dublin iii - hinterland magazin · rokratischen verteilsystem, das dublin-iii-verordnung heißt. es...
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# 29/2015 4,50 euro
Dublin IIIISSN
1863-1
134
Hinterland #29Juni, Juli, August 2015
IMPRESSUM
Titel: Matthias Weinzierl
Herausgeber:Bayerischer Flüchtlingsrat Augsburgerstraße 13 80337 MünchenVerantwortlich: Matthias WeinzierlRedaktion: Agnes Andrae, Andrea Böttcher,Christian Steinmüller, Doro Chlumsky, ElenaStingl, Friedrich C. Burschel, Florian Feichtmeier,Jessica Schallock, Katalin Kuse, MarianneWalther, Niko Schreiter, Sophie Elixhauser,Stephan Dünnwald
Namentlich gekennzeichnete Beiträge müssen nichtunbedingt die Meinung der Redaktion wiedergeben.
Kontakt: [email protected]: Matthias WeinzierlDruck: Ulenspiegel Druck GmbH & Co. KG Birkenstraße 3, 82346 AndechsAuflage: 3.000 StückWebsite: Anton KaunAnzeigen: [email protected]: 21,00 EuroAbo-Bestellung: [email protected]
www.hinterland-magazin.de
gefördert von der UNO-Flüchtlingshilfe
Eigentumsvorbehalt:Diese Zeitschrift ist solange Eigentum des Absenders, bissie dem Gefangenen persönlich ausgehändigt worden ist.Zur-Habe-Nahme ist keine persönliche Aushändigung imSinne des Vorbehalts. Wird die Zeitschrift dem Gefange-nen nicht ausgehändigt, so ist sie dem Absender mit demGrund der Nichtaushändigung in Form eines rechtsmit-telfähigen Bescheides zurückzusenden.
Das Magazinfür kein ruhiges.
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Zitiert & kommentiertVon Hubert Heinhold
m a z e d o n i e n
5
Sicher? Sicher nicht!Eine Fotostrecke über die Diskriminierung
der Roma in Mazedonien
Von Allegra Schneider
d u b l i n d r e i
13
Fakten, Dublin, FaktenFehler im System: Die Dublin-Gleichung geht
nicht auf. Beweise in Zahlen
Von Thomas Hohlfeld
20
Bulgarien: Wo Flüchtlingsschutz nur ein Stück Papier istDie Erlebnisse der jungen Mezgin Osman
Von Tobias Klaus
21
Geld lässt sich besser verschieben als Menschen
Über die geschichtliche Entwicklung von
Dublin I bis Dublin III
Von Maren Leifker
24
Dublin ist tot – Es lebe Dublin!Ein System und seine Prinzipien stecken in der
Krise. Deutschland hält trotzdem daran fest
Von Sebastian Muy
27
Italien: Anerkannt und obdachlosHooda, Mahamed und ihre Kinder auf einer
Odyssee durch Europa
Von Tobias Klaus
29
Mit Recht gegen RechtÜber das Zusammenspiel im Kampf gegen Dublin
Von Maximilian Pichl und Adrian Oeser
32
Der Göttinger WiderstandVon der Blockade zur Protestbewegung
Vom Göttinger Bündnis gegen Abschiebungen
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Dublin: Ein System in der KriseEins, zwei, drei – wohin soll die Reise gehen?
Von Aida Ibrahim und Bernd Kasparek
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Destination EUhopeAuf den Spuren von Bootsflüchtlingen
Eine Fotostrecke von Sil Egger – kommentiert
von Jessica Schallock
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Ungarn: Staatlich geförderter RassismusEin Interview mit Marc Speer von Agnes Andrae
54
Notfallquote kratzt an DublinÜber einen Verbesserungsvorschlag,
der gar keiner ist. Oder doch?
Von Ska Keller
57
StillstandHassan und Mohammed aus Syrien stecken
fest. Schuld ist das Dublin-System
Von Sebastian Muy
60
Samuels ReiseKirchenasyl als die letzte Hoffnung
eines Kindersoldaten
Von Birgit Neufert und Nils Baudisch
63
Obdach in der KircheDie evangelische Gemeinde in Immenstadt
gewährt Alia aus Syrien Asyl
Von Christian Steinmüller
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„A Land of Transit“Dokumentarfilmer Paolo Martino gibt Einblicke
in das Leben von Flüchtlingen in Italien.
Ein Interview von Anna-Katinka Neetzke Svensson
71
Polen: Inhaftierung statt SchutzÜber die Zustände in Deutschlands Dublin-III-
Überstellungsland Nr. 1
Von Heiner Thiele
a u f d e r f l u c h t
75
„Fahr weiter! Nicht zurück!“Amir, Student aus Damaskus, berichtet über
seine Fluchterlebnisse.
Übersetzt und aufgeschrieben von Clara Taxis.
a n s e h e n
80
Heimat kann man teilenDer Film „Das Golddorf“
Eine Rezension von Anna Steinbauer
l a g e r l a n d
82
Das Humanitäre AusnahmeprogrammLager Friedland und das Greenwashing des
europäischen Asylsystems
Von Matthias Fiedler und Lee Hielscher
3
Editorial
Liebe Leute,
EU Gipfel am 26. Juni 2015: Nach einer langen un-
einigen Debatte beschließt die EU eine Umverteilung
von 60 000 Geflüchteten. Auf freiwilliger Basis,
denn verbindliche Regelungen ließen sich nicht
durchsetzen. Nun wird weiterverhandelt, welches
Land denn nun wie viele Flüchtlinge aufnehmen
kann und soll. Und es zeigt sich ein ums andere
Mal: die europäische Hilfsbereitschaft hält sich in
Grenzen. Da wird schon ausgiebig argumentiert,
um ja nicht zu viele Geflüchtete aufzunehmen. Neu
ist dieses Phänomen freilich nicht: Schon seit län-
gerem kennt die EU ausgefeilte bürokratische Rege-
lungen, anhand derer sich hilfesuchende Geflüch-
tete nach dem Gutdünken einiger Mitgliedstaaten -
mit dem Ziel: „Alle anderen zuerst“ - verteilen las-
sen müssen.
Grund genug für das Hinterland Magazin, sich aus
aktuellem Anlass nochmal den Klassiker unter den
EU Verordnungen im Bereich Verteilung vertiefend
zu widmen: der Dublin Verordnung, auch in der
29-seitigen Neufassung mit dem glanzvollen Unter-
titel: „Zur Festlegung der Kriterien und Verfahren
zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prü-
fung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder
Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten An-
trags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neu-
fassung)“.
Mittlerweile sind wir also schon bei Dublin III an-
gekommen. Doch kann das für anhaltenden Ver-
teilungserfolg sprechen? Wohl kaum. Die Autoren
und Autorinnen dieser Ausgabe haben die „Her-
umschiebeverordnung“ deshalb nochmal genau
unter die Lupe genommen: Von der geschichtlichen
Entwicklung bis zur Unmöglichkeit ihrer Durch-
führung. Von Bulgarien bis Schweden. Von Kir-
chenasyl bis zum Lager Friedland.
Und herausgekommen ist vor allem eines: Das bü-
rokratische Herumgeschiebe von Geflüchteten
macht weder menschlich noch politisch einen Sinn.
Sollte man sich da nicht mal was Neues ausdenken?
Mut hingegen machen die vielfältigen – oft erfolg -
reichen – Aktivitäten gegen Dublin-Abschiebungen.
Viele sind auf der Kampagnenseite „Wir treten-
ein.de von Pro Asyl dokumentiert und jetzt auch
in den Seitenspalten dieses Heftes.
Und - tatarataa: Wir haben den alternativen
Medienpreis bekommen. Vielen Dank. Er wurde be-
reits ausgiebig gefeiert und wir sind hochmotiviert
für die nächsten 29 Ausgaben.
Und Dank auch an alle, die das Hinterland-Maga-
zin so regelmäßig lesen.
Eure Preisträger und Preisträgerinnen von der Hinterland
z i t i e r t & k o m m e n t i e r t
Hubert Heinhold ist Rechtsanwalt
und im Vorstand
des Fördervereins
Bayerischer
Flüchtlingsrat e.V.
und bei Pro Asyl.
4
Nicht nur in Griechenland, sondern auch inItalien, Ungarn, Bulgarien und vielen anderenUnionsstaaten wird die Menschenwürde der
Flüchtlinge täglich verletzt. Viele werden inhaftiert, an-dere leben in Massenunterkünften ohne ausreichendemedizinische Versorgung und Betreuung. Familien wer-den getrennt. Manche werden nach einem Schnellver-fahren auf die Straße gesetzt und sich selbst überlassen.Rassistische Übergriffe sind nicht selten. Bildungs- undSprachangebote fehlen. Sie sind Nummern in einem bü-rokratischen Verteilsystem, das Dublin-III-Verordnungheißt.
Es ist gescheitert. Das zeigen die jüngsten Zahlen. Imersten Quartal 2015 wurden 75.034 Asylanträge inDeutschland gestellt. In 12.152 Fällen wurde an einenanderen EU-Staat ein Übernahmeersuchen gestellt, in8.455 Fällen wurde dem Ersuchen zugestimmt, 7.010Dublin-Entscheidungen wurden erlassen. Ganze 974wurden dann überstellt. In den vorangegangenen Quar-talen waren die Zahlen nur geringfügig höher.
Um 1,298 % der 75.000 Asylantragstellenden nach Ita-lien oder Bulgarien oder einen anderen Unionsstaatüberstellen zu können, beschäftigen sich Heerscharenvon Bürokratinnen und Bürokraten in den jeweiligenUnionsstaaten mit dem Austausch von Informationen,der Prüfung und dem Erlass von Zuständigkeits-Be-scheiden und Richterinnen und Richter mit der Über-prüfung derselben. Die eigentliche Arbeit, die Ent-scheidung über den Asylantrag, bleibt auf der Strecke.Dublin-Verfahren werden prioritär entschieden.
Was soll der Unsinn? Jeder weiß, dass die Menschensich dem nur bedingt beugen. Viele wagen einen zwei-ten oder dritten Versuch, manchmal unter anderer Iden-tität, oder vertrauen auf ihr Glück. Andere versuchenunter Berufung auf Krankheiten, familiäre Beziehungen
oder sonstige Gründe den Aufenthalt in dem Land zuerzwingen, in dem sie für sich Zukunftschancen er-blicken. Nicht selten wird das Minimalziel einesvorüber gehenden Aufenthaltes in Deutschland erreicht.Der Einwand, der Staat könne sich dieser Widersetz-lichkeit nicht beugen, trägt nicht. Denn die Staaten derEuropäischen Union sind selbst Schuld daran, dass dasDublin-System nicht akzeptiert wird – genauso wenigwie jetzt diskutierte Quotensysteme künftig akzeptiertwerden. Einzig vernünftig ist es, dem Streben der Men-schen „nach Glück und Freiheit“, wie dies die Unab-hängigkeitserklärung der Vereinten Staaten von Ame-rika von 1776 formuliert hat, dadurch Rechnung zu tra-gen, dass die freie Wahl des Zufluchtslandes ebensoeingeräumt wird, wie das Recht auf Freizügigkeit nacheiner Anerkennung. Denn eine Zuständigkeitsregelungist nur dann akzeptabel, wenn die getroffene Entschei-dung auch im gesamten jeweiligen Bereich gilt. Wennmir das BGB vorschreibt, dass ich meine Geldforderungin Hamburg einklagen muss, aber das Urteil dann nichtin München gilt, wo der Schuldner sein Vermögen hat,werde ich nicht in Hamburg prozessieren. Wenn, wiebeim Dublin-System – die positiven Entscheidungen Ita-liens, Bulgariens und anderer Staaten nur für dort Gül-tigkeit haben, dem Flüchtling aber nicht die Chance ein-räumen, in Deutschland oder in Frankreich zu arbei-ten und dort mit den Familienangehörigen und Freun-den zu leben, wird die Zwangszuweisung für die mei-sten unakzeptabel.
Dass die wohlhabenden Länder wie Deutschland stär-ker belastet sein werden, liegt auf der Hand. Aus-gleichszahlungen zwischen den Staaten können deshalbsinnvoll sein. Und vielleicht führt ein solches System so-gar zu einem Wettbewerb um Flüchtlinge, die ja auchArbeitskräfte sind und dann zu besseren Aufnahmebe-dingungen und zur Achtung ihrer Menschenrechte.<
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“
(Art. 1 EU-Grundrechte-Charta)
„Wenn die Flüchtlinge nicht mehr individuelle Fälle, sondern… ein Massenphänomendarstellen, (haben) diese Organisationen wie die einzelnen Staaten trotz ihrer feier-
lichen Anrufungen der ‚heiligen und unveräußerlichen‘ Menschenrechte sich nicht nurals gänzlich unfähig erwiesen … das Problem zu lösen, sondern überhaupt in ange-
messener Weise mit ihm umzugehen“
(Giorgio Agamben, homo sacer)
5
m a z e d o n i e n
Dazwischen liegen Welten
Immer mehr Flüchtlinge aus Mazedonien werden derzeit zurück in den südosteuropäischen Staatabgeschoben. Hintergrund ist dessen Einstufung als „sicherer Herkunftsstaat“. Doch vor allem für Roma istes in Mazedonien alles andere als „sicher“. Eine Fotostrecke von Marc Millies und Allegra Schneider. Beidesind Teil einer Recherchegruppe, die im März dieses Jahres nach Skopje reiste.
m a z e d o n i e n
Stip. Küche undWohnzimmer.Hier wohnen Bruder
und Vater von Sermina,
die mit ihren vier
Töchtern in Hamburg
lebt – von Abschiebung
bedroht. Bewohnt wird
ein Raum, in dem alles
stattfindet. Ein Bad
oder fließend Wasser in
der Toilette gibt es
nicht.
