachdokument „Heilige Schrift“ und „Wort Gottes“ ist,
ist nicht die Ausgangsposition des Unterrichts, kann auch nicht die Ausgangshaltung bestimmen, sondern es ist
mögliche Erfahrung im Verlauf der Auslegung im Unterricht. Anderenfalls ist Unterricht gar nicht möglich, son-
dern nur Anbetung, Lob und Dank, also Gottesdienst, aber nicht Kritik und Rückfrage des Schülers. Von der
„Qualität“ der Bibel, Heilige Schrift zu sein, Wort Gottes, kann man also nur überführt werden, man kann damit
aber nicht im Sinne einer Unterrichtskonzeption oder eines Unterrichtsansatzes umgehen, weil dabei das Wort
Gottes unter der Hand zu etwas Verfestigtem wird, das man hat. ...
14
Allgemeine Leitfragen:
1. Wie versteht der Verfasser Religionsunterricht in der Schule?
2. Was ist fundamentaler Gegenstand des schulischen Religionsunterrichts?
3. Welche Rolle hat in diesem Konzept der Schüler, die Schülerin?
4. Welche Rolle wird dem Lehrer, der Lehrerin zugewiesen?
5. Welche Ziele und Inhalte des RU werden formuliert? Wie werden sie gefunden?
6. Welche Rolle spielt in diesem Konzept die biblische bzw. christliche Überlieferung?
Spezielle Hinweise und Fragen zur Erschließung des Textes:
Helmuth Kittel verstand unter „sachgemäßem Umgang mit der Bibel“ das Hören der Anrede Gottes in den
biblischen Texten. Was versteht Gert Otto unter dem Einüben eines eigenen sachgemäßen Umgangs mit
biblischen Texten?
„Unterrichtsinhalt kann nur die Bibel, nicht aber das Wort Gottes sein“; „dass die Bibel Wort Gottes ist, kann
Erfahrung im Verlauf der Auslegung der Bibeltexte im Unterricht werden“; „nicht Verkündigen des Wortes
Gottes, sondern allein Auslegung biblischer Texte kann und muss Unterrichtskonzeption sein“, „nicht Got-
tesdienst, sondern Unterricht“ – Wie (und warum) grenzt sich er Autor gegen die Konzeption der Evangeli-
schen Unterweisung ab?
Die Vertreter der hermeneutischen Konzeption – neben Gert Otto besonders Martin Stallmann und Hans
Stock – orientieren sich an der Theologie des Neutestamentlers Rudolf Bultmann (1884–1976). Dieser
bestritt aufgrund der historischen und kulturellen Distanz die Möglichkeit eines unmittelbaren Verstehens
von Bibeltexten. Vielmehr müssten etwa die Jesus-Geschichten als kerygmatische Texte, d.h. als Predigten
und Glaubenszeugnisse und nicht als Tatsachenberichte, verstanden werden. Um in den biblischen Texten
Gottes Reden für den modernen Menschen verstehbar zu machen, müssten sie entmythologisiert und mit-
hilfe der existentialen Interpretation (Martin Heidegger) gedeutet werden.
Wie verhält sich die „Auslegung biblischer Texte als zentrierendes Moment des Religionsunterrichts“ zu
anderen, außerbiblischen Inhalten im Sinne einer „gegenseitigen Erhellung der Inhalte“?
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Problem- und lernzielorientierter Religionsunterricht
Auszug aus: Hans-Bernhard Kaufmann, Problemorientierter thematischer Religionsunterricht,
in: Dietrich Zilleßen, Religionspädagogisches Werkbuch, Frankfurt a.M u.a. 2
1972, 102–109
1. Der Begriff thematisch-problemorientierter Religionsunterricht soll bestimmte Forderungen und Einsichten der
Religionsdidaktik im Blick auf die Lehrplanentscheidungen und den didaktischen Ansatz des Religionsunter-
richts zur Geltung bringen. Dabei werden zwei Voraussetzungen gemacht, die heute in der Religionspädagogik
allgemein anerkannt sind:
(1) Religionsunterricht im Rahmen der öffentlichen Schule kann nicht das Privileg einer Gruppe oder Institution
sein. Er muß sich deshalb orientieren an den allgemeinen Bildungsaufgaben und Lernzielen der Schule. Die
Religionspädagogik muß darlegen können, warum alle junge Menschen (nicht nur die Christen) im Blick auf ihr
gegenwärtiges und zukünftiges Leben die Möglichkeit erhalten sollen, sich im Rahmen der Schule mit den Fra-
gen der Religion und des Glaubens auseinanderzusetzen.
(2) Unterricht ist durch eine enge Wechselbeziehung von Inhalten, Medien, Methoden und den sozialen For-
men, nämlich dem Umgangsstil und den Gruppenprozessen gekennzeichnet, in denen sich der Unterricht voll-
zieht. Im besonderen wird die Stoffauswahl und Gestaltung des Unterrichts von den Zielen und Aufgaben ge-
steuert, die der Unterricht anstrebt.
1.1. Der Terminus „thematisch-problemorientiert“ soll die Einsicht zur Geltung bringen, daß die Ausgangssitua-
tion und die Lebenswelt der jungen Menschen als Voraussetzung und Kontext aller schulisch vermittelten So-
zialisations- und Lernprozesse ernst genommen werden muß. Wenn biblische Überlieferung und christliche
Tradition (Frömmigkeit, Sitte, kirchliche Lebensformen) an Einfluß und Gestaltungskraft verlieren, dann können
ihre Inhalte und Symbole nicht mehr als gemeinsamer Bezugsrahmen des Welt- und Selbstverständnisses und
der Handlungsorientierung in Anspruch genommen werden. Didaktisch wird damit eine Auswahl der Inhalte und
Aufgaben notwendig, die an den Erfahrungen und Interessen orientiert ist, die diese Generation bestimmen.
Didaktisches Denken fragt nicht danach, wie christliche Stoffe vermittelt werden können, sondern woraufhin ein
„Gegenstand“ ausgelegt werden muß, damit junge Menschen seinen Anspruch vernehmen können, und
zugleich, woraufhin junge Menschen angesprochen werden müssen, damit die Frage nach Gott ihre eigene
Frage und Erfahrung werden kann. Die Themen des Religionsunterrichts sind deshalb so gewählt und gestaltet,
daß sie Beteiligung herausfordern und die Bedeutung des Glaubens und der Frage nach dem Sinn und nach
den Normen des Menschseins im Zusammenhang mit den personalen, interpersonalen und gesellschaftlich-
politischen Fragen behandeln…
1.2. Der Terminus „thematisch-problemorientiert“ soll die Einsicht zum Ausdruck bringen, daß das Verhalten
und die Verhaltensmuster der Menschen immer weniger traditionsgeleitet sind. Der soziale Wandel in den ent-
wickelten Gesellschaften, das Bewußtsein von der Geschichtlichkeit und Veränderbarkeit der gesellschaftlichen
Verhältnisse und Lebensbedingungen, die emanzipatorischen Impulse seit Reformation und Aufklärung führten
und führen zu einer zukunfts- und aufgabenorientierten Lebenseinstellung.
Die Themen des problemorientierten Religionsunterrichts sprengen die Grenzen der traditionellen Schulfächer.
Schulorganisatorisch und lehrplantheoretisch ist deshalb von drei Typen auszugehen [...]:
— Bearbeitung fachspezifischer Inhalte und Aufgaben (z. B. Interpretation von religiösen Bekenntnissen und
Symbolen; Verständnis der Verkündigung von Jesus Christus; Orientierung über Herkunft und Ziele der ökume-
nischen Bewegung).
— Bearbeitung fachübergreifender Inhalte und Aufgaben mit leitender theologischer (religiöser) Fragestellung,
die zu ihrer sachgemäßen Behandlung eine funktionale Beteiligung anderer Fächer erfordern (z. B. Streit um
die Gottesfrage; Selbstverständnis und Kritik der Kirche unter gesellschaftlichem und theologischem Aspekt).
— Bearbeitung fachübergreifender Inhalte und Aufgaben, die eine funktionale Beteiligung theologischer (religi-
öser) Fragestellungen erfordern (z. B. Rassenkonflikte; Friedenserziehung; soziale Gerechtigkeit; biologische
Manipulation).
Didaktisch wird damit eine Auswahl der Inhalte und Aufgaben notwendig, die an den Konflikten und Herausfor-
derungen, an den Lebens- und Verwendungssituationen, an den komplexen fachübergreifenden Zusammen-
hängen und Problemen unseres Lebens und unserer Zukunft orientiert ist. Die Berücksichtigung der curricula-
ren Determinanten: Bedürfnisse, Interessen und Perspektiven des Lernenden, Erfordernisse und Konflikte der
Gesellschaft, Überlieferung und Fachwissenschaften soll eine Ausgewogenheit der Lehrplanentscheidungen
möglich machen. Ein Religionsunterricht, der so an den Aufgaben und Konflikten orientiert ist, wird zugleich die
Überlieferung des christlichen Glaubens und anderer religiöser und weltanschaulicher Traditionen beachten,
— weil unsere Gegenwart auch aus ihrer Herkunft verstanden werden muß;
16
— weil die Kenntnis der Überlieferung Distanz und Kritik der Gegenwart ermöglicht und neue Impulse für
zukünftiges Handeln vermittelt;
— weil die biblisch-christliche Überlieferung und ihre Wirkungsgeschichte eine Einsicht in Grundlagen und
Kriterien zur Erkenntnis und Beurteilung des Christentums und der Kirchen in der Gegenwart ermöglicht.
Damit hängen eng die Inanspruchnahme eines didaktisch-methodischen Instrumentariums mit der Intention zu
größerer Beteiligung und Kompetenz von Lehrenden und Lernenden und die Entwicklung neuer Erziehungsstile
und Kommunikationsformen zusammen.
1.3. Der Terminus „thematisch-problemorientiert“ soll die Einsicht zum Ausdruck bringen, daß das Lernen des
Menschen, das immer stärker von ausdrücklich geplanten und bewußten Lernprozessen abhängt, auch im Reli-
gionsunterricht auf seine optimale Form hin angeregt werden soll: das entdeckende, kreative und problem-
lösende Denken und Verhalten. Im Blick auf die Inhalte und Aufgaben verfährt der problemorientierte Unterricht
thematisch-exemplarisch. Eine Stofforientierung, eine Deduktion aus dogmatischen Systemen wird zurückge-
wiesen, da sie den jungen Menschen Zwängen unterwirft und Mündigkeit verhindert. Unterricht ist darauf aus,
an den ausgewählten Inhalten und durch seine Verfahren eine personale Betroffenheit, Interesse und Beteili-
gung hervorzurufen, die dann zu Einsichten und Erfahrungen in der Ebene des Elementaren und Fundamenta-
len führen. …
2. Der problemorientierte thematische Religionsunterricht ist vorwiegend aus didaktischen Überlegungen und
Erfordernissen entwickelt worden. Der Begriff ist nicht geeignet, um die Konzeption und Begründung des Religi-
onsunterrichts an den öffentlichen Schulen im ganzen zu charakterisieren. …
3. Die Kritik an einem problemorientierten Religionsunterricht weist einerseits berechtigt auf Einseitigkeiten,
Mängel und falsche Generalisierungen einzelner richtiger Einsichten in der Konzeption, in den vorliegenden
Unterrichtsmodellen und in der Unterrichtspraxis hin, andererseits ist diese Kritik jedoch vielfach von Mißver-
ständnissen, Unterstellungen und normativen Vorentscheidungen bestimmt, die aufgeklärt, zurückgewiesen und
hinterfragt werden müssen, um durch eine Gegenkritik dem m. E. berechtigten und notwendigen Ansatz eines
problemorientierten thematischen Unterrichts in Schule und Kirche Raum zu schaffen.
3.1. Konfessionalität und Pluralismus
3.1.1. Die Kritik weist zurecht darauf hin, daß die Frage der Konfessionalität […] in vielen Beiträgen und Unter-
richtsentwürfen zum problemorientierten Religionsunterricht nicht ausreichend bedacht und in einem Teil des
Materials entweder zugunsten eines Pluralismus-Modells, in dem nur noch Standpunkte referiert werden, oder
zugunsten neuer (meist politisch-ideologischer) Bekenntnis-Positionen „gelöst“ wird.
Glaube und Religion gibt es immer nur in einer konkreten geschichtlich-gesellschaftlich-kulturellen Ausprägung.
Ein „objektiver“ Religionsunterricht, der meint, Aufklärung und Information könnten diesen „Gegenstand“ hinrei-
chend vermitteln, ohne daß wertende Stellungnahmen und persönliche Überzeugungen ins Spiel gebracht wer-
den, ist wissenschaftstheoretisch und didaktisch nicht zu begründen. …
3.2. Die curricularen Determinanten und die Bedeutung der Theologie
3.2.1. Die Kritik weist zurecht darauf hin, daß die Beiträge und Modelle zum problem- und lernzielorientierten
Religionsunterricht sehr häufig in der Auswahl der Themen einseitig an den „Bedürfnissen und Interessen der
Schüler“ oder an den aktuellen gesellschaftlichen Konflikten und Problemen orientiert sind. Zugleich wird kriti-
siert, daß die theologische Reflexion dieser Themen und die theologischen Aussagen (repräsentiert durch bibli-
sche Texte und Intentionen oder durch andere Zeugnisse und Dokumente der christlichen Überlieferung, der
gegenwärtigen theologischen Diskussion und aus der Arbeit der Kirchen) zu kurz kommen und oft nur additiv
angefügt sind oder als Inhalte aus dem Zusammenhang gerissen und nur noch funktional zur Erreichung be-
stimmter Lernziele eingesetzt werden. Als Korrektur zu einem traditionsorientierten biblischen Unterricht lag
sicher in der Themenwahl für einige Jahre ein Nachholbedarf vor. Die Anfragen müssen jedoch dringend aufge-
nommen werden, wenn der Religionsunterricht ein eigenes Profil behalten und gewinnen will….
3.2.2. Die Kritik muß zurückgewiesen werden, wenn sie sich auf eine Theologie beruft, die einseitig an der his-
torisch-kritischen oder systematischen Interpretation der biblisch-christlichen Überlieferung oder auch an einer
existentialen Ontologie orientiert ist. Auf diese Weise wird die Weltlichkeit und Geschichtlichkeit des christlichen
Glaubens, sowie seine sozialkulturelle und gesellschaftliche Verflochtenheit und die Bedeutung des sozialen
Wandels für die hermeneutische Frage geleugnet und die Gegenwart des lebendig machenden Wortes Gottes
sowie das Zeugnis in Wort und Verhalten der Christen immer nur als ein Übersetzungsproblem von der Exege-
se zur Predigt bzw. zur Katechese definiert.
3.3. Inhalte und Ziele
Mit der Übernahme der herrschenden Curriculum-Konzeption hat sich die Forderung nach einer lernzielorien-
tierten Unterrichtsplanung — auch für den Religionsunterricht — durchgesetzt, ohne daß die damit verbunde-
nen wissenschaftstheoretischen und anthropologisch-didaktischen Fragen hinreichend geklärt sind. Der struk-
turelle Zusammenhang von Inhalten (Themen, Gegenständen, Aufgaben), Normen (Grundsätzen, Werten),
17
Zielen (Intentionen, Aufgaben, Prognosen) und Situationen (Bedürfnissen, Konflikten, Handlungen, Er-
eignissen) ist ebenso problematisch wie die Frage nach der Priorität (dem Grad der Abhängigkeit) der einzelnen
Faktoren. …
Der Versuch, die Lernzielorientierung auch im Religionsunterricht absolut zu sehen, ist zurecht mit folgenden
Argumenten kritisiert worden:
— Eine curriculare Lernzielorientierung, die eine Operationalisierung des Lernprozesses und eine empirische
Überprüfung des Lernerfolgs zur Bedingung jedes „effektiven“ Unterrichts macht, setzt die an Funktionen orien-
tierte technische Verfügung über die Wirklichkeit (Können und Beherrschen, Fähigkeiten, Leistungen) absolut.
Diese Funktionen erhalten ihren Sinn jedoch erst aus dem Zusammenhang von Weltauslegung und Selbstver-
ständnis.
— Eine curriculare Lernzielorientierung, die Inhalte und Verfahren, Lernerfahrungen und Situationen nur als
Mittel zur Erreichung von Zwecken (Zielen) einsetzt, widerspricht der fundamentalen Bedingung menschlicher
Selbsterfahrung, die von einer stets vorgängigen, im Medium von Situationen, Inhalten und Symbolen wirksa-
men intersubjektiven Erschlossenheit von Mensch und Welt bestimmt ist. Der Versuch, diese Bedingung „radi-
kal“ zu objektivieren und die Elemente als Instrumente verfügbar zu machen, entfremdet den Menschen sich
selbst und macht ihn unfähig zur Erfahrung von Sinn und Transzendenz. ...
— Eine curriculare Lernzielorientierung, die davon ausgeht, daß auch Tradition unbegrenzt vergegenständlicht,
aufgearbeitet und instrumental „manipuliert“ werden kann, beachtet nicht die fundamentale Ermöglichung des
Menschen und menschlich-gesellschaftlicher Kommunikation und Interpretation durch Überlieferung. ...
Allgemeine Leitfragen:
1. Wie versteht der Verfasser Religionsunterricht in der Schule?
2. Was ist fundamentaler Gegenstand des schulischen Religionsunterrichts?
3. Welche Rolle hat in diesem Konzept der Schüler, die Schülerin?
4. Welche Rolle wird dem Lehrer, der Lehrerin zugewiesen?
5. Welche Ziele und Inhalte des RU werden formuliert? Wie werden sie gefunden?
6. Welche Rolle spielt in diesem Konzept die biblische bzw. christliche Überlieferung?
Spezielle Hinweise und Fragen zur Erschließung des Textes:
„Religionsunterricht an öffentlichen Schulen muss sich orientieren an den allgemeinen Bildungsaufgaben
und Lernzielen der Schulen“: Der schulische RU wurde in der Evangelischen Unterweisung primär theolo-
gisch begründet (Stichwort: Kirche in der Schule). Was würde man konkret als allgemeine pädagogische
Bildungsaufgaben und Lernziele benennen? Wie bestimmen diese Ziele Stoffauswahl und Unterrichtsges-
taltung?
Welche Konsequenzen haben nach Kaufmann der Rückgang an Einfluss und Gestaltungskraft biblisch-
christlicher und kirchlicher Tradition? Welcher Stellenwert sollte biblisch-christlichen Traditionen im Religi-
onsunterricht zukommen?
Erläutern Sie die Begriffe „problemorientiert“ und „lernzielorientiert“!
Bringen Sie die von Kaufmann referierte Kritik am problem- und lernzielorientierten Konzept sowie seine
Entgegnung auf den Punkt!
„Persönliche Betroffenheit, Interesse, und Beteiligung führen zu Einsichten und Erfahrungen in der Ebene
des Elementaren und Fundamentalen“ – Die Begriffe des Elementaren und des Fundamentalen stammen
aus der konstruktiv-kritischen Pädagogik Wolfgang Klafkis: Demnach sind mit dem Fundamentalen die all-
gemeinsten Prinzipien, Kategorien und Grunderfahrungen eines Fachs bezeichnet (z.B. die theologische
Wirklichkeit, der wir uns stellen müssen: die Wirklichkeit des in Jesus Christus offenbaren Gottes bzw. der
Glaube an ihn), während das Elementare als wesentliche und bedeutsame Einsichten eines konkreten
Lernbereichs stets neu zu bestimmen ist („wesentlich für jemanden in einer bestimmten Situation“); im Ele-
mentaren erschließt sich dem Schüler/der Schülerin ein Abschnitt seiner/ihrer Wirklichkeit und zugleich er-
schließt er/sie sich selbst der ihn/sie umgebenden Wirklichkeit (Prinzip wechselseitiger Erschließung).
18
Interaktiver, therapeutisch-sozialisationsbegleitender
Religionsunterricht
Auszug aus: Dieter Stoodt, Die Praxis der Interaktion im Religionsunterricht,
in: Der Evangelischer Erzieher 23 (1971) 1–10
I.
...
II. ...
1. Diese Art von [als Interaktion aufgezogenem] Religionsunterricht ist nicht mehr stofforientiert. Zwar muß die
Interaktions-Praxis immer auf Information bezogen bleiben; denn selbstverständlich kann es sich nicht um die
Behauptung handeln, es sollten überhaupt keine Texte mehr gelesen, keine Themen mehr behandelt, keine
historischen Zusammenhänge mehr durchschaut werden. Aber die Interaktionspraxis beendet die Schulstube
als bloßen Verschiebebahnhof von Wissenseinheiten, beendet den Schlummer, der in der Meinung besteht,
Schüler seien rein kognitive Wesen, die andere als kognitive Bedürfnisse nicht haben oder doch nicht zum Vor-
schein kommen lassen dürften. Im Rahmen der Wendung vom traditionell-stofforientierten zum lernzielbestimm-
ten Unterricht weist das Interaktionsmodell dem Stoff nicht nur den dritten Rang an, sondern macht, pointiert
gesagt, den Schüler selbst zum Gegenstand des Unterrichts: Den Schüler in seiner Relation zu den Menschen,
mit deren Hilfe und mit denen zusammen er aufwächst, sowie zu den Institutionen, den kulturellen Stereotypen,
die ihm wie jenen vorgegeben sind, und den Schüler in seiner Genese, in deren Verlauf er sich mit Hilfe älterer
Menschen und zusammen mit Gleichaltrigen innerhalb der Institutionen und innerhalb jener Wert- und Sinnzu-
sammenhänge eine Grundorientierung erwerben wird.
2. Der Religionsunterricht als Interaktion ist nicht mehr vor allem auf der kognitiven Ebene der Schüler am
Werk, sondern er soll die Schüler in den Sozialisationsprozessen begleiten, die durch jene genannten Relatio-
nen und genetischen Abläufe umschrieben sind. Insofern ist er an der emotionalen Sphäre, an den Grundmoti-
vationen ausgerichtet. Man kann auch sagen: Er ist notwendig seelsorgerlich, er ist, wenngleich in einem ande-
ren Sinn als im psychologischen Sprachgebrauch, therapeutisch. ... Der Religionsunterricht als Interaktions-
Praxis ist therapeutisch, indem er Fixierungen und Konflikte bewußt macht, gesellschaftliche Hierarchien und
ihre Folgen, schichtenbedingte Sperren, die das kommunikative Handeln der Schüler beeinflussen. ...
3. Was das mit Religion, speziell mit christlichem Religionsunterricht zu tun hat, ist eine weitere Frage, auf die
man inzwischen eine Antwort geben kann; sie läßt sich aus dem Vorangehenden ableiten. Daß gerade der Re-
ligionsunterricht die Sozialisationsprozesse in unserer Gesellschaft begleiten muß, vermag selbstverständlich
dem nicht einzuleuchten, der zumindest eine der beiden folgenden Voraussetzungen wahrt:
Einmal, es ergebe sich aus kognitiven Lernprozessen gleichsam mit immanenter Notwendigkeit in der Biogra-
phie der Schüler die Anwendung des als richtig Erkannten und Gelernten auf die Lebens-Praxis;
zweitens, es bestehe unsere Legitimation ... allein in der Kontinuität der Tradierung biblischer Worte, etwa der
Worte Jesu.
Beide Voraussetzungen sind anfechtbar. ...
Der Fehler dieser [ersten] Voraussetzung besteht darin, daß auf die Verarbeitungsprozesse nicht ausreichend
Wert gelegt wird. Wer an die emanzipationshemmenden, kommunikationsverderbenden Einstellungen heran-
kommen will, wer dort die Hilfe Jesu geschehen lassen möchte, der darf sich nicht darauf verlassen, daß die
Schüler (...) von alleine in ihrem Motivationszentrum wirksam werden lassen, was ihnen ins Bewußtsein ge-
drungen ist. Verarbeitungsprozesse, die diese vermittelnde Funktion übernehmen, sind offensichtlich nötiger als
je zuvor.
Zum Zweiten kommen wir aus einer langen Geschichte, der es selbstverständlich erschien, daß die Bibel, ihre
Geschichten, Personen, Worte, Bilder, Vorstellungen – also solche von Bedeutung seien, weil nämlich ihre Lek-
türe ihre persönliche Aneignung, Glauben wirke. Ebenso verfuhr man auch mit Jesus selber: Seine Gleichnisse,
seine Wundertaten, sein Leiden und seine Worte müßten, „zur Sprache gebracht“, Glauben wirken. Die Konti-
nuität mit Jesus war eine verbale, eine durch Bibellesen und Predigt vermittelte. ... Es gibt auch eine andere
Kontinuität zu Jesus; und es hat sie stets gegeben. Sie besteht im Handeln wie Jesus, in der Kraft Jesu, in der
Intention Jesu. Wie ist das gemeint? Nun, Jesus hat offenbar einzelne geschädigte oder beschädigte Menschen
nicht übersehen, sondern angesprochen, geheilt, geliebt, restituiert, resozialisiert, rehabilitiert. Und gleichzeitig
hat er einige der Schäden einzelner auf die Schäden des Kollektivs zurückgeführt und ist daher in Streit mit dem
Kollektiv geraten, dessen Schaden Numero eins die Gesetzlichkeit war. Eben entsprechendes Tun, sich dieser
Fragen, dieser Zusammenhänge, der in sie verwickelten Menschen annehmen – auch das ist eine Kontinuität
mit Jesus und zu Jesus über die rein verbale hinaus.
19
Religionsunterricht, christlicher, evangelischer Religionsunterricht hat es legitimerweise mit demonstrativem,
exemplarischen Handeln zu tun, das sich in aufdeckender wie heilender Absicht auf die Schäden einzelner und,
diese auf die Verfassung der Gesellschaft rückkoppelnd, des Kollektivs bezieht. ...
4. Interaktion, so stellt sich weiter heraus, ist der Religionsunterricht dann zu nennen, wenn er sich der genann-
ten Inhalte annimmt und sich dabei als Interaktion organisiert, also die Form von Gruppenarbeit annimmt. Grup-
penarbeit ist sicher zunächst im Sinne der Lerngruppen zu denken, in der frontale Vorgänge durch partner-
schaftliche oder sich in kleinen Gruppen vollziehende Lernabläufe abgelöst worden sind. Darüber hinaus ist hier
die Tendenz zur Selbsterfahrungsgruppe gemeint. ...
In der Arbeit mit Gruppen treten die persönlichen Grundorientierungen, Fehlorientierungen, die Verkrüppelun-
gen der Vorstellungen und Einstellungen gleichsam mikrokosmisch in Erscheinung. Die unterdrückten Span-
nungen, Ängste, Fixierungen kommen zum Vorschein. Mit ihnen diagnostizierend und eruierend, wenn möglich
heilend umzugehen, ist alles andere als ein luxuriöses Spielchen, das geringer zu bewerten wäre als der soge-
nannte Ernst des Alltags. Ernster als hier geht es nirgends. ...
5. Worin bestehen pädagogische Absicht und theologisches Interesse eines derartigen Unterrichts?
Es handelt sich nicht um eine Konzeption, die sich um des Anspruches auf Originalität willen als etwas völlig
Neues verstehen und daher von bisherigen Konzeptionen abheben möchte. Im Gegenteil integriert sie von den
bisherigen Konzeptionen vieles, akzentuiert sie allerdings neu.
Mit der Konzeption der Evangelischen Unterweisung vertritt sie die seelsorgerliche Tendenz ... Sie spitzt sie
freilich zu, indem sie die allgemein-politischen Implikationen individueller wie sozialer und religiöser Gestaltung
mitbedenkt.
Mit der Konzeption eines hermeneutischen RU.s beachtet sie die fundamentale Bedeutung der Tradition, doch
versteht sie die Tradition nicht vor allem auf der historischen oder gar nur der philologischen Ebene und in pri-
vatistischer Verengung, sondern stellt sie in den Rahmen der Notwendigkeit, daß jede Gesellschaft der Grund-
orientierung bedarf, sowie in den Rahmen der Anthropogenese, der Sozialisation und Individuation, in der die
Grundwerte der Gesellschaft greifbar sowie ihre Aufarbeitung dringlich werden.
Mit den problemorientierten Konzepten hat sie gemeinsam, daß der RU sich nicht einseitig um die Feinarbeit an
biblischen Texten unter Vernachlässigung der drastischen und durchgreifend wirksamen ökonomischen politi-
schen Gestaltungen und die davon abhängigen sozialpsychologischen und individuell-lebensgeschichtlichen
Probleme kümmern darf. Mehr als jene Modelle bezieht die Interaktions-Konzeption die emotionale Ebene der
Schüler mit ein. Entsprechendes gilt in bezug auf die lernzielorientierten RU-Modelle.
Die Einbeziehung der Affektbildung, der eingelebten emotionalen Besetzungen von Wert- und Sinnfragen, das
Abzielen auf Lernziele, die im objektiven Interesse der Schüler liegen, der Anschluß der biblisch-
hermeneutischen Perspektive an die anthropogenetischen Probleme im Sozialisationsprozeß, die Überschrei-
tung des philologisch-historischen Ansatzes hin zu einem die politischen und ökonomischen Mechanismen be-
wußt reflektierenden Unterricht – das sind die pädagogischen wie theologischen Intentionen eines RU, der sich,
ohne Stoffe auszuschließen, schwerpunktmäßig als Interaktion versteht.
III. ...
20
Allgemeine Leitfragen:
1. Wie versteht der Verfasser Religionsunterricht in der Schule?
2. Was ist fundamentaler Gegenstand des schulischen Religionsunterrichts?
3. Welche Rolle hat in diesem Konzept der Schüler, die Schülerin?
4. Welche Rolle wird dem Lehrer, der Lehrerin zugewiesen?
5. Welche Ziele und Inhalte des RU werden formuliert? Wie werden sie gefunden?
6. Welche Rolle spielt in diesem Konzept die biblische bzw. christliche Überlieferung?
Spezielle Hinweise und Fragen zur Erschließung des Textes:
Stoodt unterscheidet letztlich drei Bereiche, die Religionsdidaktik zu beachten hat: die kognitive Ebene der
Wissens- und Informationsvermittlung, die affektiv-emotionale Ebene der Grundmotivationen bzw. der inne-
ren Beteiligung sowie die pragmatische Ebene der Anwendung bzw. Umsetzung von Gelerntem in prakti-
sches Handeln. Wie verhalten sich diese drei Bereiche in Stoodts Konzept zueinander?
Bevor man vorschnell von einer Überforderung von Lehrkräften spricht, sollte man genau anschauen, was
Stoodt selbst unter „seelsorgerlich-therapeutisch“ versteht (und was er darunter nicht versteht).
Was macht die Interaktions-Praxis aus, von der Stoodt spricht?
Inwiefern nimmt Stoodt Impulse von verkündigungsorientiertem, von hermeneutischem und von problemori-
entiertem Religionsunterricht auf und inwieweit setzt er neue Akzente?
21
Symboldidaktischer Religionsunterricht
in katholischer Perspektive
Auszug aus: Hubertus Halbfas, Religionsunterricht in der Grundschule, Lehrerhandbuch 1, Benzinger Patmos 1983
Was ist ein Symbol? Ein Tisch ist ein Tisch. So sagt man. Aber ist es so eindeutig? Ein Tisch ist mehr als ein
Tisch. Hier trifft sich die Familie. Gäste kommen und finden Aufnahme in die Hausgemeinschaft. An einem
Tisch miteinander zu essen verbindet alle. Im Lexikon steht: »Tisch: Möbelstück aus waagerechter Platte auf
einem oder mehreren Beinen.« Das ist eindeutig – von außen gesehen. Im Leben der Menschen bedeutet der
Tisch die Mitte des Hauses: Symbol der Gemeinsamkeit.
Sachen sind Sachen. Man kann sie zählen, messen, fotografieren. Für Sachen gibt es Kaufhäuser. Man kann
sie ersetzen. Unersetzlich sind die Lebensgründe: Hoffnung und Liebe. Dafür gibt es keine Kaufhäuser, keine
Maße und keinen Gegenwert. Hoffnung und Liebe sind immer Geschenke. Weil sie ein Geheimnis und nicht
machbar sind, kann man sie eine verborgene oder innere Wirklichkeit nennen.
Solche Wirklichkeiten, die niemand ganz kennt, von der aber alle leben, offenbaren sich in Symbolen. Die Hand
eines anderen halten, ein Kuss, eine Umarmung sind Symbole der Liebe. Symbole zeigen das Unsichtbare. […]
Merkmale des Symbols (1) Das grundlegende Merkmal des Symbols…ist seine Eigenschaft, die empirisch ge-
schlossene Oberfläche der Dinge aufzubrechen und eine dahinter verborgene Tiefe aufzudecken. Symbole
weisen über sich selbst hinaus auf eine Wirklichkeit, die nicht unmittelbar ergriffen werden kann und der wir auf
keinem anderen Weg begegnen können als auf dem Weg des Symbols.
(2) Primäre Symbole vermitteln die Wirklichkeit, die sie bezeichnen. Die Redeweise, dies oder jenes sei »nur
ein Symbol«, verkennt diesen einzigartigen Rang des Symbols. Ein Kuss, eine Umarmung sind nicht »nur«
Hinweis auf die Liebe, sondern sind die sich ereignende Liebe selbst [...]. Bildliche Symboldarstellungen aller-
dings, die die Umarmung, das gemeinsame Mahl, den Ehering zeigen, lassen nicht an der Wirklichkeit dessen
teilhaben, worauf die Symbole hinweisen, denn der primäre Ort jener Symbole ist ihr Vollzug, nicht ihre sekun-
däre Darstellung.
(3) Symbole sind nicht willkürlich, sie können weder artifiziell gemacht noch erfunden werden. […] Was aber
lässt ein Symbol zum Symbol werden?
Bei Friedrich Creuzer heißt es, die Entstehung der Symbole falle mit ihrer Deutung zusammen. Demnach
kommt es darauf an, in einem Vorgang oder einem Ding einen darüber hinausweisenden Sinnbezug zu finden;
zu entdecken, dass in dieser konkreten Realität eine zweite, geistige Wirklichkeit mit eingeschlossen ist. Solan-
ge diese Entdeckung nicht möglich ist, fehlt eben dieser konkreten Realität ihr symbolischer Hintergrund. Erst
die deutende Erkenntnis, der erkennende Vollzug, macht also das »Symbol« zum Symbol. Die Nicht-
Beliebigkeit der Symbole liegt darin ebenso eingeschlossen wie ihre Geschichtlichkeit und ihre Bindung an ge-
sellschaftliche Anerkennung und Vermittlung.
(4) Was Symbole vermitteln, ist auf keinem zweiten Weg nebenher zu gewinnen. Es liegt an ihrem Charakter,
empirisch Konkretes mit ungegenständlicher Wirklichkeit zu verbinden. Was Symbole sagen, lässt sich weder
empirisch erreichen und analysieren noch auf irgendeinem anderen Erkenntnisweg als dem symbolischen fin-
den. Darum sind Symbole die einzige Sprache, in der sich religiöse Wirklichkeit unmittelbar ausdrücken kann.