Größte Roma-MahalaIn der mazedonischen
Hauptstadt Skopje: Šuto
Orizari, genannt Šutka,
größte Roma-Mahala
der Welt. Die einzige
Gemeinde, in der Roma
in der Mehrheit sind.
Offiziell werden 20.736
Roma in Šutka gezählt.
Schätzungsweise leben
hier aber 40.000 Roma,
viele ohne Papiere.
Wissenswert: Die letzte
Volkszählung im Jahr
2011 wurde nach
vielen Konflikten
abgebrochen. In Šutka
gibt es ganz unter-
schiedliche Standards.
Mach hier ein Foto, sagt
ein Freund: „Die Frau
hat ihr Wasser vorm
Haus.“
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m a z e d o n i e n
Stip. AbgehängtDie Roma leben auf
dem Hügel, ohne an
das sanitäre Netz oder
an das Verkehrsnetz
ange schlossen zu sein.
Das Pferd sichert den
Lebensunterhalt, der
durch das Sammeln
von allen möglichen
Materialien bestritten
werden muss.
Stip. Fotos derTöchter. Serminas Mann Cengiz,
aufgewachsen in
Hamburg, wurde im
Sommer 2014 abge -
schoben und lebt in
Stip. Wobei „überlebt“
der bessere Ausdruck
wäre: Der Pass ist
markiert, der Zugang
zum sozialen
Versorgungsnetz oder
zu Jobs für ein Jahr
verschlossen. „Ich
existiere nicht, in dieser
Zeit hier“, sagt Cengiz,
der sein Häuschen
verkauft hat, um seiner
Frau und seinen
Töchtern die Fahrt
nach Deutschland zu
finanzieren.
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m a z e d o n i e n
In Stip. „Wenn wir unten rum
laufen, dann werden
wir innerhalb einer
Stunde kontrolliert.
Warum? Nur wegen
unserer Haut, also weil
wir Roma sind. Wir
haben nicht genug zum
Leben. Man gibt uns
nichts zum Leben oder
um uns zu entwickeln.
Unsere Kinder können
zur Schule gehen, ja,
aber wie? Wie soll ich
Klamotten kaufen,
wenn ich den Kindern
noch nicht mal zehn
Dinar für das Essen in
der Schule geben
kann?“ (Cengiz)
Living apartŠuto Orizari. In Skopje
gibt es kaum heterogene
Stadtteile. Entsprechend
sind die Schulen und
Klassen, die Geschäfte
und Produkte sowie die
Jobs und das Tun von
einer gewissen ethni -
schen Abgeschlossenheit
geprägt. Der Rassismus
schwelt. Liegt es an der
Qualifikation oder Bil -
dung? Kinder, die der
Roma-Community zu -
ge ordnet werden, wer -
den oft unberechtigt
auf Sonderschulen für
geistig Behinderte
geschickt oder in
homogenen Klassen
unterrichtet.
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m a z e d o n i e n
Geisterroma1999 sind in wenigen
Tagen mehrere
hunderttausend
Flüchtlinge aus dem
Kosovo nach
Mazedonien gegangen,
die meisten von ihnen
Roma, viele blieben in
der Hauptstadt. Bis
heute leben manche
von ihnen nicht
registriert und mit
unsicherem Aufenthalt
in Šuto Orizari, einem
von zehn Stadtteilen
Skopjes. Zynisch mutet
es an, wenn die
Kosovoflüchtlinge
Geisterroma genannt
werden. Sie werden
Geisterroma genannt,
weil nach 16 Jahren ihr
Zustand immer noch
ungeklärt ist. Spätestens
im Gespräch mit dieser
Frau, die ohne Zugang
zur Sozialversicherung
ihre Enkelinnen
irgendwie durchbrin-
gen muss, wird
deutlich, warum in
Šutka Paläste und
Hütten aneinander
lehnen.
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m a z e d o n i e n
KoljoZufällig treffen wir den
Schauspieler Bajram
Severdžan, genannt
Koljo, bekannt aus
Kusturicas Filmen
(Schwarze Katze,
weißer Kater) in
Topane, dem zweiten
mehrheitlich von Roma
bewohnten Bezirk
Skopjes. Als wir ihn um
eine Einschätzung der
Lebenssituation der
Roma aus seiner
Perspektive bitten,
erzählt er uns, dass nur
die Roma selbst ihre
Situation positiv
verändern können,
zum Beispiel indem sie
den Weg der Bildung
gehen. Das heißt, die
Schule zu besuchen
trotz aller Diskriminie-
rung und sich ent -
schließen, auch die
Berufe zu ergreifen, die
bisher von kaum bis
gar keinen Roma aus -
geübt werden, aber
notwendig wären. Die
Politik kümmert sich
nicht darum, Anreize
oder Perspektiven zu
schaffen, um den Weg
dahin zu erleichtern,
der für viele Roma
ohnehin ungleich
schwerer ist als für
Angehörige der
Mehrheitsgesellschaft.
Bildung und Abschlüsse
allein helfen nicht,
wenn anschließend
kein Zugang zum
Arbeitsmarkt besteht. Er
erzählt uns von einer
Schauspiel-Kollegin, die
an der Grenze zu -
rückgeschickt wurde
wie viele andere Roma
auch.
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Fotos: Allegra Schneider & Jean Philipp Baeck
In Mazedonien ist das öffentliche Miteinandervornehmlich von den Beziehungen und ihrenStörungen zwischen der mazedonischen und der
albanischen Bevölkerungsgruppe geprägt. Trotz desAbkommens von Ohrid (2001), in dem die gesell -schaftliche Gleichbehandlung der albanischenMinderheit und ihre angemessene Repräsentanz inPolitik und Verwaltung festgeschrieben ist, konntendie sozialen Konflikte nicht überwunden werden.Mazedonische und albanische Menschen leben heutenoch immer weit voneinander entfernt.
Schon die Hauptstadt ist ethnisch aufgeteilt. Auf dereinen Seite der Varda, dem Fluss der Skopje teilt,wird der Bauboom nicht müde zu boomen. Hiermöchte die Mehrheit der Bevölkerung wohnen undhier befindet sich auch ‚Skopje 2014’, wo Theater,Statuen, Hotels und schicke Hochhäuser als Zeichen„einer einheitlichen nationalen Kultur, Ethnie,Religion und Sprache - und zwar der der orthodoxenSlawomazedoner und Slawomazedonerinnen“wachsen.
Die Altstadt jedoch, auf der anderen, der albanischenSeite, bleibt alt. Authentisch und pittoresk, heißt es inReiseführern. Bewusst vernachlässigt, so nennen esdie Bewohner und Bewohnerinnen. Weiter oben, aufund neben dem Hügel, dort in Šuto Orizari (Shutka)oder Topaana, leben die Familien, die mehrheitlichAngehörige der Roma-Minderheit sind: Ausgeklam-mert, abgekoppelt und segregiert.
In einem Land mit sich leerenden Provinzen undeiner wachsenden Hauptstadt, in der bereits über600.000 der zwei Millionen Einwohnenden Maze-doniens leben, wird an der Konstruktion einer neuen,Minderheiten ausgrenzenden, nationalen Legendegearbeitet. Diese von gezielten Infrastrukturmaßnah-men begleitete Konstruktion schließt bewusst Lebens -bereiche und -orte der Roma aus: Geschichtsschrei-bung für die Zukunft in Mazedonien, das ist für vielevor allem ein riesiges Bau- und Investitionsprojekt.
„It’s not a prison but it’s like a prison“
Eine der aktuell von Flüchtenden genommenenRouten führt durch Mazedonien. Zu Fuß folgen sievor allem den Gleisen der Bahnstrecke Thessa-loniki—Belgrad—Budapest. Abschnittsweise gibt esauf der Strecke, wenn ein Zug kommt, kein Auswei -chen. Angaben darüber sind schwer zu finden – aberim April 2015 sind mindestens 26 Menschen andiesen Stellen ums Leben gekommen. Die Zahlensteigen beständig, auch die der Festgenommen durchdie Polizei. Nur einmal fanden wir während derReisevorbereitung einen Bericht über die Zustände inGazi Baba. In der Zeit unseres Aufenthalts erreichenuns Aufrufe von internationalen Menschenrechtsor-ganisationen, die die Zustände im Asylgefängnisbesorgt kritisieren und so beschließen wir, dieBerichte vor Ort zu untersuchen. Wir werden nichteingelassen. »It’s not a prison but it’s like a prison«,sagt uns der Diensthabende an der Tür.
Noch schlimmer ist die Situation der etwa 1.000Roma-Geflüchteten aus dem Kosovo, die immer nochnicht in ihre etwa 80 Kilometer weit entfernte Heimatzurück dürfen. 1999 sind in wenigen Tagen mehrerehunderttausend aus dem Kosovo nach Mazedoniengeflohen, die meisten von ihnen Roma, viele bliebenin der Hauptstadt. Zynisch mutet es an, wenn diegeflüchteten aus dem Kosovo Geisterroma genanntwerden.
Lebenswelten?
Wir sahen unzumutbare Lebensverhältnisse in denMahalas: Roma können oft ihre Häuser nicht registri-eren, haben keinen Strom und kein fließendesWasser. Häufig wird die medizinische Versorgung inKrankenhäusern verweigert, wenn sie nicht genügendGeld für Behandlungen im voraus hinlegen oder fürMedikamente haben.
m a z e d o n i e n
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… Dazwischen liegen Welten
Wir erfahren von Übergriffen durch die Polizei.Voislav Stojanovski vom Helsinki Komitee berichtetvon Hatecrimes, zeigt ein beeindruckendes Mappingder Vorfälle. Beklemmend sind die Reaktionen aufInterviewanfragen. Viele Roma reden off the recordmit uns, mögen die Kameras nicht und mögen auchkeine öffentlichen Statements geben. Weniger Angstvor etwas, eher eingeschüchtert von etwas beschreibtdiese Haltung. Nicht nur von der mazedonischenMehrheit oder der albanischen Minderheit-Mehrheit,auch von den eigenen Leuten.
Schwelender Rassismus. Alltäglicher Rassismus
In die Zeit unseres Aufenthalts fällt eine Veröf-fentlichung von „Informations-Bomben“ der Opposi-tionspartei, der ein Telefongespräch zugespielt wurde:Ein kleiner Skandal, der sich in den folgendenWochen multipliziert. Veröffentlicht wird einGesprächsmitschnitt, der nicht nur Vorwürfe derWahlfälschung untermauert, sondern den schwelen-den Rassismus gegen die Minderheit der Roma imLand belegt. Die Innenministerin Gordana Januloskabeschimpft im Zusammenhang mit der Wahl, dieRoma als „Zigeuner“. Wörtlich sagte sie: Sie würde„Zigeuner für Zigeuner an den Ohren rausziehen“ –ein Satz, der im Zusammenhang mit dem Vorwurfsteht, dass zur Wahl Menschen aus den ländlichenGebieten Mazedoniens mit gefälschten Ausweisen zurerneuten Wahl in die Hauptstadt Skopje geschicktworden sein sollen. Es steht die Drohung im Raum,Menschen die Sozialhilfe zu streichen, wenn sie nichtfür die Regierung stimmten.
Mehrere politische Roma-Parteien, die u.a. an derRegierung beteiligt sind, Minister, in deren Aufgaben-bereich (Portfolio) Angelegenheiten der Roma fallenund Bezirksbürgermeister, die der Roma-Minderheitangehören stehen beispielhaft für eine möglichePartizipation an gesellschaftlichen und politischenProzessen. Segregation verhindern können sie nicht.Strukturellen Rassismus vermeiden scheint ihnennicht möglich. Praktische Hilfe anzubieten, ist sichereine Option. Wenn wir uns aber fragen, ob dadurchdie gewalttätigen Ausschreitungen der Polizei oderdie strukturelle und institutionelle Diskriminierungder Roma vermieden wurde oder gar zukünftigvermieden werden kann, dann müsste die Antwortlauten: Nein.
Es war gegen halb neun Uhr abends. In Skopje imMärz diesen Jahres, als Herr O. in einem Restaurantden Teilnehmenden unserer Recherchegruppe vonseinem Arbeitstag erzählte. Als Rom und als Mitar-beiter im Ressort des für Roma-Angelegenheitenzuständigen Ministers hatte ihn die am selben Tagveröffentlichte Aussage der Innenministerin so sehrbewegt, dass er mit den Tränen rang. „Cigan“(„Zigeuner”) hat sie uns, hat sie mich genannt. Undan den Ohren will sie mich irgendwohin ziehen. Wiejemanden, der ungehorsam war.“
Diese zweifache Herabsetzung, dieser Rassismus. Wiekann jemand in dieser Regierung oder mit dieserRegierung etwas verändern, werden wir gefragt. Undwie lässt sich vermeiden, dass nicht auch er kontrol-liert, ethnisch identifiziert, verhaftet und/oder von derPolizei misshandelt wird. Er ist ein Rom. Auch darumhat er seinen Job bekommen. Er arbeitet im ‚Skopje2014’ und fühlt sich heute Abend doch meilenweitdavon entfernt.<
m a z e d o n i e n
Marc Milliesarbeitet beim
Flüchtlingsrat und
bei Refugio in
Bremen.
Allegra Schneiderist Fotografin und
war in den letzten
Jahren in Serbien,
Kosovo und Maze -
donien.
Beide sind Teil einer
internationalen
Gruppe, die Lang -
zeit recherchen zur
Situation von abge -
schobenen Roma
veröffentlicht und
waren im März
2015 in Mazedo-
nien.
Die Fotos sind im
Rahmen dieser
Recherche-Reise
entstanden und
stammen von
Allegra Schneiderund teilweise von
Jean Philipp Baeck
12
Der Menschenrechtskommissar des Europarats,Nils Muiznieks, forderte Anfang Mai Deutsch-land auf, eine Vorreiterrolle bei der Abschaf-
fung des Dublin-Systems einzunehmen. Dublin seiein „kaputtes System, das künstlich am Lebengehalten wird“. Erforderlich sei ein Mechanismus, derauf dem Prinzip der Menschenrechte und echterSolidarität zwischen den Mitgliedstaaten basiere.Nahe zu zeitgleich begrüßte BundesinnenministerThomas De Maizière die Vorschläge der EU-Kommis-sion zur Verteilung bestimmter Asylsuchenderinnerhalb der EU. Es sei erfreulich, so De Maiziére,dass die Kommission nun aufgegriffen habe, wofür er
sich gemeinsam mit einigen Amtskollegen ausanderen EU-Staaten schon länger eingesetzt habe,hieß es in einer Meldung. Zuvor schon hatte Bun-deskanzlerin Merkel erklärt, das Dublin-Systemfunktioniere nicht mehr und es müsse daran gear-beitet werden, „Dublin zu verändern“.
Deutschland als großer Reformator des gescheitertenDublin-Systems? Das ist eine kühne Nachricht, die vornicht einmal einem Jahr ins Reich der Fantasie hätteverwiesen werden müssen. Schließlich ist Deutsch-land ein maßgeblicher Initiator und langjährigerVerfechter der Dublin-Regelungen. Noch im Mai 2014
d u b l i n d r e i
13
Fakten, Dublin, Fakten
Die Menschenrechtswidrigkeit des Dublin-Systems erklärt sich anhand konkreter Schicksale, also daran, wiemit Schutzsuchenden in Europa umgegangen wird. Im Folgenden geht es vor allem um eine quantitativeBeschreibung der Auswirkungen und Mechanismen des Dublin-Systems.
Von Thomas Hohlfeld.
Illustrationen: Matthias Weinzierl
antwortete die Bundesregierung auf die Frage, wiesie die Effizienz bzw. Änderungsbedürftigkeit desDublin-Systems beurteile, angesichts niedrigerÜberstellungsquoten und einer im Ergebnis geringenVerteilungswirkung: „Diese Gründe geben keinenAnlass zur Änderung des bestehenden Systems. Siewürden auch bei anderen Verfahren, wie z. B. der oftgeforderten Verteilung anhand von Quoten, bestehenbleiben. Auch bei einer Verteilung nach Quotenwürden die Betroffenen dieselben Anstrengungenunternehmen, um in den von ihnen bevorzugtenStaat zu gelangen und in ihm bleiben zu können. BeiErreichen der Quote würden erforderliche Überstel-lungen in andere Mitgliedstaaten vergleichbarenSchwierigkeiten begegnen.… Ziel des Dublin-Verfahrens ist nicht, eine reale Verteilungswirkung zuerreichen. Ziel des Dublin-Verfahrens ist vielmehr,den für die Durchführung des Asylverfahrenszuständigen Staat zu bestimmen“ (BT-Drs. 18/1394).
Damit hatte die Bundesregierung schlüssig erklärt,weshalb die von ihr neuerdings unterstützten Quoten-Umverteilungspläne nichts an dem Kernproblem vonDublin ändern werden: Ein bürokratischesVerteilungssystem, das die individuellen Wünsche,familiären Bindungen und Sprachkenntnisse derSchutzsuchenden missachtet und sie wie Objektegegen ihren Willen gewaltsam in Europa hin- undherschiebt, ist nicht nur menschenrechtswidrig undflüchtlingsfeindlich. Es ist auch zum Scheiternverurteilt, weil es von den Menschen nicht akzeptiertwerden kann. Um die eklatantenmenschenrechtlichen Defizite des Dublin-Systems soll
es hier nicht gehen. Ich möchte das verfügbarestatistische Material zusammentragen und analysieren,wie beziehungsweise ob das Dublin-System in derPraxis funktioniert. Die hier dargestellten Zahlenberuhen vor allem auf Antworten derBundesregierung auf regelmäßige Anfragen derLinksfraktion im Bundestag. Der Blick auf die Zahlenerfolgt dabei vor allem aus einer bundesdeutschenPerspektive, aber Dublin ist ein komplexes System,das aus Sicht jedes einzelnen beteiligten Staatesanders wirkt und zudem von einem gesamteuropäis-chen Standpunkt aus bewertet werden muss.
d u b l i n d r e i
Prozession wird zur Demo gegen Abschiebung
BISCHBRUNN 24.8.2014
Im bayerischen Bisch -
brunn hat sich eine
katholische Prozession
zu einer Anti-Ab schie -
bungs-Demo für ein
Bleiberecht der Familie
Helmi Vishkaei ent -
wickelt. Bürgerinnen
und Bürger reihten sich
mit Protestplakaten
hinter Priestern und
Ministranten ein. Auch
der lokale Kindergar-
ten, in den der Sohn
der Familie ging,
demons trierte mit. Der
Protest zeigte Erfolg.
Die Über stellungsfrist
lief am 24. August ab.
Die Über stellungsfrist
lief ab, die Familie
kann bleiben.<
14
Ersuchen, Zustimmung, Überstellung
Die Termini technici im Dublin-Universum lauten:Ersuchen, Zustimmung und Überstellung. Währenddie Zahl der Ersuchen ein Indiz dafür ist, wie sehrdie Aufnahmebehörden eines Landes mit Dublin-Prüfungen beschäftigt sind, zeigt die Zahl derZustimmungen zur Rückübernahme an, wie gut demersuchenden Staat der Nachweis einer Einreise überden anderen Mitgliedstaat gelingt bzw. welcheAnforderungen für einen solchen Nachweis in derPraxis gestellt werden. An der Zahl der tatsächlicherfolgten Überstellungen lässt sich wiederum ersehen,wie Dublin als Verteilungssystem wirkt. Setzt man dieZahl der Überstellungen ins Verhältnis zur Zahl derZustimmungen (Überstellungsquote), ergibt sich die„Effizienz“ des Dublin-Systems: Gelangen die Asyl-suchenden tatsächlich in das Land, das nach denRegularien der Dublin-Verordnung einvernehmlich fürzuständig erklärt wurde?
Ein Ergebnis sei vorweggenommen: Die Überstel-lungsquote ist derzeit so gering, dass der Befundeines faktischen Scheiterns des Dublin-Systems –jedenfalls aus Sicht der Konstrukteure und staatlichenAnwender – offenkundig ist: Nicht einmal jede fünfteZuständigkeitsentscheidung wurde im Jahr 2014durch eine Überstellung in die Praxis umgesetzt. Ausmenschenrechtlicher Sicht ist diese geringe Quotekeine schlechte Nachricht, denn Überstellungenwerden in zahlreichen Einzelfällen wegen drohenderMenschenrechtsverletzungen oder systemischerMängel im Asylsystem anderer EU-Staaten durch
Gerichte verhindert. Viele Überstellungen werdenwegen begrenzter Aufnahmekapazitäten in diesenLändern nicht vollzogen, und in Bezug auf Griechen-land sind sie wegen der dortigen Verhältnisse seit2011 generell ausgesetzt.
Bis 2005 machten Dublin-Verfahren in Deutschlandweniger als 20 Prozent aller Asylverfahren (Er-stanträge) aus, bis 2003 lag dieser Anteil sogar unter10 Prozent (1998: 3,5%). Die quantitative Bedeutungder Dublin-Verordnung war in den Jahren nach ihrerEinführung noch relativ gering. Im Jahr 2009 führtedann bereits jeder dritte Asylantrag zu einem Dublin-Verfahren, seitdem schwanken die Werte zwischen17,8% (2012) und 32,2% (2013). Von 2013 auf 2014ging der Anteil deutlich auf 20,3 Prozent zurück. DieBundesregierung erklärt dies damit, dass die 2014 inKraft getretene geänderte Dublin III-Verordnung nichtmehr auf in anderen Ländern anerkannten subsidiärSchutzberechtigten angewandt wird. In anderenLändern anerkannte Flüchtlinge werden derzeit nachder bundesdeutschen Drittstaatenregelung abgelehnt:2013 betraf dies 142 Personen, 2014 waren es bereits2.511. In absoluten Zahlen überstieg die Zahl derÜbernahmeersuchen Deutschlands an andereMitgliedstaaten erstmals im Jahr 2012 die 10.000erGrenze, 2013 und 2014 gab es 25.280 bzw. 35.115solcher Ersuchen.
d u b l i n d r e i
15
Etwa zwei Drittel aller Dublin-Verfahren in Deutsch-land beruhen auf einem EURODAC-Treffer (2014:68,5%), d.h. durch den automatisierten Abgleich derFingerabdrücke wurde festgestellt, dass die Betroffe-nen bereits in einem anderem Mitgliedstaat registriertworden waren. In etwa drei Viertel aller Fälle, indenen die Mitgliedstaaten um eine Übernahmeersucht werden, akzeptieren diese ihre Zuständigkeit(2014: 77,3%), ausdrücklich oder durch Fristablauf.
In den Jahren 1998 bis 2007 lag die Zahl der Zustim-mungen anderer Mitgliedstaaten zur Übernahme vonAsylsuchenden auf Ersuchen Deutschlands zwischen1.682 bis 5.591 jährlich, in der Gegenrichtung erklärtesich Deutschland zur Übernahme von 2.870 bis 9.263Asylsuchenden jährlich bereit. In einigen Jahren(2005-2007) führte dies dazu, dass sich im Saldo dieZahl der erklärten Zuständigkeiten durch Dublin umweniger als 500 Personen pro Jahr veränderte. Beisolchen Ergebnissen stellt sich die Frage, weshalb derriesige Aufwand Zehntausender Verfahren in der EUbetrieben wird, wenn die Verteilungswirkung imErgebnis derart gering ist.
2007 gab es aus deutscher Sicht infolge von Dublinunter dem Strich erstmals eine „Entlastung“ um 478Personen, bei damals 19.164 Asylerstanträgen. Seit2010 ergibt sich im Saldo für Deutschland einetheoretische Entlastung um etwa 5.000 Asylsuchendeim Jahr, 2013 stieg diese Zahl deutlich auf 18.339 und2014 auf 22.980 Personen an, für die ein andererMitgliedstaat seine Zuständigkeit erklärt hatte.
Die Zahl der realen Überstellungen weicht vondiesen Werten jedoch deutlich ab: Bis 2008 lag diesogenannte Überstellungsquote (gemessen an denZustimmungen zur Rückübernahme) noch über 50Prozent (2006: 58,4%). Doch mit der Zunahme derErsuche und Zustimmungen sank die Überstel-lungsquote, in den Jahren 2013 und 2014 betrug derWert nur noch 21,6% bzw. 17,6%. So verwundert esnicht, wenn die Bundesregierung angesichts solcherWerte von einer Reformbedürftigkeit des Dublin-Systems spricht. In der Gegenrichtung, d.h. wenn esum Überstellungen nach Deutschland geht, sind dieQuoten übrigens weitaus höher (2014: 54,5%).Werden die Überstellungen ins Verhältnis zu denÜbernahmeersuchen gesetzt – denn in all diesenFällen ging Deutschland von der Zuständigkeit einesanderen Staates aus – lag die Quote zuletzt sogar beinur 13,6 Prozent (2014), im ersten Quartal 2015 beiacht Prozent.
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Endlich keineAngst mehr
OLPE 30.10.2014
Ein Jahr lang hat die
Evangelische Kirchen -
gemeinde Olpe zwei
syrische Flüchtlinge vor
der Abschiebung nach
Italien geschützt. Von
dort waren sie geflohen,
nachdem sie in ihrer
Unterkunft als An -
gehörige der jezidischen
Minderheit von islamis -
tischen Eiferern ge -
schlagen, getreten und
beschimpft wurden. Das
Kirchenasyl führte
dazu, dass die Über -
stellungsfrist ablief.
Hzni will wieder als
Maurer arbeiten. Rokn
möchte eine Ausbil-
dung zur Hotelfachfrau
beginnen.<
Befragt nach den Gründen für diese geringenÜberstellungsquoten nennt die Bundesregierungverkürzte Fristen in der Dublin III-Verordnung sowiedie neue Möglichkeit einstweiligen Rechtsschutzesgegen Dublin-Entscheidungen und entsprechendeGerichtsbeschlüsse, anhängige Petitionen,Kirchenasyle, Reiseunfähigkeit und ein Untertauchender Betroffenen.