Sie sind die authentische Sprache der Religionen selbst. […] Wenn aber die Religionen selbst sprechen, wenn
sie artikulieren, was ihre innere Wahrheit ist, geschieht dies ausschließlich in der Sprache des Symbols.
(5) Symbole sind Wirklichkeiten eigener Mächtigkeit. Sie können ordnen, integrieren, heilen, aufbauen. Sie kön-
nen aber auch Angst auslösen, zersetzen und zerstören. Immer reicht ihre Wirkung in die Gefühlswelt des Men-
schen und in die Tiefe seiner Seele. Deshalb sind Symbole nicht allein rationale Kommunikationsmittel, ihre
größere Bedeutung liegt dem bewussten Ausdruck voraus: In Symbolen artikulieren sich die mächtigen Kräfte
des Unbewussten. […]
Symbol und Zeichen
(1) Erste Unterscheidungsmerkmale zwischen Symbol und Zeichen liegen in ihrer Bedeutungsvalenz: Zeichen
sind eindeutig, Symbole sind mehrdeutig: Verkehrszeichen, die nicht eindeutig wären, wären wertlos und un-
brauchbar als Zeichen. Symbole, die eindeutig interpretiert werden, verkommen zu Chiffren, zu einem gegen-
ständlichen Begriffsersatz.
(2) Zeichen sind primär kognitiv gerichtet. Sie signalisieren einen Hinweis, der rational erfasst und befolgt wer-
den will. Symbole sprechen den ganzen Menschen an und sind nie ohne affektive Komponente. Das Lebku-
chenherz, das der Junge seinem Mädchen auf der Kirmes umhängt, treibt die Röte ins Gesicht und lässt das
eigene Herz höher schlagen. Aber die zeichenhafte Pflegeanleitung an einem Wäschestück wird lediglich regist-
riert und nüchtern beachtet.
(3) Zeichen sind innerhalb bestimmter Geltungsbereiche definiert. Sie beruhen auf willentlicher Vereinbarung
oder zwingender Sachnotwendigkeit. Ihre Übertretung zieht Schäden oder Strafen nach sich. Symbole haben
demgegenüber keine klar umrissene Gültigkeit. Sie sind in vorbewussten Dimensionen verankert und nicht
durch irgendwelche äußeren Instanzen in oder außer Kraft zu setzen. Ein Strauß roter Rosen mag das Ge-
22
schenk an die Liebste sein, kann aber auch einem Politiker von seiner Partei überreicht werden. Beide Male
variiert die symbolische Sprache in ihrem Beziehungsreichtum, und es ist unmöglich, die roten Rosen durch
eine Serie von Begriffen in ihrer Bedeutungsreichweite zu begrenzen […].
Symbolverständnis im Kindesalter. […] Bevor der Mensch denken konnte, erfasste er sich und die Welt in sym-
bolischen Kategorien und bevor das Kind lesen lernt, begreift es sich und die Welt in Märchen und symboli-
schen Sinngestalten, wie sie in Festtagsbräuchen und Umgangsformen Ausdruck finden.
Kinder kommunizieren auf unmittelbare Weise mit Symbolen: Es beginnt mit dem Puppenspiel, in dem sie »Gott
und die Welt« erfassen, beim Höhlenbau aus Tischdecken und Kissen, wie auch beim »Liebhalten« der Eltern
und Geschwister. […] Weil Symbole nicht intellektuell entworfen werden, sondern wesentlich aus dem vorratio-
nalen Unbewussten leben, bedarf es auch nicht der entwickelten Intelligenz, um sich mit Symbolen zu befassen
und im Umgang mit Symbolen das eigene Leben zu orientieren. Also ist die Begegnung mit Symbolen im 1.
Schuljahr ebenso wenig verfrüht wie im Kindergarten. Für den Unterricht kommt aber legitim und notwendig nun
die Aufgabe erster, annähernder Bewusstwerdung hinzu. Die Kultur, in der unsere Kinder heranwachsen, ist so
pragmatisch ausgerichtet, dass ihnen ohne Begegnung mit Symbolen alle Hintergründigkeit und Sinnhaftigkeit
der Welt verschlossen bliebe. Und damit nicht das Empirisch-Faktische ihr alleiniger Wirklichkeitsmaßstab
bleibt, tut es Not, ihnen jetzt methodisch zu zeigen, wie sehr das Herz und die Tür, das Licht und die Sterne
über ihre physikalische Natur hinaus Fenster zum Geheimnis der Welt sein können.
Zur Interpretation von Symbolen Jüngeren Kindern sollten Symbole nicht verbal erklärt werden. Genau genom-
men kann man niemandem Symbole erklären. Das würde ja bedeuten, es sei möglich, das Symbol selbst durch
rationale Begrifflichkeit zu ersetzen. Es ist also schon im Ansatz falsch, zu sagen: »Dieses Symbol bedeutet …,
dieses Symbol will sagen ..., es steht für …« Niemals steht Herz für Liebe, wie ja auch niemals Liebe gleich
Liebe ist. Eine solch isolierende Deutung reduziert das Symbol auf einen leeren Allgemeinbegriff, dem konkrete
Zusammenhänge und unauslotbare Individualität fehlt.
Wie also Symbole zugänglich machen? Es gibt keine stereotype Methodik, allenfalls einige Hinweise, deren
Gültigkeit von Fall zu Fall zu ermessen ist.
(1) Vorrangig ist die eigene sinnenhafte Erfahrung. Die Klasse im Kerzenschein ist wichtiger als der verbale
Verweis auf etwaige häusliche Lichterlebnisse oder Lichterketten und -bäume im Stadtbild. Türspiele, die vor
oder hinter Türen führen, sind nachhaltiger als Türbilder. Gemeinsame Mahlzeiten, ebenso gemeinsam vorbe-
reitet wie begangen, sind bestimmender für die soziale Selbstfindung der Klasse als Geschichten von Essen
und Trinken.
(2) Dennoch sind Geschichten nicht unwichtig. Wenn sie schön erzählt werden, eröffnen sie neue Welten und
können durch die Art, wie sie alle kindlichen Sinne fesseln, ebenfalls Erfahrungen vermitteln. Geschichten füh-
ren durch Zeiten und Räume. Sie zeigen konkrete Gestalten. Sie sind aller Begrifflichkeit bar und darum geeig-
net, das Erlebnisfeld und die Erfahrungsintensität eines Symbols zu vermitteln. Die Geschichte vom Eisernen
Heinrich entwirft eine Situation, die so nachdrücklich »ein treues Herz« erfahrbar macht, dass wohl niemand
sagen könnte, wie ohne diese Erzählung dieselbe Erfahrung möglich sein könnte. Darum steht die Geschichte
auch nur für sich selbst, ohne ihrerseits in »erklärende« Deutungen abstrahiert werden zu dürfen.
(3) Soweit Symbole in Bildern begegnen, gilt erneut der grundsätzliche Vorbehalt: keine Interpretation im Sinne
von Bedeutung! Vorweg ist eine genaue, im Fall unseres Religionsbuches meist erzählende Bildbeschreibung
wichtig. Es muss ein offener Spielraum bleiben, nichts darf abschließend »festgelegt« werden. Dementspre-
chend ist es möglich – und als methodischer Zwischenschritt auch legitim! – für symbolische Konstellationen
eines Bildes eine Palette einander ergänzender und konkurrierender Begriffe zu nennen, die sich gegenseitig in
der Schwebe halten, nicht aber, jemals ein Gleichheitszeichen zwischen Symbol und Begriff zu setzen.
23
Allgemeine Leitfragen:
1. Wie versteht der Verfasser Religionsunterricht in der Schule?
2. Was ist fundamentaler Gegenstand des schulischen Religionsunterrichts?
3. Welche Rolle hat in diesem Konzept der Schüler, die Schülerin?
4. Welche Rolle wird dem Lehrer, der Lehrerin zugewiesen?
5. Welche Ziele und Inhalte des RU werden formuliert? Wie werden sie gefunden?
6. Welche Rolle spielt in diesem Konzept die biblische bzw. christliche Überlieferung?
Spezielle Hinweise und Fragen zur Erschließung des Textes:
„Symbole sind die einzige Sprache, in der sich religiöse Wirklichkeit unmittelbar ausdrücken kann.“ Wie
kommt Halbfas zu dieser Behauptung? Welche Konsequenzen hat dies für den Religionsunterricht?
Vollziehen Sie die Unterscheidung einerseits zwischen Symbol und Zeichen, andererseits zwischen primä-
ren und sekundären Symbolen nach!
Welchen Stellenwert nimmt Erfahrung in Halbfas’ Konzept ein?
Erläutern Sie Halbfas’ Verständnis von Beschreibung, Deutung und Bedeutung von Symbolen! Welche
Rolle spielen Begriffe, Geschichten und Bilder in seinem Konzept?
Wie begründet Halbfas seinen Vorschlag, Symbole bereits in der Grundschule (wenn nicht sogar bereits im
Kindergarten) zu behandeln?
Wenn Symbole „Wirklichkeiten eigener Mächtigkeit“ sind, welche sowohl heilen und aufbauen als auch in
Angst versetzen und zerstören können, dann ist ein verantwortungsvoller, differenzierter Umgang mit ihnen
notwendig.
Hubertus Halbfas ist katholischer Theologe. Allgemein-menschliche, archetypische (Ur-)Symbole erschei-
nen ihm besonders wichtig zu sein – wichtiger als dem geschichtlichen Wandel unterworfene Symbole (Zei-
chen?) von Religionsgemeinschaften.
24
Symboldidaktischer Religionsunterricht
in evangelischer Perspektive
Auszug aus Peter Biehl, Die Chancen der Symboldidaktik nicht verspielen. Kritische Symbolkunde im Religionsunterricht, in:
Religion heute 3/1986, 168–173
Die Arbeit mit Symbolen als Erfordernis der Praxis
In einem Fachpraktikum im Herbst 1977 haben wir beobachtet, daß die Schüler die Symbole aus gut gelunge-
nen Kurzfilmen (z. B. „Leben in einer Schachtel“) aufnahmen und sich mit ihrer Hilfe eine zeitlang in der Klasse
über ihre Erfahrungen verständigten, und zwar müheloser und überzeugender als mit Hilfe von Begriffen. Es
bestand offensichtlich ein großes Bedürfnis nach Symbolen. [...]
Die Chancen der Symboldidaktik
Die Symboldidaktik entwickelte sich aus einer inneren, sachlichen Notwendigkeit. Die didaktischen Prinzipien
der Bibel-, Problem- und Schülerorientierung, die nacheinander die religionspädagogische Diskussion bestimmt
hatten, konnten in ein Gesamtkonzept integriert werden, weil sie sich gemeinsam auf Erfahrungen beziehen
ließen. Von Erfahrung kann aber nur im Zusammenhang mit Überlieferung und Sprache geredet werden; denn
Wahrnehmungen, Erlebnisse und Widerfahrnisse werden erst zu Erfahrungen, wenn sie mit Hilfe von Symbolen
gedeutet werden. Erfahrungsbezug und Symbolverständnis bedingen sich daher in der Religionspädagogik
wechselseitig. [...] Symbole verbinden Subjekt und Objekt. Sie ermöglichen eine ganzheitliche Wahrnehmung
der Wirklichkeit, wenn sie ihrerseits ganzheitlich erschlossen werden, z. B. durch Erzählung, Spiel, Meditation
oder symbolische Aktion. Symbole lassen sich nicht wie Zeichen auf einen eindeutigen Begriff festlegen; sie
sind aber trotz ihrer Offenheit nicht beliebig, sondern haben eine Verbindlichkeit, die zu denken gibt. Insofern
sind auch ganzheitliche Wahrnehmung durch Teilhabe mit Hilfe von Symbolen und analysierendes, begriffliches
Denken nicht gegeneinander auszuspielen, sondern wechselseitig aufeinander zu beziehen. [...]
Die Symboldidaktik kann nicht nur helfen, den Erfahrungsansatz zu realisieren; vielleicht gelingt es ihr, daß
religiöse Vorstellungen wieder die Schicht der unmittelbar sinnlichen Bedürfnisse erreicht; denn in den Symbo-
len verbinden sich Sinnlichkeit und Sinn. Besonders die elementaren Symbole sprechen alle Sinne an; sie ha-
ben eine Nähe zum Leiblichen, Kosmischen und Visuellen bewahrt. Durch das Symbol bleibt der Mensch mit
seiner Geburt, seiner Natur und seinem Wunsch (Ricœur), also mit bestimmten, ihm vorgegebenen Verhältnis-
sen verbunden. Gerade durch Symbole wie Wasser, Haus (Wohnen), Baum kann ein neues Gemeinschaftsver-
hältnis von Natur und Mensch zum Ausdruck gebracht werden, wobei „Natur“ die natürliche Mitwelt wie unsere
Leiblichkeit umfaßt.
Den besonderen Möglichkeiten der Symbole entsprechen bestimmte Gefährdungen. So können gerade die
Fülle an Möglichkeit und Bedeutung, die das Symbol repräsentiert und präsentiert sowie die damit verbundene
Unbestimmtheit zum Problem werden. Einerseits liegt gerade in der dynamischen Kraft der Symbole, aus der
Fülle der Möglichkeiten immer Neues hervorgehen zu lassen, auch ihre didaktische Potenz; andererseits wird
da, wo nicht sparsam mit Symbolen umgegangen wird, nicht Erfahrung strukturiert, sondern es zerfließt alles in
einer unendlichen Bedeutungsfülle. Der Symbolansatz ist für Irrationalismus und Idolisierung besonders anfällig.
Wenn daher die Chancen der Symboldidaktik nicht verspielt werden sollen, ist in der Tat eine kritische Symbol-
kunde zu entwickeln, in der die vorgegebenen Möglichkeiten der Symbole mit einer theologischen und ideolo-
giekritischen Urteilsbildung komplementär verbunden sind. Ricœurs dialektische Formel „Symbole geben zu
denken“ trifft m. E. die Situation des Religionsunterrichts genau.
Umrisse der Symbolkunde
Die didaktische und theologische Notwendigkeit der Symbolkunde
Sie ergibt sich aus dem Sachverhalt, daß Kinder und Jugendliche bereits Symbole ausgebildet haben, bevor sie
in Lernprozessen alternative Symbole kennenlernen. Diese in der Sozialisation ausgebildeten Symbole enthal-
ten Material aus dem Reservoir des Unbewußten sowie aus der gegenwärtigen Kultur und Gesellschaft. Im
Rahmen der Wirkungsgeschichte des Christentums sind diese Symbole zumindest indirekt durch das christliche
Symbolsystem mit beeinflußt. Diese in der Sozialisation ausgebildeten Symbole haben in der Lebensgeschichte
der Schüler eine höchst ambivalente Wirkung: Sie können lebendig machen oder die Lebensdynamik blockie-
ren, sie können trösten und schützen oder ängstigen, integrieren oder zur Rollenkonfusion (Erikson) führen,
orientieren oder zur Idolisierung beitragen, eine Hilfe zur Kommunikation sein oder isolieren. Angesichts dieser
Wirkungen, die auch Ausdruck religiöser Erziehung sein können, ist der Religionsunterricht zur „Sozialisations-
begleitung“ (Stoodt) herausgefordert. Das kann bedeuten, daß der Religionslehrer in stellvertretender Reflexion
oder später die Schüler in Gruppenprozessen fragen, (1) wie die Symbole jeweils wirken – etwa als Abkehr von
der Realität [...] – und wie eine positive Wirkung verstärkt werden kann und (2) ob die Symbole noch tragfähig
sind, die lebensgeschichtlichen Erfahrungen angemessen zum Ausdruck zu bringen, oder ob sie schon abge-
storben sind. [...]
Es ist jeweils sehr sorgfältig zu prüfen, welche Phänomene für Jugendliche die Bedeutung von Symbolen ha-
ben. [...] Von besonderer Bedeutung sind die Symbole, in denen sich heute grundlegende Erfahrungen verdich-
25
ten. So können wir mit Luther fragen, worauf Jugendliche ihr Herz hängen und sich verlassen. Mit der Frage
nach dem rechten Vertrauen ist die Frage nach der Wahrheit religiöser Symbole und zugleich die Frage nach
dem Ziel des Umgangs mit ihnen gestellt. [...]
Die Symbolkunde läßt sich in thematischen Einheiten (z. B. zum Symbol „Baum“) und in fachspezifischen Lehr-
gängen (z.B. biblische „Weggeschichten“) realisieren. Sie hat auch ihrem Charakter nach eine Zwischenstellung
zwischen fachspezifischen Kursen und themenorientierten Einheiten. Es sind Vorformen des Projektunterrichts
denkbar, die fachübergreifend gestaltet werden und handlungsorientiert sind. Es sind aber auch anhand der
Symbole Längsschnitte durch die Bibel möglich.
Thematisch und methodisch ist eine große Vielfalt für die Symbolkunde charakteristisch.
[...] Aus der Gesamtaufgabe der Symbolkunde, die Symbole der Sub- und Massenkultur so mit den biblisch-
christlichen Symbolen zu konfrontieren, daß jeweils ein bestimmtes Erfahrungsmuster erkennbar wird, folgt
jedoch nicht, daß in jeder Unterrichtsphase biblische Texte heranzuziehen sind. Andererseits können biblische
Alternativ- und Kontrastsymbole als solche nur wahrgenommen und vor kurzschlüssigem Verständnis bewahrt
werden, wenn sie immer wieder in ihren eigenen Kontexten im Zusammenhang von Geschichten interpretiert
worden sind. [...] Im Zentrum der Symbolkunde werden die Symbole Kreuz und Auferstehung und Exodus ste-
hen, weil in ihnen die geschichtliche Verankerung des christlichen Symbolgefüges besonders deutlich wird. [...]
Die Wirkungsweisen der Symbole
[...]
Symbole gegen dem Leben Ausdruck und Deutung
[...] Wir können Schülern Symbole anbieten, die kraft ihrer Bedeutungsfülle und offenen Struktur die Möglichkeit
haben, Gefühle und Erlebnisse wachzurufen und auf eine indirekte Weise zum Ausdruck zu bringen. Sie wer-
den damit zu strukturierter Erfahrung. Überwältigende Erlebnisse – sei es übergroße Freude oder Angst – kön-
nen auf diese Weise teilbar und mitteilbar gemacht werden. [...]
Symbole haben eine didaktische Brückenfunktion
[...] Das Beispiel zeigt erstens, daß Symbole die Möglichkeit bieten, zwischen den Lebenserfahrungen der Zeit-
genossen und christlichen Grunderfahrungen zu vermitteln. Durch das Symbol „Hand“ gelingt eine Korrelation
zwischen den Selbsterfahrungen der am Lernprozeß unmittelbar Beteiligten und zentralen Inhalten der christli-
chen Überlieferung. Eine besondere Bedeutung kommt bei dieser Vermittlung den elementaren Symbolen zu.
Sie können nämlich das Kind wie den Erwachsenen auf seine Erfahrung hin ansprechen und zugleich eine Brü-
cke zu den Erfahrungen schlagen, die biblischen Texten zugrundeliegen. Zu den elementaren Symbolen gehö-
ren wichtige menschliche Organe (wie Herz, Auge, Hand), – wichtige Bezugspersonen (wie Mutter, Vater,
Schwester, Freund) und Grundgegebenheiten des Lebens (wie Licht und Finsternis, Weg, Baum, Wasser, Haus
usw.). So spricht die Lichtsymbolik das Bedürfnis nach Orientierung und erhelltsein des Daseins, nach Wahrheit
an; die Wegsymbolik bringt die Spannung des Lebens zwischen Heimat und Unterwegssein, zwischen Dauer
und Wandlung zum Ausdruck. Solche Erfahrungen verbinden uns trotz des geschichtlichen Wandels in je unter-
schiedlicher kultureller und lebensgeschichtlicher Brechung mit den Menschen der Bibel. [...]
Das Beispiel zeigt aber zweitens, daß es in dem Prozeß der Vermittlung nicht einfach darum gehen kann, mit
Hilfe von Symbolen biblische und gegenwärtige Erfahrungen einander anzugleichen. Das Symbol „Hände des
Gekreuzigten“ läßt sich nicht bruchlos in unsere Alltagserfahrungen integrieren. Lebendige christliche Symbole
unterbrechen den gewohnten Lebenszusammenhang und überbieten die Lebenserfahrung. [...] Die Symbole
helfen, die Spannung zum Ausdruck zu bringen, die zwischen den legitimen Bedürfnissen der Schüler und dem,
was ihnen vorenthalten wird und was noch aussteht, besteht; vielleicht gewinnen sie dadurch den Wahrneh-
mungshorizont für das „Mehr noch“ der biblischen Verheißung. Mit Hilfe der Symbole soll im Unterricht ein Streit
um die Auslegung der Wirklichkeit ausgelöst werden. Welchen Symbolen können wir wirklich vertrauen? Wel-
che Symbole behalten am Ende Recht: die Symbole des „Habens“, der Macht und Herrschaft des Konsumis-
mus oder die Symbole des „Seins“, der Liebe?
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Allgemeine Leitfragen:
1. Wie versteht der Verfasser Religionsunterricht in der Schule?
2. Was ist fundamentaler Gegenstand des schulischen Religionsunterrichts?
3. Welche Rolle hat in diesem Konzept der Schüler, die Schülerin?
4. Welche Rolle wird dem Lehrer, der Lehrerin zugewiesen?
5. Welche Ziele und Inhalte des RU werden formuliert? Wie werden sie gefunden?
6. Welche Rolle spielt in diesem Konzept die biblische bzw. christliche Überlieferung?
Spezielle Hinweise und Fragen zur Erschließung des Textes:
1. Biehl sieht in der Symboldidaktik eine Chance, die Anliegen von bibel-, problem- und schülerorientiertem
Religionsunterricht in ein Gesamtkonzept von erfahrungsorientiertem Unterricht zu integrieren. Dieser Un-
terricht deutet Wahrnehmungen, Erlebnisse und Widerfahrnisse mithilfe von Symbolen.
2. „Symbole haben eine Verbindlichkeit, die zu denken gibt.“ Wie verhalten sich Symbole und begriffliches
Denken bei Biehl (im Gegensatz zu Halbfas)?
3. Wie begründet Biehl die Notwendigkeit einer kritischen Symbolkunde? Welche Eigenart ist mit den Begriffen
„kritisch“ und „Kunde“ (gegenüber Halbfas) benannt?
4. Biehl plädiert für eine „Konfrontation der Symbole der Sub- und Massenkultur mit den biblisch-christlichen
Symbolen“ im „Streit um die Auslegung der Wirklichkeit“. Was ist damit gemeint und wie könnte das unter-
richtspraktisch aussehen?
5. Warum bezeichnet Biehl Kreuz, Auferstehung und Exodus als Symbole, und zwar als zentrale christliche
Symbole?
6. Erläutern Sie den von Biehl (im Rückgriff auf einen Schlüsselterminus katholischer Religionspädagogik) ins
Spiel gebrachten Begriff der „Korrelation“!
27
Interreligiöser Religionsunterricht
Auszug aus: Folkert Rickers, Interreligiöses Lernen: Die religionspädagogische Herausforderung unserer Zeit, in: F. Ri-
ckers/E. Gottwald (Hg.), Vom religiösen zum interreligiösen Lernen. Wie Angehörige verschiedener Religionen und Konfes-
sionen lernen. Möglichkeiten und Grenzen interreligiöser Verständigung, Neukirchen-Vluyn 1998, 119–139
1 Ausgangspunkt: Authentische Begegnungen
[...] Es geht dabei nicht mehr nur um ein gewisses, mehr oder weniger flüchtiges Kennenlernen einer anderen
Religion, wie es auch der bisherige Religionsunterricht (jedenfalls der letzten dreißig Jahre) oder gelegentlich
auch der Tourismus bereits ermöglichte. Interreligiöses Lernen verfolgt auch nicht nur das Ziel einer besseren
Respektierung der jeweils anderen Religion. Es will Menschen vielmehr dazu anregen, stärker darüber nachzu-
denken, inwieweit religiöse (und religiös geprägte kulturelle) Faktoren die Beziehungen zwischen Menschen
bereichern oder auch belasten können, die zur Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens aufeinander angewie-
sen sind. Interreligiöses Lernen kann bewußtseinsbildend wirken (vor allem in der Schule), kann dazu beitra-
gen, daß Mitglieder verschiedener Religionen sich gegenseitig ein Stück weit öffnen und vielleicht auch aufein-
ander zugehen. Es ist nicht mehr ungewöhnlich, daß Schüler und Schülerinnen verschiedener Religionen zum
Gottesdienst oder zu einer religiösen Feier zusammenkommen, daß Imame und Pfarrer sich regelmäßig treffen
und Christen und Muslime miteinander zum Gebet zusammenkommen. [...] Es wäre verheißungsvoll, wenn es
gelänge, interreligiöses Lernen stärker als in der religiösen Bildung bisher auch aus der Praxis authentischer
Begegnungen und Erfahrungen zu entfalten.
2 Religiöse Elemente im Prozeß interkulturellen Lernens
Hintergrund des Engagements für interreligiöses Lernen ist das Faktum, daß wir uns auf dem Wege zu einer
multikulturellen Gesellschaft befinden. [...] Die Schule als meistbetroffene Institution hat darauf reagiert. Hat sie
zunächst im Konzept der Ausländerpädagogik das Augenmerk darauf gerichtet, Kinder und Jugendliche für die
eigene Kultur zu bewahren, damit der Rückführungsprozeß der Fremdarbeiterfamilien umso leichter vollzogen
werden möge, hat sie sich mittlerweile auf die neuen Gegebenheiten eingestellt. Diejenigen, die nach wenigen
Jahren wieder gehen sollten, blieben nämlich einfach hier, zogen ihre Familien nach und entfalteten ihre Kultur
inmitten unserer Kultur mit den bekannten Reibungsflächen auf den verschiedensten Ebenen. Die Ausländerpo-
litik mutierte folgerichtig zum Anspruch interkultureller Erziehung. Um ihrer selbst willen sollten kulturelle Eigen-
arten nun bewahrt und miteinander ins Gespräch gebracht werden, um gesellschaftlich schädliche Konfrontati-
onen abbauen zu helfen, toleranten Umgang miteinander einzuüben, Vorurteilen zu begegnen, voneinander zu
lernen und insbesondere auch dem zunehmenden Rechtsradikalismus das Wasser abzugraben.
Die Konsequenz solcher interkultureller Erziehung aber ist das interreligiöse Lernen. Denn wo interkulturelles
Lernen stattfindet, sind immer schon religiöse Komponenten im Spiel. Das gilt insbesondere für Begegnungen
mit den islamischen Kulturen. Zugespitzt formuliert, kann man sagen, daß interkulturelles Lernen ohne interreli-
giöses Lernen gar nicht stattfinden kann. Letzteres ist sogar maßgeblich. Es ist deshalb durchaus sachgemäß,
von der inzwischen häufig benutzten Begriffsbildung interkulturelles und interreligiöses Lernen auszugehen. [...]
Die Begriffe interkulturelles und interreligiöses Lernen erscheinen allerdings nicht unproblematisch. Denn sie
erscheinen ideologisch belastet. Sie suggerieren nämlich gegen alle Erfahrung in der Praxis die Begegnung der
Gleichen. Davon kann in der Begegnung zwischen Deutschen und Fremden insgesamt gesehen nicht die Rede
sein. [...] Es stehen sich also in Wirklichkeit keineswegs gleichberechtigte sog. »Kulturen« gegenüber. Die
fremde Kultur steht, sofern sie nicht integrations- und assimilationswillig ist, um die Anerkennung ihrer Lebens-
weise in gleichsam ständiger Auseinandersetzung mit der ökonomischen, politischen, sozialen, kulturellen und
leider auch religiösen Macht einer Gesellschaft, die diese Anerkennung am liebsten verweigern möchte, dies
aber aus schlichten ökonomischen Zwängen nicht kann. [...]
3 Interreligiöses Lernen – Versuch einer näheren Bestimmung
Schon um dieses gesellschaftlichen Widerspruchs willen, der derzeit nicht auflösbar ist, stellt interreligiöses
Lernen (im Rahmen interkulturellen Lernens) eine historische Herausforderung für die Religionspädagogik in
der Bundesrepublik dar. Denn sie ist zunächst gefragt, wie mit denen in unserer Gesellschaft umgegangen wird,
denen in der Regel die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben vorenthalten wird und die darun-
ter leiden. Ist sie sich dieses Leidens schon bewußt geworden. Es ist ein eigenes Thema der Religionspädago-
gik.
Aber auch wenn man den religiösen Bereich enger faßt, kommt mit dem Projekt »interreligiöses Lernen« ein
neues Element in die Religionspädagogik hinein. Denn zum ersten Mal in ihrer Geschichte wird hier der Ver-
such gemacht, jedenfalls im theoretischen Anspruch, andere Religionen als gleichberechtigten Partner im Dia-
log wirklich ernst zu nehmen, d.h. die eigene Wahrheit nicht vorzugeben, sondern zur Disposition zu stellen.
Denn nur unter dieser Prämisse kann man im eigentlichen Sinn von interreligiösem Dialog reden. Dialog meint
jedenfalls mehr als allgemeiner Austausch von Gedanken zum gegenseitigen Kennenlernen. Unter dem An-
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spruch interreligiösen Lernen vollzieht sich nämlich eine qualitative Veränderung von der Behauptung des
Absolutheitsanspruchs einer Religion hin zum Dialog, der grundsätzliche Offenheit in der Begegnung verlangt,
begleitet vielleicht von der schmerzlichen Erkenntnis, daß religiöse Wahrheitspostulate sich nicht einfach har-
monisieren lassen oder daß sie sich gar grundsätzlich widersprechen. Die Grundhaltung des Dialogs ist eine
andere: Gemeinsamer Schmerz an Stelle triumphalistischer Überlegenheitsattetüde [sic!] des einen über den
anderen. [...]
Damit ist bereits angezeigt, was interreligiöses Lernen seinem eigentlichen Sinn nach ist, nämlich die Bereit-
schaft von Kindern und Jugendlichen, aber auch von Erwachsenen, unterschiedlicher Religionen aufeinander
zuzugehen, sich im Gespräch über Lebenssinn und Heiliges zu öffnen, kultische Verrichtungen des anderen
wahrzunehmen, sich zu bemühen, sie zu verstehen, und sich in sie einzufühlen, seinen ethischen Prinzipien
nachzugehen, die Festtage des anderen mitzuerleben und von Fall zu Fall vielleicht auch mitzufeiern.
Wesentliches Kriterium für interreligiöses Lernen ist die authentische Begegnung, in der jede Religion das ihr
Eigene sagen und behaupten kann. Sie setzt damit einen qualitativ anderen pädagogischen Akzent als das
Reden über Religion. Weil es dabei um selbstbestimmtes Lernen geht, sollte man auch nicht länger von inter-
kultureller oder interreligiöser Erziehung sprechen. Erziehung ist pädagogische Einwirkung auf die jüngere Ge-
neration. Interreligiöses Lernen aber hängt daran, ob es zu einem dauerhaften und sich stabilisierenden Aus-
tausch zwischen Menschen (Erwachsenen, Jugendlichen, Kindern) verschiedener religiöser Gemeinschaften
kommen kann – ein Prozeß, der notwendigerweise in Kindergarten und Grundschule beginnen muß. Die gele-
gentliche Begegnung mit Angehörigen anderer Religionen und der Besuch von fremden Kultstätten (Synagoge,
Moschee, buddhistischer Tempel, Kirchen), wie sie heute im Religionsunterricht üblich und z.T. selbstverständ-
lich geworden ist, erfüllt den Anspruch interreligiösen Lernen noch nicht.
Interreligiöses Lernen ist dann weiter seinem inneren Anspruch nach schülerorientiertes Lernen. Denn Kinder
und Jugendliche bestimmen in ihm ihren Lernprozeß weithin selbst. Lehrer und Lehrerinnen können ihn wohl
moderieren, für seine Vertiefung Material bereitstellen und – anders als den meisten Themen sonst [sic!] – im
übrigen in ihm selber Lernende sein.
4 Praxis interreligiösen Lernens
[...] Was erhofft man sich von diesem Dialog? Verständigung, die zu gegenseitigem Respekt und zu Toleranz
führt, wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt natürlich schon viel. [...] Aber läßt sich mit dem Dialog auch ein be-
stimmtes religiöses Interesse beschreiben, in dem sich alle zusammenfinden können und das zur Grundlage
und Zielperspektive interreligiösen Lernens gemacht werden könnte? Die Suche nach letztem Sinn vielleicht
bzw. nach dem, was unbedingt angeht, wie Paul Tillich vorschlug? Oder die gemeinsame Beziehung auf das
Erlebnis des Heiligen, wie es Rudolf Otto vorschwebte, das in den verschiedenen Religionen nur unterschied-
lich begriffen und verehrt wird und im Christentum seine höchste Ausformung gefunden hat? Und wie soll man
mit den verschiedenen Wahrheitsansprüchen umgehen? Jedenfalls für die Dynamik des interreligiösen Lern-
prozesses dürfte es von entscheidender Bedeutung sein, ob es gelingt, einen gemeinsamen Bezugspunkt zu
finden und den Dialog auf ihn zu konzentrieren. [...]
5 Religionskunde – Interreligiöses Lernen – Interreligiöser Dialog
[...] Gemeinsames Leben und Lernen ist der Idealfall interkulturellen und interreligiösen Lernens. Solche Lern-
prozesse bedürfen jedoch der Vertiefung und Ergänzung durch religionskundliche Vermittlung. Aber auch um
der Kinder und Jugendlichen willen, die nicht die Chance zur unmittelbaren interreligiösen Begegnung und Ver-
ständigung haben, ist eine weit stärkere Information über nicht-christliche Religionen im Religionsunterricht
notwendig, als das bisher der Fall war. [...]
6 Interreligiöses Lernen in religionskritischer Perspektive
Mit interreligiösem Lernen ist also aufs engste die Bemühung um Informationen über Religionen verbunden, die
in unserer Gesellschaft besonders präsent sind. Es ist allerdings ebensowenig wie im konfessionellen Religi-
onsunterricht damit getan, Kinder und Jugendliche über andere Religionen und religiöse Gruppen unserer Ge-
sellschaft bloß zu informieren. Vielmehr müssen sie auch im interreligiösen Dialog lernen, diese kritisch zu be-
trachten und über sie zu urteilen, um die religiösen Möglichkeiten für sich zu entdecken, aber auch den religiö-
sen Einflüssen nicht einfach ausgeliefert zu sein. [...] Die größte Hilfe wird der Religionsunterricht den Kindern
und Jugendlichen [...] dann bieten, wenn er für sie zur Clearing-Stelle für alle religiösen Vorstellungen und Er-
scheinungen wird, mit denen sie unmittelbar zu tun haben oder die ihnen in ihrer Lebenswelt begegnen. [...]