Die Bundesregierung hat auf diese Entwicklungreagiert: Im Mai 2014 wurden Dublin-Verfahren imBundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)priorisiert, d.h. vorgezogen, und das Referat im BAMFfür den Vollzug von Überstellungen wurde personellaufgestockt. Ein Dublin-Verfahren dauerte im Jahr2014 im Durchschnitt 4,3 Monate, Asylverfahren ohneDublin-Prüfungen dauerten 7,7 Monate. Ähnlich wiebei Flüchtlingen aus den Westbalkanstaaten sollenDublin-Verfahren möglichst noch in den Erst-Aufnahmeeinrichtungen abgeschlossen werden, umvon dort aus abschieben zu können. Rechtlichwerden mit dem Gesetz zur Neubestimmung desBleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung dieGrundlagen für Inhaftierungen von „Dublin-Flüchtlin-gen“ geschaffen, die es seit einer Entscheidung desBundesgerichtshofs vom Sommer 2014 nicht mehrgab – ohne dass dies übrigens irgendetwas an derÜberstellungsquote geändert hätte! Doch all dieseMaßnahmen, zu denen auch der politische Druck aufdie Kirchenasyl-Bewegung gehört, können an denschwindenden Aufnahmekapazitäten in den Ländernmit EU-Außengrenzen, in die Deutschland vor allemabschiebt, nichts ändern.
Im Saldo konnte Deutschland die Zahl der Asyl-suchenden, für die es zuständig ist, durch Dublin-Überstellungen seit 2010 nur um etwa 1.500 bisknapp 3.000 Personen pro Jahr real verringern (2014:2.497). 2.500 Personen bei 171.000 Erstanträgen – dasist ein marginaler Wert von gerade einmal 1,5 Pro -zent! Wozu braucht es eine solche Riesen ma schinerie,die Zehntausende Schutzsuchende in der Schwebehält und nicht ankommen lässt, wenn es im Endeffektnur solch geringe Auswirkungen hat? Das verweistauf andere Auswirkungen des Dublin-Systems, dienicht genau gemessen werden können. Zum einen istdies die Zahl der Flüchtlinge, die infolge von Dublinnur noch unter irregulären Verhältnissen, nahezurechtlos, extrem ausbeutbar und ohne Statusrechte,leben können, weil für sie die Dublin-Entscheidung
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17
nicht akzeptabel ist. Dublin führt in einem erhe-blichen Ausmaß zur Illegalisierung von Flüchtlingen.Zum anderen ist die heimliche Agenda von Dublinnicht eine neutrale Zuständigkeitsklärung, sonderndie Mitgliedstaaten werden durch Dublin dazuangehalten, ihre EU-Außengrenzen so effektiv wienur irgend möglich vor Flüchtlingen abzuschotten,um nicht auf ihnen sitzen zu bleiben. Das führt zuillegalen push-backs und zu meterhohen Stachel-drahtzäunen an den relevanten Fluchtrouten, etwa inMelilla und Ceuta, an der türkisch-griechischen undtürkisch-bulgarischen und künftig an der ungarisch-serbischen Grenze.
Die Bundesregierung hatte in diesem Zusammenhangeine provokante Frage zu beantworten: Warum gibtes eigentlich überhaupt noch Asylverfahren inDeutschland, wo doch die Dublin-Regeln dafürsorgen müssten, dass praktisch alle Asylsuchenden,die über Land nach Deutschland einreisen, wiederzurückgeschickt werden müssten - nach Behörde-nangaben betraten nur etwa 1,5% aller Asylsuchen-den in Deutschland erstmals den Boden der EU. DieAntwort war mehr als ausweichend: BeiAbschiebungshindernissen würden keine Dublin-Verfahren eingeleitet, und wenn Fristen im Dublin-Verfahren abgelaufen seien, würden nationaleAsylverfahren durchgeführt – doch das wird nicht bei98,5% aller Asylanträge der Fall gewesen sein. DasDublin-Prinzip ist mit der Realität schlechterdingsnicht kompatibel und wird sowohl von den Schutz-suchenden, als auch von den Mitgliedstaaten in derPraxis in vielfältiger Weise unterlaufen.
Deutschland hat die Nase vorn
EU-weit gab es zwischen 2009 und 2012 ca. 45.000bis 54.000 Ersuchen und 13.000 bis 14.000 Überstel-lungen jährlich. Auf der Grundlage von EUROSTAT-Daten (hier für das Jahr 2012) lässt sich konstatieren:Deutschland und die Schweiz sind die beiden Ländermit den meisten Ersuchen an andere Mitgliedstaaten(zwischen 11.000 und 12.000, Schweden: unter 8.000,Frankreich: 6.000). Bei den Überstellungen ergibt sichein ähnliches Bild: Die Schweiz und Deutschlandlagen mit über 4.500 bzw. gut 3.000 Überstellungenvorn (Schweden: 1.750). Wenig überraschend istauch, dass Italien mit Abstand am häufigsten um dieÜbernahme von Asylsuchenden aus anderen EU-Ländern ersucht wurde: Im Jahr 2012 in über 12.000Fällen, danach folgte Polen mit ca. 4.500, Griechen-land trat wegen der Überstellungsstopps nicht inErscheinung.
d u b l i n d r e i
Thomas Hohlfeldist seit 2006 Fach -
referent der Fraktion
DIE LINKE im
Bundestag und an
der Erarbeitung
Kleiner Anfragen
zum Thema beteiligt.
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Zur Interpretation all dieser Zahlen ist es wichtig zuwissen: Von 2000 bis 2009 lag die Zahl der Asylanträgepro 1.000 Einwohnerinnen und Einwohnern inDeutschland unter dem EU-Durchschnitt, zum Teildeutlich (2007: Deutschland: 0,2, EU: 0,98). Erst seit2010 hat sich dieses Verhältnis umgedreht, und in denJahren 2013 und 2014 war die Zahl der Asylanträge,gemessen an der Bevölkerung, in Deutschland in etwadoppelt so hoch wie im EU-Durchschnitt (2014: 2,5 zu1,2). Die Motivation für Deutschland, sich derFlüchtlinge mithilfe des Dublin-Systems zu entledigen,ist in den letzten Jahren also enorm angestiegen. Weilaber Überstellungen oft in der Praxis nicht funktion-ieren, ist Deutschland auf die Seite der Befürwortereines Quoten-Verteilungssystems gewechselt, von demes sich Entlastung erhofft.
Allerdings ist es angesichts der wirtschaftlichen StärkeDeutschlands im Vergleich zu anderen Mitgliedstaatender EU überhaupt nicht erstaunlich, sondern richtig,dass die Asyl-Antragszahlen hier vergleichsweise höhersind. Bis Juni 2015 sind über 100.000 Flüchtlinge überdas Mittelmeer in Italien oder Griechenland angekom-men, häufig wurden sie aus Seenot gerettet.
Bundeskanzlerin Merkel hatte erklärt, diese Flüchtlingeseien „unsere gemeinsamen Flüchtlinge“, dochzugleich werden die beiden Südländer massiv kritisiert,weil nicht alle Schutzsuchenden systematisch in derEURODAC-Datenbank erfasst werden – und damitspätere Dublin-Rücküberstellungen unwahrscheinlichwerden. Dabei ist es eine geradezu angemesseneReaktion auf die zutiefst ungerechte, menschen-feindliche und gescheiterte Logik von Dublin, wennFlüchtlinge sich gegen die Fingerabdruck-Erfassungwehren und überforderte Behörden die Menschenweiterziehen lassen. So ist das halt mit der Autonomieder Migration.
Dublin funktionierte nach den vorliegenden Zahlennur solange, wie damit in der Praxis keine großenUmverteilungen verbunden waren. Die EU-Kommis-sion will das System im Jahr 2016 evaluieren. Viel zuspät. Änderungen wird es geben müssen, doch esmuss bezweifelt werden, dass dabei Flüchtlingsinter-essen und Menschenrechte eine maßgebliche Rollespielen werden.<
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Leben ohne Angst
NEU-ISENBURG
2.2.2015
Yussefs Vater wurde im
somalischen Bürger-
krieg getötet. Aus Sorge,
dass Yussef von islamis -
tischen Milizen zwangs -
rekrutiert wird, schickte
seine Mutter ihn nach
Europa. Über Italien
schaffte er es ins hess -
ische Neu-Isenburg.
Dort unterstützten ihn
die städtische Integra -
tionsbeauftragte und
die Flüchtlingshilfe
Neu-Isenburg. Als ihm
die Abschiebung drohte,
erhielt er erfolgreich
Kirchenasyl. Yussuf
kann sein Asylverfah-
ren ihn Deutschland
durchführen. Eine
Abschiebung ist damit
vorerst vom Tisch.<
Mezgin Osman flieht im Jahr 2012 aus demzerbombten Aleppo über die Türkei nachBulgarien. Dort glaubt sie in Sicherheit zu
sein, schließlich ist sie in einem EU-Land. Doch eskommt anders: Nach ihrer Ankunft in Bulgarien wirddie schwangere Syrerin zusammen mit ihren zweiKindern inhaftiert. „Wir haben sehr gehungert. Als ichohnmächtig wurde, kam ein Arzt. Er hat gesagt, dassich besseres Essen brauche, aber dort gab es dasnicht.“
Nach anderthalb Monaten werden sie entlassen undin ein Flüchtlingslager nach Sofia verlegt. Dort sindsie zwar nicht eingesperrt, aber die Situation istkatastrophal: Überbelegung, Mangelversorgung,Schmutz. 32 Euro erhält Mezgin Osman im Monat alsLebensunterhalt. „Mit diesem bisschen Geld konnteich für 15 Tage etwas zu essen kaufen, den Rest derZeit mussten wir mehr oder weniger hungern. ZumArzt konnten wir nicht, da wir kein Geld hatten,‚ umihn zu bezahlen“. Irgendwann dringen Männergewaltsam in das Flüchtlingslager ein. Einer schreit:„Man sollte alle Syrer auf einen Fußballplatz stellenund verbrennen.“ Der Vorfall stürzt die junge Muttererneut in Angst und Verzweiflung.
Dann endlich gute Nachrichten: Frau Osman bringtihr drittes Kind gesund zur Welt und ihr Asylantragwird anerkannt. Doch die Freude währt nur kurz. Alsanerkannter Flüchtling muss sie das Lager verlassenund erhält auch keine 32 Euro mehr. Eine Weilekommt sie bei Privatpersonen unter, dann muss sieauch dort ausziehen. „Ich sollte raus, aber wohin? Ichhätte im Winter mit einem Neugeborenen auf derStraße leben müssen.“ Mezgin Osman entscheidetsich für die Weiterflucht nach Deutschland, wo sieeine Schwester hat. Hier seien sie und ihre Kindersicher, glaubt sie. Doch von Deutschland aus drohtihr nun die Abschiebung nach Bulgarien, da sie dortihre Flüchtlingsanerkennung erhalten hat. Für FrauOsman eine Horrorvorstellung.
Update: PRO ASYL unterstützt Mezgin Osman überden Rechtshilfefonds. Durch die Intervention einesRechtsanwaltes konnte nun ein Erfolg erzielt werden:Frau Osman und ihre Kindern haben ein nationalesAbschiebungsverbot erhalten. Damit ist klar: Siewerden nicht nach Bulgarien abgeschoben, endlichkann die Familie aufatmen.<
Tobias Klausarbeitet bei Pro Asyl
in Frankfurt und
betreut dort unter
anderen die Kam -
pagne „Wir treten
ein“ gegen die
Dublin III Verord-
nung.
Der vorliegende Text
ist auf der Home-
page der Kampagne
unter bereits er -
schienen
www.wir-treten-ein.de
20
Bulgarien.Wo Flüchtlingsschutz nur ein Stück Papier ist. Von Tobias Klaus
Foto: Andrea Huber
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Flüchtlinge waren in Deutschland so langewillkommen, wie es keine gab. Bereits dieerste große Flüchtlingswelle der 90er Jahre
veranlasste Deutschland dazu, das Flüchtlingsrecht zueuropäisieren, um eine europäische Lastenverteilungzu erreichen. Ein erster Schritt auf dem Weg dorthinwar der sogenannte Asylkompromiss, mit dem 1993das Asylgrundrecht in Deutschland faktisch abge -schafft wurde. Der neu geschaffene, mit deutlichenEinschränkungen versehene, Art. 16a Grundgesetz(GG), stellt einen Bezug zu einem europäischen Asyl -system her, das es zu diesem Zeitpunkt noch garnicht gab. Nach Abs. 2 kann sich auf das Asylgrund -recht seitdem nicht mehr berufen, wer aus einem„sicheren Drittstaat“ der Europäischen Union (EU)eingereist ist. Die Politik begründete die Änderungnicht nur mit der gestiegenen Zahl von Asylanträgen,sondern vor allem auch mit der Notwendigkeit, dieRegelung in ein europäisches Asylsystem einzuord-nen. Das deutsche Asylgrundrecht sei einzigartig inEuropa und stehe damit einer europäischen Harmoni -sierung des Flüchtlingsrechts entgegen.1 Dass es denMitgliedstaaten jederzeit freisteht, mehr Schutz zugewähren, als es die europäischen Vorgaben vorse-hen, zeigt bereits wie absurd diese Argumentation ist.
Deutschland erfand frühzeitig das Konzept„sicherer Drittstaaten“, um Asylanträge möglichstaussichtslos zu machen
Zudem gab es zu diesem Zeitpunkt noch keineeuropäischen Regelungen, die eine Orientierung desGG an der Herkunft aus „sicheren Drittstaaten“erfordert hätten.
Vielmehr wurde dieses Konzept 1992 auf einerLondoner Konferenz zur Regelung von Asylverfahrenerstmals vom deutschen Innenministerium in dieVerhandlungen eingebracht und war den Teil-nehmenden aus anderen Mitgliedstaaten bis dahinfremd.2
Geld lässt sich besserverschieben als Menschen Wo kommt das europäische Verschiebesystem eigentlich her? Die Geschichte von Dublin I bis III. Von Maren Leifker
Illustration: Katalin Kuse
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Familie muss nichtnach Italien zurück
GÖTTINGEN 3.11.2014
Rund 100 Bürgerinnen
und Bürger wurden
gegen die Abschiebung
einer somalischen
Familie aktiv. Die
Eltern sollten mit ihrem
drei Monate alten Baby
nach Italien abgescho-
ben werden, was durch
eine Blockade des
Haus eingangs ver -
hindert wurde. Der
Arbeitskreis Asyl
Göttingen hatte mit der
Grünen Jugend per E-
Mail und SMS dazu
aufgerufen. Dadurch
wurde Zeit gewonnen.
Jetzt hofft die Familie
auf eine positive
Entscheidung des
Verwaltungsgerichts
Göttingen.<
Deutschlands Interesse an solch einer Konstruktionliegt klar auf der Hand. Als eines der KernländerEuropas betreten nur wenige Flüchtlinge zunächstdeutschen Boden. Denn es ist praktisch unmöglich,unmittelbar nach Deutschland einzureisen, außer aufdem Luftweg, wofür ein Visum benötigt wird. Seit derEU-Osterweiterung 2004 ist Deutschland vollständigvon Mitgliedstaaten umgeben. Jede Einreise auf demLandweg führt seitdem über „sichere Drittstaaten“ unddamit dazu, dass keine Aussicht auf eine Asylan-erkennung in Deutschland besteht. Wie kam es dazu,dass auf europäischer Ebene überhaupt über eingemeinsames Asylsystem diskutiert wurde, in welchesDeutschland das Konzept „sicherer Drittstaaten“einbringen konnte? Es sollte eine Ausgleichsmaß-nahme gefunden werden für die mit dem SchengenerAbkommen von 1985 verbundene Abschaffunginterner Grenzkontrollen. Also beschlossen die EU-Mitglieder verstärkte Kontrollen der Außengrenzensowie eine Vereinheitlichung der Regeln zur Einreiseund zur Zuständigkeit für Asylanträge.3
Der größeren Freizügigkeit durch das SchengenerAbkommen stehen für Flüchtlinge die DublinerÜbereinkommen entgegen
In der Folge trat 1997 das Dubliner Übereinkommenüber die Bestimmung des zuständigen Staates für diePrüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäis-chen Gemeinschaft gestellten Asylantrags in Kraft.4 Indiesem Übereinkommen wurden die wesentlichenGrundzüge des Dubliner Systems bestimmt. Flücht -linge haben danach zwar das Recht, ihren Asylantragin einem formalen Verfahren prüfen zu lassen. Esbesteht aber nur Anrecht auf ein einziges Verfahren.Der Staat, in dem dieses durchzuführen ist, kannnicht frei gewählt werden. Stattdessen ist in allerRegel derjenige Staat zuständig, in dem sich derFlüchtling nachweislich zuerst aufgehalten hat. Beidem Übereinkommen handelte es sich zunächst nur
um einen multilateralen Vertrag zwischen einzelnenMitgliedstaaten. Erst 1999 mit dem Vertrag vonAmsterdam wurden der Europäischen Gemeinschaftunmittelbar asylrelevante Aufgaben zugewiesen unddamit die Grundlage für einen gemeinsamen eu-ropäischen Rechtsakt gelegt.5
Der Grundsatz, dass Familien zusammen geführtwerden sollen, wird häufig missachtet
Diese gemeinsame EU-Regelung folgte im Jahr 2003mit der Dublin II-Verordnung6 in der an denGrundzügen des Dubliner Übereinkommens festge-halten wurde. Zeitgleich wurde mit der „EURODAC“-Verordnung7 ein europaweites Fingerabdrucksystemeingeführt, mit dem der Einreiseweg nachgewiesenund die Effizienz des Dubliner Systems gesteigertwerden sollte. Nach der Dublin II-Verordnung soll fürdie Durchführung des Asylverfahrens zunächst derMitgliedstaat zuständig sein, in dem sich ein Familien-angehöriger aufhält. Dann der Mitgliedstaat, der einenAufenthaltstitel oder ein Visum ausgestellt hat undschließlich erst der Mitgliedstaat, in dessen Territo-rium die illegale Einreise erfolgt ist. Diese Rangfolgewird in der Praxis aber kaum beachtet. Stattdessenwird überwiegend in den Staat der illegalen Einreiseabgeschoben. Dort wo zum ersten Mal Fingerab-drücke abgenommen und in das „EURODAC“-Systemeingespeist wurden. Auch wenn ein vorrangigesKriterium, wie etwa die Herstellung der Familienein-heit anzuwenden gewesen wäre.8
Der Ursprungsgedanke ist die Lastenverteilung,ohne Blick auf individuelle schutzbedürftigePersonen
Den Erwägungsgründen der Dublin-II-Verordnung, inwelchen der Verordnungsgeber die maßgeblichenZiele des Rechtsaktes niederlegt, lässt sich ent-nehmen, dass hiermit Flüchtlinge unter den Mitglied-
staaten aufgrund gerechter Kriterien verteilt werdensollten. Darin kommt der Ursprungsgedanke eu-ropäischer Flüchtlingspolitik zum Ausdruck, eine„Lastenverteilung“ bei der Aufnahme von Flüchtlingenzu erreichen. Schon diese Begrifflichkeit zeigt, dassden Mitgliedstaaten völlig der Blick für die dahinterstehenden schutzbedürftigen Menschen und derenindividuelle Bedürfnisse verloren gegangen ist.Menschen lassen sich nicht wie Waren hin- undherschieben. Sie lassen sich auch nicht von ihremWunsch abhalten, in einem bestimmten Land zuleben, in dem bestehende Verbindungen undSprachkenntnisse ihnen eine Integration erleichternund die Gegebenheiten ihren Bedürfnissen gerechtwerden.
Fehler im System: Geflüchtete Personen habenmitnichten die gleichen Rechte und Möglichkeitenin den verschiedenen EU-Ländern
Das System krankt an dem Grundfehler, dass dieAsylverfahren der verschiedenen Mitgliedstaatenkeine gleichwertige Rechtslage schaffen und dieGegebenheiten in den Kernländern Europas häufigbesser sind.
Jährlich werden deshalb mehrere tausend Asyl-suchende von den Mitgliedstaaten im Kern der EU,wo sie eigentlich leben möchten, in diejenigen amRande zurückgeschoben, die überwiegend für dieVerfahren zuständig sind, da das Kriterium derillegalen Einreise angewendet wird. QuaZuständigkeit wollte Deutschland im Jahr 2013 in35.000 Fällen Flüchtlinge in andere Mitgliedstaatenüberstellen.9 Dadurch entstehen enorme Kosten, die
für eine Unterstützung, wie etwa psychologischeBetreuung, besser eingesetzt wären. Flüchtlings -organi sationen prophezeiten wegen der dem Systemimmanenten Probleme schon 2007, dass sich dieRegelung nicht lange halten wird.10
In der Pflicht stehen die Staaten, die für dieAnwesenheit von Flüchtlingen verantwortlichgemacht werden
Es dauerte weitere sieben Jahre bis zu einer Überar-beitung durch die Dublin-III-Verordnung.11 Doch einegrundsätzlich andere Herangehensweise an die Frage,wer für Asylsuchende zuständig ist, findet sich darinnicht. Ein Verfahren, welches nicht nahezu aus -schließ lich auf dem Prinzip beruht, dass der Mitglied-staat, der die Verantwortung für die Anwesenheiteiner Person auf dem Gebiet der EU trägt, auch fürdas Asylverfahren zuständig ist.12
Es bleibt zu hoffen, dass angesichts der humanitärenKatastrophe im Mittelmeer bei den Mitgliedstaaten dieErkenntnis ankommt, dass das System grundsätzlichgeändert werden muss. Zumal es auch wirtschaftlichnicht sinnvoll ist. Und dass sich die politischenEntscheider bei einer Neuordnung stärker an denPräferenzen von Asylbewerbern und Asylbewerberin-nen orientieren, bei gleichzeitigem finanziellenLastenausgleich. Denn Geld lässt sich besser ver-schieben als Menschen.<
d u b l i n d r e i
23
1 Bundestags -drucksache 12/4152
vom 19.1.1993.
2 Stefan Keßler,
Beilage zumAsylmagazin 7-
8/2013, Einleitung:
Das gemeinsame
Europäische
Asylsystem, S. 2.
3 dublin-project.eu -
Final Report, S. 12.
4 Dublin-Überein-kommen - Bgbl. II,
1994; 2. 791.
5 Stefan Keßler,
Beilage zumAsylmagazin 7-
8/2013, Einleitung:
Das gemeinsame
Europäische
Asylsystem, S. 2
6 Verordnung (EG)
Nr.343/2003 des Rates
vom 18.2.2003 – ABl. L
50 von 25.2.2003, S.1.
7 Verordnung (EG)
Nr. 2725/2000 des
Rates vom 11.
Dezember 2000 - ABl.
L 316/1 von
15.12.2000, S. 1.
8 dublin-project.eu -
National ReportGermany, S. 1.
9 Pro Asyl, Fluchtbraucht Wege -
Positionen für eine
neue europäische
Flüchtlingspolitik, S. 20.
10 Hubert Heinold,
Recht für Flüchtlinge(2007), S. 40.
11 Verordnung (EU)
Nr. 604/2013 des
Europäischen
Parlamentes und des
Rates vom
26.6.2013_Abl. L 180,
S. 31-59.
12 Amnesty Interna-
tional, Lives Adrift:Refugees andMigrants in Peril inthe Central M -editerranean (EUR
05/006/2014).
Maren Leifker ist Juristin, Referen-
darin am Kammer-
gericht Berlin und
ist aktiv in der Asyl -
gruppe von Amnesty
International
Demo gegen Dublin-Abschiebungen
GIEßEN 5.12.2014
Am 5. Dezember 2014
haben mehr als 450
Flüchtlinge und Unter -
stützende in Gießen
gegen die EU-Flücht -
lingspolitik demon-
striert. Das Motto: „Tear
Down the Dublin-Wall
– For a Life in Dignity“.
Vielen Flüchtlingen, die
in der Gruppe „Refugees
for Change“ organisiert
sind, droht die Über -
stellung in EU-Länder
wie Italien.<
Die schreckliche Schiffstragödie, bei der Mitte Apriletwa 150 Kilometer vor der libyschen Küsteschätzungsweise 800 Menschen ihr Leben verloren,hat die Diskussion um die europäische Asylpolitikangefacht. Neben Debatten um Aufnahmelager inNordafrika und Militäreinsätze gegen Schlepper wirdzunehmend auch über Sinn und Unsinn der Dublin-III-Verordnung diskutiert. Sie legt fest, welcher Staatfür die Prüfung eines Asylantrages zuständig ist. Dasin der Praxis wichtigste Zuständigkeitskriterium ist
dabei das der irregulären Einreise: Wenn eineAsylsuchende oder ein Asylsuchender „aus einemDrittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenzeeines Mitgliedstaats illegal überschritten hat“, istdieser Staat für die Prüfung des Antrages zuständig,so heißt es in Artikel 13 der Verordnung. Die EU-Kommission fordert nun, dieses Prinzip durch eineQuotenregelung zu ergänzen: Anhand von Kriterienwie Bruttoinlandsprodukt, Bevölkerungszahl, Arbeits -losenrate und der bisherigen Zahl an Asylsuchenden
d u b l i n d r e i
Protest vor demFlüchtlingsschutz-Symposium
BERLIN 22.6.2015
Die Evangelische
Akademie in Berlin
veranstaltet jedes
Jahr das Symposium
zum Flüchtlings-
schutz. Neben
deutschen und
europäischen NGOs
sind auch Vertrete-
rinnen und Vertreter
der Bundesregierung
und EU vor Ort. Das
Aktionsbündnis
gegen Dublin führte
den anwesenden
Politiker innen und
Politikern die
Unmenschlichkeit
ihres Dublin-Systems
vor Augen: „Das
Recht der Schutzsu-
chenden, selbst zu
entscheiden, in
welches Land sie
reisen, in welchem
Land sie leben
möchten und wo sie
einen Asylantrag
stellen, muss endlich
anerkannt wer-
den!“<
24
Dublin ist tot. Es lebe Dublin.