Allerdings ist nun die Frage, von welchem Gesichtspunkt aus her die Religionen im Unterricht kritisch bewertet
werden sollen. Legt man wie früher den Maßstab der christlichen Wahrheit an, dürfte der Dialog bald beendet
sein. Denn dann steht Glaube gegen Glaube, Jahwe gegen Allah, Rom gegen Wittenberg, Mekka gegen Kon-
stantinopel etc. Und außerdem wäre ernsthaft zu bedenken, daß es Jugendliche heute, die dem christlichen
Glauben entfremdet sind, kaum noch interessieren dürfte, die Wahrheit des christlichen Glaubens gegen andere
Religionen zu verteidigen. Ihre Sympathien gelten eher Formen von Patchwork-Religion. Aber betroffen müßten
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sie davon sein, ob Religionen durch ihre Lehre und Praxis Menschen in ihrer individuellen Entfaltung fördert
oder hindert. [...]
7 Ethik der Religionen – ein religionspädagogischer Ansatz
[...] Interreligiöses Lernen, das ernstgenommen werden will, muß das Leiden der Menschen, das alle Religionen
zu ihrem zentralen Bezugspunkt haben, thematisieren, nicht nur in individueller Hinsicht, sondern auch in ge-
sellschaftlicher. Interreligiöses Lernen muß beitragen, die gesellschaftlichen Ursachen zu erforschen und inter-
nationale Solidarität anzubahnen und hat darin unverkennbar eine politische Funktion. Es ist schließlich nicht so
entscheidend, ob sich die Religionen über das Weiterleben nach dem Tod verständigen. [...]
Allgemeine Leitfragen:
1. Wie versteht der Verfasser Religionsunterricht in der Schule?
2. Was ist fundamentaler Gegenstand des schulischen Religionsunterrichts?
3. Welche Rolle hat in diesem Konzept der Schüler, die Schülerin?
4. Welche Rolle wird dem Lehrer, der Lehrerin zugewiesen?
5. Welche Ziele und Inhalte des RU werden formuliert? Wie werden sie gefunden?
6. Welche Rolle spielt in diesem Konzept die biblische bzw. christliche Überlieferung?
Spezielle Hinweise und Fragen zur Erschließung des Textes:
Rickers bringt für sein Konzept „Vom religiösen zum interreligiösen Lernen“ eine gesellschaftliche Verände-
rung in Anschlag. Beschreiben Sie diese!
Beschreiben Sie die Funktion religionskundlichen Lernens für den interreligiösen Religionsunterricht: Inwie-
fern ist es defizitär, inwieweit notwendig?
Religionsunterricht als „Clearing-Stelle“: Was ist damit gemeint? Welcher Maßstab wird für religionskritische
Überlegungen vorgeschlagen?
Welche fundamentale Grundentscheidung für den interreligiösen Dialog trifft Rickers, wenn er (im Rückgriff
auf Paul Tillich und Rudolf Otto) vom Finden eines den Religionen gemeinsamen Bezugspunkts spricht?
Was sagen folgende Sätze über die Prioritäten des Interreligiösen Religionsunterrichts nach dem Verständ-
nis von Rickers aus: „Jugendliche heute dürfte es kaum noch interessieren, die Wahrheit des christlichen
Glaubens gegen andere Religionen zu verteidigen.“ – „Es ist schließlich nicht so entscheidend, ob sich die
Religionen über das Weiterleben nach dem Tod verständigen“? Ist ein solcher Unterricht noch konfessionell
vorstellbar?
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Profaner Religionsunterricht
Auszug aus: Bernd Beuscher/Dietrich Zilleßen, Religionspädagogische Versuche, Leben ins Spiel zu bringen, Kapitel in:
dies., Religion und Profanität. Entwurf einer profanen Religionspädagogik (Forum zur Pädagogik und Didaktik der Religion
16), Weinheim 1998, (125–)126–135
[Hilfreich für das Verständnis dieses Ansatzes könnte ein Blick in die religionspädagogische Konkretion sein: D. Zilleßen/U.
Gerber, Und der König stieg herab von seinem Thron. Das Unterrichtskonzept religion elementar, Frankfurt a.M. 1997]
Religionspädagogik bringt Leben ins Spiel der Schule. Nicht so, daß Schule ungebrochen das ganze Leben
sein könnte. Schulspiel ist Schulspiel, Unterrichtsspiel ist Unterrichtsspiel. Aber Religionsunterricht inszeniert
das Spiel, obwohl jeder weiß, daß mehr im Spiel ist, als sich inszenieren läßt, daß Anderes im Spiel ist, als Leh-
rende und Lernende wissen und beherrschen können: Religionsunterricht setzt das Leben aufs Spiel. Indem
Religionsunterricht versucht, fremd zu gehen, bemüht er sich, dem zu entsprechen, was nicht wahrgenommen
wird, was dunkel, undeutlich, zwielichtig erscheint, was unverständlich, fremd, irritierend ist. Dabei ist der Reli-
gionsunterricht bei seiner Sache, nicht beim Un-Eigentlichen.
Religionsunterricht verstehen wir nicht als applikatives Nach-Spiel theologischer Sachentscheidungen. Religi-
onsunterricht ist die Probe aufs Exempel, nämlich der konkrete und elementare Ausdruck profaner Religiosität
im spielerischen Umgang mit Traditionen.
1. Unterricht und Leben: Rollenspiele
[...]
Ist es sinnvoll, das Beziehungsgeschehen Unterricht mit Rollenspiel und damit den Ort Schulklasse mit einer
Bühne zu vergleichen? [...] Unsere Grundthese ist, daß sich Leben, Kommunikation, Wahrnehmung und Er-
kenntnis als Spiel, sogar als eine Art Theater darstellen. Didaktik und Methodik nicht nur des Religionsunter-
richts, sondern auch der anderen Unterrichtsfächer können nur dann sinnvolle Lernprozesse anregen, wenn sie
dem Spiel des Lebens entsprechen.
Gewiß, es gibt zahlreiche, ganz unterschiedliche Konzepte über den Zusammenhang von Theater und Leben.
Immer geht es dabei jedoch um neue Perspektiven, neue Sehweisen, das Leben wahrzunehmen, es für wahr
zu nehmen. Leben wird auf die Bühne gebracht, um es mit anderen Augen zu sehen. Anderes, neues Leben
spielt auf der Bühne, damit wir dafür überhaupt erst einen Blick gewinnen. Es gibt Spieler und Zuschauer, Spie-
lerinnen und Zuschauerinnen. Das Experimentaltheater hat viele Spielformen entwickelt, diese Rollen beweglich
zu halten. Das entsprach auch der Tatsache, daß jeder Zuschauer schon immer auf seiner inneren Bühne das
Spiel mitmacht oder nachvollzieht. Wir nehmen etwas wahr, indem wir uns so oder so damit identifizieren. In-
dem wir uns selbst darin spielen, unseren eigenen Interessen, Wünschen, Bedürfnissen, Ängsten darin begeg-
nen, nimmt etwas Gestalt an. Äußeres, Äußerungen spiegeln unser inneres Spiel. Wahrnehmungen, Erlebens-
und Denkprozesse spielen sich als Rollenspiele auf der inneren Bühne jedes Einzelnen ab. Aus dem, was un-
seren Sinnen umgeben ist, gestalten wir durch (meist unbewußte) Identifikationen Gegenstände der Wahrneh-
mung. Unser Wahrnehmen vollzieht sich in der Struktur des Spiels, in dem der Spieler zugleich Zuschauer und
der Zuschauer zugleich Mitspieler ist. Denken heißt: Ich will mir bewußt machen, was abläuft; ich will mir han-
delnd selbst zusehen. Kann ich das, ohne daß ich immer nur hinterhersehe? Das bewußte Zusehen, die Refle-
xion, kommt stets zu spät: das innere Spiel ist längst gelaufen, wenn ich es bewußt mache, das heißt vor mein
inneres oder äußeres Auge hole.
Unterricht ist primär ein Kommunikationsprozeß, in dem es um Inszenierung von Wahrnehmung geht. Jede
Wahrnehmung beinhaltet Inszenatorisches und Theatralisches. Es gibt keine Wahrnehmung ohne Zuschauer.
Am ersten schaue ich mir selbst zu. Es muß deshalb noch weiter erörtert werden, wie sich Wahrnehmung und
damit auch Kommunikation in der Struktur des Spiels oder Theaters vollziehen. Kennt auch jeder die unwirsche
Abfuhr durch einen Kommunikationspartner „Mach nicht solch ein Theater“, so ist doch nicht einmal klar, ob wir
dieses Theater überhaupt machen können. Womöglich spielen andere Kräfte in uns und außerhalb von uns die
bestimmende Rolle und nicht unser eigener Wille. Wer bin ich? Etwa ein Spieler, der an einem Spiel beteiligt ist,
das er nicht wirksam kontrollieren kann?
2. Allmachtsphantasien des Ich und seine Illusion von Autonomie
Menschliche Beziehungen kann der Mensch letztlich nicht steuern und kontrollieren. In ihnen wirken mitlaufen-
de Elemente, Nebenkräfte, Zufälle, Störfaktoren, die alles in eine andere Richtung bringen. Es ist eine Art para-
sitäres Rauschen, durch das jede Kommunikation gekennzeichnet ist. [...] Gerade ein solches parasitäres Ver-
ständnis menschlicher Kommunikation würdigt das Nebensächliche, Marginale, Zufällige, auch das Undeutliche
und Ambivalente. Die Welt ist nicht aufgeteilt in Dualismen von ja und nein, schwarz und weiß, klar und unklar,
gut und böse, Himmel und Hölle, Gott und Satan: Die Gegensätze sind doch alles „nur Zwillinge“.
[...] Kann dem Parasitären unsere Gastfreundschaft gelten? Dazu bedarf es einer gründlichen Wandlung unse-
res Beziehungslebens, das heißt der Akzeptanz des Undeutlichen, Ambivalenten, des Unvertrauten, des Frem-
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den, nämlich dessen, was die Norm stört und die Normalen behindert. Wir müssen davon ausgehen, daß das
Beziehungsleben vom Nicht- und Mißverstehen lebt. Nur dann, wenn die Differenz, die Fremdheit, die Irritation
Raum haben dürfen, erstarrt das Leben nicht in endlosen Bestätigungen des Gleichen, sondern bleibt lebendig.
Leben lernen heißt: die vorgeformten Lerngegenstände, die vertrauten Erfahrungen, die feste Moral frag-würdig
machen. Moralische Appelle sind nicht nur zwecklos, sondern oft auch von pädagogischen Allmachtsansprü-
chen und Allmachtsphantasien gestützt. Moral, die ihre Inhalte absolut setzt, braucht die Sicherheit feststehen-
der Normen, also einen Ort außerhalb des schwankenden Lebensschiffs, der hin- und her treibenden Arche.
Gewiß bedarf es der entschiedenen Position, die wir und unsere Schüler lernen müssen, zu der wir uns zu ent-
scheiden haben. Aber alle Positionen müssen gleichwohl dem Schwanken der Arche entsprechen, also frag-
würdig und falsch werden dürfen. [...] Der Erkenntnis-, Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozeß ist ein
Spiel, in dem das Subjekt gesellschaftlich und psychisch vorfabrizierte Spielzüge nachvollziehen muß, in dem
es aber auch Spielmaterialien umwerfen, anders ordnen kann – nicht, weil es das Spiel durchschauen könnte
(es bleibt dabei, daß es dem Spiel unterworfen ist). Aber seine Interventionen, sein Mißverstehen, seine Fehler
üben Wirkungen aus. Sie fördern die Dynamik des Erkenntnis- und Wahrnehmungsspiels. Dieses Spiel ist der
Weg, der Verführung durch Allmachtsphantasien zu entgehen, vor allem auch durch pädagogische Allmachts-
phantasien. Es bleibt die Frage, welche pädagogischen Konsequenzen daraus zu ziehen sind.
3. Didaktik der Lernspiele
Unter diesen erkenntnis-, wahrnehmungstheoretischen und anthropologischen Voraussetzungen versteht sich
von selbst, daß sich im Unterricht Wesentliches und Bedeutsames der Wahrnehmung und Kontrolle durch Leh-
rer, aber auch Schüler entzieht. Was wirklich gelernt wird, hängt nicht kausal und stringent davon ab, was ge-
lehrt wird. Lehren und Lernen stehen in keiner unmittelbaren kausalen Beziehung. Die Lernprozesse der Schü-
ler können letztlich nicht in der Verfügungsmacht der Lehrer, unter ihrer Kontrolle bleiben. [...]
Didaktik ist keine Meisterlehre, nicht bloß didaktische Technologie und Strategie. Sondern sie ist als Prozeß
lebendigen Lernens zu inszenieren von Menschen, die allenfalls Experten des Arrangierens sind, Unterrichts-
und Lebenserfahrungen gemacht und bestimmte Stoffe gelernt haben. Diese Didaktik bedarf der Abweichung
von normativen Gewißheiten, bedarf eines anderen Bildes von Bildung, – eines Bildes nämlich, in dem das
Fremde, das Normabweichende, der Dissens, das Nichtverstehen gerechtfertigt sind, also das Recht auf einen
Platz haben, auch wenn wir es nicht greifen, nicht begreifen können. Hier liegen die entscheidenden Lernmoti-
ve, die produktiven Antriebe, um die Bahnen der Nachahmung, der technologischen Reproduktion zu verlassen.
[...] Es geht grundsätzlich um Probier- und Experimentierhaltungen. [...]
Religionsunterricht hat ins Spiel zu bringen, was marginalisiert, tabuisiert, verdrängt ist. Er bringt es vor Augen,
damit sinnenfällig wird, was am Bestehenden verborgen ist. Es soll Verborgenes gezeigt, Noch-nicht-
Gesehenes sichtbar werden. [...]
Diese Art innerer und gelegentlich äußerer Inszenierungen (Theaterspiel) fordert, Unterichtsvorbereitung als
Dramaturgie zu verstehen.
Der Unterricht hat Vorteile davon, wenn die Lehrer die Schüler und die Schüler die Lehrer nicht immer verste-
hen, auch wenn beide glauben, sich zu verstehen. Nichtverstehen ist eine Voraussetzung für Dialog. Lehren
und Lernen sind komplex uneindeutig aufeinander bezogen. [...] Didaktik wird als Arrangement zu sehen sein, in
denen Schüler und Schülerinnen zu Interventionen mit- und gegeneinander kommen. Gelungene Didaktik ist
Anleitung und Begleitung eigenständiger Lernprozesse der Jugendlichen durch Lehrer und Lehrerinnen. Didak-
tik ist dialogisches Arrangement, nicht einfach eine unterrichtliche Methode, eher schon ein Ver-fahren im
wahrsten Sinn des Wortes, ein tastendes In-die-Irre-Fahren, ein behutsames In-der-Irre-Suchen, Spurensuche.
4. Pädagogische Rollen
Wie sieht unter diesen Bedingungen die Rolle des Lehrers, der Lehrerin aus? [...]
Lehrer und Lehrerinnen sind Schauspieler wie auch die Schüler, wie letztlich wir alle. Wir sind, wir leben, indem
wir Rollen spielen, indem wir uns inszenieren. [...] Entscheidend wird es sein, ob Pädagogen die Fiktivität ihres
eigenen Handelns in allen Beziehungsformen mittragen. Es ist ihre Einbildung, ihre Erfindung (ihre Fiktion), was
sie sich als Bild vom Lerninhalt, als Bild vom Lerngeschehen, als Bild der Unterrichtssituation, als Bild des
Schülers, der Schülerin, als Bild von sich selbst als Lehrer, als Lehrerin machen. [...] Das Entscheidende in
pädagogisch inszenierten Prozessen geschieht zufällig, wenn auch auf Grund von Einwirkungen des Lehrers,
der Schüler und anderer Faktoren. Pädagogisches Handeln ist von Faktoren bestimmt, die sich stringenter Pla-
nung entziehen. Deshalb bedarf es neuer Formen der Unterrichtsvorbereitung.
[...] Pädagogisches und religionspädagogisches Handeln haben in ihren Situationen eine anthropologisch, ge-
sellschaftlich und politisch entschiedene Position zu beziehen. Aber erst wenn Pädagogik um ihre imaginäre
und fiktive, um ihre parasitäre Dimension weiß, ist sie fähig, auch entschiedene Positionen immer wieder zu
öffnen, um dem Anderen im bestimmten anderen gerecht zu werden. Hier kommt zum Ausdruck, was für Reli-
gion und Glauben elementar ist, für einen Glauben, der sich nicht gegen, sondern in Haltlosigkeit und Hinfällig-
keit als Beziehung zum Marginalen und zum Fremden bewährt. Dieser Glaube begleitet ein Lernen, das sich
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nicht auf theologische Inhalte fixiert, also inhaltlich absichert, sondern das mit dem parasitären Prozeß mitläuft
und dessen Ziele nur labil und fragmentarisch sein können. Deshalb heißt Elementarisierung: elementares reli-
giöses Lernen als Umgang mit Aufbruch, Fremdsein, Ander(s)heit, Suchen und Versuchen, Unsicherheit, Frag-
würdigkeit. „Werde, der du gewesen sein wirst“ ist Erziehungs- und Bildungsziel. Ein Bild für die Bildung, die
sich durch Nebensächlichkeiten und Zufälligkeiten realisiert. In dieser parasitären Pädagogik muß sich der Pä-
dagoge selbst als Parasit verstehen; er nassauert sozusagen an und bei Prozessen, die er bestimmen muß,
aber gar nicht bestimmen kann: Bildung geschieht nebenher. „Werde, der du gewesen sein wirst“ ist Motto einer
religionspädagogischen Didaktik, die um die Sterblichkeit des Menschen ebenso weiß wie um die ihm zufallen-
de Gnade. Erst dann ist jeder Selbstentwurf gerechtfertigt und zugleich relativiert. [...]
Allgemeine Leitfragen:
1. Wie versteht der Verfasser Religionsunterricht in der Schule?
2. Was ist fundamentaler Gegenstand des schulischen Religionsunterrichts?
3. Welche Rolle hat in diesem Konzept der Schüler, die Schülerin?
4. Welche Rolle wird dem Lehrer, der Lehrerin zugewiesen?
5. Welche Ziele und Inhalte des RU werden formuliert? Wie werden sie gefunden?
6. Welche Rolle spielt in diesem Konzept die biblische bzw. christliche Überlieferung?
Spezielle Hinweise und Fragen zur Erschließung des Textes:
Dieser Text ist schwer zu verstehen, da er stärker auf kreative Sprachspiele baut als auf eine begrifflich
genaue Sprache. Doch bereits die Sprachform spiegelt den religionspädagogischen Ansatz von Beu-
scher/Zilleßen! Inwiefern?
„Unterricht als Rollenspiel, die Schulklasse als Bühne“ – dies ist zunächst einmal nicht im Sinne einer Unter-
richtsmethode zu verstehen, sondern als didaktisches Konzept. Beschreiben Sie dies!
Warum nennen die Autoren ihren Ansatz einen „profanen Religionsunterricht“?
Erläutern Sie die Rede vom „parasitären Rauschen“!
Wenn die Autoren sich gegen Allmachtsphantasien von Lehrkräften wenden, so brandmarken sie die Illusi-
on, LehrerInnen könnten den Lernprozess lenken, ihm eine Richtung geben. Wie stehen Beuscher/ Zilleßen
also zu Lerninhalten und Lernzielen?
„LehrerInnen sind, wie die SchülerInnen auch, Schauspieler.“ Was meinen die Verfasser damit?
Interpretieren Sie den Satz „Werde, der du gewesen sein wirst“!
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Konstruktivistischer (kindertheologischer) Religionsunterricht
Auszug aus: Gerhard Büttner, Wie könnte ein „konstruktivistischer“ Religionsunterricht aussehen?
in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 54 (2002) 155–170
1. Das klassische Modell als Ausgangspunkt
Wie vermitteln wir Inhalte im Religionsunterricht? Die Frage ist nicht einfach, müssen wir doch abklären, was wir
unter „Inhalt“ verstehen wollen. Mindestens zwei Typen von Inhalt lassen sich unterscheiden: Fakten und Rea-
lien auf der einen Seite, entfaltete Fragestellungen und Problemlösungen auf der anderen. Diese Einteilung ist
gewiss unscharf und problematisch; sie genügt aber für einen ersten Argumentationsgang.
Religionsunterricht wird als Unterricht nicht darauf verzichten können und wollen, den Schüler/innen bestimmte
Sachverhalte so zu vermitteln, dass erwartet werden kann, dass diese am Ende des Durchgangs den Unter-
richtsgegenstand in etwa der Weise wiedergeben können, wie dies der Intention der Lehrperson entsprach. [...]
2. Einige Prämissen konstruktivistischen Denkens
Unter dem Stichwort „Konstruktivismus“ vereinen sich Beobachtungen aus verschiedenen Wissenschaftszwei-
gen. Ihre Grundaussage geht dahin, die oben implizit vorausgesetzte Vorstellung einer „objektiven“ Wirklichkeit
infrage zu stellen zu Gunsten der Einsicht, dass unser Wissen von der Welt ein „Konstrukt“ darstellt, das jedes
erkennende Subjekt selber herstellt. [...] Nicht zuletzt weisen auch die Ergebnisse des Entwicklungspsycholo-
gen Jean Piaget in diese Richtung. Er hat sein Augenmerk auf die Genese von Schemata des Erkennens ge-
richtet, die die Voraussetzung für die Verarbeitung der Sinneseindrücke überhaupt bilden. Insofern ist die Aus-
einandersetzung des Erkenntnisapparats mit der Welt immer ein Prozess der Äquilibrierung. Es muss ein Aus-
gleich erzeugt werden zwischen den Sinneseindrücken und den Schemata: entweder werden erstere assimi-
liert, d. h. in die Schemata eingepasst oder die Schemata müssen ihrerseits an die neuen Bedingungen akko-
modiert werden.
Nimmt man die hier aufgeführten Beobachtungen nicht als unwesentliche Teilaspekte unseres Verständnis [sic!]
von Wirklichkeit, sondern als Grundlage einer „Philosophie“, dann führt dies zu einem radikalen Perspektiven-
wechsel. [...] Die Konsequenzen sind dann, dass die Vorstellung einer „objektiven Wirklichkeit“ nicht aufrecht zu
erhalten ist. Individuelle Konzepte und Theorien können und müssen sich in der Bewältigung der Realität und
im Austausch mit anderen bewähren. Es geht also um die „Viabilität“, darum, ob die Theorie „passt“, d. h. zur
Bewältigung des aktuellen Problems beiträgt. Das hat zweierlei Konsequenzen:
1. Wir entwickeln unsere Vorstellung von Wirklichkeit im Austausch mit anderen. Insofern es uns gelingt, ge-
meinsame Definitionen von Wirklichkeit zu gewinnen, „verobjektiviert“ sich unsere Konstruktion, wenngleich
sie streng genommen nur für die Teilnehmer an der gemeinsamen Kommunikation gilt.
2. Einzelne subjektive Theorien sind im Prinzip gleichberechtigt, sofern sie zur Lösung von Problemen beitra-
gen. So ermöglicht z. B. die Annahme eines geozentrischen Weltbildes eine ungleich leichtere Orientierung
in den Himmelsrichtungen als das vordergründig „richtigere“ heliozentrische. Es geht also bei Theorien über
die Welt mehr um ihre Leistungsfähigkeit und Bewährung im konkreten Feld als um Wahrheit.
3. Pädagogische Konsequenzen
Stellt man die Frage nach den pädagogischen Konsequenzen des konstruktivistischen Paradigmas, dann wird
man drei Ebenen zu bedenken haben. Zunächst müssen wir den einzelnen Schüler als Rezipienten wahrneh-
men. Wenn wir uns klar machen, dass jeder Lernvorgang eine eigenständige Konstruktion des Lerninhaltes
bedeutet, dann muss sich zwangsläufig das Augenmerk des Unterrichts mehr zu den individuellen Lernwegen
der Schüler/innen hin verlagern. Dies ist in der Praxis angesichts der Klassenstärken nicht einfach zu realisie-
ren. Doch gibt es, besonders in der Grundschule, zahlreiche Versuche, durch offenere Unterrichtsformen und
Differenzierungsmaßnahmen dem Rechnung zu tragen.
Zweitens wird der Vermittlungsprozess von Inhalten durch diesen Perspektivenwechsel grundsätzlich infrage
gestellt. Es wird einsichtig, dass jeglicher Versuch, diese gleichsam zu „verdoppeln“, auf jeden Fall desavouiert
ist. Auf der anderen Seite wird aber auch die übertriebene Didaktisierung des Stoffs infrage gestellt, weil sie
durch ihre Künstlichkeit einer gleichsam naturwüchsigen Form, sich einem Gegenstand anzunähern, zuwider-
läuft. Damit zerstört sie das Interesse an der Sache und produziert die artifizielle Schulwelt, die sich durch ihre
Irrelevanz für den Alltag auszeichnet. Die Aufgabe einer Fachdidaktik bestände demnach darin, „Lernumwelten“
zu modellieren, die einerseits bestimmte Ergebnisse der angeregten Lernprozesse erwarten lassen, die ande-
rerseits auch „natürlicheren“ Aneignungsweisen der Alltagswelt angenähert sind.
Drittens bedarf es einer Neubestimmung unserer Inhalte. Sie können nicht allein unter der Logik der Fachwis-
senschaft erscheinen. Für unser Fach bedeutet dies, dass wir darüber nachdenken müssen, wie es uns gelin-
gen kann, die theologischen Aussagen so zu gestalten, dass sie sich den nachfragenden Logiken von Laien
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erschließen. Heinz von Förster schlägt vor, dass der Weg vom „Lehren“, d. h. der Vermittlung von Gewusstem,
zum „Forschen“ gehen solle, dem gemeinsamen Suchen und Fragen nach Neuem.
[...] Sollen die referierten Einsichten unterrichtliche Konsequenzen nach sich ziehen, dann bedarf es des Blickes
auf gelungene Formen von Praxis. [...] Wenn es ein Konzept gibt, das im Zusammenhang eines „geöffneten“
Unterrichts über eine gewisse religionspädagogische Reflexion verfügt, dann dürfte dies die Freiarbeit sein. Ihre
Begründung erfolgt zwar nicht von konstruktivistischen Prinzipien her, doch wird Freiarbeit unter den Konkretio-
nen konstruktivistischer Didaktik erwähnt. [...]
5. Konstruktivistische Elemente in neueren Zugängen zum RU
Der folgenschwerste Schritt zu einer konstruktivistischen Perspektive ist gewiss in den Unterrichtsprojekten zu
sehen, die Rainer Oberthür vorgelegt hat. Er orientiert sich in seinem Unterricht an den „großen Fragen“ der
Kinder. Dabei waren die Kinder sich einig, „‚große Fragen’ stellen zu können“. Im Gespräch identifizierten die
Kinder diese mit schweren Fragen, „auf die es nicht nur eine einzig richtige Antwort gibt oder die sogar niemand
endgültig beantworten kann.“ Oberthür hat eine Liste dieser Fragen zusammengestellt. Sie kreisen um die ei-
gene Identität, die Unendlichkeit von Raum und Zeit, Probleme des Zusammenlebens, die Bedrohung der Welt,
Trauer, Leid und das Leben nach dem Tod, die Sprache und schließlich um die Existenz und Wirklichkeit Got-
tes. [...]
Es ist kein Zufall, dass der Religionsunterricht besonders von der Orientierung an den Fragen der Schüler/innen
profitiert. Zumal die übergroße Zahl der Fragen eben nicht zur Gattung derer gehören [sic!], auf die eine ent-
scheidbare eindeutige Antwort möglich ist. Heinz von Foerster, einer der konstruktivistischen Väter, streicht
gerade die Bedeutung der prinzipiell unentscheidbaren Fragen heraus:
„‚Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden.’
Warum? Einfach, weil über entscheidbare Fragen schon immer durch die Wahl des Rahmens, in dem sie gestellt werden, entschieden wird.
Der Rahmen selbst mag sogar eine Antwort auf die von uns gestellte prinzipiell unentscheidbare Frage sein. Diese Beobachtung verdeut-
licht den Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Fragen. Antworten auf entscheidbare Fragen sind von Notwendigkeiten diktiert,
während Antworten auf unentscheidbare Fragen durch die Freiheit unserer Wahl bestimmt werden. Aber für diese Freiheit der Wahl müssen
wir die Verantwortung tragen.“
Foerster verweist uns also mit unseren unentscheidbaren Fragen in den Kontext eines Rahmens und hebt un-
sere Verantwortung hervor. Konkret bedeutet das, dass allein in der Art und Weise, in der wir die Fragestellung
im unterrichtlichen Kontext aufnehmen, wie wir aus ihr eine „Lernumgebung“ für die Schüler/innen modellieren,
wir bereits ein Stück Konstruktion von möglichen Antworten betreiben. Wer sich dies als Unterrichtender klar
macht, dem wird die damit gegebene Verantwortung deutlich.
Wir konnten diesen Mechanismus gut nachvollziehen bei der Analyse der Dilemma-Diskussion. In der Tradition
von Kohlberg und Oser hat es sich als probates Mittel erwiesen, Themen so zu formulieren, dass sie bestimmte
alternative Lösungen gegeneinander abwägen. [...]
Gleichwohl sind alle Versuche sinnvoll, die die Freiheitsgrade der angebotenen Lernumgebung für die Lernen-
den steigern. Insofern ist es sinnvoll, etwa biblische Geschichten in eine Dilemmaform zu bringen: Soll David
nach dem Anschlag Sauls den Hof verlassen und heimkehren ; wie soll sich Jonathan zwischen David und Saul
entscheiden ; soll David die Gelegenheit ausnutzen, als er den hilflosen Saul in der Höhle trifft? Man kann die
als problematisch empfundene Elija-Geschichte auf dem Karmel dadurch einer Diskussion zuführen, dass man
neben dem Schluss 1 Kön 18,38ff mit der schließlichen Schlachtung der Baalspropheten zwei andere „Lö-
sungsversuche“ anbietet, z.B. im Sinne des schiedlich-friedlichen Miteinanders der Religionen oder der Per-
spektive des letztlich gemeinsamen Gottes. Erst jetzt wird es möglich, jedes Ende der Geschichte in seinen
Stärken und Schwächen zu bedenken und in diesem Kontext dann der „richtigen“, weil biblischen Lösung dann
auch ihre Dignität zu geben. [...]
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Allgemeine Leitfragen:
1. Wie versteht der Verfasser Religionsunterricht in der Schule?
2. Was ist fundamentaler Gegenstand des schulischen Religionsunterrichts?
3. Welche Rolle hat in diesem Konzept der Schüler, die Schülerin?
4. Welche Rolle wird dem Lehrer, der Lehrerin zugewiesen?
5. Welche Ziele und Inhalte des RU werden formuliert? Wie werden sie gefunden?
6. Welche Rolle spielt in diesem Konzept die biblische bzw. christliche Überlieferung?
Spezielle Hinweise und Fragen zur Erschließung des Textes:
Wenn vom „klassischen Modell“ als Ausgangspunkt die Rede ist, so verwendet Büttner dies als Negativfo-
lie: Vermittlung vermeintlich objektiver Sachverhalte nach den vorab von der Lehrperson festgelegten Lern-
zielen lehnt ein konsequent konstruktivistisches Konzept ab!
Schlüsselbegriffe der Entwicklungspsychologie Jean Piagets: Assimilation (äußere Eindrücke werden nach
den bestehenden Denkstrukturen verarbeitet), Akkomodation (die bestehenden Denkstrukturen werden
aufgrund äußerer Eindrücke modifiziert), Äquilibration (Gleichgewicht zwischen beiden Bewegungen von
Assimilation und Akkomodation).
Als Kriterium für die Auswahl an Lerninhalten und Methoden ersetzt Büttner „Objektivität“ durch „Viabilität“.
Er kann auch sagen: Die Inhalte unterstehen nicht allein der Logik der Fachwissenschaft. Erläutern Sie
dies!
Was steckt wohl hinter der Kritik an einer „artifiziellen Schulwelt“ ohne Bindung an bzw. Relevanz für den
Alltag?
Welche Chancen eröffnet ein Arbeiten mit unentscheidbaren Fragen und Dilemma-Geschichten? Grenzen?
Der von Büttner äußerst positiv gewürdigte katholische Religionspädagoge Rainer Oberthür versteht sich
selbst nicht als Konstruktivist. Einige seiner hilfreichen Buchtitel für die Grundschulreligionspädagogik: Kin-
der und die großen Fragen, Kinder fragen nach Leid und Gott.
Gerhard Büttner ist – neben dem katholischen Religionspädagogen Anton A. Bucher – einer der Vorreiter
des religionspädagogischen Projekts einer Kindertheologie: Beim Theologisieren mit Kindern ist ein päda-
gogisches Spannungsverhältnis der Möglichkeit der Theologie von Kindern einerseits und der Impulse von
Theologie für Kinder andererseits zu beachten. Man vergleiche das mehrbändige Jahrbuch für Kindertheo-
logie.
36
Performativer Religionsunterricht
Auszug aus: Thomas Klie, Performativer Religionsunterricht. Von der Notwendigkeit des Gestaltens und Handelns im Reli-
gionsunterricht, in: http://www.rpi-loccum.de/klperf.html (Internet-Veröffentlichung)
1. Performanz als eine neue Sicht auf Unterricht […]
Die um schmückende Adjektive noch nie verlegene Religionspädagogik scheint derzeit um ein weiteres Etikett
reicher zu werden. Im Religionsunterricht – so lassen sich die neuesten Überlegungen zur Didaktik unseres
Faches wohl am ehesten zusammenfassen – kommt es wohl mehr und mehr auf die Umgangsformen an:
auf die Formen, über die man methodisch seine SchülerInnen ins Spiel bringt
auf die Formen, unter denen unser Gegenstand, die Religion evangelischer Spielart, im Unterricht Gestalt
annimmt, und schließlich
auf die Formen, in denen sich diese unsere Religion den Lehrerinnen und Lehrern selbst darstellt.
Alle drei für jede Form von schulischer Lehre relevanten Größen sind unter den Bedingungen unserer durch
und durch ästhetisierten Lebenswelt am ehesten aufeinander beziehbar […], wenn man sie innerhalb eines
performativ ausgelegten Rahmens betrachtet. Evangelische Religion ist didaktisch offenbar dann „up to date“,
wenn man sie als szenisches Phänomen für wahr nimmt. Als etwas, das zunächst einmal – vor allem anderen –
wahrnehmbare Außenseiten aufweist. Unsere Religion kommt dann angemessen zu sich selbst, wenn man sie
als ein Formenspiel begreift und entsprechend gestaltet, behandelt. „Performativ“ – so definieren die Kommuni-
kationswissenschaften – nennt man eine sprachliche Handlung, bei der mit dem Verlauten bereits eine Wirk-
lichkeit mitgesetzt ist. „Performativ“ meint einen Sprech-Akt. Eine „Performance“ ist zunächst einmal ganz all-
gemein eine Art Ausdruckshandlung. […]
Ein „Guten-Morgen!“-Gruß – ebenso ein Versprechen, ein Lob, ein Fluch, ein Segen, eine Ernennung – bewir-
ken, was sie in Rede stellen: eine gesegnete Zeit, eine freudige Erwartung, ein Hochgefühl, eine Niederge-
schlagenheit, eine getroste Hoffnung oder eine Statusveränderung.