Das Dublin-System steckt in der Krise. Nur in einem kleinen Teil der Dublin-Fälle kommt es tatsächlich zuÜberstellungen. Gerichtsentscheidungen, Kirchen und lokale Anti-Abschiebe-Initiativen erschweren dendeutschen Behörden zusätzlich den Kampf gegen die Vollzugsdefizite. Die Bundesregierung scheint der-weil hartnäckig am Zuständigkeitskriterium der irregulären Einreise festhalten zu wollen – und verschärftdie Abschiebehaftgesetze. Von Sebastian Muy
Illustration: Matthias Weinzierl
sollen Geflüchtete bald auf andere europäischeStaaten verteilt werden können, wenn der eigentlichzuständige Staat wegen der vielen Asylsuchenden ineine Notlage gerate.
Bundesregierung will die Quote nicht
Die Bundesregierung hält trotzdem hartnäckig amVerursacherprinzip der Dublin-Verordnung fest. Derdeutsche Bundesinnenminister Thomas De Maizièreerklärte Ende Mai gemeinsam mit seinem französi -schen Amtskollegen, Voraussetzung für ein Quoten-system sei, dass die EU-Außengrenzen stärker über -wacht würden. Quotierte Umverteilungen solltenzudem die Ausnahme bleiben. Das Dublin-Systemund der Grundsatz der Zuständigkeit des Ersteinreis-estaats müssten in Kraft bleiben.1 Emily Haber, Staats -sekretärin im Bundesinnenministerium, warnte EndeApril auf einer Konferenz des Sachverständigenratesdeutscher Stiftungen für Integration und Migration(SVR), die Axt an das Dublin-Kriterium der Einreisezu legen, hieße die Axt an das Ziel gemeinsamerStandards europäischer Asylpolitik anzulegen. EinQuotensystem werde nicht funktionieren: Es würdeeinen riesigen Verwaltungsaufwand und innereu-ropäischen Verschiebebahnhof produzieren, und amEnde bleiben die Flüchtlinge ohnehin nicht da, wosie nicht bleiben wollten.
Haber kritisierte damit den Quoten-Vorschlag mitähnlichen Argumenten wie jenen, mit denen vielfachdas Dublin-System für gescheitert erklärt wird. Nur ineinem Bruchteil der Dublin-Fälle kommt es auchtatsächlich zu einer Überstellung: Im Jahr 2014 stellteDeutschland in 35.115 Fällen ein Übernahmeersuchenan einen anderen Vertragsstaat. Tatsächlich durchge-führt wurden 4772 Dublin-Abschiebungen.
Ein wesentlicher Grund für das Scheitern vielerÜbernahmeersuchen ist die Fristenregelung in Artikel29: Die Zuständigkeit für das Asylverfahren geht aufden ersuchenden Mitgliedsstaat über, wenn nichtinnerhalb von sechs Monaten, nachdem das Übernah-meersuchen gestellt wurde, auch tatsächlich dieAbschiebung vollzogen wird. Das Überschreiten derFrist kann durch verschiedene Faktoren begünstigtwerden: Durch eine erfolgreiche Klage vor Gericht,begründet etwa durch Krankheit oder durch dro-hende Menschenrechtsverletzungen im ersuchtenMitgliedsstaat, durch ein Kirchenasyl oder schlichtdurch Überlastung des Bundesamtes, das es nichtschafft, die Verfahren fristgerecht abzuarbeiten.2
Kirchenasyl kann vor Dublin-Abschiebung bewahren
Die Frist kann jedoch auf achtzehn Monate verlängertwerden, wenn die betreffende Person flüchtig ist. Umden Gehalt dieses Begriffes gibt es Konflikte: DasBundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)vertritt die Ansicht, dass eine Person im Kirchenasylals flüchtig anzusehen ist und sich demzufolge dieÜberstellungsfrist verlängert, selbst wenn denBehörden der Aufenthaltsort bekannt ist.3 Anfang desJahres schwelte zwischen Bundesinnenministeriumund Kirchen ein wochenlanger Streit über dasKirchenasyl. Bundesinnenminister De Maizière warfden Kirchen vor, mit der Gewährung von Kirchenasylzum Schutz vor Dublin-Abschiebungen geltendesRecht zu unterlaufen. Ende Februar kam es zu einerEinigung laut der die Behörden auf eine Verlängerungder Überstellungsfrist verzichten und im Gegenzugdie Kirchen zusichern, Kirchenasyl nur in besondersgelagerten Einzelfällen zu gewähren.
Unter bestimmten Umständen können auch Blocka -den ein wirksames Mittel sein, um Dublin-Abschie -bungen zu verhindern. In Osnabrück entstand imMärz 2014 eine Bewegung, die innerhalb eines Jahresmehr als 30 Abschiebungen durch spontan mobil-isierte Blockaden verhinderte. Die Rahmenbedingun-gen für solche Aktionen sind dort allerdings vergle-ichsweise gut, etwa weil die Landesregierung gewisseStandards einhält, die anderswo nicht gelten, beispiel-sweise in der Regel keine unangekündigten nächt -lichen Abschiebungen durchzuführen. Trotzdemkönnen auch in vielen anderen Städten in ganzDeutschland immer wieder Abschiebungen durchAktionen zivilen Ungehorsams verhindert werden.
Gesetz soll Inhaftierung von Flüchtlingen erleichtern
Auch durch gerichtliche Entscheidungen auf nationalerund europäischer Ebene verschieben sich immerwieder die Bedingungen, unter denen Dublin-Abschiebungen durchgesetzt oder abgewendet wer denkönnen. Nach Urteilen des Europäischen Ge richtshofsfür Menschenrechte (EGMR) und des Bundesverfas-sungsgerichts im Jahr 2014 darf Deutschland –angesichts des verbreiteten Problems der Obdach -losigkeit von Geflüchteten in Italien – Fa milien mitkleineren Kindern nur noch dann nach Italien ab-schieben, wenn es sich vorher vom italieni schen Staatdie Zusicherung über eine konkrete familien- undkindgerechte Unterbringung eingeholt hat.4
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„Ok, jetzt brenntes. Wir müssen etwas tun.“
OSNABRÜCK 18.12.14
28 Abschiebungen
wurden in Osnabrück
im Jahr 2014
verhindert, indem die
Zugänge zur
Flüchtlingsunterkunft
blockiert wurden.
Abschiebungen werden
in Niedersachsen per
Brief angekündigt.
Einen Flüchtling, der
nachts abgeholt werden
sollte, wollte die im
Stadtteilbüro einge -
richtete AG Flüchtlings-
hilfe nicht allein lassen.
Als ihre reine Anwesen -
heit die Abschiebung
verhinderte, weitete die
AG ihre Blockadeein-
sätze aus. Dabei hilft
ein breites Bündnis
und die Unterstützung
der Kirche.<
Während das Dublin-System in der Krise steckt undseine Prinzipien wieder einmal auf dem Prüfstand zustehen scheinen, setzt die Bundesregierung beimVersuch, Vollzugsdefizite bei der Durchsetzung vonDublin-Abschiebungen zu bekämpfen, auf Repres-sion. Im von ihr vorgelegten Entwurf zum „Gesetz zurNeubestimmung des Bleiberechts und der Aufent -haltsbeendigung“, der vermutlich noch vor derSommerpause verabschiedet werden soll, werdeneine ganze Reihe von Anhaltspunkten bestimmt, diedie Annahme von Fluchtgefahr rechtfertigen sollen.Diese wiederum soll ausreichen, um eine Person inHaft nehmen zu können und so ihre Abschiebung zuerleichtern. Zu diesen Anhaltspunkten gehören nichtnur Verstöße gegen die Pflicht zur Mitwirkung an dereigenen Ausreise oder das Zahlen erheblicherGeldbeträge an Schleuserinnen und Schleuser,sondern auch, wenn eine asylsuchende Person dennach der Dublin-Verordnung zuständigen Staat vorAbschluss des Asylverfahrens verlässt und nachDeutschland weiterreist. Wenn das Gesetz in dieserForm verabschiedet wird, eröffnet es den Ausländer-behörden einen immensen Ermessensspielraum,Menschen nahezu willkürlich inhaftieren zu können,denn ein großer Teil der Geflüchteten wird min-destens eines der genannten Kriterien erfüllen. DieBundesregierung verfolgt also ihren eigenen Weg ausder Dublin-Krise, indem sie den Vollzugsdefiziten miteinem Inhaftierungsprogramm begegnet.
Da sich die europäischen Staaten über eine grund -sätzliche Alternative derzeit offensichtlich nichteinigen können, ist absehbar, dass das Dublin-Systembeibehalten wird. Es wird vermutlich in Teilenergänzt durch eine Quotenregelung, deren Kriteriensich an den Interessen der Staaten orientieren, nichtan den Interessen der Geflüchteten. An derstaatlichen Fremdbestimmung über das Leben undden Aufenthaltsort der Geflüchteten wird sich alsokaum etwas ändern. Weder auf bundesdeutschernoch auf europäischer Ebene stehen die Kräftever-
hältnisse derzeit gut für ein Aufnahmesystem, dasstärker an den Rechten und Interessen derGeflüchteten ausgerichtet ist. Diese jedoch werdenweiterhin nicht in Ländern bleiben, in denen sie nichtbleiben wollen, sondern dorthin gehen, wo siebereits Anknüpfungspunkte haben.
Geflüchtete brauchen rechtlichen Beistand und zivilgesellschaftliche Initiativen
Solange die Politik diese Realität nicht anerkennt,bleiben verschiedene Interventionsstrategien gleich -zeitig wichtig: Eine juristische Begleitung von Dublin-Betroffenen durch engagierte fachkundige Rechtsan-wältinnen und -anwälte und der Versuch, über dasErstreiten von Erfolgen vor Gericht den Schutzrahmengegen Dublin-Überstellungen weiter auszuweiten. Indiesem Kontext werden auch weiterhin unabhängigeRecherchen zur vielfach menschenrechtswidrigenUnterbringungs- und Versorgungssituation vonGeflüchteten in Dublin-Vertragsstaaten eine wichtigeRolle spielen, um Anwältinnen und Anwälten undGerichten Argumente an die Hand zu geben, warumdie Abschiebung in den Staat XY aus menschen-rechtlichen Gesichtspunkten auszusetzen ist. Darüberhinaus sind mit dem Kirchenasyl und lokalen Anti-Abschiebe-Initiativen zivilgesellschaftliche Bewegun-gen zu stärken und gegen staatliche Angriffe zuverteidigen. In den Fällen, in denen auf dem juristis-chen Wege nichts zu machen war, leisten sie durchpraktische Solidarität einen Beitrag zur Überwindungder Überstellungsfrist. Das Leid, das aus dem Dublin-System für die Betroffenen resultiert, wird jedoch erstdann aufhören, wenn das mit ihm verbundeneVerursacherprinzip und die Abschiebungen endlichaus der Welt geschafft sind und das Recht derGeflüchteten auf Freizügigkeit und Selbstbestimmungdie notwendige politische und rechtliche Anerken-nung findet.<
d u b l i n d r e i
26
1 Vgl. Deutschlandfunk,
„EU-Flüchtlingsquote:
Bessere Grenzüberwa-
chung gefordert“,
www.deutschland-
funk.de
2 Vgl. Pro Asyl: Fair
verfahren: Analysen und
Vorschläge für eine
gerechte Flüchtlingspo-
litik. Frankfurt a.M.,
2015, S. 5.
3 Vgl. Tim W. Kliebe /
Susanne Giesler:
„Flüchtig“ in Deutsch-
land? Zur Verlängerung
der Überstellungsfrist
nach Art. 29 Abs. 2 Satz
2 Dublin-III-VO. In:
Asylmagazin, 1-2/2015.
S. 12-17.
4 Vgl. Stephan Hocks:
Dublin-Überstellungen
nach Italien in neuem
Licht. In: Asylmagazin,
1-2/2015. S. 5-11.
Sebastian Muy ist Sozialarbeiter im
Berliner Be-
ratungszentrum
BBZ und ist dort
aktiv im Aktions-
bündnis gegen
Dublin.
„Ein zutiefst christ-licher Gedanke“
JENA 27.12.2014
In Jena wird ein 27-
jähriger Flüchtling aus
Afghanistan durch ein
Kirchenasyl geschützt.
Wie der MDR berichtet,
war Ahamad H. über
Bulgarien nach
Deutschland geflohen.
Da Ahmad H. in
Bulgarien Obdachlosig-
keit und Not fürchtete,
schützte ihn eine
Kirchengemeinde vor
der Abschiebung.
»Hinter dem Kirchen-
asyl steht ein zutiefst
christlicher Gedanke.«,
sagte Pfarrer Lothar
König, der sich
ebenfalls für Ahmad H.
einsetzt.<
Die Geschichte der Familie beginnt in Italien:Hooda und Mahamed kamen als Boots-flüchtlinge im Jahr 2008 nach Sizilien. Beide
dachten, sie hätten es geschafft: Den Bürgerkrieg inSomalia hinter sich gelassen, den gefährlichen Wegdurch die Wüste und die Überfahrt über das Mit-telmeer überlebt. Endlich in Europa! In Italien werdensie irgendwann als Schutzberechtigte anerkannt. NachSomalia abgeschoben werden dürfen sie nicht,entscheiden die Italiener. Hilfe zum Überlebenerhalten sie jedoch auch nicht. Die beiden werdenobdachlos, wie so viele Flüchtlinge in Italien. »Wir
haben auf der Straße gelebt und gebettelt. Was solltenwir machen? Wir bekamen keine Wohnung, keinenJob. Hooda wurde schwanger, trotzdem gab es füruns nichts«, erinnert sich Mahamed.