Zurück zur religiösen performance. Allem Anschein nach verdichten sich im Performanz-Begriff so viele Unter-
richtserfahrungen, Argumentationslinien und Suchbewegungen, dass er sich im aktuellen didaktischen Diskurs
ebenso unspektakulär wie selbstbewusst einsichtig macht. Wofür aber steht dieses Kürzel? Welche Wahrneh-
mungen und Beobachtungen greift er auf, um sie argumentativ zu stützen? […]
Ihren klassischen Ausdruck finden performative Sprech-Akte – wie wir alle wissen – in der Welt des Theaters.
Auf der Schaubühne werden Texte in Szene gesetzt und in eine ansehnliche Handlung übertragen. Mit den
Mitteln einer Inszenierung verwandelt man Gedrucktes im Gestus des Spiels in Sprech-Akte. Inszenierungen
sind Vorgänge, bei denen etwas prozesshaft „in Form“ kommt. Und sich eben dadurch auch mitteilt oder zeigt.
Religiöse Inszenierungen teilen sich mit durch ihre Performanz. Es macht darum in unserem Zusammenhang
durchaus Sinn, Inszenierung und performance synonym zu verwenden. Eine performance geschieht vor jeman-
dem und für jemanden. […] Und wie immer, wenn unsere Sinne ins Spiel kommen, betätigen wir uns als äu-
ßerst kreative Konstrukteure der uns vorgespielten Welt. Indem wir dem Wahrgenommenen objektive Bedeu-
tung zumessen, füllen wir es mit subjektiver Bedeutsamkeit auf. Kein Theater der Welt kann ohne mitempfin-
dende Zuschauer sein. Denn erst im aktiven Zuschauen konstituiert sich das Stück. Wolfgang Iser und andere
Rezeptionsästhetiker haben uns ja darüber aufgeklärt, dass das Lesen weniger ein rezeptiver als vielmehr ein
kreativer Akt ist. Wir kennen längst nicht alle denselben „Wilhelm Tell“, dieselbe „Mutter Courage“, denselben
„Barmherzigen Samariter“ – so sehr wir als Lehrende auch dieses Lernziel unseren Lerngruppen hermeneutisch
verordnen. […]
Was aber macht nun den Unterricht in Sachen Religion zu einem performativen Gebilde? Lässt sich unser Fach
so ohne weiteres als ein ästhetischer Selbstvollzug beschreiben? Und falls ja: Welcher Erkenntnisgewinn wäre
damit verbunden, Religion und deren Vermittlung als ein theatrales Geschehen zu begreifen? Unterricht als
didaktische Aufführung, als Inszenierung von Lehrstücken? Religionsunterricht als performance? […] Im Fol-
genden soll diese Spur aufgenommen und weiter verfolgt werden. […]
3. Performanz als didaktisches Programm – Fünf Thesen
1. Der didaktische Ort der Performativen Religionspädagogik:
Religion zum Sprechen bringen ist mehr als das Reden über Religion. Ohne konkrete Wahr-
nehmungen von gelebter Religion ist religiöses Lernen nicht darstellbar.
„Gelebte Religion“ meint die Bewegung in ihren Räumen und den leiblichen Kontakt mit ihren Formen. Als Leh-
rer säße man einem schlimmen Missverständnis auf, verwechselte man seinen Unterrichtsgegenstand mit einer
Ansammlung von – möglicherweise noch fotokopierten – Texten. Gegenstand des Religionsunterrichts kann nur
eine je konkret vollzogene Religion sein. Gelebte Religion wird aber nur über Erfahrungen und Handlungen
gelernt und gelehrt. Man lernt sie gleichsam von außen nach innen. Man kommt ihr didaktisch nahe, wenn sie in
ihren Erscheinungen (und Verdunkelungen) vernommen und leibräumlich gestaltet wird: ein Prophetenwort
37
muss deklamiert, „herausposaunt“ werden, ein Klagepsalm gehört an eine schulisch angemessene Klagemau-
er und ein Gebet muss leib-räumlich durchgespielt werden (im Sitzen, im Stehen, im Liegen, im Knien; in einer
Kirche, auf einer großen Freifläche, „im stillen Kämmerlein“ etc.). […]
Auch auf den ersten Blick zunächst einmal „rein kognitive“ Unterrichtsformen unterliegen den Bedingungen
szenischer Darstellung. So kann bspw. kein Text rezipiert werden, der nicht zuvor gelesen wurde. […] Wie also
lassen wir lesen? Auf einem eilig kopierten „Zettel“, wie Arbeitsblätter oftmals benannt werden, zeigt sich ein
Bibel-Text anders als in der (mehr oder weniger mühsam) aufzuschlagenden Schulbibel oder in Gestalt etwa
eines Textbausteins, der sich neben vielen anderen nichtbiblischen Inhalts auf der Doppelseite eines Religions-
buches wieder findet. Schon die bloße Präsentationsform beinhaltet eine Vorentscheidung über die veran-
schlagten Lehr-Ziele und Lern-Chancen. Function follows form. Formen aber sind methodisch durchaus varia-
bel. Unterrichtende können ja schließlich festlegen, in welcher Weise die gewünschte Textfunktion zum Aus-
druck gebracht werden soll: als gehörte, d. h. erzählte oder vorgelesene oder gar gemeinsam gesungene Bibel-
verse; als Stillarbeit oder als für alle vernehmliches Vorlesen; oder gar als szenisch dargestellte oder einfach
nur gemalte bzw. kalligraphierte Bibelworte. Methoden variieren immer auch Inhaltserwartungen.
2. Der theologische Ort:
Zwischen protestantischem Wortverständnis und ästhetischer Erfahrung besteht ein enges Wechsel-
verhältnis. Die systematisch-theologische Rede vom Wort-Ereignis hat auch eine religionspädagogi-
sche Außenseite.
Es war Luthers feste Überzeugung, dass das Bibelwort solange nicht Evangelium ist, bis es verlautet, gehört
und als solches realisiert wird. Die leib-räumliche Gestalt ist konstitutiv für das Wortgeschehen. Das macht die
Hermeneutik des sola scriptura abbildbar auf die der ästhetischen Wirkung.
Das verbum externum, das äußerliche Wort, ist für Luther das sinnliche Zeichen göttlicher Selbstmitteilung. In
ihm nimmt der redende Gott für den hörenden Menschen verheißungsvoll Gestalt an. Der Zuspruch der Gnade
ergeht in Form der Darstellung. Vor und außerhalb dieses Inszenierungsrahmens, also unabhängig von der
Mündlichkeit des Gotteswortes, kann der Adressat nicht wirklich erreicht werden. […] Erst das präsentierte, also
das öffentlich aus- und aufgeführte Wort setzt diejenige Referenz in Kraft, von der es handelt und die es letztlich
bezeugt. Promissio und fides, Verheißung und Glaube, korrelieren im Modus der Präsentation. Das Evangelium
muss eben auch und gerade äußerlich ankommen, damit es nicht in schwärmerischer Attitüde unmittelbar und
unbefragbar in der Subjektivität seiner Hörer aufgeht.
Wendet man nun diese schrift-theologische Einsicht ins Pädagogische, dann besteht der angemessene Um-
gang mit der Bibel darin, dieser Eigenbewegung des Wortes Zeit, Raum und Ausdruck zu geben. Wortlaute der
Heiligen Schrift sind dann so in Szene zu setzen, dass sie im freien Zugriff als Orientierungsgewinne – also
bildend – zu Buche schlagen. Es ist somit auch – streng lutherisch genommen – ein folgenreiches Fehlurteil,
unsere evangelische Religion einfach fraglos einzureihen in die sog. „Buch- oder gar Schriftreligionen“. Protes-
tanten haben keine Religion des Buches, sondern eine Religion der Aufführung. Ich spitze zu: Evangelische
Religion ist allem Anschein zum Trotz eine Inszenierungsreligion.
3. Der raumtheoretische Ort:
Kein Unterrichtsgegenstand ist einfach abstrakt gegeben. Vielmehr teilt er sich mit, indem man mit
ihm umgeht, sich in ihn hinein begibt, sich in ihm bewegt, sich in ihm und zu ihm verortet.
Diese in der These angedeuteten Umgangsformen beanspruchen einen bestimmten Raum. Um begangen und
bewohnt zu werden, muss ein angemessener Raum erst einmal pädagogisch eingeräumt werden. Wie das Le-
sen einen Raum der Stille braucht, so braucht die Gruppenarbeit einen Kommunikationsraum geschäftigen Mit-
einanders. Räume, Schulräume, ja ganze Schulen erzeugen eine je eigene Wahrnehmung. Und diese Wahr-
nehmung teilt sich einem ganz spontan mit: Man fühlt sich wohl oder unwohl, man ist abgelenkt oder angetan,
ist konzentriert oder zerstreut.
In der Schule werden Räume zu Wahrnehmungs- und Handlungsräumen, zu Räumen also, in denen Lernende
miteinander ihre Lernanlässe leiblich aushandeln. Jeder Raum kann durch seine Gestalt und seine Ausstattung
bestimmte Handlungen nahe legen (manchmal auch verhindern). Räume können sich aber auch durch die in
ihnen stattfindenden Tätigkeiten verändern: eine Kirche, in der ein Gospelchor auftritt, wird zur Konzerthalle,
eine Schule, in der eine Ausstellung aushängt, zur Galerie und eine Sporthalle, die einen Flohmarkt beherbergt,
zum Kaufhaus.
Jede Verrichtung stimmt den Raum in besonderer Weise – sie macht ihn sich zum Umraum. Und zugleich legt
die Verrichtung auch die Zeit fest, in der er als Umraum fungiert. Umräume sind wesenhaft Zeit-Räume, zeitwei-
lige Räume.
4. Der rollentheoretische Ort:
In einem performativen Religionsunterricht nehmen die SchülerInnen eine höchst aktive Rolle ein.
Selbsttätig wird Religion in ihren Formen und Figuren ertastet, erspielt, gesehen, gehört und bewegt.
Im Unterricht wie im Theater übernehmen Menschen gewisse Rollen. […] Schülerinnen und Schüler überneh-
men diese Rollenangebote auf dem Hintergrund ihres Lebenszusammenhangs. Sie bewegen sich mit Leib und
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Seele im Raum und geben ihrer Rolle eine Lern- und Präsentationsgestalt. Das ist eben ihr Modus, der ge-
formten Religion nachzudenken.
Solch personales und kommunikatives Lernen erfordert von den Lernenden das Einklinken, Mitmachen, aber
auch die genaue Beobachtung. Es nötigt sie, „Theaterzuschauer“ und „Theoretiker“ in einem zu sein.
Zunächst jedoch besteht die Rolle der Lehrperson vor allem darin, einen Gegenstand einzuspielen, der religiös
zu lernen geben soll. Dieser Gegenstand hat mit der Religion der Lehrenden zu tun, ist aber nicht mit ihr iden-
tisch. Der Unterrichtsgegenstand repräsentiert diese seine Religion auf besondere Weise. An diesem Gegens-
tand vermag – den gelingenden Fall vorausgesetzt – die Lehrperson zu zeigen, wie ihre von vielen anderen
Christenmenschen geteilte Religion aussieht und wie sie sich im Leben auswirkt. Dieses methodisch kontrollier-
te Aufzeigen nimmt sie als Lehrperson vor, nicht etwa als Privatperson. Die Pointe des konfessionellen Religi-
onsunterrichts besteht aber gerade darin, dass sich die von der Lehrperson gelehrte Religion auch und gerade
auf die von der Privatperson gelebte Religion bezieht.
Als personaler Repräsentant der eigenen Religion hat der Lehrer, die Lehrerin das eigene Unterrichtsszenario
pädagogisch zu verantworten und religionspädagogisch angemessen zu inszenieren. Das Ausfüllen der Lehrer-
Rolle besteht darin, für jeweils ein Stück evangelischer Religion der Lerngruppe Erschließungsformen anzubie-
ten, die es ihr ermöglichen, dessen Wirkweisen für sich im freien Zugriff aufzuschließen. An der Art und Weise
seines Gegenstandsbezugs können die Lernenden dann ablesen, was es mit dieser Religion auf sich hat. Die
Konfession der Religionslehrerin hat für die Schülerinnen und Schüler eine wichtige Vergewisserungsfunktion,
macht sie doch ihre/seine Perspektive kenntlich, ihren Platz, den sie im religiösen Raum einnimmt.
Wird dagegen das inszenatorische Handeln zum Selbstzweck, z. B. durch die Selbstinszenierung des Lehrers
oder der Lehrerin, dann kommt diese Verweisfunktion zum Erliegen. Die Professionalität (latein.: professio –
wörtl.: öffentliches Bekenntnis), der die Lehrperson in ihrer eigenen Rolle Gestalt verleiht, kommt vielmehr zum
Ausdruck im reflektierten Umgang mit und im Eröffnen von angemessenen Zugängen zu ihrer Religion.
Sie ist unterrichtlich präsent, indem sie die Religion, der sie sich als Person in besonderer Weise verbunden
weiß, auf der öffentlichen Bühne des Unterrichts bewegend in Szene setzt. […] Für die Requisiten (Methoden,
Medien) und die dramatische Vorlage (Unterrichtsstoff) ist der Unterrichtende verantwortlich, für die Lernziele
nur bedingt und für die Inhalte nur insofern, als er der Urheber des szenischen Arrangements ist, innerhalb des-
sen sich ein vorgegebener Stoff prozesshaft als Inhalt konstituiert.
Versteckt sich der Spieler hinter einer unpassenden Maske, geht dem Lernprozess das Minimum an Wieder-
erkennbarkeit verloren. Geht der Spieler jedoch konturlos in seiner Rolle auf, wird er zum Selbstdarsteller. Erst
die Balance von Nähe und Distanz zwischen Person und gespielter Figur führt zu überzeugenden Darstellun-
gen.
5. Der somatische Ort: Evangelische Religion ist auf leibliche Gestaltung aus.
Um die „Praxis des Evangeliums“ (Ernst Lange) unterrichtlich zu erschließen, muss man ihre Räume aufsu-
chen, sie begehen und sie gemeinsam rekonstruieren. Diese Forderung bezieht sich nicht nur die authentischen
Behältnisse – etwa Kirchengebäude oder Friedhöfe oder all die säkularen Räumlichkeiten wie die Banken-
Tempel, Kino-Paläste und Einkaufs-Paradiese – diese Forderung zielt ebenso auf die Ebene der Verhältnisse.
Lernen ist immer in bestimmter Weise leiblich situiert: Ein Klassenraum erscheint von der Tafel aus anders als
von der letzten Bank, ein Gebet erzeugt in einer Kapelle andere Resonanzen als in einer nüchternen Schul-
Aula, und ein Kunstbild wirkt in einem Museum authentischer als auf einem schmucklosen Arbeitsblatt. […]
Auch und gerade im Bereich der Religion erfolgt die Wahrnehmung von Unterrichtsgegenständen immer aus
einem bestimmten Blickwinkel heraus. Dieser Blickwinkel ist so beschaffen und begrenzt, wie die leibliche und
soziale Ausstattung des Einzelnen individuell ist. Um die eigene Perspektive, den eigenen Ort wechseln zu
können, muss die Stellung im Raum verlassen werden. Erst Bewegung sorgt für neue Einsichten – eines der
elementaren Lernziele des Bibliodramas.
Im Bibliodrama wird damit ernst gemacht, dass jede Geste, jede Körperhaltung und jede Bewegung Räume
entstehen lässt, die „Sinn machen“. Im Nachspielen biblischer Sujets wird der leibliche Ausdruck zum herme-
neutischen Kriterium. Durch Positionierung und Verlagerung können Textrelationen moduliert werden, Auftritte
und Abgänge halten Inhalte im Vollzug präsent. Im biblischen Texttheater verschränken sich lebensweltliche
Erfahrung und biblischer Text im Modus theatraler Vergegenwärtigung. Die Akteure fingieren einen szenischen
Raum und spielen sich in verschiedenen Rollen in einen Referenztext ein. Dieser vermittelt sich den Spielenden
über die leibliche Darstellung. Sie begeben sich auf Zeit und unter kontrollierten Bedingungen unterrichtlichen
Probehandelns in die – zunächst fremde – Textwelt hinein. Das Sujet wird also zeitlich und räumlich gedehnt,
um es sich in dieser Gestalt anzueignen.
Wichtig erscheint mir jedoch, hierbei Reflexion und Präsentation enger als oft praktiziert aufeinander zu bezie-
hen. Andernfalls kann das Ganze leicht umkippen in eine bösartige Gefühligkeit, der ihr Stimulus letztlich
gleichgültig ist. Die Differenz zwischen dem Wort Gottes und der Inszenierung seiner Weitergabe muss diskur-
siv präsent gehalten werden. Ebenso die Differenz zwischen authentischer religiöser Praxis und pädagogischer
Formgebung. Verschwimmen diese Konturen – etwa unter dem Vorzeichen einer übergriffigen Kreativität oder
einer falsch verstandenen Handlungsorientierung –, dann mutiert Unterricht schnell in Psychokitsch oder religi-
öse Folklore. Muslimische Gebetsgesten mal eben nachzuspielen hat mit interreligiösem Dialog ebenso wenig
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zu tun wie die Reduktion eines Klage-Psalms auf die Frage „Wie habt ihr euch dabei gefühlt?“ mit einer leib-
räumlichen Erschließung.
4. Schluss
Die szenische Ausdehnung des Unterrichts ist wichtig für den Religionsunterricht, weil sich die Praxis des E-
vangeliums nicht auf abstrakte Einsichten und Bewusstseinsphänomene beschränkt. Ob man dies nun mit der
Vokabel „Performativer Religionsunterricht“ belegt, ist demgegenüber relativ unwichtig. Wohl aber müssen wir in
Zukunft – wollen wir dem gesteigertem ästhetischen Bewusstsein unserer Schülerinnen und Schüler und der
Eigenart unserer religiösen Gegenstände gerecht werden – der Gestaltqualität und der Theatralität unseres
Tuns mehr Bedeutung zumessen. Dadurch wird ins Bewusstsein gehoben, dass nur dargestellte, d. h. räumlich
wahrnehmbare und leiblich vermittelte Inhalte als bedeutsam erkannt und moduliert werden können. Methoden
sind so gesehen immer tätige Formen. Sie bieten den Rahmen, in dem aus dem Gegenstand ein Inhalt, aus der
Partitur eine Performance, aus dem Text ein Lernstück wird. Inhalte, auch und gerade religiöse Inhalte, gibt es
nicht ohne die sie bergenden Formen. Es gibt sie nur performativ – per formam.
Lehrende und Lernende können so gesehen nicht nicht inszenieren. Wohl aber können sie ihr Lehrstück gut
oder weniger gut in Szene setzen.
Allgemeine Leitfragen:
1. Wie versteht der Verfasser Religionsunterricht in der Schule?
2. Was ist fundamentaler Gegenstand des schulischen Religionsunterrichts?
3. Welche Rolle hat in diesem Konzept der Schüler, die Schülerin?
4. Welche Rolle wird dem Lehrer, der Lehrerin zugewiesen?
5. Welche Ziele und Inhalte des RU werden formuliert? Wie werden sie gefunden?
6. Welche Rolle spielt in diesem Konzept die biblische bzw. christliche Überlieferung?
Spezielle Hinweise und Fragen zur Erschließung des Textes:
In der so genannten Sprech-Akt-Theorie (J.L. Austin, How to do things with words, 1962; J.R. Searle,
Speech Acts, 1969) ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass bestimmte Sprachformen eine vorhan-
dene Realität nicht bloß beschreiben, sondern sie zuerst herstellen: z.B. Gerichtsurteil, Begnadigung, Ehe-
schließung, Segen etc. Sprache vollzieht in den genannten Beispielen die Wirklichkeit, die sie benennt, und
ist in diesem Sinne performativ.
Entdecken Sie Impulse früherer Konzeptionen? Worin besteht das eigene Profil des performativen Ansat-
zes?
Welche Rolle spielt hier Wissensvermittlung, welchen Stellenwert nimmt Erfahrung ein?
Erläutern Sie die Behauptung, Evangelische Religion sei eine „Inszenierungsreligion“!
Worin besteht die von Klie nachhaltig betonte „Differenz zwischen authentischer religiöser Praxis und päda-
gogischer Formgebung“? Wie muss sie sich im unterrichtspraktischen Vollzug äußern?
Teil 2
Formen
religiösen Lernens in der öffentlichen Schule
41
Methodik und Didaktik
Auszug aus: Rainer Lachmann, Methodische Grundfragen, in: G. Adam/R. Lachmann (Hg.), Methodisches Kompendium für
den Religionsunterricht, Göttingen 2
1996, 15–38
1. Einführung: Interesse und Intention religionsdidaktischer Methodenreflexion
[...] Die Zeiten sind vorbei, in denen eine auf Inhalte und Ziele fixierte Didaktik die Methoden vernachlässigen
und hintanstellen konnte. Mit erheblich ausgeweiteter didaktischer Gewichtigkeit sind Methoden heute wieder
hoffähig und aktuell diskussionswürdig. [...]
2. Methodenfragen im Kontext didaktischer Theoriebildung
[...] Um unübersehbar zu demonstrieren, daß die Fragen einer Didaktik im engeren Sinne [...] essentiell mit den
methodischen Fragen zusammenhängen, soll einleitend von [folgenden] methodischen Auffassungen ausge-
gangen werden. Sie seien in fünf Punkten zusammengefaßt:
(1) Methodik ist Teilgebiet einer religionsunterrichtlichen Fachdidaktik, der es um die Reflexion des Was,
Warum, Wozu und Wie religionsunterrichtlicher Vermittlung theologischer Erkenntnisse und Inhalte an
bestimmte Schüler im Erschließungshorizont religionspädagogischer Zielsetzung geht.
(2) Methodisches Fragen bedenkt, wie, auf welchen Wegen und mittels welcher Verfahren geplante Ziele
erreicht und ausgewählte Inhalte vermittelt werden können.
(3) Methodische Überlegungen sind ein unverzichtbares Element jedweder Unterrichtsvorbereitung; von
ihnen hängt es ab, ob die angestrebten Lernziele auch verwirklicht werden können.
(4) Die Methoden haben Teil an der Interdependenz aller Unterrichtsfaktoren und bilden mit ihnen zusam-
men einen sich wechselseitig bedingenden Implikationszusammenhang.
(5) Am sog. Primat der Didaktik vor der Methodik wird festgehalten. [...]
Methode und Vermittlung. Wir haben oben das didaktische und methodische Geschäft des RU recht massiv als
die Vermittlung theologischer Erkenntnisse und Inhalte an bestimmte Schüler definiert und wollen – recht ver-
standen – auch an der Vermittlung als zentraler didaktischer und methodischer Kategorie festhalten. Es soll u.E.
im RU wahrhaftig um die Vermittlung des Anspruchs der christlichen »Sache« mit den Schülern und ihrem
Recht auf lebensförderliche Wahrheit gehen, um wechselseitige Bereicherung und »Erschließung« (W. Klafki).
Wohlgemerkt: um echte Vermittlung, nicht einfach um bloße Weitergabe, Mitteilung, Überlieferung! [...] Denn bei
den (Glaubens-)Inhalten des RU handelt es sich nicht um von vornherein feststehende, zweifellos vorgegebene
Wahrheiten, die Mittels des »Vehikels« der Methoden gleichsam »unvermittelt« weitergegeben und weitertrans-
portiert werden können. Ihre Vermittlung ist vielmehr unbedingt angewiesen auf einen dialogisch angelegten
offenen Kommunikationsprozeß, der – geleitet von der Grundintention »Kommunikation des Evangeliums« – als
Verständigungsgeschehen aufzufassen ist. [...] Das schließt ein isoliertes, technizistisch reduziertes Methoden-
verständnis aus und verlangt methodische Vermittlungsweisen und -wege, die den Schülern im suchenden und
entdeckenden, argumentierenden und experimentierenden Umgang mit der christlichen Wahrheit entsprechen-
des Lernen, Verstehen und Verständigen ermöglichen.
Interdependenz und Primat. Mit der Zurückweisung eines technizistisch reduzierten Methodenverständnisses ist
ein methodisch wichtiger Grundsachverhalt angesprochen, der in der auch von uns geteilten Auffassung von
der Interdependez aller Unterrichtsfaktoren bzw. dem sich wechselseitig bedingenden Implikationszusammen-
hang seinen adäquaten Ausdruck findet. In unserem Falle bedeutet das zunächst eine entschiedene Absage an
alle sog. »Methodiker«, die meinen, daß Unterrichtsinhalte und -ziele durch methodische Entscheidungen nicht
berührt würden. Demgegenüber gilt es festzuhalten, daß Methoden keineswegs als ziel- oder inhaltsneutral
angesehen werden dürfen. Sie tragen vielmehr »selbst bereits normative Implikationen« (E. Terhart) und inhalt-
liche Intentionen in sich, und insofern bestimmen Auswahl wie Art und Weise methodischer Gestaltung mit über
Inhalte und Ergebnisse des Unterrichts. Das muß besonders im fachdidaktischen Interesse verantwortlichen
Methodeneinsatzes vorweg eigens herausgestellt werden, um nicht der gleichermaßen bequemen wie gefährli-
chen Illusion aufzusitzen, als könne man »eine Unterrichtsmethodik für beliebige Inhalte« (H. Meyer) und Ziele
anbieten.
Die Einsicht, daß jede Unterrichtsmethode beachtenswerte inhaltliche und intentionale Vorentscheidungen
impliziert, bringt den Methoden zweifelsohne einen erheblichen Zugewinn an didaktischer Bedeutung: Die Frage
der methodischen Präsentation eines Inhalts ist nicht mehr nur ein nachgeordnetes Problem, sondern muß be-
reits bei den Ziel- und Inhaltsentscheidungen mitbedacht werden. [...]
Solchermaßen bedeutet die Beachtung der unterrichtlichen Faktoren-Interdependenz [Methoden, Schüler,
Lehrer, Institution Schule] eine Entschärfung und Relativierung des Satzes vom Primat der Didaktik. [...] Trotz-
dem halten wir auch weiterhin am Primat der didaktischen Entscheidungen vor den methodischen fest, verste-
hen wir darunter allerdings nicht wie die geisteswissenschaftliche Didaktik das Primat der »puren« Inhalte, son-
42
der das Primat der Intention, bzw. den Vorrang der zielorientierten Inhalte vor den Methoden. [...] Ohne impli-
zierte Zielorientierung auf allen Ebenen und in allen unterrichtlichen Dimensionen ist schulischer Unterricht nicht
denkbar; das verleiht der Zielentscheidung und Unterrichtsintention ihr Primat und macht Zielorientierung zum
entscheidenden Kriterium, an dem sich Unterrichtsinhalt und Methode messen lassen müssen. Demgemäß
muß in der Regel über Ziele, Thematik und zielorientierte Inhalte entschieden sein, bevor unter Bedacht der
vielfältigen unterrichtlichen Wechselwirkungen methodische Entscheidungen gefällt und verantwortet werden
können.
3. Methoden im Kontext religionspädagogischer Konzeptionen
Das Primat der Zielentscheidungen verweist die Methodenfrage in fachdidaktischer Hinsicht auf den umfassen-
deren Zusammenhang religionspädagogischer Unterrichtskonzeptionen. [...]
Was freilich [...] bislang noch völlig fehlt, sind religionspädagogische Veröffentlichungen, welche die Methoden-
frage in ihren grundsätzlichen Problemstellungen wissenschaftlich bedenken. Religionspädagogisch würde da-
zu sowohl die Auseinandersetzung mit der Methodenforschung auf pädagogischem Gebiet wie die Reflexion
der religionsspezifischen Grundsatzfragen in religionsunterrichtlich-methodischer Hinsicht gehören. Wo das
ausgeklammert bleibt und man sich mit theorieloser Praxisanleitung meint begnügen zu können, besteht die
Gefahr unkritischen Methodengebrauchs, welcher der komplexen Gewichtigkeit der Methoden im unterrichtli-
chen Interdependenzfeld nicht gerecht zu werden vermag und deshalb möglicherweise Folgen zeitigt, die religi-
onsunterrichtlich unerwünscht sind. [...]
4. Methoden im fachspezifischen Rahmen des Religionsunterrichts
Als aufschlußreiches Kernproblem religionsdidaktischer Methodenbeschäftigung erweist sich immer wieder die
Frage: Gibt es fachspezifische Unterrichtsmethoden für den RU? bzw. radikaler gefragt: Gibt es spezielle, aus-
schließlich dem RU eigene Unterrichtsmethoden? [...]
[...] meinen wir als erstes verallgemeinernd feststellen zu können, daß es eine allein dem RU angemessene
Methode nicht gibt. Dieser Satz gilt auch, obwohl oder besser: gerade weil es in dem angestrebten RU in vielfäl-
tiger Weise um den christlichen Glauben geht. Denn dieser Glaube ist im vollen Sinne seines Gehalts und sei-
ner Wirkung nicht lernbar; als im letzten Gott-gewirktes heilschaffendes Gnadengeschenk entzieht er sich unter-
richtlich methodischer Verfügbarkeit und Machbarkeit ebenso wie seiner religionspädagogisch zielgemäßen
Verplanung. Daraus folgt als zweiter Grundsatz religionsdidaktischen Methodenverständnisses, daß sich im
Blick auf den Glauben all unser methodisches Handeln im Vorfeld abspielt und stets und ständig unter propä-
deutischem Vorzeichen und Vorbehalt gesehen werden muß. Damit ist ein für allemal jeglicher Methodismus
ausgeschlossen, der sich anmaßt, unbedingt sichere Wege und Verfahren zum Glauben anbieten zu können.
Evangeliums- und glaubensmächtige Methoden kann und darf es weder theologisch noch pädagogisch geben.
Das wäre Perversion und Verlust des Liebes- und Freiheitsgehaltes des Evangeliums und würde auch dem
pädagogischen Anspruch widersprechen, für den jeder entmündigende Zwang ausgeschlossen bleiben muß.
[...] Über dieser kritischen Perspektive darf freilich nicht der befreiende Effekt vergessen werden, den das pro-
pädeutische Vorzeichen gleichermaßen in sich trägt. Es entlastet das religionsunterrichtliche Methodenhandeln
von der Aufgabe, bei den Schülern Glauben schaffen zu müssen, befreit von methodischen Fixierungen und
Tabus und schenkt insgesamt eine thelogisch entkrampfte Aufgeschlossenheit für das reiche Methodenreper-
toire, das vom RU genauso genutzt werden möchte wie von jedem anderen Schulfach. [...]
Der so betont herausgestellte propädeutische Charakter religionsunterrichtlich-methodischen Handelns bedeu-
tet nun freilich nicht zugleich auch die völlige Irrelevanz des Glaubens für den religionsunterrichtlichen Metho-
deneinsatz. Das ergibt sich allein aus dem Umstand, daß die »Kommunikation des Evangeliums«, so es sich
denn glaubensmäßig im RU ereignen sollte, nur auf menschliche Weise erfolgen kann. [...] Und in dieser Bezie-
hung gewinnt dann der Glaube, auch wenn wir strikt an seiner methodischen Unverfügbarkeit festhalten, doch
so etwas wie eine korrektive Funktion für den religionsunterrichtlichen Methodeneinsatz. Er spielt mindestens
insofern eine methodenrelevante Rolle, als den Schülern durch methodische Maßnahmen oder Unfähigkeiten
der Zugang zum Christentum und seinen Glaubensinhalten nicht derart verschlossen werden darf, daß es in,
mit und über der religionsunterrichtlichen Sachbeschäftigung und -begegnung nicht mehr zur Glaubensereig-
nung und -vergewisserung kommen kann. Prohibitiv formuliert ist das ein dritter und letzter Grundsatz, den es
beim Umgang mit Unterrichtsmethoden im fachspezifischen Rahmen des RU zu beachten gilt. Auch das be-
gründet keinen methodischen Sonderstatus des RU, kann aber sehr wohl zusätzliche kritische Sensibilität für
bewußt verantworteten Methodengebrauch im RU mobilisieren.
5. Kriterien religionsunterrichtlichen Methodeneinsatzes
Keine verordnete Fixierung auf eine spezifisch religionsunterrichtliche Methode, kein Methodenmonismus,
-dogmatismus oder -skeptizismus, stattdessen aufgeschlossene Freude an der Methodenvielfalt auch für den
RU! Das ermöglicht flexiblen und undoktrinären Methodeneinsatz, was allerdings keinesfalls – noch einmal sei
es betont – mit wahllos unkritischem Methodengebrauch verwechselt werden darf. Um das zu verhindern, be-
darf es Kriterien, an denen die Auswahl adäquater Methoden zu messen und zu orientieren ist. Unter Berück-
sichtigung der maßgeblichen Unterrichtsfaktoren gilt hier der Satz: Wer verantwortlich entscheiden will, wie er
zu unterrichten hat, muß wissen wozu er was an wen unter welchen Umständen vermitteln möchte. Daraus
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folgen als leitende Kriterien verantwortlichen Methodeneinsatzes Ziel- und Sachgemäßheit, Schüler- und Leh-
rergemäßheit sowie Situationsgemäßheit. [...]
Ziel- und Sachgemäßheit. [...] An dem hier vertretenen Verständnis von RU, für den die agapegemäße Kommu-
nikation des Evangeliums den bestimmenden Kerngehalt der methodenkritisch eingeforderten Ziel- und Sach-
gemäßheit ausmacht [...], entscheidet es sich, welches Lernverständnis mit welchen methodischen Konsequen-
zen den religionsunterrichtlichen Verstehens- und Verständigungsprozeß maßgeblich bestimmen darf. [...] Wo
[Unterrichtsmethoden] grundsätzlich dem agapemäßig verlangten dialogischen Lernen widersprechen, scheiden
sie als dem schulischen RU inadäquate Methoden aus. Sie würden weder der religionsunterrichtlichen Zielset-
zung gerecht, noch den Inhalten, die ohne Beachtung stimmiger Beziehungsdimension nicht zu ihrer Wahrheit
gelangen können.
Schüler- und Lehrergemäßheit. [...] Entwicklungsstand der Schüler, vorhandene Kräfte, Fähigkeiten und Fertig-
keiten wollen dabei genauso beachtet werden wie der Aspekt der sozialen Beziehungen und vor allem die me-
thodischen Vorerfahrungen, welche die Schüler mitbringen. [...] [Das] Implikat der Schülergemäßheit hat dar-
über zu wachen, daß die eingesetzten Methoden den Schüler nicht zum lerndienlichen Objekt verzwecken,
sondern ihn im Prozeß methodischen Entscheidens und Handelns als zunehmend mitbestimmendes Subjekt
ernstnehmen. [...]
Das Kriterium der Lehrergemäßheit [fordert] vom Lehrer zum einen die Beachtung je seiner spezifischen
Lehrvoraussetzungen, und ist zum anderen kritischer Dauerimpuls zum Lernen, Üben und Experimentieren auf
methodischem Gebiet.