Das junge Paar entscheidet sich weiterzureisen: IhrSohn soll es besser haben und in Sicherheit aufwach-sen. Sie schaffen es bis in die Niederlande, dort wirdZakaria geboren. Dann erklären die Behörden, dassItalien für sie zuständig ist und die Familie zurückmuss. Wovon sie in Italien leben sollen erklären sienicht. Im Dezember 2009 schieben die Niederlande
Tobias Klausarbeitet bei Pro Asyl
in Frankfurt und
betreut dort unter
anderen die Kam -
pagne „Wir treten
ein“ gegen die
Dublin III Verord-
nung.
Der vorliegende Text
ist auf der Home-
page der Kampagne
unter bereits er -
schienen
www.wir-treten-ein.de
27
Italien:Anerkannt und obdachlos. Eine Fluchtodyssee durch Europa
„Die ständige Angst spüren die Kinder, ist immer da, zerstört die Hoffnung, macht krank“, sagt Evelyn Stoe-vesand. Sie betreut in Hambühren ehrenamtlich eine somalische Flüchtlingsfamilie – Hooda, Mahamed undihre drei kleinen Kinder. Seit mehr als sechs Jahren irrt die Familie durch Europa, nie durften sie irgendwoankommen. Nun droht auch aus Deutschland die Abschiebung. Von Tobias Klaus
Foto: Kaveh Rostamkhani
Hooda, Mahamed und Zakaria zurück nach Italien.Ihr Sohn ist da gerade drei Monate alt. Die Familielebt wieder auf der Straße. »Wir sind vor dem Krieggeflohen, vor dem Tod. Wir haben Angst gehabt vorItalien, vor dem Hunger, mit dem Baby auf der Straßezu leben, darum mussten wir weg”, sagt Mahamed.Nach knapp einem Jahr schaffen sie es in dieSchweiz. Doch auch in der Schweiz dürfen sie nichtbleiben. Es geht weiter nach Dänemark. Auch hierwollen die Behörden sie abschieben. Doch diesmalläuft etwas anders: Eine Flüchtlingsorganisationschaltet sich ein und schafft es insgesamt drei Jahrelang, eine Abschiebung zu verhindern. Der Familiegeht es gut, sie kann endlich aufatmen und in Europaankommen. In dieser Zeit werden ihre Kinder Salmanund Selma geboren. Doch dann kommt der Herbst2014: Die dänischen Behörden teilen mit, dass sienach Italien zurück müssen – Dänemark sei nichtzuständig für sie. Die Familie gerät in Panik, zurücknach Italien mit drei kleinen Kindern? Unvorstellbar.
Ich bin täglich in der Familie und erlebe wie grausamsich die Situation auf die Psyche dieser Familie auswirktEvelyn Stoevesandt
Hooda, Mahamed und ihre Kinder fliehen weiternach Deutschland. Auf dem Weg werden sie getrennt.Hooda und die Kinder kommen nach Hambühren,Mahamed nach Hamburg, erst später finden sie sichwieder. In Hambühren werden sie aufgenommen undunterstützt. »Die Familienmitglieder sind dankbar fürdie Zuwendungen, die sie erfahren, fühlen sichangenommen im Ort und lernen die deutscheSprache«, sagt Evelyn Stoevesandt, die die Familieehrenamtlich betreut. »Zakaria ist seit Januar imKindergarten und im Fußballverein, spricht er-staunlich gut deutsch und möchte mit seinen Freun-den im Sommer in die Schule«.
Kinder und Eltern können wieder zur Ruhe kommen,doch dann erfahren Hooda und Mahamed von ihremAnwalt, dass Deutschland sie nach Italienzurückschicken möchte. Dort wurde sie als Flüchtlinganerkannt, dort müssen sie bleiben, wird ihnenerklärt. Jetzt ist die Angst wieder da. »Ich bin täglichin der Familie und erlebe wie grausam sich dieSituation auf die Psyche dieser Familie auswirkt«, sagtStoevesandt. Die ganze Familie leidet unter derGefahr, erneut zurückgeschickt zu werden. »Wo sollenwir leben? Was sollen wir essen?«, fragt Mahamed.Wann dürfen Menschen wie Hooda, Mahamed undihre Kinder endlich irgendwo in Sicherheit leben,fragen wir.<
d u b l i n d r e i
28
Sitzblockade verhindert Abschiebung
AMELINGHAUSEN
7.1.2015
Bürgerinnen und
Bürger haben durch
eine Blockadeaktion die
Abschiebung eines
Sudanesen verhindert.
Warum sie gegen die
Überstellung nach
Italien aktiv wurden,
erklärt ein Aktiver: »Die
Flüchtlinge müssen auf
der Straße leben, unter
Brücken schlafen, sich
ihr Essen erbetteln, für
sie gibt es keinerlei
medizinische
Versorgung.« Aufgrund
der Sitzblockade vor der
Flüchtlingsunterkunft
brach die Polizei die
Abschiebung ab.<
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) stellte schon imDezember 2011 die Voraussetzungen des Dublin-Systems – das von einer prinzipiellen Beachtung derMenschenrechte von Flüchtlingen in allen europäis-chen Mitgliedsstaaten ausgeht – grundlegend inFrage.1 Zuvor hatte bereits der Europäische Gericht-shof für Menschenrechte (EGMR) Abschiebungennach Griechenland aufgrund systemischer Mängel imAsylsystem ausgesetzt.2 Beide Urteile erzeugten Risseim Dublin-System. Und die sind auf die strukturellenWidersprüche der Dublin-Verordnung zurück-zuführen.
Diese Probleme ergeben sich aus seiner Entstehung:Die deutsche Bundesregierung und andere europäi -sche Kernstaaten waren wesentliche Architekten derVerordnung und erkauften die Zustimmung der EU-Außengrenzenstaaten durch das Versprechen, diesefinanziell bei der Aufnahme und beim Grenzschutzzu unterstützen.3 Zum Zeitpunkt der Verhandlungenwar die Situation jedoch eine andere als heute. DasMittelmeer war keine derart stark genutzte Route der
Migration, weniger Menschen waren gezwungen zufliehen und die unterzeichnenden Staaten waren nichtdurch die 2007 einsetzende Wirtschaftskrisegeschwächt.
Die Asylanträge in den EU-Grenzstaaten stiegen nachder Beschlussfassung von Dublin-II stark an. Vorallem in Griechenland war die Situation dramatisch.Flüchtlinge waren mit menschenunwürdigen Bedin-gungen, willkürlichen Inhaftierungen, einem fehlen-den Zugang zum Asylverfahren und rechtswidrigenAbschiebungen konfrontiert. Der Pro-Asyl-Bericht„The truth may be bitter but it must be told“4, dasNoBorder-Camp auf Lesbos und Filmaufnahmen vonFlüchtlingen dokumentierten diese Situation. Es folgteWiderstand gegen Dublin – verstärkt kämpfte manauf Rechtswegen.
Recht auf Menschenwürde
In Deutschland wurden diese Kämpfe durch eineKlage zweier Asylsuchender aus Afghanistan eröffnet.
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29
Mit Recht gegen RechtDas Dublin-System ist angreifbar. Die strategische Prozessführung hat bereits tiefe Wunden hinterlassen.Aber mit Klagen allein ist nichts getan. Von Max Pichl und Adrian Oeser.
Foto: Christian Steinmüller
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Erst für Integrationspreisnominiert – dannabgeschoben
WALSRODE 16.1. 15
Arnaud Tivoli war mit
der Trommelgruppe
Trokiwa aus dem
Evangelischen Kirchen -
kreis Walsrode Wettbe -
werbs teilnehmer beim
Niedersächsischen
Integrationspreis 2014.
Vor der Preisverleihung
wurde er abgeschoben.
Mit der Aktion „Zu -
flucht Niedersachsen
für Arnaud Touvoli!“
hat Trokiwa zwei
Gottesdienste für
Arnaud und Flücht -
linge gestaltet, 7200
Menschen sendeten
über Change.org
Schreiben an die
Schirmherren des
Integrationspreises,
zahlreiche Menschen
spendeten für die
Arbeit zweier
Fachanwälte.<
30
Sie wollten ihre drohende Abschiebung nachGriechenland verhindern. Sie klagten vor demVerwaltungsgericht in Gießen und beantragten denSelbsteintritt Deutschlands für ihre Asylverfahren. DasSelbsteintrittsrecht erlaubt es EU-Mitgliedsstaaten,einen Asylantrag zu bearbeiten, selbst wenn keineformale Zuständigkeit besteht. Das Gericht setzte dieAbschiebung der beiden Kläger aus, da Flüchtlingeim Fall einer Abschiebung nach Griechenlandmenschenrechtswidrig behandelt werden würden. Inder Begründung wurde explizit auf den Bericht vonPro Asyl Bezug genommen.
Die Mehrzahl der Verwaltungsgerichte schloss sichder Entscheidung des VG Gießen an und im Dezem-ber 2008 kam es zu einer ersten Abschiebungsausset-zung durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG).Im vorläufigen Rechtsschutz im Hauptsacheverfahrenwar fraglich, ob die deutschen Behörden ohnePrüfung davon ausgehen konnten, dass jederMitgliedsstaat der EU die Flüchtlings- und Menschen-rechte schützt. Auch die Richterinnen und Richter desBVerfG verwiesen bezüglich der Lage in Griechen-land auf Berichte von Nichtregierungsorganisationen.
Über die Würde von Staaten
Der damalige Bundesinnenminister Thomas DeMaizière (CDU) argumentierte hingegen vor demBVerfG, dass es gegen die „innere Würde der Staatenin der EU“6 verstoßen würde, wenn nicht von ihrerprinzipiellen Rechtsstaatlichkeit ausgegangen wird.De Maizière wurde durch das BVerfG zurecht-gewiesen, dass die behandelte Frage die gewährleis-tende Würde von Menschen und nicht von Staatenzum Gegenstand habe. Zu einer Entscheidung desBVerfG kam es nicht mehr. Das Bundesinnenminis-terium (BMI) nahm von seinem SelbsteintrittsrechtGebrauch und setzte sämtliche Abschiebungen nachGriechenland aus. Das BMI wollte einem Urteil desEGMR zuvorkommen, das tatsächlich wenige Tagespäter sowohl Griechenland als auch Belgien ineinem Dublin-Fall verurteilte: Griechenland aufgrundder dortigen Rechtsverletzungen gegenüber Flüchtlin-gen; Belgien aufgrund der Abschiebung nach Grie -chenland. Das Urteil hatte eine enorme Sprengkraft.Denn nicht nur der aufnehmende, sondern auch derabschiebende Staat wurde für die Wahrung derMenschenrechte von Asylsuchenden zur Verantwor-tung gezogen.
Den Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationenwar es gelungen, die Dublin-Rechtsprechung zuverändern. Zugleich stärkte der EuGH die Rolle der
Berichte von NGOs in Gerichtsverfahren. Sie wurdenvom EuGH als ernstzunehmende Quellen in derEntscheidungsfindung gewürdigt.
Dublin mit Recht gekippt?
Die Anti-Dublin-Bewegung versuchte nach den erstenErfolgen bei der Aussetzung von Abschiebungennach Griechenland, das System durch weitere Ge -richtsverfahren zu schwächen. Schließlich ist dieSituation für Flüchtlinge in anderen EU-Grenzstaatenwie Bulgarien, Italien, Malta oder Ungarn vergleich-bar prekär. Dementsprechend wurden Berichte zu derMenschenrechtssituation in diesen Staaten veröffent -licht und Rechtsverfahren angestrengt. EinigeVerwaltungsgerichte unterbanden Abschiebungen injene Grenzstaaten, jedoch gibt es aktuell keineeinheitliche Rechtspraxis. Für Flüchtlinge ist dergesamte Prozess daher ein Glücksspiel.
Teilerfolge ließen sich erneut auf der höchstrichter-lichen Ebene verzeichnen. Sowohl das Bundesverfas-sungsgericht7 als auch der EGMR8 befassten sich mitAbschiebungen von besonders schutzbedürftigenFlüchtlingen (Familien mit Kleinkindern) nach Italien.Zwar konnte keine generelle Aussetzung vonAbschiebungen nach Italien erreicht werden, dennochverwiesen die Urteile auf die menschenunwürdigeSituation von Flüchtlingen mit besonderem Schutzsta-tus. Das Urteil des EGMR erbrachte zudem dieNeuerung, dass es nicht mehr auf systemische Mängelim Asylsystem ankommt. Relevant ist, ob die Situationfür die schutzbedürftigen Flüchtlinge im Zielstaat mitder EMRK vereinbar ist.
Die bisherigen erfolglosen Versuche, das Dublin-System weiter auszuhöhlen, hängen unter anderemmit den Lernerfolgen der nationalen Innenministerienzusammen, die ihre Strategien angepasst haben undschneller reagieren, wenn Dublin-Berichte von NGOsMissstände aufzeigen. Dabei spielt auch das Europäi -sche Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) eineRolle. Es unterstützt die Mitgliedsstaaten bei der kos -metischen Behebung von Mängeln und verhindertvergleichbare systemische Mängel wie es sie in Grie -chenland gibt. An den grundsätzlich problemati schenBedingungen für Flüchtlinge ändert sich jedochnichts.