Situationsgemäßheit. Religionsunterrichtlich wird [...] die Schule als eigenständiges methodisches Bedingungs-
feld zum wichtigen Unterscheidungsmerkmal gegenüber allem gemeindepädagogischen Methodeneinsatz in
den verschiedenen kirchlichen Handlungsfeldern. [...] Wie jedes andere Schulfach ist eben auch der RU in der
Regel an den Einzelstundenzeittakt von 45 Minuten gebunden, steht im wahllosen Kontext mit anderen Fächern
und hat sich mit dem mehr oder weniger häufig stattfindenen Lehrerwechsel zu arrangieren. [...]
Ein ausschließlich dem RU vorbehaltenes ›Religionszimmer‹ z.B. kann durch die Art und Weise seiner
Einrichtung und Ausstattung flexiblem und effektivem Methodeneinsatz in der religionsunterrichtlichen Praxis
sehr förderlich sein, wohingegen der Umzug in jeweils andere und fremde Klassenzimmer sich methodisch äu-
ßerst nachteilig und hinderlich auswirken kann. Situationsgemäßer Methodengebrauch bedarf somit, will er
wirklich das reiche Angebot an Methoden, das der schulisch-unterrichtliche Markt der Möglichkeiten bereithält,
nutzen, in jedem Fall geeigneter Räumlichkeiten und angemessener technischer Ausstattung. [...] Neben diesen
relativ konstanten Situationsbedingungen institutionell-struktureller, räumlicher und technischer Art sind von
jedem Lehrer schließlich noch die je aktuellen Situationsumstände zu berücksichtigen, denen er sich in seinem
konkreten Unterricht mehr oder weniger unvorhergesehen ausgesetzt sehen kann. [...] Hier müßte der Lehrer in
gleichsam situativer Sensibilität seine methodischen Entscheidungen treffen und gegebenenfalls von seinem für
die Stunde geplanten methodischen Arrangement abweichen und auf eine andere situationsgerechte Methode
›umschalten‹. [...]
44
Allgemeine Leitfragen:
1. Welchen Zusammenhang sieht der Verfasser zwischen Inhalt und Methode?
2. Welchen Zusammenhang sieht der Verfasser zwischen Didaktik und Methodik?
3. Nach welchen Kriterien (Lernzielen) bestimmt der Verfasser, was geeignete Methoden sind?
4. Welche Rolle kommt bei den einzelnen Methoden der Lehrerin, dem Lehrer zu,
welche der Schülerin, dem Schüler?
Spezielle Hinweise und Fragen zur Erschließung des Textes:
Lachmann beschreibt letztlich drei unterschiedliche Weisen der Zuordnung von Didaktik und Methodik:
(1) Die Auswahl geeigneter Methoden steht in keinem inneren Zusammenhang oder Einfluss zur Bestim-
mung von Unterrichtsinhalten und -zielen.
(2) Geeignete Methoden sind solche, die den Unterrichtsinhalten angemessen sind und die die Unterrichts-
ziele fördern.
(3) Kreative Methodenkompetenz ist das didaktische Ziel schlechthin, dem jedwede Inhalte zur Einübung
dienen können.
Für welches Modell steht Lachmann selbst?
Theologischer Fachdidaktik geht es nach Rainer Lachmann um die
F religionspädagogisch begründete („Warum?“)
F Bestimmung von theologischen Inhalten („Was?“),
F welche mit ebenfalls zu bestimmenden religionspädagogischen Lernzielen („Wozu?“)
F auf dafür geeigneten Lernwegen („Wie?“)
F bestimmten SchülerInnen vermittelt und durch sie – & sie für die Inhalte – erschlossen werden sollen.
„Vermittlung als zentrale methodische und didaktische Kategorie“: Erläutern Sie, wie Lachmann diesen
doch sehr kontroversen bzw. missverständlichen Begriff füllt!
„Agape gemäße Kommunikation des Evangeliums“: Ausgehend vom neutestamentlich-johanneischen
Sprachgebrauch (z.B. 1 Joh 4,7ff) wird das griechische Wort für Liebe, Agape, in der Theologie im Sinne ei-
ner voraussetzungslosen Liebe verwendet. Martin Luther drückt dies in seiner Heidelberger Disputation von
1518 in These 28 trefflich aus: „Die Liebe Gottes findet das für sie Liebenswerte nicht vor, sondern erschafft
es. Die Liebe des Menschen entsteht aus dem für sie Liebenswerten. […] Die Liebe Gottes, die im Men-
schen lebt, liebt die Sünder, Bösen, Törichten, Schwachen, um sie zu Gerechten, Guten, Weisen und Star-
ken zu machen, und so verausgabt sie sich vielmehr und teilt Gutes mit. Denn darum sind die Sünder
schön, weil sie geliebt werden; nicht darum werden sie geliebt, weil sie schön sind. […]“
Welche Relevanz besitzt der Glaube an (den in Jesus Christus offenbaren) Gott laut Lachmann für den
Methodeneinsatz im Unterricht? Kann Glaube Lernziel sein, kann er methodisch angebahnt werden?
Diskutieren Sie die Bedeutung der zeitlichen (d.h. in der Regel: 45 Minuten) und räumlichen Rahmen-
bedingungen (Klassenraum; eigenes Religionszimmer; Ausweichraum) für den Religionsunterricht!
45
Erzählen als eine methodische Grundform
zur Erschließung biblischer Texte
Auszug aus: Ingo Baldermann, Erzählen als Notwendigkeit. Zum Verhältnis von Erzählung und Erfahrung,
in: Jahrbuch der Religionspädagogik 6 (1989) 93–110
1 Erzählen als Ökumenisches Lernen
[…] Erzählen stiftet Gemeinschaft, synchron und diachron […]. Eine geschichtliche Gemeinschaft kann sich
ihres Weges nur bewußt werden, indem sie sich erzählend dessen Anfänge und entscheidende Richtungsim-
pulse vergegenwärtigt; nur so kann sie ihre Wegentscheidungen für die Zukunft treffen.
Wir werden hier nicht nach dem bekannten linguistischen Prinzip die synchronen Zusammenhänge gegen die
diachronen ausspielen […]; wir werden aber gerade im ökumenischen Zusammenhang den synchronen Aspekt
des Erzählens mit Gewicht versehen: Die Ökumene lebt nicht nur von dem (diachronen) Rückbezug aller Chris-
ten auf die gemeinsame Anfangsgeschichte, sondern auch von dem (synchronen) Vorgang des Teilhabens an
den Leiden und Hoffnungen anderer Christen, die in anderen Teilen der Welt unter völlig anderen Bedingungen
leben. […]
Diese in ihrer Notwendigkeit einsichtigste Form des Erzählens im Religionsunterricht hat gleichwohl Formprob-
leme. Wir erzählen, um teilzuhaben an dem Kampf zwischen Verzweiflung und Hoffnung, wie ihn Christen in
anderen Regionen unter anderen Bedingungen durchzustehen haben. Wir nehmen daran teil in dem Bewußt-
sein, daß es für sie und uns um die eine gemeinsame Welt geht und keine Generation sich von der Verantwor-
tung für das gemeinsame Ganze dispensieren kann […]. Aber solche Geschichten, die Anteil geben wollen,
müssen anders erzählt werden als die klassischen Geschichten vom Missionsfeld, die triumphal vom Erweis
des Geistes und der Kraft und vom Mut des Bekennens berichten. […] Was wir heute brauchen, sind nicht Er-
weis- oder Vorbildgeschichten, sondern offene Erzählungen, weil nur sie ermöglichen mitzudenken, tatsächlich
Anteil zu nehmen, sensibel zu werden für das, was wirklich gefragt und gelitten, geopfert und gehofft wird.
Das zweite Problem ist das der Authentizität. Natürlich ließe sich die Situation im südlichen Afrika, in Latein-
amerika oder in Indien didaktisch am leichtesten durch eine gut erzählte fiktive Geschichte vergegenwärtigen.
[…] Doch wird hier die Fiktionalität der Erzählung zu einem didaktisch schwerwiegenden Problem. […] Ich sehe
einfach, daß die Art der Anteilnahme völlig anders ist, wenn ich es mit einer nicht erfundenen, sondern authenti-
schen Erzählung zu tun habe. Ich will mich nicht emotional an den Gestalten engagieren, die ein Autor für Vor-
lesegeschichten erfunden hat, sei es auch pädagogisch noch so gut gemeint, sondern an den wirklichen Leiden
der wirklichen Menschen. Gilt das für mich, muß ich es aber auch für die Kinder gelten lassen. […]
Das dritte Problem, das gerade am Erzählen als einem Akt ökumenischer Mitteilung und Anteilnahme deutlich
wird, ist die Frage nach einer gemeinsamen Sprache. Denn eine solche Erzählung unternimmt ja nichts Gerin-
geres als den Versuch, Abgründe zu überbrücken. Daß es überhaupt so etwas gibt wie ein ökumenisches Ge-
spräch, ist in der gegenwärtigen Weltsituation tatsächlich ein Wunder; nicht nur ethnische, sprachliche und kul-
turelle Gegensätze ziehen tiefe Gräben, sondern vor allem der Abgrund zwischen den Armen und den Reichen
dieser Erde läßt eine gemeinsame Sprache kaum noch zu. Daß sie trotzdem gefunden wird und Verständigung,
Solidarität und Vertrauen jedenfalls in Ansätzen möglich werden, hat offenbar damit zu tun, daß auf beiden Sei-
ten doch noch eine gemeinsame Sprache gehört und verstanden wird, die starke Impulse für eine gegenseitige
Verantwortung und Solidarität enthält: die Sprache der Bibel. […] Damit aber stoßen wir auf das schwierigere
Problemfeld im Zusammenhang theologischen Erzählens: Wie läßt sich die biblische Überlieferung selbst narra-
tiv so vermitteln, daß sie Gemeinschaft stiftet, synchron und diachron?
2 Die einfachen Formen des Erzählens
[…] Stimmen die Grundthesen der narrativen Theologie, dann haben wir es hier mit einem ganz elementaren,
eigentlich selbstverständlichen Vorgang zu tun. Statt dessen [sic!] erlebe ich in Seminaren und anderen Werk-
stattversuchen zum Erzählen biblischer Geschichten immer wieder, daß die Teilnehmer vor der einfachen Form
des Erzählens ausweichen und statt dessen ihre Erzählung mit irgendwelchen Verfremdungen attraktiver zu
machen versuchen: mit unerwarteten Vergegenwärtigungen, veränderten Perspektiven, mit mimischer Entfal-
tung oder nebenher gezeigten Bildern. […] Ohne Frage gibt es hier viele Möglichkeiten didaktisch attraktiver
Arrangements. Aber all diese Arrangements hängen in der Luft, wenn die einfachen Formen biblischen Erzäh-
lens keinen Raum mehr im Unterricht haben […] Dabei ist die Frage nach der einfachen Form nicht nur die Fra-
ge des Ästheten. Das Suchen nach Attraktivität setzt voraus, daß die biblischen Geschichten von sich aus eben
nicht mehr attraktiv sind. Dahinter mögen deprimierende Erfahrungen stehen. Aber ich finde die Unterstellung
unerlaubt, die Bibel sei schuld daran. Jedenfalls wird nichts besser, wenn wir sie mit harter didaktischer Techno-
logie aufmachen. Haben wir in der Bibel tatsächlich so etwas vor uns wie eine gemeinsame Muttersprache der
ökumenischen Christenheit, in der noch ein Bewußtsein von der ursprünglichen Einheit der Menschheit leben-
dig ist und die über alle Gegensätze hinweg Brücken zu schlagen in der Lage ist, dann müssen wir schon ler-
nen, auf ihren eigenen Klang zu horchen, ihre eigene Didaktik wahrzunehmen. Sollen uns die biblischen Ge-
46
schichten helfen, uns besser zu verstehen, dann müssen die Gestalten und ihre Handlungen wieder erkennbar
sein und nicht in irgendeiner Verkleidung auf uns zukommen. […]
Warum lassen sich Kinder, die sonst nie oder nur ungern lesen, von einer erzählten Geschichte so in den Bann
schlagen? Offenbar weil sonst kaum jemand mehr so mit ihnen spricht. Denn beim Erzählen reden wir nicht nur
mit ihnen, sondern teilen ihnen etwas von uns selbst mit, geben etwas von uns selbst preis, lassen unsere Ge-
fühle erkennen, unsere Anteilnahme, auch etwas von unserem eigenen Leben. […] Wir wären schlecht beraten,
wollten wir die didaktische Antwort auf den Fernsehkonsum in einer Steigerung medialer Anreize suchen. Die
einfache Erzählung ist eine Antwort anderer Art, die vergessene, schon verschüttete Möglichkeiten der Phanta-
sie wieder aktiviert, ein unersetzliches Element der Menschlichkeit inmitten der von didaktischen Zwecken usur-
pierten pädagogischen Kommunikation.
3 Erzählen als Notwendigkeit
[…] Erzählungen stiften eine Welt, in der wir zu Hause sein können, nicht nur als einzelne, sondern gerade als
Gemeinschaft; erst Erzählungen schaffen so etwas wie Heimat; sie ermöglichen Identität. […] Ich denke, es läßt
sich viel sagen, welche Erzählungen für uns notwendig sind, damit wir hier zu Hause sein können. Inwiefern
aber gehören dazu auch die biblischen Geschichten?
4 Biblische Geschichten – notwendige Geschichten
Stellen wir uns vor, wir müßten in einer Welt leben, in der es die biblischen Geschichten nicht gäbe. Was würde
unserer Welt fehlen? Viel mehr jedenfalls, als wir mit dem ersten Blick wahrnehmen. Was wir gut entbehren
können, ist das Pathos des erhobenen Zeigefingers und die theologische Rechthaberei, mit der uns manche
Erzähler zusetzen. Aber deren Sprache ist nicht die der Bibel selbst. Wovon die biblischen Geschichten erzäh-
len, das sind vor allem Erfahrungen, die der Hoffnungslosigkeit der verhängnisvollen Sachzwänge um uns und
der Denkzwänge in uns widersprechen. Solche Geschichten haben uns etwa bei den ersten Schritten der Frie-
densbewegung begleitet und gestärkt. […] Jede dieser Geschichten verändert meine Welt. Sie durchbricht den
Kreislauf der Aussichtslosigkeit, nach dessen eisernem Gesetz alles so bleibt, wie es ist, und allenfalls noch
schlimmer werden kann; sie öffnet ein Fenster der Hoffnung und schafft mir wieder Luft zum Atmen. […] Hoff-
nung beginnt damit, daß wir die Fähigkeit zurückgewinnen, Alternativen zu zeigen. […]
Wo wir Hoffnung vermitteln wollen, wird nach der Autorität dieser Hoffnung gefragt. Es kommt darauf an, daß
wir sie an der richtigen Stelle und in der richtigen Weise geltend machen. […] Gott für die Autorität des erzähl-
ten in Anspruch zu nehmen führt nur auf den Weg autoritären Redens, das Unterwerfung und blinden Gehor-
sam fordert. […] Es ist ein Mißbrauch der Rede von Gott, wenn sie benutzt wird, um unser theologisches Reden
mit einer letzten Autorität auszustatten; wo die Bibel von Gott redet, redet sie menschlich. So hängen beim Er-
zählen Autorität und Authentizität eng miteinander zusammen: Die Autorität der Hoffnung, die wir erzählend
vermitteln, hängt ab von der menschlichen Authentizität des Erzählten; nur in authentischen Geschichten wird
sie auch als verläßlich erscheinen, als eine Hoffnung, die das Engagement lohnt.
5 Hoffnungsgeschichten für Kinder
Ob die biblischen Geschichten auch für Kinder zu solchen notwendigen Geschichten werden, hängt davon ab,
wie wir den Kindern einen Zugang öffnen.
Es gehört für mich zu den erstaunlichsten Unterrichtserfahrungen der letzten Jahre zu sehen, wie Kinder ein
völlig anderes Verhältnis zu den neutestamentlichen Wundergeschichten gewinnen, wenn wir sie ihnen nicht als
Beleg- oder Beweisgeschichten für die Gottessohnschaft Jesu präsentieren, sondern als Hoffnungsgeschichten
für Geängstete und Verzweifelte. Alles kommt dabei auf die Perspektive der Erzählung an: Solange wir die
Kranken und Verzweifelten als Objekte des Mitleids darstellen, bleiben wir mit den Kindern in der Rolle des
staunenden oder zweifelnden Zuschauers auch am Ende der Geschichte. Auf eine unerwartete Weise aber
gerieten uns die Kinder selbst in die Geschichte hinein. Sie begannen, die Worte der Angst und der Hoffnung
aus den Psalmen, die im vorausgegangenen Unterricht zu ihren eigenen geworden waren, den Kranken in den
Mund zu legen, und auf einmal bekam alles ein anderes Gesicht. Ich mußte keine hermeneutischen Erläuterun-
gen abgeben, daß Blindheit und Lähmung Erfahrungen seien, die wir alle kennen, sondern die Kinder fanden
sich auf einmal selbst in dem Gelähmten wieder, in seiner Verlassenheit, die sie alle auf irgendeine Weise
selbst kannten: »Ich rufe, du antwortest nicht!« »Ich bin ein Wurm und kein Mensch!« »Ich bin ausgeschüttet
wie Wasser.« »Ich bin wie ein zerbrochenes Gefäß!« »Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne!«
Mit dieser Klage aber gewann die Wundergeschichte zugleich ihre ursprüngliche theologische Dimension zu-
rück, ohne daß wir mit fragwürdigen Erklärungen über den Zusammenhang von Krankheit und Verlassenheit
aufwarten mußten. Vor allem aber war es dies: In dem Maße, wie die Kinder sich selbt, ihre eigene Angst und
Hilflosigkeit, in der Geschichte wiederfanden, wurden die Wunder für sie ganz offensichtlich zu notwendigen
Geschichten. Es gab bei Zehnjährigen, also in der Altersstufe des sogenannten »kritischen Realismus«, über-
haupt keine Frage nach der Möglichkeit des Wunders, ob und wie Jesus denn das habe machen können, son-
dern das entscheidende war für sie seine Zuwendung, daß er den Gelähmten als »mein Kind« anredet und den
Blinden zu sich ruft und die weinende Mutter in Nain tröstet. Was danach kam, war für sie eher so etwas wie
eine natürliche Folge dieser Zuwendung. »Du hörst mein Weinen«, das kannten sie aus den Psalmen und reali-
sierten es jetzt in diesen Geschichten. […]
47
6 Aktualität und Offenheit
[…] Die Aktualisierung der Geschichte ist ohne Gefahr, wenn ihre ursprüngliche Gestalt zugleich präsent ist;
wenn sich die Geschichte so eingeprägt hat, höre ich die Aktualisierung als eine Bereicherung meines Verste-
hens. Doch garantiert andererseits eine Erzählung ganz nahe am biblischen Wortlaut noch nicht, daß sie Ge-
schichte wirklich offen ist für die eigenen Erfahrungen der Zuhörer. […]
Offenheit meint einmal, daß von der Erzählung die Einladung ausgeht zur Identifikation, der Anreiz, Gestalten
und Handlungen mit eigenen Erfahrungen zu füllen, ihre Fragen aufzunehmen und ihre Handlungen weiterzu-
führen. Dies aber ist ein Impuls, den die Symboldidaktik als die besondere didaktische Stärke des Symbols
reklamiert. Danach hängt die Offenheit einer Erzählung von der Qualität ihrer Symbolsprache ab. Der flink und
salopp formulierten Erzählung geht diese Qualität jedenfalls ab.
Offenheit bedeutet zum anderen, daß verschiedene Menschen unterschiedliche Erfahrungen in der gleichen
Gestalt oder Handlung wieder finden können, weil sie sich in den Tiefenstrukturen ähneln. Diese Tiefenstruktu-
ren aber sind vor allem durch die emotionalen Tiefen unserer Erfahrungen geprägt. […] Die Offenheit einer gu-
ten Erzählung besteht […] darin, daß sie die Emotionalität anspricht, aber nicht festlegt. […]
7 Intensität
[…] Wer erzählt, muß in der Art, wie er erzählt, Rechenschaft darüber geben, warum er diese Geschichte für
notwendig hält. […] Diese Rechenschaft kann aber nicht die Form einer vorausgeschickten oder nachgescho-
benen Begründung haben, sondern sie muß beim Erzählen selbst erfolgen, meiner Erzählung immanent sein, in
der Art, in der ich erzähle. […]
Wie aber kommt es dazu, daß er Funke überspringt und ich biblische Geschichten so erzählen kann, daß sie
wirklich Neues eröffnen? […] Hier hängt alles davon ab, wie ich selbst mit diesen Geschichten umgehe, ob ich
noch etwas von ihnen erwarte, und zwar etwas Notwendiges. Nur wo ich selbst sie mit solcher Leidenschaft
befrage, werde ich sie mit einer entsprechenden Intensität weitererzählen können. So haben Friedens-, Ökolo-
gie- und Dritte-Welt-Gruppen die Bibel leidenschaftlich befragt nach Texten, die inmitten der Resignation noch
Hoffnung stiften und Wegweisung geben könnten. So hatte mit ähnlicher Leidenschaft Luther die Bibel befragt
nach einem Halt und Trost in den Strudeln tiefer Depression, in die ihn das ›Gesetz‹ hineinzog, und das ist sei-
ne Frage ein Leben lang geblieben. Wieder stoßen wir hier auf eine altbekannte elementare didaktische Struk-
tur: Nicht das Pathos, mit dem ich Ergebnisse vertrete, sondern die Intensität, mit der ich nach ihnen frage und
suche, ist entscheidend für die Qualität der didaktischen Prozesse, hier auch für die Qualität der Erzählung.
8 Anschaulichkeit
Viel hängt, das wissen wir, an der Anschaulichkeit der Erzählung. Aber es geht nicht nur um die Frage, ob eine
Erzählung anschaulich ist oder nicht, sondern gerade um die Art der Anschaulichkeit; eine falsche Anschaulich-
keit kann die Erzählung entstellen oder verschließen.
Offenbar gibt es Anschaulichkeit ganz unterschiedlicher Art. Wir können in unseren Erzählungen jedenfalls nicht
die Anschaulichkeit einer Fotografie entwickeln. Wer erzählt, wird immer nur einige wenige Linien ausziehen
können, ein paar Farben und Kontraste in das Bild einbringen, vielleicht auch ein kurzes Schlaglicht auf den
Hintergrund fallen lassen, aber er wird nie die flächendeckende Anschaulichkeit eines Fotos erreichen. Und das
ist gerade die Stärke der Erzählung: Sie aktiviert die Zuhörer, das Fehlende zwischen den Linien aus ihrer eige-
nen inneren Anschauung, aus ihrer Phantasie zu ergänzen. Und daran, wie es ihr gelingt, dazu zu motivieren,
ist offenbar die Qualität erzählerischer Anschauung zu messen. […]
9 Fazit
In dem Bemühen, biblische Kompetenz zu gewinnen, bleibt das Erzählen eine notwendige Form, vorausgesetzt
freilich, daß wir die biblischen Geschichten als notwendige Geschichten erzählen. Die Erzählung ist freilich nicht
die »Grundform«, nicht die elementare Form biblischer Sprache. […] Es gibt Sätze, die der Erzählung noch
vorausliegen, keine urteilenden Sätze, sondern die einfachen Formen der Klage und des Lobes, wie wir sie in
den Psalmen finden, und die Verheißung »Ich will mit dir sein«. Die Erzählung will sie entfalten. Wir erzählen
nicht voraussetzungslos, die unmittelbaren Äußerungen des Lobes und der Klage gehen der Erzählung voraus.
Sie sind auch didaktisch die Schlüssel zu diesen Erzählungen. Die neutestamentlichen Erzählungen reden an-
ders, wenn wir von den Psalmen herkommen. Und so hängt die Wiederentdeckung der Erzählung mit ihren
besonderen Möglichkeiten, wie mir scheint, didaktisch an dieser Vorgabe: daß zuvor die elementaren Formen
biblischer Sprache wiedergefunden werden müssen, Lob, Klage und Verheißung.
48
Allgemeine Leitfragen:
1. Welchen Zusammenhang sieht der Verfasser zwischen Inhalt und Methode?
2. Welchen Zusammenhang sieht der Verfasser zwischen Didaktik und Methodik?
3. Nach welchen Kriterien (Lernzielen) bestimmt der Verfasser, was geeignete Methoden sind?
4. Welche Rolle kommt bei den einzelnen Methoden der Lehrerin, dem Lehrer zu,
welche der Schülerin, dem Schüler?
Spezielle Hinweise und Fragen zur Erschließung des Textes:
Ingo Baldermann vertritt ein besonderes Konzept der Bibeldidaktik. Er will nicht danach fragen, durch wel-
che modernen Medien und Methoden die Bibel für heutige Schülerinnen und Schüler neu zum Reden ge-
bracht werden kann – dies würde ja implizieren, dass die Bibel an sich tot und stumm wäre –. Vielmehr fragt
er nach der der Bibel inhärenten, ihr eigenen Didaktik. Diese findet er insbesondere über elementare
Psalmworte, welche auf einer anthropologischen Ebene elementare Erfahrungen der Bibel mit solchen heu-
tiger Menschen verbinden. Inwieweit in diesem Ansatz – gegen Baldermanns ausdrückliches Bekunden –
nun doch wichtige moderne didaktische und pädagogische Erkenntnisse zum Tragen kommen, sei an die-
ser Stelle dahingestellt.
Wenn von Diachronie und Synchronie die Rede ist, so spielt dies auf eine Kontroverse innerhalb der exege-
tischen Wissenschaften an: In der klassischen, diachronen Perspektive wird nach der Entstehungs-, Über-
lieferungs- und Motivgeschichte biblischer Texte gefragt. Neuere, literaturwissenschaftliche Fragestellungen
hingegen widmen sich einem Text als einem in sich geschlossenen Gesamtkunstwerk, zerlegen ihn also
nicht in Schichten eines zeitlichen Nacheinander, sondern versuchen eine synchrone Schau auf den End-
text.
Wie begründet Baldermann die Notwendigkeit des Erzählens allgemein, sodann des Erzählens biblischer
Geschichten speziell?
Erläutern Sie, was Baldermann unter „einfachen Formen biblischen Erzählens“ versteht! Was wäre konkret
das Gegenteil, das er kritisiert?
„Die biblischen Geschichten sollen helfen, uns besser zu verstehen“ – Hier nimmt Baldermann das Konzept
der Elementarisierung im klafki’schen Sinne der wechselseitigen Erschließung auf: die SchülerInnen sollen
einerseits die Texte besser verstehen und andererseits durch die Texte sich selbst besser verstehen.
„Alles hängt davon ab, ob ich noch etwas Notwendiges von den biblischen Geschichten erwarte“: Sehen
Sie Alternativen zu diesem Ansatz biblischen Erzählens? Wie wären diese didaktisch zu begründen?
Inwiefern beeinflussen theologische und didaktische Überlegungen die von Baldermann ins Spiel gebrach-
ten methodischen Kriterien guten Erzählens (Einfachheit, Aktualität, Offenheit, Intensität, Anschaulichkeit)?
Baldermanns Abschlussbemerkung zur elementar(st)en Form biblischer Sprache zieht didaktisch-
methodische Konsequenzen nach sich. Welche?
Teil 3
Entwicklungspsychologische Bedingungen
religiösen Lernens in der öffentlichen Schule
50
Entwicklungsstufen der Struktur der Gottesbeziehung
Auszug aus: Fritz Oser/Paul Gmünder, Der Mensch – Stufen seiner religiösen Entwicklung,
neu abgedruckt in: Die religiöse Entwicklung des Menschen. Ein Grundkurs, hg.v. G. Büttner/V.-J. Dieterich, Stuttgart 2000,
123–152
Die Stufenmerkmale des religiösen Urteils
Das Kernstück jeder entwicklungspsychologischen Theorie, wie sie durch Piaget begründet und durch Kohlberg
weitergeführt wurde, bildet der Begriff des Entwicklungsstadiums oder der kognitiven Stufe. Es herrscht weitge-
hende Übereinstimmung innerhalb des genetischen Strukturalismus darüber, welche Bedingungen erfüllt sein
müssen, damit man von Stufen der kognitiven Entwicklung sprechen kann. Insgesamt sind vier Merkmale zu
unterscheiden [...]:
1. Qualitative Verschiedenheit,
2. unumkehrbare Sequentialität, d.h. Ausschluss von Sprüngen und Regression
3. strukturierte Ganzheit jeder einzelnen Stufe und
4. hierarchische Differenzierung und (Re-)Integration.
Im Folgenden sollen die genannten allgemeinen vier Stufenmerkmale im Kontext der Entwicklung des religiösen
Urteils erörtert werden. [...]
Nun zum ersten Kriterium »qualitativer Unterschied«. Er bedeutet, dass auf jeder Stufe im Kontext einer konkre-
ten Situation die Frage nach absolutem Sinn ein ganz bestimmtes Problemlösungspotential favorisiert und akti-
viert. Jede Stufe zeichnet sich durch ein festlegbares Strukturnetz aus. Dabei ist zu beachten, dass die qualita-
tiven Unterschiede in den Denkformen oder in der Lösung des gleichen Problems auf verschiedenen Altersstu-
fen nicht als zunehmendes Wissen um religiöse Konzepte oder um Internalisierung von religiösen Überzeugun-
gen aufgefasst werden kann, da jede Stufe ein ›strukturiertes Ganzes‹ darstellt. [...] Qualitativer Unterschied
bedeutet dabei, dass auf jeder Stufe die genannten sieben Elemente nach einem vorherrschenden Prinzip (z.B.
Do-ut-des) zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dieses auf jeder Stufe eigentümliche Denkprinzip konstitu-
iert das »Wesen« des einzelnen Entwicklungsstadiums, gibt ihm seine eigene Prägung und Farbe, die es von
den anderen Stufen deutlich abhebt.
Wir haben zweitens gesagt, dass die einzelnen in sich geschlossenen Denkformen eine invariante Sequenz
bilden, d.h., die Entwicklung folgt einer immanenten Logik von Strukturtransformationen. [...] Die immanente
Logik von Strukturtransformationen, welche in den Stufen des religiösen Urteils inhärent ist, zeigt sich in der
zunehmenden Autonomisierung und Differenzierung der Wahrnehmung des Mensch-Letztgültiges-Verhältnis-
ses, und gerade dieses ist nicht regressiv; es entwickelt sich aber auch nicht sprunghaft. Die Reihenfolge der
Stufen erweist sich also als nicht veränder- oder überspringbar, da jede Stufe ihrer qualitativen Verschiedenheit
nach auf der vorangehenden aufbaut. Denn zugleich sind ja die Stufen als hierarchisch strukturiert anzusehen.
Frühere Stufen werden dabei in die späteren integriert. Zeitlich frühere Formen der Kognition bleiben transfor-
miert erhalten, wobei jedoch eine Disposition festzustellen ist, den je höchsten verfügbaren Grad der Problem-
lösungsstrategie zu wählen.
Damit haben wir auch schon das dritte und vierte Kriterium angesprochen: Wenn jemand einen religiösen Kon-
flikt in einer Art und Weise löst, wie ihn die Stufe 2 beschreibt, so wird es für diese Person eines Tages unbe-
dingt notwendig, denselben Konflikt in Form der Stufe 3 zu lösen, d.h. eben in einer autonomeren, differenzier-
teren und in Bezug auf Stufe 2 auch reinterpretierten Weise. Wo diese Notwendigkeit nicht (mehr) besteht, hört
Entwicklung auf. Deshalb ist das Überspringen von Phasen nicht möglich. Denn im Sinne der kontinuierlichen
Entwicklung ist es nicht möglich, einen lückenhaften Integrationsvorgang vorzunehmen, weil die Elemente frü-
herer Phasen so nicht in ein kognitives Gleichgewicht gebracht werden könnten. [...]
Stufenbeschreibung unter dem Gesichtspunkt der Dezentrierung
STUFE 1: Perspektive des Deus ex Machina
1
Das Kind nimmt an, dass alles von externalen Kräften geleitet, geführt, gesteuert ist. Die Kräfte des Letztgülti-
gen werden zum ersten Mal klar getrennt von dem, was Erwachsene und Erzieher vermögen. Das Letztgültige
ist aktiv, der Mensch ist reaktiv. Dieses Reaktive wird als Erwartungsdruck gesehen. Der große Fortschritt von
Stufe 0 zu Stufe 1 besteht darin, dass das Kind das Regelverhalten, das es von Eltern und Erziehern gelernt
hat, auf dieses noch unbestimmte Letztgültige und seine Wirkung überträgt. Auf der einen Seite ist das Kind
ganz Reaktion auf ein bestimmtes Verhalten. Auf der anderen Seite hat es ein Letztgültiges (inhaltlich sprechen
1
Begriff, der das Phänomen beschreibt, dass im antiken Theater oft recht unvermittelt ein Gott eingreift und dadurch die Handlung zu
einem Ende führt (wörtl. Gott aus der Bühnen»maschine« d.h. Kulisse). Bei Oser bedeutet es die Erfahrung der grundlegenden Abhängig-
keit von unvermittelt eingreifenden Ultimaten.
51
die Kinder in unserem Kulturkreis von Gott), das es von anderen Wirkbereichen klar trennen kann. Auf der
einen Seite ist alles Leben, alles Handeln unvermittelt geführt, gemacht, geleitet. Auf der anderen Seite gibt es
diese ultimative Kraft, und sie ist von anderen Wirkkräften unterscheidbar. Externalisiert wird also zum ersten
Mal das handelnde Ultimate (als Person, Geist, Gott, Kraft). Internalisiert aber wird zugleich, dass Menschen
eine Reaktion auf dieses leitende, schaffende Tun haben. Der Mensch ist heteronomes Vollzugsorgan des
Letztgültigen (»Gott weiß schon, was er tut«; »Er handelt, weil er so handelt«). [...]
STUFENÜBERGANG 1–2
Der Stufenübergang wird dann notwendig, wenn ontologische Probleme mit der ersten Stufe nicht mehr gelöst
werden können. So denkt ein Kind plötzlich, dass das Letztgültige, Umgreifende (Gott) nicht einfach macht,
dass es schönes Wetter gibt, sondern dass dies von Konstellationen der Wolken, des Windes herrührt und man
auch etwas tun kann, z.B. das Göttliche gut stimmen muss, damit sich diese Konstellation ändert. Das ist ein
Komplexitätszuwachs. Auf der anderen Seite wird in Frage gestellt, dass ein Ultimates einfach in einem Ein-
wegeinfluss alles macht. Es wird also eine neue Bedingung eingeführt: wenn der Mensch Regeln einhält, Riten
durchführt, zu Armen gut ist, in einer bestimmten Weise betet usw., dann geschieht das Erwünschte. Nunmehr
gilt nicht mehr die Vorstellung, dass das Übernatürliche die Dinge einfach macht, so wie ein Marionettenspieler
seine Marionetten führt. Zwar spürt das Kind, dass es von einem Außen beeinflusst ist, aber es schwankt zwi-
schen dem Negieren des absoluten Einflusses und einer neuen Konzeption, in der ein Zusammenhang zwi-
schen menschlichem Akt und ultimater Aktion bzw. Reaktion postuliert wird. [...]
STUFE 2: Do ut des
2
– Perspektive
Der Fortschritt zu Stufe 1 besteht im Wesentlichen darin, dass die Person die Konsequenzen objektivieren und
damit mit der Macht eines ultimaten Außen koordinieren kann. Es gibt jetzt Mittel, das über uns stehende Unbe-
dingte (Schicksal, Geister, Gott) zu beeinflussen. Diese Beeinflussung kann sanktionsmildernden, begünstigen-
den oder präventiv beruhigenden Charakter haben. [...] Religiöse oder angst-animistische Handlungen sind in
erster Linie dazu da, Begünstigungen (Reichtum, Gesundheit, langes Leben) zu erhalten. Umgekehrt werden
Unglücks- bzw. Glücksfälle als Handlungen des Letztgültigen in dem Sinne bezeichnet, als Menschen eben zu
wenig oder aber genügend geopfert, verzichtet, gebetet haben, usw.
Auf dieser Stufe ist der Mensch ein Kontrapart zu einem letztgültigen Außen. Denn er hat nun andererseits ein
eigenes Selbst, so wie eben das Letztgültige auch ein Selbst haben kann. Beide sind zu unterscheiden. Der
Mensch kann mit ihm feilschen, reden, handeln, es sanftmütig stimmen. Er hat nun Mittel und damit positive und
negative Folgen in der Hand. Es kann den Sinn von Ereignissen oder Handlungen so koordinieren, dass das
Gutsein und das Einhalten von Regeln in einem linearen Verhältnis zu Glück, Wohlfahrt, Krankheit, Tod, Heil
und Unheil stehen. Der Fortschritt besteht in einer Selbstartikulierung und der Möglichkeit, dem Erwartungs-
druck zu widerstehen, zu widersprechen. Das Letztgültige als unbedingtes Subjekt steht in einem bipolaren
reziproken Verhältnis zum Ich.3
STUFENÜBERGANG 2–3
Wiederum stellt der Übergang von Stufe 2 zu 3 eine Erschütterung dar, die die Negation des bisherigen Denk-
musters und gleichzeitig die Akzeptierung neuer Elemente und Dimensionen beinhaltet. Der junge Mensch
meint, dass Dinge geschehen, die unabänderlich sind und über die er auch mit aller Anstrengung nicht verfügen
kann. [...] Deshalb wird negiert, dass der Mensch das Ultimate beeinflussen kann; er nimmt die Sache so weit
wie möglich selbst in die Hand, d.h. im Übergang beginnen Personen zu trennen zwischen dem, was sie ver-
mögen und wofür sie selbst verantwortlich sind, und dem, was sie einem Unbedingten für angemessen halten.
Der Übergang zeigt sich in einem Kampf zwischen Ablehnung religiöser Praktiken einerseits und Annehmen
einer religiösen Dimension andererseits. Je nachdem wie der Sozialisationspfad verläuft, fällt man im Übergang
einmal in eine extreme atheistische Spur, das andere mal lässt man sich faszinieren von »konsequenter« Reli-
gion (z.B. Jugendreligionen), die ein Göttliches über alles andere, über Welt und Mensch stellt. [...]
STUFE 3: Perspektive des Deismus
4
Die Person auf Stufe 3 ist fähig, die beiden Bereiche Letztgültiges und eigenes Ich vollständig zu trennen. Sie
attribuiert ihrer eigenen Person große Verantwortlichkeit in Planung und Entscheidung. Auf der anderen Seite
trennt sie das Letztgültige (Schicksal, absolutes Sein, Geist, Gott) vollständig von seinem eigenen Wirkbereich.
[...] Es wird jetzt möglich, einen Atheismus bewusst zu postulieren oder aber das religiöse Extrem zu bekennen.
[...]
Auf dieser Stufe ist die Person verantwortungsvolles, entscheidungsträchtiges Selbst, genau so, wie das Letzt-
gültige sein eigenes Entscheidungsfeld ist [...]. Die Beeinflussung des Übergeordneten ist nicht mehr wichtig,
weil dieses seinen eigenen Zuständigkeitsbereich hat. Der Fortschritt zu Stufe 2 besteht aber auch darin, dass
2
Lateinische Version des Prinzips »eine Hand wäscht die andere« (wörtl.: ich gebe, damit du gibst). Hier bedeutet es, dass mit Gott bzw.
dem Ultimaten quasi verhandelt werden kann.
3
Ein Verhältnis im Sinne der Gegenseitigkeit zwischen zwei Größen.
4
Deismus: philosophische Strömung des 17./18. Jahrhunderts, in welcher Gott zwar noch als ursprünglicher Schöpfer anerkannt wird, der
Lauf der Welt aber nach ihren Gesetzen erfolgt ohne Eingreifen Gottes. Die Stufe 3 bei Oser ähnelt in manchem dieser Auffassung.
52
sie jetzt eigene Entscheidungskompetenzen hat, die mit den Entscheidungskompetenzen des Letztgültigen
koordiniert werden können. In dem Maße, in dem das Subjekt eingebettet ist in das Erklärungsfeld des eigenen
Handlungsradius und seiner Kausalwirkungen, hat es die Möglichkeit, sich selbst vom Letztgültigen abzuheben.
Dieses erscheint als kontrafaktische Größe. [...]
STUFENÜBERGANG 3–4
In dieser Phase beginnt die Person die Konzeption der Stufe 3, die »Selbstherrlichkeit« des Menschen zu ver-
neinen. [...] Zwar bleibt alle Verantwortung beim Menschen, aber es tritt ein Bewusstsein auf, dass zwischen
dem Ultimaten und dem Menschen eine vermittelte Beziehung besteht. Es geschieht ein Durchbruch dahinge-
hend, dass die Gleichzeitigkeit transzendenter und immanenter Wirkkraft geahnt wird und langsam ein neues
Modell der Vermittlung der beiden Dimensionen konstruiert wird. Die Krise des Durchgangs wird artikuliert in der
Negation von Extremen. Man muss Verschiedenes zugleich sehen lernen.
Probleme können nicht mehr gelöst werden, indem man die beiden Größen einer jeweiligen Polarität schön
säuberlich auseinander hält [...]. Der Durchbruch von Stufe 3 nach Stufe 4 ist deshalb auch so krisenhaft, weil
es der Mensch vorerst als Regression empfindet, wenn er die Reflexion über Fragen der Letztbegründung von
Existenz, Kommunikation, Weltgeschehen usw. nicht mehr allein auf seine eigene Entscheidungskompetenz
zurückführen kann. [...]
STUFE 4: Perspektive der Korrelation und des Heilsplanes
Das Wesen des Urteils auf Stufe 4 besteht in einer neuen Vermitteltheit zwischen der Entscheidungsautonomie
des Subjekts und einem angenommenen Letztgültigen: Als transzendental vorgestellt wird das Letztgültige in
das Subjekt in dem Sinne verlegt, dass es Bedingung der Möglichkeit für alles Entscheiden und Handeln wird.
Die Welt ist nicht im Sinne der Stufe 1 durch das Letztgültige bestimmt, vielmehr ist das Irdische »Gleichnis des
Göttlichen« in dem Sinne, dass es Garant der Möglichkeit von menschlichem Gelingen wird. Eine mögliche
Ausdrucksform dieses Konzeptes ist, dass gesagt wird, das Letztgültige trete zeichenhaft in Natur, Kultur und
menschlicher Fähigkeit zur Liebe auf.
Der Fortschritt gegenüber Stufe 3 besteht darin, dass die Person jetzt ein entscheidungsträchtiges Selbst hat
und deshalb in einen korrelativ vermittelnden Bezug zum Ultimaten bringen kann. Das Subjekt sieht sich als
Entscheidendes, derweil es innerhalb eines universellen Planes steht, der die Möglichkeit der Bedingung von
Leben ist (Heilsplan, kosmische Evolution, göttliche Vorsehung, Gottesreich).
Eingeschränkt wird diese Stufe durch die Fixierung auf diesen Plan. [...] Das Zeichenhafte kann noch nicht in
der Weise externalisiert werden, dass es mit der menschlichen Interaktion durch ein absolutes Aufscheinen des
Ultimaten in dieser Interaktion koordiniert wird. [...]
STUFE 5: Perspektive religiöser Autonomie durch unbedingte Intersubjektivität
[...] Wie auf Stufe 4 führt die Frage »Warum ist etwas und nicht nichts« zur Annahme, dass ein Letztgültiges die
Bedingung der Möglichkeit menschlichen Handelns ist. Aber es ist jetzt nicht mehr möglich, das, was der Grund
von Welt und Leben ist, auf einen determinierten Plan zurückzuführen, ohne diesen Plan mit der Freiheit und
Selbstbestimmung des Menschen zu koppeln. Die Beziehung Letztgültiges – Mensch hat den Menschen selber
zum Ziel und orientiert sich am Menschen. Die Vermittlung läuft so, dass nicht mehr ein positives Gesetz
(Heilsplan, Willen Gottes) die Richtung weist, sondern der Ort des Letztgültigen als norma normans in die
menschliche Kommunikation hineinverlegt wird. Die Erfahrung von Heil oder Unheil wird jetzt an die intersubjek-
tive Basis zurückgebunden, d.h. als ein Beachten oder Nichtbeachten dieser unbedingten Dimension im interak-
tiven Handeln interpretiert. [...]
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Allgemeine Leitfragen:
1. Wie versteht der Verfasser Religiosität und Glauben?
2. Lassen sich die beschriebenen Entwicklungsstufen Altersstufen zuordnen?
3. Welche Rolle spielt in diesem Ansatz zur religiösen Entwicklung die Entwicklung von Denkstrukturen, wel-
che Bedeutung haben Impulse durch Sozialisierung und kontingente (zufällige) Lebenserfahrungen?
4. Welche didaktische Konsequenz (Auswahl von Lerninhalten, Formulierung von Lernzielen) ergibt sich aus
dem Modell unterschiedlicher, notwendig aufeinander folgender Entwicklungsstufen?
5. Welche Aufgabe könnte in diesem Modell dem Religionslehrer, der Religionslehrerin zukommen?
Spezielle Hinweise und Fragen zur Erschließung des Textes:
Oser/Gmünder entwerfen ein sogenanntes strukturgenetisches Modell von Entwicklungsstufen, das sie auf
umfangreiche empirische Stufen gründen. Darin folgen sie dem Entwicklungspsychologen Jean Piaget, der
Denkoperationen untersuchte und Denkstrukturen in prä-operational (Kleinkindalter: intuitives Erfassen),
konkret-operational (etwa Grundschulalter: Dinge werden in ihrer Konkretion erfasst, eben als je eigene
Dinge), formal-operational (etwa ab Übergang ins Jugendalter: vom Besonderen kann ins Allgemeine abs-
trahiert und vernetzt werden). Strukturgenese bedeutet, dass sich Denkstrukturen (bzw. ein je besonderes
Problemlösungspotential) entwickeln, so sie denn entsprechend stimuliert werden (d.h.: Wer nie mit Ironie in
Berührung kommt, wird übertragene Redeweise auch im Alter nicht verstehen).
„Entwicklung“ ist nicht als Zunahme an Wissen oder als Höherentwicklung zu verstehen. Vielmehr geht es
darum, theologische Grundprobleme (siehe das von Oser/Gmünder verwendete sog. Paul-Dilemma) so zu
behandeln, dass man sie in jeder Entwicklungsstufe bewältigen kann (Kontingenzbewältigung).
Wenn Oser/Gmünde nun aber gleichzeitig von einer zunehmenden Autonomisierung und Differenzierung
sprechen, die notwendig vonstatten gehen muss – treffen sie da nicht aus entwicklungspsychologischer
Perspektive Qualitätsurteile über theologische Modelle: man muss aus der deus-ex-machina-Struktur in die
do-ut-des-Struktur und später in die (atheistische oder extremistische) Deismus-Struktur wechseln, um ent-
wicklungsgemäß das Leben und den Alltag bewältigen zu können!?
Beschreiben Sie die Eigenarten der einzelnen Stufen in eigenen Worten!
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Das Paul-Dilemma
Paul, ein junger Arzt, hat soeben sein Staatsexamen mit Erfolg bestanden. Er hat eine Freundin, der er versprochen hat,
dass er sie heiraten werde. Vorher darf er als Belohnung eine Reise nach England machen, welche ihm die Eltern bezahlen.
Paul tritt die Reise an. Kaum ist das Flugzeug richtig aufgestiegen, meldet der Flugkapitän, dass ein Motor defekt ist und der
andere nicht mehr zuverlässig arbeitet. Die Maschine sackt ab. Alle Sicherheitsvorkehrungen werden sofort getroffen Sau-
erstoffmasken, Schwimmwesten usw. werden verteilt. Zuerst haben die Passagiere geschrien, jetzt ist es totenstill. Das
Flugzeug rast unendlich schnell zur Erde. Paul geht sein ganzes Leben durch den Kopf. Er weiß, jetzt ist alles zu Ende.
In dieser Situation denkt er an Gott und beginnt zu beten. Er verspricht – falls er gerettet würde –, sein Leben ganz für die
Menschen in der Dritten Welt einzusetzen und seine Freundin, die er sehr liebt, sofern sie ihn nicht begleiten will, nicht zu
heiraten. Er verspricht, auf ein großes Einkommen und Prestige in unserer Gesellschaft zu verzichten. Das Flugzeug zer-
schellt auf einem Acker – doch wie durch ein Wunder wird Paul gerettet! Nach seiner Rückkehr wird ihm eine gute Stelle in
einer Privatklinik angeboten. Er ist aus 90 Anwärtern aufgrund seiner Fähigkeiten ausgewählt worden. Paul erinnert sich
jedoch an sein Versprechen, das er Gott gegeben hat. Er weiß nun nicht, wie er sich entscheiden soll.
1 a) Soll Paul sein Versprechen an Gott halten? Warum oder warum nicht?
b) Muss der Mensch überhaupt Versprechen an Gott halten? Warum oder warum nicht?
c) Glauben Sie, dass der Mensch ganz allgemein gegenüber Gott etwas tun muss? Warum oder warum nicht?
2) Was würden Sie zu dem Satz sagen: Es ist Gottes Wille, dass Paul in die Dritte Welt geht (bzw. sein Verspre-
chen einhält)?
In der vorangegangenen Geschichte stehen sich zwei Größen gegenüber: hier Pauls Freundin und die angebotene
Stelle in der Klinik, dort Gott bzw. das Versprechen an Gott.
3 a) Welche dieser beiden Größen finden Sie bedeutsamer, bzw. wie sollten sich diese zwei Größen zueinander
verhalten?
3 b) Was ist überhaupt für diese Welt bedeutsamer: der Mensch oder Gott?
Angenommen, Paul erzählt seine Erlebnisse und die verzwickte Situation, in der er sich befindet, seinen religiösen El-
tern. Diese beschwören ihn, unbedingt Gott zu gehorchen und sein Versprechen zu halten.
4) Soll Paul dem Ratschlag seiner Eltern folgen? Warum oder warum nicht?
Paul fühlt sich einer religiösen Glaubensgemeinschaft verpflichtet und ist in ihr sehr engagiert. Die geistige Haltung und
die „Gebote“ dieser Gemeinschaft verlangen, dass der Anruf und der Wille Gottes vom Menschen angenommen wird,
d.h., dass Paul sein Versprechen unbedingt einlösen muss.
5 a) Was bedeutet diese Forderung für Paul? Muss er als gläubiger Mensch sich in seiner Entscheidung von den
Vorschriften dieser Gemeinschaft leiten lassen? Warum oder warum nicht?
b) Muss sich der Mensch überhaupt in wichtigen Entscheidungen von den Grundsätzen und Forderungen einer
religiösen Gemeinschaft leiten lassen? Warum oder warum nicht?
c) Welche Verpflichtungen hat überhaupt ein Mensch gegenüber einer religiösen Gemeinschaft? Warum?
d) Darf ein Mensch seine persönliche Freiheit gegen die Ansprüche einer religiösen Gemeinschaft stellen? Warum
oder warum nicht?
Nehmen Sie an, dass Paul nach vielen schlaflosen Nächten, Unsicherheit und Verzweiflung sein Versprechen doch
nicht einhält und die verlockende Stelle in der Privatklinik antritt.
6) Glauben Sie, dass dieser Entscheid irgendwelche Konsequenzen für das weitere Leben von Paul hat? Warum
oder warum nicht?
Kurze Zeit später passiert Paul ein schwerer Autounfall, den er selbst verschuldet hat.
7 a) Hat dieser Unfall etwas damit zu tun, dass Paul sein Versprechen gegenüber Gott nicht gehalten hat? Warum
oder warum nicht?
b) Glauben Sie, dass Gott Paul für diese Nichterfüllung seines Versprechens straft? Warum oder warum nicht?
c) Wenn ja: Wird Gott in jedem Fall in die Welt eingreifen?
Wenn nein: Zeigt sich Gott überhaupt in der Welt, und auf welche Weise?
Angenommen, Paul tritt die gute Stelle als Arzt an und beschließt, dafür jeden Monat ein Zehntel seines Verdienstes für
gute Zwecke zu spenden.
8) Glauben Sie, dass Paul mit diesem Entschluss seinem ursprünglichen Versprechen doch noch gerecht wird?
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Entwicklungsstufen der Glaubensstruktur
Auszug aus: James Fowler, Stufen des Glaubens. Die Psychologie der menschlichen Entwicklung und die Suche nach Sinn
(amerik. Orig. 1981), Gütersloh 2000 (=1991), 70f.132f.136ff
Teil II Ausblicke auf die menschliche Entwicklung: Ein fiktives Gespräch
[Teilnehmer: Lawrence Kohlberg, Jean Piaget, Erik Erikson, Diskussionsleiter] [...]
Diskussionsleiter: „[...] Herrn Eriksons »acht Lebensalter« des Lebenszyklus korrelieren [...] eng mit der biologi-
schen Reifung und dem chronologischen Alter – insbesondere auf den ersten fünf Stufen. Die kognitiv-
strukturellen Psychologen andererseits haben [...] behauptet, daß ihre Stufen, wenn sie auch von der Reifung
und der Zeit abhängen, doch nicht an diese gebunden sind. Die Bewegung von einer kognitiv-strukturellen Stufe
zur nächsten ist nicht automatisch oder unvermeidlich. [...] Man kann auf einer von Piagets oder Kohlbergs Zwi-
schenstufen »stehenbleiben« oder sein Gleichgewicht finden. Dennoch muß sich der Mensch, der [...] auf diese
Weise stehenbleibt, immer noch mit den Herausforderungen oder Lebenskrisen auseinandersetzen, die in Erik-
sons Stufen beschrieben werden. [...] [Die] Weisen, wie Menschen den Entwicklungskrisen, die Erikson be-
schreibt, begegnen und sie bearbeiten, [können] in wesentlichen Zügen differieren [...], entsprechend den ope-
rativen Stufen ihrer kognitiven Entwicklung und ihrer Entwicklung des moralischen Urteils. [...]“5
Teil III Dynamik des Glaubens und menschliche Entwicklung ...
Es scheint sich so zu verhalten, daß in jedem der größeren Epochenübergänge die Gestaltung der Lebens-
struktur der neuen Epoche intensiviert wird, wenn wir uns in Aufgaben engagieren, die neue und bereichernde
Seinsweisen im Glauben bringen. Negativ ausgedrückt riskiert man einen Anachronismus, wenn man in eine
neue Epoche im Lebenszyklus des Erwachsenen eintritt, während man noch allzu eng am strukturellen Glau-
bensstil klebt, der während der Kulminationsphase der vorausgehenden Epoche angewandt wurde. Das heißt,
man würde mit dem einschränkenden Erkenntnis-, Wert- und Interpretationsmuster für Erfahrungen, das der
vorausgehenden Epoche entsprach, eine neue Liste von Lebensaufgaben und einen möglichen neuen Reich-
tum im Lebensverständnis angreifen. Ein derartiger Anachronismus stellt im Grunde genommen sicher, daß
man sich mit einem engeren und oberflächlicheren Glauben einrichten wird, als man eigentlich benötigt.
Dieser vorläufige Blick auf die optimalen Beziehungen zwischen der psychosozialen Entwicklung und den kog-
nitiv-strukturellen Stufen des Glaubens6
kann zur Klärung beitragen, in welcher Hinsicht Glaubensstufen als
normativ bezeichnet werden können. Die Glaubensstufen, die jetzt gleich besprochen werden sollen, dürfen
nicht als eine Leistungsskala verstanden werden, nach der der Wert von Menschen beurteilt werden kann. E-
benso stellen sie keine erzieherischen oder therapeutischen Ziele dar, auf die man Menschen hintreiben sollte.
Wenn man ihre optimalen Korrelationen mit den psychosozialen Epochen betrachtet, bekommt man ein Gefühl
dafür, wie sehr Zeit, Erfahrung, Herausforderung und Unterstützung für das Wachstum im Glauben nötig sind.
Erziehung und Unterstützung sollten darauf gerichtet sein, die potentielle Stärke des Glaubens auf jeder Stufe
voll zu realisieren und die Neuerarbeitung des Glaubens, die mit den Stufenveränderungen einhergeht, auf dem
Laufenden zu halten mit der parallel verlaufenden Übergangsarbeit in den psychosozialen Epochen. Eine hei-
lende oder therapeutische Unterstützung ist notwendig, wenn der Anachronismus einer verzögerten Glaubens-
stufe nicht mehr mit der psychosozialen Entwicklung in Einklang steht.
Teil IV Stufen des Glaubens [...]
Stufe 1: Intuitiv-projektiver Glaube
[...] Der intuitiv-projektive Glaube der Stufe 1 ist die phantasieerfüllte, imitative Phase, in der das Kind von Bei-
spielen, Stimmungen, Handlungen und Geschichten des sichtbaren Glaubens der Erwachsenen, mit denen es
am engsten verbunden ist, stark und anhaltend beeinflußt werden kann.
Die Stufe, die für das Kind im Alter von drei bis sieben Jahren am typischsten ist, zeichnet sich aus durch relativ
fließende Denkmuster. Das Kind trifft ständig auf Neues, für das es noch keine festen Erkenntnisoperationen
gebildet hat. Die imaginativen Prozesse, die der Phantasie zugrundeliegen, werden vom logischen Denken
nicht gehemmt und eingeschränkt. [...]
Das Geschenk oder die neu auftretende Stärke dieser Stufe ist die Entstehung der Einbildungskraft, der Fähig-
keit, die Erfahrungswelt in starken Bildern als Gegenstand von Geschichten, die das intuitive Verstehen und
Empfinden des Kindes für die letzten Existenzbedingungen festhalten, zu einer Einheit zusammenzuschließen
und zu begreifen.
Die Gefahren auf dieser Stufe entstehen aus der möglichen »Besessenheit« der Imagination des Kindes durch
ungehemmte Bilder von Schrecken und Destruktivität oder aus der absichtlichen oder unabsichtlichen Ausbeu-
tung seiner Einbildungskraft zur Verstärkung von Tabus und moralischen oder doktrinären Erwartungen.
Der Hauptfaktor, der den Übergang zur nächsten Stufe beschleunigt, ist das Auftauchen des konkret-
operationalen Denkens. [...] Der zentrale Punkt des Übergangs ist das zunehmende Verlangen des Kindes zu
5
Siehe unten, 1. Übersicht.6
Siehe unten, 2. Übersicht.
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erkennen, wie die Dinge sind, und Klarheit für sich zu gewinnen über die Grundlagen der Unterscheidung zwi-
schen dem, was wirklich ist, und dem, was nur wirklich zu sein scheint.
Stufe 2: Mythisch-wörtlicher Glaube
[...] Der mythisch-wörtliche Glaube der Stufe 2 ist die Stufe, auf der der Mensch anfängt, für sich selbst die »sto-
ries«, Glaubensinhalte und Regeln zu übernehmen, die seine Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft symbolisie-
ren. Glaubensinhalte werden ebenso wie moralische Regeln und Verhaltensweisen mit wörtlicher Interpretation
übernommen. Symbole werden in ihrer Bedeutung eindimensional und wörtlich verstanden. Auf dieser Stufe
führt die Entstehung konkreter Operationen zur Bändigung der imaginativen Zusammensetzung der Welt, wie
sie auf der vorhergehenden Stufe stattfand. Die episodische Qualität des intuitiv-projektiven Glaubens weicht
einer mehr linearen, narrativen Konstruktion von Kohärenz und Sinn. Die »story« wird das wichtigste Mittel, der
Erfahrung Einheit und Wert zu verleihen. Das ist die Glaubensstufe des Schulkindes (obwohl wir diese Struktu-
ren manchmal bei Jugendlichen und Erwachsenen vorherrschen sehen). Geprägt von einer höheren Genauig-
keit bei der Übernahme der Perspektive anderer Menschen, bilden sich die Menschen der Stufe 2 eine Welt, die
auf reziproker Fairness und auf einer immanenten Gerechtigkeit beruht, die auf Reziprozität basiert. Die Hand-
lungsträger in ihren kosmischen »stories« sind anthropomorph. Sie können tief und stark von symbolischem
und dramatischem Material betroffen sein, und sie können in endlos detaillierter Erzählung beschreiben, was
geschehen ist. Sie nehmen jedoch von dem Fluß der »stories« keinen Abstand, um reflektierte, begriffliche Be-
deutungen zu formulieren. Für diese Stufe wird der Sinn von der Erzählung transportiert, bleibt jedoch in ihr
»beschlossen«.
Die neue Fähigkeit oder Stärke auf dieser Stufe ist die Entstehung der Erzählung und die Entwicklung der »sto-
ry«, des Dramas und des Mythos, die dazu dienen, die Kohärenz der Erfahrung zu entdecken und ihr solche zu
verleihen.
Die Grenzen der Wörtlichkeit und ein übertriebenes Vertrauen auf die Reziprozität als Prinzip der Konstruktion
eines letzten Umwelt können entweder zu einem pedantischen, unnatürlichen Perfektionismus oder zu »Werk-
gerechtigkeit« führen, oder aber zu ihrem Gegenteil, einem erniedrigenden Gefühl der Schlechtigkeit, das man
sich aufgrund schlechter Behandlung, Vernachlässigung oder scheinbarem Nichtakzeptiertwerdens durch be-
deutend Andere zu eigen macht.
Ein Faktor, der den Übergang zur Stufe 3 einleitet, sind implizite Gegensätze oder Widersprüche in den »sto-
ries«, was zum Nachdenken über Sinn führt. Der Übergang zum formal-operationalen Denken macht eine der-
artige Reflexion möglich und notwendig. Das vorhergehende Wörtlichnehmen bricht zusammen und die neue
»kognitive Entwicklung« (Elkind) führt zur Enttäuschung über frühere Lehrer und Lehren. Konflikte zwischen
autoritativen »stories« (der Schöpfungsbericht in Genesis 1 versus die Evolutionstheorie) müssen bewältigt
werden. Die Entstehung einer wechselseitigen interpersonalen Perspektivenübernahme (»ich sehe dich, wie du
mich siehst: ich sehe mich, wie du mich siehst; ich sehe dich, wie du mich siehst, wie ich dich sehe«) schafft
das Bedürfnis nach einer stärkeren persönlichen Verbindung mit der Einheit schaffenden Macht der letzten
Umwelt.
Stufe 3: Synthetisch-konventioneller Glaube
Im synthetisch-konventionellen Glauben der Stufe 3 greift die Welterfahrung des Menschen nun über die Fami-
lie hinaus. Eine Anzahl von Bereichen verlangt Aufmerksamkeit: Familie, Schule oder Arbeit, Kameraden,
Nachbarschaft und Medien, und vielleicht Religion. Der Glaube muss eine kohärente Orientierung inmitten die-
ser komplexeren und vielfältigeren Reihe von Bindungen bieten. Der Glaube muss Werte und Informationen in
eine Synthese zusammenbringen; er muss eine Basis für Identität und Weltanschauung schaffen.
Die Stufe 3 beginnt und entfaltet sich normalerweise im Jugendalter, aber für viele Erwachsene wird sie ein
dauerhafter Ort des Gleichgewichts. Sie strukturiert die letzte Umwelt in Begriffen der Zwischenmenschlichkeit.
Ihre Bilder von einendem Wert und Macht leitet sich ab aus der Verlängerung von Qualitäten, die in persönli-
chen Beziehungen erfahren werden. Es ist in dem Sinn eine »konformistische« Stufe, dass sie genau auf die
Erwartungen und Urteile bedeutender anderer abgestimmt ist und sich ihrer eigenen Identität und ihres eigen-
ständigen Urteils noch nicht sicher genug ist, um eine unabhängige Perspektive zu konstruieren und festzuhal-
ten. Obwohl Glaubensinhalte und Werte tief empfunden werden, bleiben sie normalerweise stillschweigend –
der Mensch »lebt« in ihnen und in der Sinnwelt, die sie vermitteln. Aber es hat noch keine Gelegenheit gege-
ben, aus ihnen herauszutreten, um über sie zu reflektieren oder sie explizit oder systematisch zu überprüfen.
Auf der Stufe 3 hat der Mensch eine »Ideologie«, ein mehr oder weniger konsistentes Bündel von Werten und
Glaubensinhalten, aber er hat sie nicht zum Zweck der Prüfung objektiviert und ist sich in gewisser Weise nicht
bewusst, sie zu besitzen. Unterschiede zu anderen in den Anschauungen werden als Unterschiede in der »Art«
von Menschen erfahren. Autorität ist in den Trägern der traditionellen Autoritätsrollen angesiedelt (wenn sie
persönlich als dessen würdig angesehen werden) oder in dem Konsens einer wertbesetzten wohlvertrauten
Gruppe.
Die neu auftretende Fähigkeit dieser Stufe ist die Bildung eines persönlichen Mythos – des Mythos vom eigenen
Werden in Identität und Glauben, der die eigene Vergangenheit und antizipierte Zukunft in ein Bild der letzten
Umwelt eingehen lässt, das durch charakteristische Züge der Persönlichkeit vereint wird.
Die Gefahren und Unzulänglichkeiten auf dieser Stufe sind zweifach. Die Erwartungen und Bewertungen der
anderen können so zwingend verinnerlicht (und sakralisiert) werden, dass die spätere Autonomie des Urteils
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und des Handelns in Gefahr sein kann; oder zwischenmenschlicher Verrat kann entweder zu nihilistischer
Verzweiflung an einem persönlichen Prinzip des höchsten Wesens oder zu einer kompensatorischen Intimität
mit Gott führen, die zu den weltlichen Beziehungen keinen Bezug mehr hat.
Die Faktoren, die zum Zusammenbruch der Stufe 3 und zur Bereitschaft zum Übergang beitragen, können sein:
ernsthafte Zusammenstöße und Widersprüche zwischen hoch bewerteten Autoritätsquellen; [...] die Begegnung
mit Erfahrungen oder Perspektiven, die zur kritischen Reflexion darüber führen, wie sich die eigenen Glaubens-
inhalte und Werte gebildet und verändert haben und wie »relativ« sie sind, indem sie von der eigenen Gruppe
oder der eigenen Herkunft abhängen. Häufig führt die Erfahrung des »Weggehens von zu Hause« – emotional
oder physisch, oder beides – die Art der Prüfung des Selbst, der Herkunft und der lebensbestimmenden Werte
herbei, die den Stufenübergang an diesem Punkt herbeiführt.
Stufe 4: Individuierend-reflektierender Glaube
Der Übergang von der Stufe 3 zum individuierend-reflektierenden Glauben der Stufe 4 ist besonders kritisch,
denn bei diesem Übergang muß der ältere Jugendliche oder Erwachsene anfangen, die Last der Verantwortung
für die eigenen Bindungen, Lebensstile, Glaubensinhalte und Einstellungen ernst zu nehmen. Wo ein echter
Übergang zur Stufe 4 im Gange ist, muß der Mensch gewissen unvermeidlichen Spannungen ins Auge sehen:
Indidivualität versus Definiertsein durch eine Gruppe oder eine Gruppenzugehörigkeit; Subjektivität und die
Macht der stark empfundenen, aber nicht überprüften Gefühle versus Objektivität und Forderung nach kritischer
Reflexion; Selbsterfüllung oder Selbstverwirklichung als erstem Ziel versus Dienst und Dasein für andere; die
Frage, ob man sich an das Relative bindet versus Kampf mit der Möglichkeit eines Absoluten.
Die Stufe 4 konstituiert sich am besten im frühen Erwachsenenalter [...]. Diese Stufe ist durch eine doppelte
Entwicklung gekennzeichnet. Das Ich, das in seinen Identitäts- und Glaubenskonstruktionen zuvor von einem
interpersonellen Kreis bedeutender Anderer getragen wurde, beansprucht jetzt eine Identität, die nicht länger
durch das geordnete Verhältnis der eigenen Rollen oder Sinnvorstellungen zu denen anderer definiert ist. Um
diese neue Identität zu stützen, schafft sich das Ich einen Sinnrahmen, der sich seiner eigenen Grenzen und
inneren Bindungen bewußt ist und sich selbst als »Weltanschauung« erkennt. [...] Es drückt seine Intuition einer
Kohärenz in der letzten Umwelt in der Form eines expliziten Sinnsystems aus. Die Stufe 4 übersetzt bezeich-
nenderweise Symbole in begrifflichen Bedeutungen. Sie ist eine »entmythologisierende« Stufe. Sie richtet ihre
Aufmerksamkeit gewöhnlich nur minimal auf unbewußte Faktoren, die ihre Urteile und ihr Verhalten beeinflus-
sen können.
Die überlegene Stärke der Stufe 4 hängt an ihrer Fähigkeit zur kritischen Reflexion über Identität (Selbst) und
Weltanschauung (Ideologie). Ihre Gefahren liegen in ihren Stärken: ein übermäßiges Vertrauen auf das bewuß-
te und kritische Denken [...]
Nicht zufrieden mit den Selbstbildern und Anschauungen, die von der Stufe 4 festgehalten werden, gelangt der
Mensch, der zum Übergang bereit ist, dazu, auf etwas zu hören, was vielleicht als anarchische und beunruhi-
gende innere Stimme empfunden wird. [...] »Stories«, Symbole, Mythen und Paradoxe aus der eigenen Traditi-
on oder der anderer können zum Einbruch in die glatte Geschlossenheit des vorhergehenden Glaubens drän-
gen. Die Desillusionierung über die eigenen Kompromisse und die Erkenntnis, daß das Leben komplexer ist, als
die Logik der klaren Unterscheidungen und abstrakten Begriffe des Stufe 4 es erfassen können, drängen den
Menschen zu einem stärker dialektischen und vielschichtigen Zugriff auf die Lebenswahrheit.7
7
Siehe dann auch Stufe 5: Verbindender Glaube; Stufe 6: Universalisierender Glaube.
61
Allgemeine Leitfragen:
1. Wie versteht der Verfasser Religiosität und Glauben?
2. Lassen sich die beschriebenen Entwicklungsstufen Altersstufen zuordnen?
3. Welche Rolle spielt in diesem Ansatz zur religiösen Entwicklung die Entwicklung von Denkstrukturen, wel-
che Bedeutung haben Impulse durch Sozialisierung und kontingente (zufällige) Lebenserfahrungen?
4. Welche didaktische Konsequenz (Auswahl von Lerninhalten, Formulierung von Lernzielen) ergibt sich aus
dem Modell unterschiedlicher, notwendig aufeinander folgender Entwicklungsstufen?
5. Welche Aufgabe könnte in diesem Modell dem Religionslehrer, der Religionslehrerin zukommen?
Spezielle Hinweise und Fragen zur Erschließung des Textes:
Der Diskussionsleiter beschreibt eingangs treffend das struktur-genetische Entwicklungsmodell von Jean
Piaget, dem sich auch Fritz Oser/Paul Gmünder sowie Laurence Kohlberg (Stufen des moralischen Urteils)
zurechnen: Die einzelnen Stufen hängen zwar von den Faktoren Reifung und Zeit ab, sind jedoch nicht au-
tomatisch bzw. unvermeidlich, müssen also sozusagen didaktisch erst angestoßen werden. Anders verhält
es sich mit dem psycho-sozialen Modell Erik Eriksons, das sich der Psychoanalyse verpflichtet weiß: Dem-
nach durchlaufen alle Menschen in ihrem Leben unvermeidlich bestimmte, entwicklungsspezifische Konflik-
te: im Grundschulalter etwa „Werksinn gegen Minderwertigkeit“ oder im Jugendalter „Identität gegen Identi-
tätsdiffusion“. James Fowler versucht beide Modelle, das struktur-genetische wie auch das psycho-soziale,
in seine Stufentheorie der Entwicklung der Glaubensstruktur fruchtbar zu machen.
Einerseits betont Fowler, dass die einzelnen Entwicklungsstufen der Glaubensstruktur nicht als Leistungs-
skala misszuverstehen seien und auch keine pädagogischen oder therapeutischen Ziele aus ihnen abgelei-
tet werden sollten. Zugleich aber warnt er vor einem „Anachronismus, wenn man in eine neue Epoche im
Lebenszyklus des Erwachsenen eintritt, während man noch allzu eng am strukturellen Glaubensstil klebt,
der während der Kulminationsphase der vorausgehenden Epoche angewandt wurde“. Deuten und beurtei-
len Sie beide Aussagen!
Beschreiben Sie die einzelnen Phasen mit eigenen Worten!
Ein wichtiges Moment in Fowlers Entwicklungsmodell ist das des Symbolverständnisses. Wie verhält sich
dies etwa zum Verstehen und zur Didaktik biblischer Wundergeschichten?
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Geschlechtsspezifische Sozialisation und Religionsunterricht
Auszüge aus: Helga Kohler-Spiegel, Gender im Religionsunterricht – Mädchen/Jungen im Religionsunterricht,
in: Jahrbuch der Religionspädagogik 18 (2002) 157–170
[…] Wir sind – z.T[.] aus disziplinärer Not – im RU gewohnt, Mädchen und Jungen wahrzunehmen. „Gender im
RU“ aber meint ein reflektiertes Bewußtsein [sic!] und einen umfassenden Blickwinkel auf Jungen und Mädchen
als geschlechtliche und soziale Wesen, sozialisiert und entwicklungsfähig …
1. Gender
1.1 Geschlechterbewusst
Die Unterscheidung zwischen „sex“ und „gender“ stammt ursprünglich aus der medizinisch-psychiatrischen
Diskussion um Transsexualität in den 50er Jahren. So konnte das Auseinanderklaffen von körperlichem Ge-
schlecht und Geschlechtsidentität beschrieben werden. Körperlich ein Mann zu sein und sich als Frau zu fühlen,
sensibilisierte darauf, dass Geschlecht nicht so eindeutig und nicht so selbstverständlich ist, wie wir meist zu
wissen glauben. […] Nicht Biologie und Anatomie prägen das Geschlecht, sondern vor allem das, was die Ge-
sellschaft darauf macht und welche Konsequenzen Biologie und Anatomie für die betroffenen Personen haben.
Oder anders gesagt: Gender ist keine kausale Folge von „sex“, das soziale Geschlecht ist keine Folge des bio-
logischen Geschlechts. […] Geschlechterbewusstes Arbeiten muss auf die Unterscheidung von biologischem
Geschlecht (Männer und Frauen sind verschieden) und sozialem Geschlecht (Männer und Frauen sind gleich,
unterschiedliche Bewertungen [d.h. Geschlechterrollen] sind von Menschen gemacht) Bezug nehmen, es muss
Gleichheit und Differenz von Frauen und Mädchen bedenken. Geschlechterbewusstes Arbeiten – so verstanden
– bleibt aber ausgerichtet am Handeln, am konkreten Tun und am Verändern der Situation. So ist die ge-
schlechterbewusste Perspektive sowohl Kategorie der Wahrnehmung als auch des Urteils.
1.2 Gender im Bereich feministischer Theologie
Erwachsen ist die Auseinandersetzung mit „gender“ aus der feministischen Bewegung. Das oft umstrittene Wort
„Feminismus“ bedarf einer Erläuterung. „Feministisch“ bezeichnet die klare Position, Ungerechtigkeiten und
Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts aufzuzeigen und parteilich für Mädchen und Frauen einzutreten.
[…] Feministische Theologie will kein zusätzliches Thema neben anderen Themen sein; sie hat vielmehr zum
Ziel, alle Bereiche der Theologie zu durchdringen. […] Geschlechterbewusst wahrzunehmen und aus dieser
Perspektive verschiedene Themen neu durchzudiskutieren erfordert auch die inhaltliche Diskussion und Neu-
gestaltung der einzelnen Themenbereiche. […]
Für den religionspädagogischen Blickwinkel bedeutet „feministisch reflektiert“, alle Fragestellungen und Inhalts-
bereiche unter der Perspektive der Geschlechter zu bearbeiten und dabei auch vertraute Positionen zur Ge-
schlechterfrage zu sprengen. Zuerst schwerpunktmäßig aus der Sicht von Frauen und Mädchen dargestellt,
werden letztlich im geschlechterspezifischen Sinn beide Geschlechter bedacht, wenn es um Glaubenlernen in
Auseinandersetzung mit Eigenem und Fremdem geht. […]
1.5 Das kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit
In der pädagogisch-religionspädagogischen Diskussion wird gegenwärtig das Geschlechterverhältnis häufig in
vier Ansätzen nach Annedore Prengel gefasst. Die Ansätze spiegeln die Verhältnisbestimmung zwischen
Gleichheit und Differenz der Geschlechter:
Gleichheitsorientierter Ansatz: eine Verbesserung der Lebenschancen für Frauen entsteht durch ihre Gleichstellung mit Männdern; es
geht um gleiche Teilhabe an materiellen Ressourcen Rechten und Macht sowie gleichen Zugang zu Bildung, Ausbildung und Positio-
nen auf allen Hierarchieebenen;
Differenzorientierter Ansatz: Mädchen/Frauen haben Stärken, die bisher übersehen und vernachlässigt wurden, ebenso werden männ-
liche Defizite herausgestellt. Es kommt zu einer Neubewertung weiblicher und männlicher Eigenschaften; positiv weibliches Handeln
wird hervorgehoben und eigenständig wertgeschätzt;
Ansatz der egalitären Differenz – Dialektik von Gleichheit und Differenz (dabei wechselt, welcher Aspekt dominant ist): Gleichheit der
Geschlechter ist nicht ohne Akzeptanz der Differenz realisierbar, Differenz braucht als Basis die rechtliche Gleichheit. Männer und
Frauen haben, so verstanden, gleiche Rechte, sind aber verschieden in Lebensweise, in der Verarbeitung von Erfahrungen…; dieser
Verschiedenheit muss Rechnung getragen werden, ohne – bewertend – „anders“ zu sein;
dekonstruktivistische Position: stellt die Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit grundsätzlich in Frage, Geschlecht wird als soziale
Kategorie entlarvt.
Die Forderung nach Aufhebung geschlechterspezifischer Zuschreibungen bedeutet aber nicht zugleich die Auf-
hebung der politischen Kategorie „Frau“; kollektive Identitätsbildung braucht einen Begriff. Männliche Konstruk-
tionen weiblicher Lebensentwürfe und Lebensrealität werden dekonstruiert; es gilt aber zugleich, Erfahrungen
von weiblicher Stärke ebenso wie von Benachteiligung und Unterdrückung benennbar und kommunizierbar zu
machen, also auch Begriffe für Frausein, Weiblichsein u.ä. zu bewahren.
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2. Geschlechtsspezifische religiöse Sozialisation und Entwicklung
2.1 „Wir werden nicht als Mädchen geboren …“ – Sozialisation von Mädchen und Jungen
Identitätsfragen sind nicht ohne Bezug zur Sozialisation bearbeitbar […]. Marianne Grabrucker spricht von fünf
Ebenen der Vermittlung geschlechtsspezifischen Verhaltens, auf fünf bzw. erweitert auf sechs Arten lernen wir
unser jeweiliges Geschlecht:
Geschlechtsspezifisches Verhalten wird bewusst vermittelt: Es wird ausdrücklich gemacht, was ein Mädchen tut und was es nicht tut
[…].
Geschlechtsspezifisches Verhalten wird unbewusst vermittelt: Es findet eine subjektive Auswahl von Geschichten, von Geschenken für
Mädchen statt; es ist unterschiedlich, wann ein Mädchen oder wann ein Junge getröstet und wann gelobt wird.
Geschlechtsspezifisches Verhalten wird imitiert: […]
Die Ebene der Klassifizierung weiblichen und männlichen Verhaltens: Verhalten wird gelernt, weil es von Erwachsenen und Gleich-
altrigen als männlich oder weiblich klassifiziert wird […].
Die Ebene der Identifikation: In der Beziehung zwischen Mutter und Tochter nimmt die Tochter latente, nicht-reflektierte Gefühle der
Mutter auf […].
Hinzu kommt die Selbst-Sozialisation als Imitation, animiert z.B. durch andere Kinder, aber auch durch Medien, um in der Kindergrup-
pe, im Gespräch von Erwachsenen und auch in der Gesellschaft allgemein dabei zu sein; dies ist ein nicht zu unterschätzender Faktor
in der Entwicklung jedes Kindes.
Diese Arten der Vermittlung geschlechtsspezifischen Verhaltens ist wohl auch für Junge so anzunehmen. Mit
ca. drei Jahren besitzen Kinder heute eine ausgeprägte Geschlechtsidentität, die sie auch nach außen verteidi-
gen. Ihre Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit sind relativ umfassend und stark stereotyp, aber
noch wenig mit Wertungen verbunden. Die Erziehung in Familie und den öffentlichen Einrichtungen fördert häu-
fig die aktiv-aggressive Entfaltung von Jungen, während Mädchen besonders in familiale und soziale Aufgaben
mit geringem Bewegungsspielraum eingebunden werden. Dabei wird ignoriert, dass Mädchen gerade im famili-
ären Umfeld von Übergriffen bedroht sind. […]
Eine solche geschlechtsspezifische Erziehung wird häufig durch religiöse Sozialisation verstärkt und gefördert.
Im Kleinkindalter meist bei der Mutter erlebte liebevolle Nähe und Fürsorge werden religiös angebunden an ein
einseitig männliches Vater-Gottesbild; christliche Werthaltungen wie Nächstenliebe, Selbstlosigkeit, Dienst,
Demut und Vergebung gelten verbal für alle Menschen, werden aber faktisch in der religiösen Erziehung vor
allem von Mädchen verlangt. Verbale Beteuerungen der Gleichwertigkeit von Mann und Frau im christlichen
Glauben ändern an geschlechtsspezifischen Prägungen durch die religiöse Sozialisation und Erziehung nichts.
Da vor allem Frauen die religiöse Erziehung tragen, müssen deren Erfahrungen, ihre religiöse Sozialisation und
Entwicklung in den Mittelpunkt gerückt werden. […]
2.2 „Abschied von der Kindheit“ – Religiöse Entwicklung
[…] Der/die Jugendliche muss divergierende und widersprüchliche Erwartungen aushalten und gestalten; nicht
Harmonie, sondern Ich-Balance ist gefragt. Identität ist in Bewegung, aus vielen Facetten und Aspekten zu-
sammengesetzt, mit Widersprüchlichem und Harmonischem. Ein schneller Wechsel zwischen verschiedenen
Rollen und unterschiedlichen sozialen Kontexten ist zur Normalität geworden. […] Junge Mädchen und Jungen
brauchen ein „Experimentierfeld“ mit klar umrissenen Grenzen, in dem sie sich – mit Unterstützung von Frauen
und Männern – Rollen erspielen, das Leben erproben können […], ohne bereits völlig darauf festgelegt zu wer-
den. […]
Vor allem in der frühen Adoleszenz müssen Mädchen mit Nähe und Distanz experimentieren dürfen, Zuwen-
dung zeigen können, ohne dass sie missbraucht wird. Für Mädchen spielt die enge und dauerhafte Beziehung
zu einer gleichgeschlechtlichen Person eine beeinflussendere Rolle als Peers. […] So kann sich die erste Be-
zugsperson „Mutter“ weiterentwickeln und relativieren durch die „beste Freundin“. Dies kann unterstützt werden
mit Hilfe weiblicher Gottesbilder, die diesen positiven Aspekt der „besten Freundin“ erweitern und vertiefen. […]
3. Schule: Gender im Religionsunterricht
[…] Auch im Religionsunterricht sind Bewusstmachung und Veränderung notwendig, bezüglich Lehrinhalten
und Lehrmitteln, bezüglich Unterrichtssprache und der Ebenen der Interaktion zwischen Lehrpersonen und Ler-
nenden, zwischen Schülern und Schülerinnen. Untersuchungen von Religionsbüchern zeigen deutlich, dass
Mädchen sehr viel weniger Chancen haben, angesprochen zu werden, genannt zu werden, sich identifizieren
zu können, betroffen zu sein; vor allem fehlen zukunftsorientierte Leitbilder für Mädchen. Für Jungen besteht ein
ungleich höheres Angebot an Identifikationsmöglichkeiten. Denn bei Kindern geht die Identifikation primär zum
eigenen Geschlecht hin. Auch wenn Jungen und Mädchen sich mit männlichen Helden identifizieren, nehmen
sie sehr wohl wahr, welche Rollen dabei die Frauen spielen; es bleibt die Wertung bzgl. des eigenen Ge-
schlechts. […]
Im schulischen Alltag können Aufgaben verstärkt dem „unüblichen“ Geschlecht übergeben werden, bei Inhalten
und Geschichten ist auf das Geschlecht der Hauptperson zu achten, in der Kommunikation auf die Einhaltung
66
von Gesprächsregeln. Der koedukative Schulalltag wird auf unausgesprochene Verhaltensweisen, Erwartun-
gen und Bilder an die beiden Geschlechter reflektiert, geplanter Unterricht und Pausen werden bedacht. Mög-
lichkeiten zur Reflexion des Verhaltens von Schülerinnen und Schülern und geschlechterhomogene Lernange-
bote in einzelnen Lernabschnitten des RU sollen helfen, eine rein formale Koedukation zu überwinden. Auch die
Selbstreflexion und die Rolle der Lehrperson verändert sich, wobei besonders für Frauen Widersprüche zwi-
schen dem tradierten weiblichen Rollenbild und den Rollenerwartungen (Frauen sind angepasst, freundlich,
mütterlich …) einerseits und der Aufgabe als Lehrperson andererseits, die Klasse von Mädchen und Jungen zu
führen und klar durchzugreifen, zu einer Situation „zwischen allen Stühlen“ führen kann. Religionslehrpersonen
müssen sich hierbei auch einbinden in die geschlechterbewussten Ansätze der Allgemeinpädagogik.
4. Geschlechterbewusster Religionsunterricht – Weitere Schritte
So verstanden muss der geschlechterbewusste Blickwinkel im Sinne von gender im Religionsunterricht bedacht
werden; gender fragt – zusätzlich zum feministisch-theologischen Verständnis von religiös-theologischen Inhal-
ten und deren kritischer Reflexion – auch im religiösen Bereich nach Gleichheit und Differenz zwischen den
Geschlechtern. Dahinter steht die Aufgabe der Religionspädagogik in der Vergewisserung des Menschenbildes,
das – gemäß Gen 1,27 – die Differenz der Geschlechter und ihre Gleichheit ausdrücklich legitimiert und damit
einseitig männliche Verabsolutierungen aufdeckt und ablehnt. Auch die Religionspädagogik fragt also nach
Ungleichheiten aufgrund des Geschlechtes im Prozess des Christin- und Christwerdens, sie fragt danach, wie
Gleichheit zwischen den Geschlechtern in Schule und Religionsunterricht konkret umgesetzt wird – bei gleich-
zeitiger Akzeptanz von Differenz zwischen Menschen beiden Geschlechts. Es geht also nach wie vor um die
Beseitigung von Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen im Sinn von gender, es geht aber auch um ein
neues Bedenken von Differenz zwischen Männern und zwischen Frauen und zwischen Männern und Frauen.
Dabei sind Wahrnehmen und Ernstnehmen von Gemeinsamem und Fremdem wichtig, ohne dabei Fremdes
durch schnelle Harmonisierungen auflösen zu wollen.
4.1 Parteilichkeit der Religionslehrerinnen und Religionslehrer
Religionslehrpersonen sind herausgefordert, ihre eigene Wahrnehmung zu schulen, sich mit ihrem eigenen
Geschlecht und ihrer Geschlechtsidentität auseinander zu setzen. In Gesprächs- und Austauschgruppen kön-
nen Religionslehrerinnen und Religionslehrer sich selbst einen Raum schaffen, in dem sie ihre Erfahrungen
reflektieren, ihre individuelle Frauengeschichte bearbeiten und Ideen konkretisieren. Konkrete Fragen können
helfen: Wie stelle ich mir selbst das Verhältnis zwischen Frauen und Männern vor? Wo behandle ich Mädchen
und Jungen unterschiedlich? Habe ich bestimmte Erwartungen nur an Jungen bzw. nur an Mädchen? Auf wen
wird in Sitzungen und Konferenzen gehört? […]
4.2 Forderungen und Konkretionen für einen geschlechterbewussten Religionsunterricht
Es braucht Männerarbeit mit Lehrpersonen, es braucht Jungenarbeit, die von Männern konzeptionell entwickelt
und geleistet wird, von beziehungsfähigen Männern, die sich auf die Jungs einlassen, sich persönlich auseinan-
dersetzen. Es braucht konkreten Widerstand gegen Dominanz und Gewalt von Männern (und Jungen), um sie
auf ihrem Weg zu letztlich so entwickelten Persönlichkeiten zu begleiten, dass die Abwertung von „anderen“
nicht mehr nötig ist. […]
Im Religionsunterricht sind frauenspezifische und geschlechterbewusste Themen als fixer Bestandteil des Lehr-
plans zu behandeln, Gottesbild und biblische Frauen, Gewalt in der Bibel und Gebete von Frauen. […] Frauen
entwickeln dadurch stärkeres Vertrauen in ihre Fähigkeiten, sind selbstbewusster und treten klarer für ihre eige-
nen Wünsche, auch Männern gegenüber. […]
Es braucht kommunikative Möglichkeiten unter Frauen und Männern, eine Sprache, in der Frauen vorkommen,
gemeinsame Feiern, die Spaß machen […]. Mädchen und Frauen brauchen erlebnisbezogene Angebote und
thematische Angebote; sie brauchen Leitbilder, wie Frauen das Leben gestalten, wie sie ihre Bedürfnisse nach
Eigenständigkeit und nach Nähe leben. […]
Für den Religionsunterricht bleiben themenbezogene zeitweilige Trennungen nach Geschlecht (Sexualität, I-
dentitätsthemen, Gefühle, Gewalt …) wichtig, es braucht eine Durchforstung der Lehrpläne und der Schulbü-
cher, der Arbeitsunterlagen und Medien sowie geschlechterbewusste Angebote in der Ausbildung von Religi-
onslehrerinnen und Religionslehrern, von Theologinnen und Theologen. Es braucht […] ein erneuertes Reden
von Gott und vom „Menschen“ sowie neue Symbolisierungen, es braucht alte und neue Geschichten von Frau-
en mit Gott, es braucht Gebete und Lieder von Frauen zu Gott. Es braucht eine Erzähltradition von Bibel und
Geschichte aus Frauenperspektive, es braucht – immer noch – die Erinnerung an die Gewalt gegen Frauen und
an die Befreiung von Frauen. Es braucht eine neue Sprache und Worte, denen Frauen neue Bedeutung geben.
Paralleles braucht es für Jungen, in bewusster Koedukation können beide, Mädchen und Jungen, sich im Reli-
gionsunterricht entwickeln. […]
67
Allgemeine Leitfragen:
5. Wie versteht die Verfasserin unter religiöser Entwicklung und Sozialisation?
6. Inwiefern verläuft die Sozialisation/Entwicklung von Jungen charakteristisch anders als von Mädchen?
7. Welche Rolle spielt in diesem Ansatz zur religiösen Entwicklung die Entwicklung von Denkstrukturen, wel-
che Bedeutung haben Impulse durch Sozialisierung und kontingente (zufällige) Lebenserfahrungen?
8. Welche didaktische Konsequenz (Auswahl von Lerninhalten, Formulierung von Lernzielen) ergibt sich aus
dem sozialisationsorientierten Gender-Modell?
9. Welche Aufgabe könnte in diesem Modell dem Religionslehrer, der Religionslehrerin zukommen?
Spezielle Hinweise und Fragen zur Erschließung des Textes:
Vollziehen Sie die Unterscheidung von sex und gender nach und erläutern Sie Differenz und Beziehung
beider Begriffe!
Welcher der von Kohler-Spiegel aufgeführten Ansätze, das Verhältnis von Gleichheit und Differenz der Ge-
schlechter in der Gesellschaft zu beschreiben – Gleichheit, Differenz, Dialektik, Dekonstruktion –, wird wohl
von der Verfasserin selbst favorisiert?
Machen Sie sich deutlich, welches neue Männer- und Frauenbild die Verfasserin propagiert! Woher nimmt
sie dies?
Nach Kohler-Spiegel sollen weibliche Gottesbilder bei der Persönlichkeitsentwicklung von Mädchen helfen,
indem sie die wichtigen Aspekte der „besten Freundin“ verstärken. Woran in der biblisch-christlichen Tradi-
tion könnte sie konkret denken?
Teil 4
Grundlegende Perspektiven
religiösen Lernens in der öffentlichen Schule
69
Konfessioneller Religionsunterricht
Auszug aus: Friedrich Schweitzer, Wozu noch Religionsunterricht?, in: Forum E 53 (2000) Heft 3, 9–14
Ja, wozu eigentlich noch Religionsunterricht? – So hat sich wohl schon mancher gefragt, nicht zuletzt beim
Erstellen des Stundenplans und angesichts wachsender Schwierigkeiten, bei den zunehmend konfessionell,
religiös und weltanschaulich gemischten Klassen noch ein sinnvolles religionsunterrichtliches Angebot zu orga-
nisieren. Andere – vor allem im Bereich der Berufsschule – denken an die Kosten, die ein solcher Unterricht
erzeugt, und wollen den Staat sowie die Betriebe davon entlasten. Organisationsprobleme und finanzielle Be-
lastungen - nur Sparanwälte einer schlanken Schule könnten schon darin einen hinreichenden Grund zur Ab-
schaffung von Religionsunterricht sehen. Wer pädagogisch und bildungspolitisch denkt, wird genauer hinsehen
müssen. Denn die Situation stellt sich sehr widersprüchlich dar.
Widersprüchliche Wahrnehmungen
In Deutschland ist der Religionsunterricht nicht allein Sache der Schulen oder des Staates. Vielmehr wird er,
nach dem Grundgesetz (Art. 7,3), „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“
erteilt. Zweifel am Sinn des Religionsunterrichts machen sich deshalb häufig am nachlassenden Einfluss der
Kirchen fest. Zwar sind in Westdeutschland noch immer mehr als 80% der Bevölkerung Mitglied einer der bei-
den großen Kirchen (Ostdeutschland: 20-30%, Gesamtdeutschland: knapp 70%), aber die Kirchenmitglied-
schaft gestaltet sich in vielen Fällen doch deutlich distanziert.
Besonders durch den Brandenburger Schulversuch „Lebensgestaltung - Ethik – Religionskunde“ (LER), aus
dem inzwischen ein Schulfach geworden ist, hat für manche die Forderung nach einem allein vom Staat ver-
antworteten „Religionsunterricht für alle“ neue Plausibilität gewonnen. Wäre es nicht viel einfacher, einen Reli-
gionskunde- oder Ethikunterricht einzurichten, der in weltanschaulich neutraler Weise erteilt wird und bei dem
keine Aufteilung in unterschiedliche Lerngruppen mehr erforderlich wäre? Dem Zweifel am Sinn des Religions-
unterrichts stehen nun freilich andere Wahrnehmungen gegenüber. So hat beispielsweise Bundespräsident
Herzog bei seiner Berliner Rede „Aufbruch in der Bildungspolitik“ (5. November 1997) die Frage der Wertorien-
tierung im Bildungssystem weit in den Vordergrund gerückt. Für ihn gehört deshalb „der Religionsunterricht in
die Schule und darf nicht in die Pfarrsäle verdrängt werden“.
In ihrem vor kurzem vorgelegten Bericht hat die Zukunftskommission Gesellschaft 2000 der Landesregierung
Baden-Württemberg die Bedeutung des Religionsunterrichts angesichts religiöser und ethnischer Konflikte in
der multikulturellen Gesellschaft eigens hervorgehoben, auch im Vergleich zu Modellen wie LER: „Der konfessi-
onelle Religionsunterricht ist gegenüber religionskundlichen Ansätzen dazu geeignet, einen persönlichen
Standpunkt zu entwickeln. Schülerinnen und Schüler müssen imstande sein, sich begründend und wissend mit
der schwindenden christlichen Überlieferung auseinanderzusetzen. Nur durch das Wissen über ihre eigene
Religion und Konfession können sie als profilierte Gesprächspartner an einem interreligiösen und interkonfessi-
onellen Gespräch teilnehmen.“
Darüber hinaus wird entschieden – und mit Recht – die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts ge-
fordert. Widersprüchliche Wahrnehmungen und Erwartungen also, aber kein klares Bild. Gewiss: Als Privileg
der Kirchen, wie manchmal gesagt wird, hätte der Religionsunterricht keine Zukunft. Wie aber steht es um seine
pädagogische Begründung?
Pädagogische Begründungen für Religionsunterricht
Eine pädagogische Begründung für Religionsunterricht ergibt sich aus meiner Sicht in mindestens fünf Hinsich-
ten:
Religion als unabdingbare Dimension des Menschseins: Der Mensch ist ein transzendenzoffenes Wesen –
in der gesamten Menschheitsgeschichte ist Religion, über allen geschichtlichen Wandeln hinweg, eine Art
anthropologische Konstante geblieben. Heute steht Religion für den Schutz der Menschen vor einer Reduk-
tion bloß auf zweckrationales Verhalten und gesellschaftliche Nützlichkeit.
Religion als Dimension der Selbstwerdung: In religionspsychologischer Perspektive wird die Auffassung
vertreten, dass die Selbstwerdung des Kindes auch die Bildung seiner religiösen Erfahrungen, Gefühle und
Vorstellungen einschließen muss. Auf Grund frühkindlicher Erfahrungen sowie der kindlichen Weltbilder
bringen Kinder auch dann religiöse Vorstellungen in die Schule mit, wenn sie keine Erziehung im Sinne des
kirchlichen Glaubens erfahren haben. Die Kinder sind auf Klärungshilfen und eine Begleitung ihrer Entwick-
lung angewiesen.
Religion als prägender Bestandteil von Kultur und Geschichte: In dieser Hinsicht besteht heute wohl die
größte Einigkeit – weder die deutsche noch die europäische Kultur und Geschichte lassen sich auch nur
verstehen, wenn keine Kenntnis der christlichen Religion vorhanden ist. Religiöse Bildung gehört deshalb
unabdingbar zum Auftrag der Schule – gerade auch dort, wo – wie in Ostdeutschland – in weiten Kreisen
der Bevölkerung die christliche Tradition abgebrochen ist.
Religion als für das gesellschaftliche Leben erforderliches Thema: Nicht nur in der Vergangenheit, sondern
auch in der Gegenwart spielt Religion im gesellschaftlichen Leben eine bedeutsame Rolle. Kinder begeg-
70
nen religiösen Vollzügen wie Festen und Feiern, Gottesdiensten usw. Wer Kindern Welt und Gesellschaft
erschließen will, wird sie deshalb auch in den Sinn religiöser Vollzüge und des religiösen Brauchtums ein-
führen müssen.
Religion als Grundlage moralischer Erziehung: Auch wenn heute zum Teil die Auffassung vertreten wird,
dass eine religiöse Begründung moralischer Normen nicht (mehr) erforderlich oder möglich sei, ist doch da-
von auszugehen, dass religiöse Überzeugungen für die Motivation moralischen Handelns nach wie vor eine
wichtige Rolle spielen. Im Kindes- und Jugendalter kommt es weniger auf komplexe philosophische Be-
gründungsmodelle der Ethik an als vielmehr auf eine gelebte Sittlichkeit, die immer auch eine Haltung oder
Einstellung gegenüber der Welt einschließt und insofern religiös oder weltanschaulich geprägt ist.
Diese pädagogischen Begründungen für Religionsunterricht stellen gleichsam die Quintessenz der Diskussion
in den letzten 50 Jahren dar. Angesichts der Herausforderungen durch die heutige Gegenwart ist deshalb zu
fragen, ob diese Begründungen noch tragen.
… aber tragen diese Gründe noch?
Ein pädagogisch begründeter Religionsunterricht ist nicht davon abhängig, wie weit der Einfluss von Kirchen
oder anderen Religionsgemeinschaften in der Gesellschaft reicht. Er ist vielmehr ein Recht des Kindes und der
Jugendlichen, die eine Begleitung bei ihrer Auseinandersetzung mit elementaren Lebensfragen brauchen.
Religion und religiöse Begleitung als Recht des Kindes konkretisieren sich vor allem in folgenden Fragen:
Was bedeutet für mich Tod und Sterben? (Die Frage nach dem Sinn des Ganzen): Die Frage nach Tod und
Sterben begegnet den Kindern ganz unausweichlich. Ein totes Tier, das sie auf der Straße finden, der Tod
eines Verwandten oder einer Freundin, die lebensbedrohliche Krankheit der Mutter oder des Vaters – all
dies sind Erfahrungen, mit denen sich Kinder und Jugendliche auseinandersetzen müssen. Und Kinder wol-
len auch wissen, wohin die Toten gehen, warum sie sterben mussten usw. Solche Fragen haben eine zu-
mindest potentiell religiöse Bedeutung.
Wer bin ich und wer darf ich sein? (Die Frage nach der eigenen Identität): Identitätsbildung ist angewiesen
auf die Anerkennung durch andere – zunächst durch Mutter und Vater, dann durch Erzieherinnen und Er-
zieher, Lehrer und Lehrerinnen, die Freundesgruppe usw. Die Suche nach Anerkennung geht aber hinaus
über alle Bestätigung, die andere Menschen geben können. In der Erfahrung des menschlichen Ich liegt die
Frage nach einem Gegenüber, das diesem Ich eine letzte, über alle endlichen Erfahrungen hinausweisende
Anerkennung schenken kann.
Warum moralisch sein? (Die Frage nach dem Grund der Moral): Auch säkular eingestellte Moralpsycholo-
gen wie L. Kohlberg, die etwa im Anschluss an I. Kant entschieden für eine nichtreligiös begründete Ethik
plädieren, haben erkannt, dass die Frage nach dem Grund der Moral letztlich auf den Bereich der Religion
verweist.
Was bedeutet die Vielfalt der Religionen? (Die Frage nach der Religion des anderen): Schon im Kindergar-
ten geraten Kinder manchmal in Streit darüber, welcher Gott besser sei – der christliche Gott oder Allah.
Sind das eigentlich verschiedene Götter, oder wird derselbe Gott nur verschieden bezeichnet? Haben alle
Religionen ein Stück weit recht oder sind am Ende alle gleichermaßen im Unrecht? Dazu kommt, dass die
Religion des Fremden wohl immer noch das Fremdeste an ihm ist. Auch wo Döner längst gerne akzeptiert
wird, können Minarett und Muezzin als höchst störend empfunden werden.
Was ist Gott? (Die Frage nach Gott): Auch Kinder, die im Elternhaus keine ausdrücklich religiöse Erziehung
erhalten, stoßen hierzulande früher oder später auf das Wort Gott. Sie wollen wissen, was dieses Wort be-
deutet - wer oder was Gott eigentlich ist. Jede bloß definitorische Erläuterung greift dann zu kurz. Schon
von ihrem Weltbild her wollen Kinder auch wissen, was es mit Gott wirklich auf sich hat.
Solche Fragen, die allesamt nach einer – zumindest potentiell – religiösen und religionspädagogischen Antwort
verlangen, gehören unvermeidlich zum Leben und Aufwachsen mit hinzu. Deshalb begründen sie ein Recht auf
Religion und religiöse Begleitung.
Eine multikulturelle und multireligiöse Situation, wie wir sie auch zunehmend in Deutschland finden, macht eine
solche religiöse Begleitung vielleicht schwieriger. Überflüssig macht sie die Begleitung aber nicht. Im Gegenteil:
Je größer die religiöse Pluralität, desto mehr ist auch eine religiöse Bildung erforderlich, die einen reflektierten
Umgang mit dieser Vielfalt ermöglicht. […]
Nur: Wird der herkömmliche konfessionelle Religionsunterricht dieser Aufgabe gerecht?
Wie wird der Religionsunterricht seiner Aufgabe gerecht?
Der Argumentation, wie ich sie bislang vorgetragen habe, werden wohl noch viele zu folgen bereit sein. Dissens
aber bricht auf, wenn es um die Frage eines konfessionellen oder durch die Religionsgemeinschaften mitbe-
stimmten Religionsunterrichts geht. Deshalb zunächst einige Überlegungen, die in dieser Frage weiterführen:
Persönliche Repräsentanz von Glaubensüberzeugungen: Die Auseinandersetzung mit der Gottesfrage rührt
immer auch an persönliche und persönlichste Fragen. Texte und andere Medien sind für sich allein nur be-
dingt geeignet, Gotteserfahrungen oder auch nur die existentielle Bedeutung der Gottesfrage angemessen
zu vergegenwärtigen. Die Begegnung zwischen einzelnen Menschen, die zu sich selbst und ihren Glau-
bensüberzeugungen stehen, die befragt und in Frage gestellt werden können, ist hier unerlässlich. Identifi-
71
zierbare Lehrerinnen und Lehrer sind deshalb gefragt – erkennbare Personen nicht zuletzt auch für die El-
tern, die ja zu wissen berechtigt sind, wem oder was ihre Kinder hier begegnen.
In Religion und besonders beim Thema Gott ist es nicht gleichgültig, was die Unterrichtenden denken und
glauben. Nicht tritt hier die Person hinter einer Sache der Logik zurück, wie dies sonst im Unterricht zum
Teil der Fall sein mag. Kinder und Jugendliche wollen wissen, ob etwas „dran“ ist an dem, was ihnen da be-
gegnet, ob es nur „für Kinder“ ist oder auch für Erwachsene, ob es bloß schöne Worte sind oder Grundla-
gen zum Leben. Niemand darf oder soll allerdings gezwungen werden, sich solchen Begegnungen auszu-
setzen. Deshalb gehört es zu den unabdingbaren Freiheitsrechten, aus einem solchen Unterricht aus- oder
gar nicht in ihn einzutreten.
An dieser Stelle wird das bleibende Dilemma des (pflichtmäßigen) Ethikunterrichts deutlich, auch wenn ein
solcher Unterricht heute unerlässlich ist: Weil dieser Unterricht ganz unvermeidlich den Bereich von Religi-
on und Weltanschauung berührt, ist er stets in der Gefahr, Religionsfreiheit und Toleranzgebot zu verletzen.
Hält er sich deshalb mit Stellungnahmen und persönlicher Identifizierbarkeit immer mehr zurück, wird er für
Kinder und Jugendliche langweilig und bedeutungslos. Geht er hingegen umgekehrt den Weg eigener Profi-
lierung und erlaubt entsprechend Austrittsmöglichkeiten (wie bei LER in Brandenburg), dann wird er viel-
leicht interessant, droht aber gegen das für den Staat bindende Neutralitätsgebot zu verstoßen.
Demokratie und Freiheit: Vielfach wird heute angenommen, eine Mitverantwortung von Kirchen und Religi-
onsgemeinschaften beim schulischen Religionsunterricht sei ein Übrigbleibsel aus vordemokratischen Zei-
ten. Einer freiheitlichen Demokratie werde ein allein vom Staat verantworteter Ethikunterricht mit religi-
onskundlichen Anteilen weit eher gerecht als das im Grundgesetz vorgesehene Modell.
Auch in meiner Sicht sollte die Spannung zwischen Neutralitätsgebot und ethischem Erziehungsauftrag
nicht zu einem Verzicht auf Ethikunterricht führen. Richtig bleibt aber doch, dass ein demokratischer Staat
alles tun muss, um Verletzungen seiner eigenen Neutralitätspflicht und damit seiner Integrität möglichst
auszuschließen oder wenigstens so gering wie nur möglich zu halten. Demokratisch vorzuziehen sind daher
– besonders im Umkreis unmittelbar religiöser Fragen – stets solche Lösungen, die dem Staat Entschei-
dungen ersparen, die seine Neutralität in Frage stellen. Dies ist etwa bei der lehrplanmäßigen Auswahl der
auf Religion bezogenen Themen der Fall und ähnlich auch bei der Frage, wer einen solchen Unterricht er-
teilen darf. Ein von den Religionsgemeinschaften mitverantworteter Religionsunterricht ist daher als die de-
mokratischere Lösung vorzuziehen.
Einsichten, die nur aus der Innenperspektive zu gewinnen sind: Wirkliches Kennenlernen und Verstehen
gelingt nur, wo religiöse Fragen in der ersten und zweiten Person angesprochen werden – wo „ich“ und „du“
gesagt und gehört werden kann. Religiöse Wahrheits- und Geltungsansprüche gewinnen nur dann Bil-
dungsbedeutung, wenn sie probeweise aufgenommen und manchmal – so das „Risiko“ allen echten Ver-
stehens – auch übernommen werden können. Ein solcher dialogischer Religionsunterricht, der Glaube und
Religion bewusst aus der Innenperspektive erschließt, geht notwendig über die Grenzen eines Unterrichts
hinaus, der allein staatlich verantwortet, auf ethische Fragen begrenzt und gar für alle verpflichtend sein
soll.
Für die Möglichkeit einer Erschließung von Religion und Glaube aus der Innenperspektive zu plädieren, be-
deutet allerdings keineswegs, dass der Religionsunterricht auf die Außenperspektive verzichten sollte. Im
Gegenteil: Der Wechsel von der Innen- zur Außenperspektive oder umgekehrt ist für eine religiöse Bildung
im Sinne persönlicher Mündigkeit und Verstehensfähigkeit unabdingbar.
Dies sind die Gründe, die m. E. auch in Zukunft für einen Religionsunterricht unter der Beteiligung der Religi-
onsgemeinschaften sprechen – nicht nur der christlichen Kirchen, sondern, unter bestimmten Voraussetzungen,
auch des Islam. Dass dies auch schulorganisatorisch, rechtlich und finanziell möglich ist, zeigen Länder wie
Österreich, Italien oder Belgien, in denen es seit langem eine größere Vielfalt religionsunterrichtlicher Angebote
gibt, als wir dies bislang in Deutschland für möglich hielten.
Bei alledem ist freilich festzuhalten, dass ein konfessioneller Religionsunterricht allein, besonders in seiner bis-
herigen Ausrichtung, den Aufgaben der Verständigung in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft
nicht voll gerecht wird. Auch wenn der konfessionelle Religionsunterricht, wie es in manchen katholischen Do-
kumenten heißt, „im Geist ökumenischer Offenheit“ erteilt werden soll, kann dies allein nicht mehr überzeugen.
Wenn Kinder oder Jugendliche mit anderer Konfessions- oder Religionszugehörigkeit in dieselbe Schule oder
sogar in dieselbe Klasse gehen, dann kann es nicht mehr einleuchten, über diese Konfessionen oder Religio-
nen nur in deren Abwesenheit zu sprechen.
Für die Zukunft kommt es deshalb darauf an, konsequent dem Anliegen der Zusammenarbeit, des Voneinan-
der- und Miteinander-Lernens, der Verständigung auch über Unterschiede hinweg, der Stärkung von Gemein-
samkeiten Raum zu geben – all dies freilich so, dass über Unterschiede in Konfession und Religion nicht hin-
weggegangen und diese Unterschiede auch nicht einfach verschwiegen werden müssten. Ziel einer Verständi-
gung in der multireligiösen Gesellschaft kann nicht eine homogene Kunstreligion sein, sondern eben nur der
Reichtum einer versöhnten Verschiedenheit und Vielfalt.
72
Allgemeine Leitfragen:
1. Wie steht der Verfasser zu Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes: „Der Religionsunterricht ist in den öffent-
lichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staat-
lichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religi-
onsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu
erteilen.“?
2. Welche Bedeutung kommt der Zusammensetzung der Gesellschaft für die Argumentation zu?
3. Wird schulischer Religionsunterricht theologisch und/oder pädagogisch begründet?
4. Welcher Stellenwert wird der christlichen Tradition im Religionsunterricht zugestanden?
5. Welche Rolle spielt kognitive Wissensvermittlung, welche der affektive Bereich persönlicher
Überzeugung?
Spezielle Hinweise und Fragen zur Erschließung des Textes:
Hinsichtlich der Religionsfreiheit sind zwei Aspekte zu unterscheiden: (1) Negative Religionsfreiheit meint
Freiheit von der Religionsausübung, d.h. niemand kann zur Religionsausübung gezwungen werden. Folg-
lich gibt es das Recht, sich vom schulischen Religionsunterricht abzumelden, andererseits darf kein Lehrer
verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen. (2) Positive Religionsfreiheit meint Freiheit zur Religi-
onsausübung. Diese wird im schulischen Religionsunterricht gewährleistet. – Die Notwendigkeit wie auch
die Problematik schulischen Religionsunterrichts ergibt sich durch die Forderung der weltanschaulichen
Neutralität des Staates – des Staates, der aber zugleich verpflichtet ist, Werte und damit auch Weltan-
schauung zu vermitteln.
Der Staat nimmt sein Aufsichtsrecht über den Religionsunterricht dadurch wahr, dass ReligionslehrerInnen
staatlich ausgebildet und examiniert werden. Zugleich werden die Lehrpläne und Unterrichtsinhalte eng mit
den Religionsgemeinschaften abgesprochen, und die Berechtigung zur Erteilung von Religionsunterricht in
Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften wird in den Evangelischen Landeskir-
chen durch die sog. kirchliche Vocatio (lat.: Berufung, Bevollmächtigung) erlangt.
Erläutern Sie Schweitzers Begründung des Religionsunterrichts von einem Recht des Kindes auf Religion
aus (dieses Schlagwort im Rückgriff auf den liberalen Religionspädagogen Richard Kabisch [Wie lehren wir
Religion?, 1910, 1ff])!
Schweitzer betont einerseits, „ein pädagogisch begründeter Religionsunterricht ist nicht davon abhängig,
wie weit der Einfluss von Kirchen oder anderen Religionsgemeinschaften in der Gesellschaft reicht“, erklärt
aber andererseits abschließend, „dass ein konfessioneller Religionsunterricht allein, besonders in seiner
bisherigen Ausrichtung, den Aufgaben der Verständigung in einer multikulturellen und multireligiösen Ge-
sellschaft nicht voll gerecht wird“. Wie verhalten sich beide Aussagen zueinander?
Schweitzer benennt an anderer Stelle einen konfessionell-kooperativen Religionsunterricht als zukunftswei-
send. Wie könnte dies konkret in der Unterrichtspraxis aussehen?
73
Allgemeiner Religionsunterricht
Stellungnahme des Landesschulbeirats zum Religionsunterricht in Hamburg vom 12. April 1999 (gekürzt)
Der Religionsunterricht ist ordentliches Unterrichtsfach an öffentlichen Schulen, seine Gestaltung erfolgt in
Absprache mit den Religionsgemeinschaften, so heißt es in Artikel 7 des Grundgesetzes der Bundesrepublik
Deutschland. Damit kommt dem Religionsunterricht an unseren Schulen eine besondere Bedeutung zu,
denn im Kanon möglicher Schulfächer ist dieses Fach als einziges grundgesetzlich garantiert.
Der in Hamburg vor etwa 25 Jahren gefundene Weg eines Religionsunterrichts für alle, d.h. die Aufgabe der
in anderen Bundesländern vollzogenen Trennung nach Konfessionen im Religionsunterricht, ist lange nicht
in Frage gestellt worden, Gespräche und Diskussionen über die inhaltliche Gestaltung waren eher den inne-
ren Zirkeln der Betroffenen vorbehalten geblieben. Seit einiger Zeit nun steht der Religionsunterricht wieder
stärker im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Folgende Gründe sind dafür wohl ausschlaggebend:
• Die Rückbesinnung auf religiös-weltanschauliche Fragen und auf eine Stärkung des ethisch-
moralischen Anteils schulischer Erziehung,
• die Einführung eines integrativen Fachs parallel zum Religionsunterricht in Brandenburg mit dem
Namen Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde (LER);
• das öffentlichkeitswirksame Urteil des Berliner Oberverwaltungsgerichtes vom November 1998, in
welchem der Islamischen Föderation das Recht auf die Erteilung von Islamkunde an den Schulen
zuerkannt worden ist.
Auf diesem Hintergrund hat der Landesschulbeirat sich in 3 Plenumssitzungen und in mehreren Arbeits-
gruppen-Sitzungen mit dem Thema „Religionsunterricht in Hamburg“ befasst und folgende Position bezogen.
In der heutigen, nicht zuletzt durch Multikulturalität und Multireligiosität geprägten Gesellschaft kommen dem
Religionsunterricht vor allem drei Aufgaben zu:
1. Die Vermittlungen von und Auseinandersetzung mit religiös-kulturgeschichtlichen Traditionen;
2. Die Stärkung der inter-religiösen Dialogbereitschaft und -fähigkeit:
3. Die Vorbereitung und Begleitung individueller Religiosität und/oder ethisch-moralischer Gesinnung.
1. Zur Vermittlung religiös-kulturgeschichtlicher Traditionen:
Religion ist ein konstitutiver Bestandteil unserer Geschichte und Kultur, unsere Wert- und Moralvorstellungen
sind nachhaltig durch Religion beeinflusst. Ohne das Wissen und ohne eine kritische Auseinandersetzung
mit diesen Traditions- und Kulturlinien, d.h. ohne die Vermittlung einer solchen spezifischen kulturellen Kom-
petenz, bleibt unsern Schülerinnen und Schülern ein gewichtiger Teil unserer Lebenswelt unerklärlich und
fremd. Die Aneignung dieser spezifischen Traditionslinien der Gesellschaft muss daher ein Bestandteil schu-
lischer Bildung sein.
Wenn auch dem Christentum, als Mehrheitsreligion in unserer Gesellschaft und dem kulturell wie geschicht-
lich wohl wirksamsten religiösen Kulturerbe, eine besondere Bedeutung im Religionsunterricht zukommen
muss, so ist es selbstverständlich, dass auch andere religiöse und ethische Traditionen Bestandteil dieses
Faches sein müssen. In einer pluralistischen Gesellschaft mit wachsenden Mobilitäts- und Migrationsbewe-
gungen gehören die Traditionen und Weltsichten der verschiedenen Religionen und Kulturen zum gemein-
samen Bildungsgut und müssen daher an alle Schülerinnen und Schüler der öffentlichen Schulen vermittelt
werden.
Dabei sollte der Lehrplan für alle Klassenstufen einen konkret zu benennenden Pflichtkanon benennen. Dar-
über hinaus sollte der Lehrplan fakultativ auszuweisende Bestandteile enthalten. Damit wird auch für andere
Unterrichtsfächer klar ersichtlich, was im Religionsunterricht an Vermittlungsarbeit und Erschließungskompe-
tenz von religionskulturellen Manifestationen und Zusammenhängen geleistet und als „Zuarbeit“ erbracht
wird.
Der Landesschulbeirat regt in diesem Zusammenhang zu der Überlegung an, ob die in diesem Bereich des
Religionsunterrichts erbrachten Schülerleistungen in die ansonsten in allen anderen Unterrichtsfächern übli-
chen Leistungsbewertungen mit einbezogen werden können.
2. Stärkung der inter-religiösen Dialogbereitschaft und -fähigkeit:
Religiöse und weltanschauliche Überzeugungen prägen moralisch-ethische Vorstellungen und beeinflussen
individuelle und gesellschaftlich wirksame Haltungen und Handlungsmuster. In zunehmendem Maße neh-
men wir wahr, dass religiöse Gruppen und Institutionen Einfluss nehmen auf politische Kontroversen und
politische Entscheidungsfelder. Alle im Rahmen unseres Grundgesetzes sich bewegende Positionen haben
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dabei in der demokratischen Gesellschaft, die Meinungs- und Religionsfreiheit garantiert, ihren legitimen
Ort zu finden. Die Fähigkeit des stetig neuen Aushandelns von Konsens ist dabei - und dies wird in Zukunft
an Bedeutung gewinnen - ein für unser Gemeinwesen zentrales Anliegen.
In der Auseinandersetzung mit verschiedenen religiösen Traditionen und Meinungen kann der Religionsun-
terricht dazu einen gewichtigen Beitrag leisten. Das Erlernen von Toleranz und Empathie für den Anderen
sind für eine solche Dialogfähigkeit eine wichtige Voraussetzung. Genauso wichtig aber ist es, eine eigene
Meinungs- und Urteilsfähigkeit zu erlangen, sich seiner eigenen Position in religiösen Fragen zu vergewis-
sern und diese im Dialog vertreten zu können.
3. Vorbereitung und Begleitung individueller Religiosität und/oder ethisch-moralischer Gesinnung:
Alle Kinder und Jugendlichen haben Fragen zu Gut und Böse, zu Glück und Leid, zu Gott und der Welt. Alle
Kinder und Jugendlichen brauchen Raum und Zeit für die eigene Sinnsuche, für Fragen nach Existenz und
Transzendenz und Zeit für sinnstiftende Antworten. Und nicht zuletzt: Jede Gesellschaft bedarf der Verge-
wisserung und Weitergabe ihrer ethisch-moralischen Grundwerte und Werthaltungen an die jeweils nachrü-
ckende Generation. Religionen bewahren jahrhundertealte Erkenntnisse und geben ihnen Form und Ritus.
Die Befriedigung religiöser Bedürfnisse läuft Gefahr, sich sonst in menschenfeindlichen Kulten und Über-
zeugungen Befriedigung zu verschaffen.
Für diese Aufgaben kann und muss der Religionsunterricht ein zentraler Ort schulischer Bildung sein. Bei
dieser Aufgabenbeschreibung wird deutlich, dass der Religionsunterricht sich nicht auf „neutrale“ und „objek-
tive“ Wissensvermittlung beschränken kann, sondern eine von den Individuen geprägte und von deren un-
terschiedlichen Positionen bestimmte Auseinandersetzung mit Themen zu bewerkstelligen hat. In diesem
Prozess kann es zu einer Vorbereitung und Begleitung der je individuellen Religiosität, des persönlichen
Glaubens bzw. der ethisch-moralischen Vorstellungen der einzelnen Schüler kommen. In einem solchen
Lernprozess wird sich auch der Lehrer nicht auf eine „objektive“ und „neutrale“ Haltung zurückziehen, son-
dern seine eigenen kulturellen und religiösen Positionen in das Gespräch mit einbringen.
Zur Organisationsform und Unterrichtswirklichkeit:
Bei der oben vollzogenen inhaltlichen Bestimmung des Religionsunterrichtes ist offensichtlich, dass ein sol-
cher Unterricht nicht als konfessionell getrennter Unterricht zu denken ist. Die angemessene, in Hamburg
schon gefundene Organisationsform für einen solchen Unterricht in der pluralistischen, d.h. nicht zuletzt
multireligiös und multikulturell geprägten Gesellschaft, ist der gemeinsame Religionsunterricht für alle Schü-
lerinnen und Schüler. Daher begrüßt und unterstützt der Landesschulbeirat auch die nachfolgend zitierten
Ziele des „Gesprächskreis Interreligiöser Religionsunterricht in Hamburg“, formuliert am 12.11.1998: „Ein
Religionsunterricht für alle“ ermöglicht den Kindern und Jugendlichen das Kennenlernen, das Verstehenler-
nen, das Einnehmen eines anderen Standpunkts, das vertiefte Begreifen des eigenen Standpunktes, das
Wiedererkennen des „Eigenen“ in dem „Anderen“. Es ermöglicht, der Vielfalt der Religionen mit Freude und
nicht mit Misstrauen zu begegnen. Die Erziehung zur Dialogfähigkeit ist ein wichtiger Pfeiler für die Entfal-
tung einer Identität, die der Herausforderung einer pluralistischen, multikulturellen Realität gewachsen ist:
Sie fördert die Möglichkeit eines friedlichen Miteinanders."
Nicht zuletzt gewährleistet diese Organisationsform auch, dass Schülerinnen und Schüler sich mit Traditio-
nen des Christentums auseinandersetzen können, deren Elternhäuser dazu Distanz wahren, bzw. die einer
anderen oder keiner Religion angehören. Allen Schülern hingegen bietet ein solcher Unterricht die Möglich-
keit, sich auch intensiv mit dem Islam, dem Judentum, dem Buddhismus und atheistischen Vorstellungen
auseinanderzusetzen. […]
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Allgemeine Leitfragen:
1. Wie steht der Verfasser zu Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes: „Der Religionsunterricht ist in den
öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet
des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen
der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religions-
unterricht zu erteilen.“?
2. Welche Bedeutung kommt der Zusammensetzung der Gesellschaft für die Argumentation zu?
3. Wird schulischer Religionsunterricht theologisch und/oder pädagogisch begründet?
4. Welcher Stellenwert wird der christlichen Tradition im Religionsunterricht zugestanden?
5. Welche Rolle spielt kognitive Wissensvermittlung, welche der affektive Bereich persönlicher
Überzeugung?
Spezielle Hinweise und Fragen zur Erschließung des Textes:
Vergleichen Sie den ersten Satz, der vorgibt, das Grundgesetz zu zitieren, mit dem tatsächlichen Wort-
laut von Art. 7,3 GG! Welche Tendenz wird erkennbar?
Der Ansatz bei den Fragen der SchülerInnen sowie die Betonung, dass die LehrerInnen sich nicht auf
ihre vermeintlich staatlich gebotene Neutralität zurückziehen können, verbinden diesen Text mit der Ar-
gumentation Friedrich Schweitzers. Wie aber kommt es zu der konträren Schlussfolgerung, „Bei der
oben vollzogenen inhaltlichen Bestimmung des Religionsunterrichtes ist offensichtlich, dass ein solcher
Unterricht nicht als konfessionell getrennter Unterricht zu denken ist. Die angemessene, in Hamburg
schon gefundene Organisationsform für einen solchen Unterricht in der pluralistischen, d.h. nicht zuletzt
multireligiös und multikulturell geprägten Gesellschaft, ist der gemeinsame Religionsunterricht für alle
Schülerinnen und Schüler.“?
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Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde
Auszug aus: Jürgen Lott, Wie hast du’s mit der Religion? Das neue Schulfach „Lebensgestaltung – Ethik – Religions-
kunde“ (LER) und die Werteerziehung in der Schule, Gütersloh 1998, 19.27f.115–117.190f.200
1. Konfessioneller Religionsunterricht – ein Anachronismus
Der Religionsunterricht ist das einzige Schulfach, das eine grundgesetzliche Absicherung als „ordentliches
Lehrfach“ genießt. Diese Regelung verpflichtet den Staat, Religionsunterricht anzubieten und ihn gegenüber
anderen Fächern nicht zu benachteiligen. Er wird landauf landab (mit wenigen Ausnahmen) konfessionell
getrennt bekenntnisgebunden als evangelischer und katholischer Religionsunterricht von staatlichen und
kirchlichen Lehrkräften erteilt. Obwohl auch Eltern bzw. Schülern anderer Religionsgemeinschaften das
Recht auf eine vergleichbare religiöse Unterweisung eingeräumt wird, findet ein solcher Religionsunterricht
bis heute in Deutschland kaum statt. […] Da ihnen ein Monopol auf Religionsunterricht fraglos zugebilligt
worden ist, haben die christlichen Großkirchen weder eine Kooperation untereinander noch mit anderen
Religionsgemeinschaften bisher für nötig erachtet. Wo wurden wichtige gesellschaftliche Entwicklungen in
der Bundesrepublik ignoriert und der Religionsunterricht in eine grundlegende bildungstheoretische und
schulpädagogische Legitimationskrise gebracht. […]
Drei zentrale Aspekte kennzeichnen das grundlegende Legitimationsproblem, das den herkömmlichen kon-
fessionellen Religionsunterricht als Anachronismus erscheinen läßt:
a) Christentum und Gesellschaft bilden in unserem Land keine Einheit mehr, erst recht nicht christliche
Kirchen und Gesellschaft. […] In der Bevölkerung haben die innerchristlichen Bekenntnisunterschiede
weitgehend an Bedeutung verloren. Mit der Entwicklung zu einem Einwanderungsland ist auch die Reli-
gionslandschaft in Deutschland vielfältiger geworden. Hinzu kommt, daß viele Zeitgenossen – und kei-
neswegs nur im Osten der Republik – Probleme mit dem Konzept von Religion überhaupt haben. […]
b) Parallel zu dieser Pluralisierung religiöser und weltanschaulicher Orientierung ist eine Individualisierung
von Lebenslagen und Lebensentwürfen festzustellen. […] Die Ausbildung von Wertorientierungen und
Lebensdeutungen ist weithin Privatsache geworden. Es erscheint zweifelhaft, ob die traditionellen Reli-
gionssysteme überhaupt in der Lage sind, in komplexen Gesellschaften wie der unseren allgemeinver-
bindliche Leitlinien zur Lebensorientierung bereitzustellen. Leistungen, die traditionell von der Religion
als sinnstiftendem System erbracht worden sind, können auch von anderen „Sinnproduzenten“ erbracht
werden wie z.B. Musik, Sport, Medien, Beziehungen.
c) Diese Pluralisierung und Individualisierung von Lebensstilen und Wertorientierungen konfrontieren die
Heranwachsenden mit sehr unterschiedlichen Anforderungen, Erwartungen und Normen in Familie,
Schule, Gleichaltrigengruppe und in den Medienwelten. Die Widersprüche und Spannungen, die sie da-
bei erleben, erweitern einerseits ihre individuellen Entfaltungsmöglichkeiten und gewähren ein gewisses
Maß an Autonomie. Andererseits bergen sie auch die Gefahr zunehmender „Außenleitung“ bzw. des
Eintauchens in wechselnde Moden und Trends. Diese Situation erfordert von Heranwachsenden schon
früh individuell zu erbringende und zu verantwortende Reflexionsleistungen, Wahlen und Entscheidun-
gen
[…]
4. Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde – das neue Schulfach in Brandenburg
Die Einführung des Schulfachs „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde“ (LER) im Land Brandenburg stellt
[…] die derzeit wohl umstrittenste pädagogische und schulpolitische Veränderung in Deutschland dar. Der
Name dieses neuen Fachs klingt vielleicht etwas umständlich, benennt aber durchaus programmatisch seine
Inhalte und Ziele. Im Gesetz über die Schulen im Land Brandenburg vom April 1996 heißt es zu den Aufga-
ben und Zielen von LER in § 11 Abs. 2 und 3:
Das Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde soll Schülerinnen und Schüler in besonderem Maß
darin unterstützen, ihr Leben selbstbestimmt und verantwortlich zu gestalten, und ihnen helfen, sich in
einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft mit ihren vielfältigen Wertvorstellungen und Sinn-
angeboten zunehmend eigenständig und urteilsfähig zu orientieren.
Und:
Das Fach dient der Vermittlung von Grundlagen für eine wertorientierte Lebensgestaltung, von Wissen
über Traditionen philosophischer Ethik und Grundsätzen ethischer Urteilsbildung sowie über Religionen
und Weltanschauungen.
Sowie:
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Das Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde wird bekenntnisfrei, religiös und weltanschaulich
neutral unterrichtet. Die Eltern werden über Ziele, Inhalte und Formen des Unterrichts in Lebensgestal-
tung-Ethik-Religionskunde rechtzeitig und umfassend informiert. Gegenüber der religiösen oder weltan-
schaulichen Gebundenheit von Schülerinnen und Schülern sind Offenheit und Toleranz zu wahren.
Die gemeinsame Nennung der drei Inhaltsbereiche Lebensgestaltung, Ethik und Religionskunde im Namen
des Fachs soll seinen besonderen integrativen Charakter verdeutlichen. Die drei Elemente Lebensgestal-
tung, Ethik und Religionskunde sollen nicht im Sinne getrennter Inhalts- oder Themenbereiche in diesem
Fach verhandelt werden, sondern so miteinander verbunden sein daß ausgehend von Fragen der Lebens-
gestaltung Aspekte ethischen Urteilens und Handelns sowie deren religiöse und weltanschauliche Dimensi-
on thematisiert wird. […]
Durch gemeinsames Lernen aller Schülerinnen und Schüler soll LER angesichts zunehmender Intoleranz
und Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft Verständnis und Toleranz für Fremdes sowie Dialogfähigkeit
fördern helfen. […]
LER will und muß – wie andere allgemeinbildende Fächer z. B. Geschichte, Deutsch, politische Bildung e-
benfalls – weltanschaulich neutral sein. Wie dort bedeutet auch in LER weltanschauliche Neutralität nicht,
daß weltanschauliche oder religiöse Positionen nicht vorgetragen oder erörtert werden dürften, ganz im Ge-
genteil: sowohl die LehrerInnen wie die SchülerInnen sollen diese zum Unterrichtsgegenstand machen, al-
lerdings als Positionen und Ansichten neben gleichberechtigten anderen. LER ist weltanschaulich neutral,
aber nicht wertneutral. Nicht die Beliebigkeit von Überzeugungen, Standpunkten und Anschauungen soll den
Unterricht bestimmen, sondern das Bildungsziel, Urteilsfähigkeit und begründete Wertorientierung zu entwi-
ckeln. […]
5. Wertebildung in der Schule von morgen – Perspektiven
[…] Im Unterschied zu einem „Religionsunterricht für alle“ nach Hamburger Konzept, der ein Fach der Reli-
gionsgemeinschaften darstellen soll, stellt LER ein allgemeinbildendes staatliches Schulfach dar. LER […]
soll den Schülerinnen und Schülern helfen, eigene Sinn- und Wertorientierungen zu finden, die innerhalb der
pluralen Struktur unserer demokratischen Gesellschaft Identität stiften und zu verantwortlichem Handeln
anleiten können, ohne dabei eine bestimmte religiöse oder weltanschauliche Tradition zu bevorzugen oder
gar normativ zu setzen. Dabei soll didaktisch gesichert werden, daß es sich nicht um bloße instruierende
Informationsveranstaltungen handelt […]. Der grundlegende lebensweltliche Bezug des Fachs („Lebensges-
taltung“) sowie die Urteilsfähigkeit einübende und auf Handlungsorientierung zielende Dimension („Ethik“)
sollen die selbständige Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler mit den großen religiösen und
weltanschaulichen Traditionssystemen und Lebensdeutungen und den ihnen innewohnenden Optionen für
gutes und gelingendes Leben („Religionskunde“) didaktisch steuern. Ziel ist nicht ein spezifisches religiöses
Vertrautwerden oder die Vermittlung spezieller Zugehörigkeitserfahrungen. Im Unterschied zum Religionsun-
terricht zielt LER auch nicht darauf, den Schülerinnen und Schülern „auf dem Weg der Erschließung ihrer
Gottesbeziehung“ [J. Hänle] zu helfen. Diese Aufgaben sollen den Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften
vorbehalten bleiben. Ziel des Unterrichtsfachs LER ist vielmehr das Kennenlernen und die Auseinanderset-
zung mit religiös-weltanschaulichen Positionen im Zusammenhang lebensgestalterischer Grundfragen und
ethischer Begründungs- und Handlungskonflikte. Auf der Ebene der Lehrenden läßt sich der Unterschied so
darstellen: Während von den Religionslehrerinnen und -lehrern in besonderer Weise die Kompetenz erwartet
wird, die Glaubenswelt einer religiösen Traditionslinie (in ihrer konfessionellen Gestalt) mit der Lebenswelt
der Schülerinnen und Schüler zu korrelieren, eine bestimmte religiös-konfessionelle Überlieferungslinie au-
thentisch zu repräsentieren und spirituelle „Hebammendienste“ im Zusammenhang der „Erschließung der
Gottesbeziehung“ [J. Hänle] zu leisten, wird von denjenigen, die LER unterrichten, eine Form von „Plurali-
tätskompetenz“ und „Differenzkompetenz“ (R.W. Henke) verlangt. Damit ist gemeint, daß sie sich in den
einschlägigen ideengeschichtlichen und religionsgeschichtlichen Entwicklungen auskennen und sie in ihren
aus jeweiligen kulturell-religiös erwachsenen Sinn- und Wertannahmen angemessen offen legen können.
[…]
[…] LER will kein Ersatz für Religionsunterricht sein. LER tritt nicht an die Stelle eines von den Kirchen oder
Religionsgemeinschaften verantworteten Religionsunterrichts. […] Der Name des Fachs „Lebensgestaltung-
Ethik-Religionskunde“ macht mit der Nennung von „Religionskunde“ deutlich, daß Religionen und religiöse
Bezüge hier unter allgemeinbildenden Aspekten eine Rolle spielen. Weder die eigene noch fremde Kulturen
noch die Entstehung der für das Zusammenleben zentralen Werte und Normen wären ohne religionskundli-
ches Grundwissen zu verstehen. Im pädagogischen Ansatz von LER findet außerdem der zentrale Aspekt
der Schulreform Beachtung, der sein Augenmerk nicht nur auf die reine Wissensvermittlung richtet, sondern
auch die sogenannten „soft skills“ wie Persönlichkeitsentwicklung (Selbstkompetenz) und soziale Kompetenz
ernst nimmt.
LER stellt zusammen mit „Religionsunterricht für alle“ die am weitesten ausgebildeten Alternativen bereit zur
völlig unbefriedigenden gegenwärtigen Situation mit konfessionellem Religionsunterricht und Ethik als Ersatz
für Konfessionsflüchtlinge und Religionslose. Einigkeit zwischen beiden Ansätzen besteht in der Überzeu-
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gung, daß die religiöse Dimension in der Gesellschaft und in den persönlichen Lebensgeschichten nicht
ausgeklammert werden darf, will Schule ihren Bildungsauftrag nicht verkürzt wahrnehmen. Dies spricht zu-
nächst einmal grundsätzlich für die Thematisierung von Religion in der Schule.
LER bezieht zusätzlich das Feld der den Religionsgemeinschaften gleichgestellten Weltanschauungs-
gemeinschaften mit ein. Sollte sich bewahrheiten, was zu vermuten ist, daß der vorgeschlagene „Religions-
unterricht für alle“ in interpretativer Fortschreibung der gängigen Auslegung von Art. 7.3 nicht die Zustim-
mung der Amtskirchen findet, ist der Staat seinerseits gefordert […], einen wertereflektierenden und wert-
erklärenden Unterricht für alle Schülerinnen und Schüler einzuführen. „Lebensgestaltung-Ethik-Religions-
kunde“ weist auch für andere Bundesländer den Weg.
Allgemeine Leitfragen:
1. Wie steht der Verfasser zu Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes: „Der Religionsunterricht ist in den
öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet
des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen
der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religions-
unterricht zu erteilen.“?
2. Welche Bedeutung kommt der Zusammensetzung der Gesellschaft für die Argumentation zu?
3. Wird schulischer Religionsunterricht theologisch und/oder pädagogisch begründet?
4. Welcher Stellenwert wird der christlichen Tradition im Religionsunterricht zugestanden?
5. Welche Rolle spielt kognitive Wissensvermittlung, welche der affektive Bereich persönlicher
Überzeugung?
Spezielle Hinweise und Fragen zur Erschließung des Textes:
Was meint Lott genau mit der Aussage, beim konfessionellen Religionsunterricht handle es sich um
einen Anachronismus?
In der Tat: Art. 7,3 GG übernimmt fast wörtlich eine entsprechende Bestimmung aus Artikel 149 der Wei-
marer Reichsverfassung von 1919. Andererseits wurde bereits damals in der öffentlichen (religions-)pä-
dagogischen Debatte darüber diskutiert, ob kirchlich verantworteter Religionsunterricht in der öffentli-
chen Schule (noch) angemessen ist, wie aus Formulierungen aus dem Jahre 1922 bei Friedrich Nieber-
gall (Der neue Religionsunterricht, 7ff.35ff) ersichtlich wird.
Welchen Stellenwert hat wohl angesichts der massiven Kritik am traditionellen Religionsunterricht die
Aussage, LER wolle kein Ersatz für Religionsunterricht sein bzw. diesen verdrängen?
Legen Sie den von Lott ins Spiel gebrachten Unterschied von weltanschaulicher Neutralität und Wert-
neutralität dar!
Worin genau bestehen nach Lott grundlegende Unterschiede zwischen LER und konfessionellem Religi-
onsunterricht einerseits sowie zwischen LER und allgemeinem Religionsunterricht nach Hamburger Mo-
dell andererseits? In der Organisationsform? In den Inhalten? In den Lernzielen? In der Methodik?
Würde Lotts Kritik am konfessionellen Religionsunterricht auch die Argumentation Friedrich Schweitzers
treffen?