Die Grenzen des Rechtstreits
Damit sind gleichsam die Grenzen von rechtlichenKämpfen aufgezeigt. Rechtliche Verfahren sind einunverzichtbarer Bestandteil einer Strategie, um
d u b l i n d r e i
31
1 EuGH, Rs. C-411/10
und C-493/10 v.
21.12.2011.
2 EGMR, M.S.S. v.
Belgium and Greece,
Application no.
30696/09 v.
21.01.2011.
3 Meyerhöfer et al.,
„Dublin II kippen!“.
Kämpfe um selbstbe-
stimmte Migration in
Europa, in: For-
schungsgruppe
Staatsprojekt Europa
(Hrsg.), Kämpfe um
Migrationspolitik.
Theorie, Methode und
Analysen kritischer
Europaforschung,
Bielefeld 2014, S. 153f.
4 Vgl. PRO ASYL, „The
Truth may be bitter, but
it must be told.“ The
Situation of Refugees in
the Aegean and the
Practices of the Greek
Coast Guard, Frankfurt
am Main, 2007.
5 Urteil VG Gießen,
Az. 2 L 201/08.GI.A., v
25.04.2008.
6 Vgl. Bender, Die
mündliche Verhandlung
in Sachen „Dublin-II-
Verordnung“ vor dem
Bundesverfassungsge-
richt: Auch ohne
Entscheidung ist nichts
mehr so wie vorher.,
Kritische Justiz 3/2011,
S.288.
7 BVerfGE, Az.: 2 BvR
939/14 Beschl. V.
17.09.2014.
8 EGMR, Tarakhel v.
Schweiz, Application
no. 29217/12 v.
4.11.2014.
9 Lehnert, Kämpfe
ums Recht. Neue
Entwicklungen im
europäischen
Flüchtlings- und
Grenzschutzrecht, in:
movements. Journal für
kritische Migrations-
und Grenzregimefor-
schung 1 (1), S. 23.
Adrian Oeser hat Soziologie,
Politikwissenschaft
und Pädagogik in
Frankfurt/Main
studiert und ist
filmschaffend tätig.
Maximilian Pichlhat Rechtswissen-
schaften und
Politikwissenschaften
studiert. Er
promoviert in
Frankfurt/Main und
ist juristischer
Mitarbeiter bei PRO
ASYL
Rettung in letzter Sekunde
GELNHAUSEN 19.1.15
Einer syrischen Familie
drohte die Abschiebung
nach Bulgarien. Die
Furcht der Kinder vor
einer Rückkehr in die
Not dort war groß:
Panikattacken, psychi -
sche Probleme, sie aßen
wenig und schliefen
nicht mehr. Eine
Jugendpsychologin
stellte fest, dass die
Kinder gefährdet sind.
PRO ASYL und der
Flüchtlingsrat Hessen
reichten Petitionen ein,
woraufhin die
Abschiebung gestoppt
wurde. Der Anwalt
hofft darauf, dass ihr
Asylantrag auf
humanitärer Basis
angenommen wird.<.
Abschiebungen nach der Dublin-Verordnung zuverhindern. Sie zeigen zudem die Fragilität desDublin-Systems auf und können mitunter erheblicheBrüche erzeugen. Doch im Vordergrund der juristi -schen Beurteilung stehen Fragen nach Mängeln inden mitgliedsstaatlichen Asylsystemen. Bei Griechen-land waren diese Mängel angesichts überfüllter Unter -künfte, einem faktisch fehlenden Zugang zum Asyl -system und der Gefahr einer Abschiebung in dieVerfolgerstaaten, offensichtlich. Zudem entschiedender EuGH und der EGMR zu einem Zeitpunkt überGriechenland, als der mögliche Kollaps des griechi -schen Wirtschaftssystems durch die Krise im medialenFokus stand. Heute erleben wir demgegenüber eineAlltäglichkeit der Krise in Europa.
Sozio-ökonomische Defizite sind nicht nur einProblem für Flüchtlinge, sondern Teil der Lebensrea -lität aller Menschen in den EU-Grenzstaaten. DieBegründung einer besonderen sozialen Härte fürFlüchtlinge gerät deshalb mitunter an ihre Grenzen.Der Anwalt Matthias Lehnert verweist treffend auf dieWidersprüchlichkeiten: Während es im Europarechtdurchaus progressive Ansätze zur Verbesserung derSituation von Flüchtlingen gibt, ist das Recht selbstAusgangsbasis und Legitimationsgrundlage für eineninstitutionalisierten Rassismus.9
Eine prinzipielle Negation von rechtlichen Kämpfenkann dennoch nicht die Konsequenz sein. Vielmehrsollten im Rahmen strategischer Prozessführung dieemanzipatorischen Aspekte des Rechts effektivverfolgt werden. Gerade in Deutschland gibt es nocherheblichen Nachholbedarf, den EGMR und EuGH alsjuristische Akteure zu nutzen. Zu vermeiden ist aber
die Illusion, dass alleine das Recht eine menschen-würdige Behandlung der Flüchtlinge besorgenkönnte. Wo das Recht an seine Grenzen gerät undselbst repressiv wirkt, ist eine politische Antwortvonnöten. Schließlich ist das Dublin-System kein reinjuristisches Problem, sondern Ausdruck einesgrößeren Zusammenhangs: der Krise der Nord-Süd-Verhältnisse innerhalb der EU.
Gemeinsam gegen Dublin
Eine Vielzahl von verschiedenen Akteuren mussdaher in konkrete Kämpfe eingebunden werden, dieden komplexen Spagat zwischen einem Kampf mitdem Recht aber auch gegen das Recht vollziehenmüssen: Die Analyse von kritischen Wissenschaftlerin-nen und Wissenschaftlern kann dabei die polit-ökonomischen Funktionsweisen des EU-Grenzregimesaufzeigen und Handlungsfelder künftiger Kämpfebeschreiben. Unerlässlich sind Recherchen undDokumentationen von Journalistinnen und Journalis-ten, die prekäre Bedingungen von Flüchtlingen in derÖffentlichkeit thematisieren können. NGOs stehengewissermaßen an der Schnittstelle zwischen juristis-chen und politischen Kämpfen, indem sie Akteurevernetzen und zugleich mit ihren Berichten aufVerfahren einwirken und die Grenzpolitik skandal-isieren können. Die praktische Arbeit und Kritik vonAktivistinnen, Aktivisten und den Flüchtlingen selbstträgt tagtäglich dazu bei, die bürokratische Regu -lierung von Migration zu erschweren. Der rechtlicheKampf ist nur einer von vielen. ErfolgreicheRechtsverfahren zeigen aber, dass das Dublin-Systemstellenweise selbst im Rahmen des geltenden Rechtsangreifbar ist<
Prüfungsprozesse in Deutschland für so genannteDublin-Verfahren sind häufig weder eindeutig nochnachvollziehbar. Die Antragssteller sind oft derWillkür einzelner Gerichte und Behörden ausgesetztund dadurch erneut verunsichert, traumatisiert undins Elend gestürzt. In einer Welt der propagiertenMobilität und Bewegungsfreiheit bedeutet eineAbschiebung nichts anderes als das Versagen desherrschenden Systems. In Göttingen und anderenniedersächsischen Städten wehren sich viele Bürgerin-nen und Bürger entschlossen gegen Abschiebungenund stellen sich selbst gegen das Verfahren. Einlokalkolorierter Bericht.
Betroffene vor der Polizei schützen
Alles begann mit der versuchten Dublin-Abschiebung
eines Somaliers nach Italien im April 2014, die mit
mehreren Verletzten endete. Grund dafür war der
Polizeieinsatz unter Beteiligung der Beweissicherungs-
und Festnahmeeinheit (BFE) mit Hunden. Solidarische
Menschen aus Göttingen versammelten sich vor der
Wohnung des Betroffenen und verhinderten unter
bloßem Einsatz ihres Körpers den Vollzug der Abschie-
bung. Sie besetzten kurzerhand alle Treppen im Haus.
Die Polizei prügelte sich geradezu durchs Treppenhaus
zur Unterkunft des Betroffenen. Irgendwann gab die
32
Delete Abschiebung:Der Weg in eineandere Gesellschaft
Seit über einem Jahr häufen sich in Niedersachsen die Abschiebungsverhinderungen - Zeit für eine ersteAnalyse. Das Göttinger Bündnis gegen Abschiebungen zieht ein erstes Resümee und wagt einen Blick indie Glaskugel.
Polizei auf. Zurück blieben viele Verletzte auf beiden
Seiten und weit mehr schockierte Menschen. Dennoch
ließe sich die Aktion als Erfolg werten. Der Vollzug der
Abschiebung konnte an diesem Tag blockiert und der
Somalier vor der Festnahme durch die BFE gerettet
werden.
Die Eskalation während der verhinderten Abschiebung
verursachte ein mittleres politisches Erdbeben in Stadt
und Land. Siegfried Lieske, der
zuständige grüne Ordnungsdezer-
nent der Stadt, kündigte an, sich
künftig nicht mehr an Abschie-
bungen von langjährig in
Deutschland lebenden Ausländer-
innen und Ausländern zu
beteiligen. Grüne, Linke und
Piraten sowie mehrere Organisa-
tionen forderten die Auflösung der
BFE. Hitzig wurde der umstrittene
Einsatz im April 2014 auch im
Landtag diskutiert. Wenige
Wochen später stand das Privatauto eines BFE-
Polizisten in Flammen und der niedersächsische
Innenminister Boris Pistorius ergriff daraufhin glühend
Partei der BFE-Beamtinnen und Beamten.
Nach über einem Jahr ist der Einsatz noch immer
Anlass für Spekulationen. Handelte es sich wirklich bloß
um einen verfahrensrechtlichen Einsatz, um eine
Abschiebung mit allen Mitteln durchzusetzen? Sollte der
Einsatz vielmehr eine Übungssituation für die noch
recht junge BFE in Göttingen schaffen? Oder diente er
der Abschreckung solcher Menschen, die sich Abschie-
bungen widersetzen – seien es Betroffene, seien es
solidarische Bürgerinnen oder Bürger? Zumindest der
Abschreckungseffekt hat sich nicht erfüllt. Ganz im
Gegenteil, der brutale Polizeieinsatz bewirkte einen
Göttinger Solidaritätsruck. Die Blockaden von Abschie-
bungsverfahren erhielten fortan doppelt so viel Zulauf.
Und das, obwohl der erste Skandaleinsatz eine Reihe an
Gerichtsverfahren gegen die Demonstrierenden nach
sich zog: Widerstand, fahrlässige Körperverletzung und
Beleidigung. Zugleich stand die Polizei und deren
Gewaltausübung stark in der Kritik. Daran änderten
weder die Ordnungsstrafen gegen solidarische Prozess-
beobachter etwas, noch die Wertung polizeikritischer
Statements im Gerichtssaal als Beleidigung.
Welchen Effekt hatten die Vorfälle rund um denEinsatz im April 2014 auf die Göttinger Protestbewe-gung? Die Aktivisten im Widerstand gegen Abschie-bungen organisierten sich seither besser. Von 20
geplanten Abschiebungenkonnten die Ordnungsbehördenim Jahr 2014 nur sechs durch-setzen. Für mehrere Monate amStück wurde die Stadt quasi zurabschiebungsfreien Zone. Manvernetzte sich mit Gleichgesinn-ten in Osnabrück. Es kam zuBlockaden auch vor Parteizen-tralen. Parteibüros wurdenbesetzt. Das große Bündnisgegen Abschiebungen wurde insLeben gerufen. Am Tag der
deutschen Einheit stellten die Bündnisse in Osnab-rück und Göttingen unter dem Motto "Unsere Einheitheißt Solidarität - Stoppt das Sterben!!" lautstarkrassistische Politik und Stimmungsmache und dieneoliberale Verwertungslogik in der Gesellschaft anden Pranger.
Nach weiteren blockierten Abschiebungen undAuseinandersetzungen im Rathaus, lud Boris Pistoriusim Dezember 2014 zu einem runden Tisch namens„Kommunikation auf Augenhöhe – für einen respekt-vollen Umgang“ ein. Ganz so rund war die Besetzungdann jedoch nicht: Neben Parteien, Kirchen und derPolizei waren Vertreter für die Interessen geflüchteterMenschen nicht vertreten. Die einzige eingeladenebürgerliche Basisinitiative lehnte ab. Ihre Begrün-dung lautete: "Wir setzen uns nicht mit denen aneinen Tisch, die unsere Freunden und Nachbarnverprügeln und abschieben, die soziale Bewegungenkriminalisieren." Vor der Kirche, in der sich nun vorallem der Staat in persona mit sich selber traf, wurde
33
Erst verprügelt,dann abgeschoben
SCHWERIN 21.1.15
Ende 2014 wurde ein
20-jähriger Asylsuchen-
der in Schwerin
rassistisch beschimpft
und mit einem
Baseballschläger
zusammengeschlagen.
Der Verein Lobbi, der
Opfer rassistischer
Gewalt in Mecklenburg-
Vorpommern betreut,
organisierte für den
verletzten und
traumatisierten
Flüchtling, dass er in
der Schweriner
Heliosklinik behandelt
werden sollte. Doch er
wurde nach Italien
abgeschoben. Die
Opferberatungsstellen
fordern seit Jahren ein
Bleiberecht für
Betroffene rechter
Gewalt. Konkret setzt
Lobbi sich nun für die
Rückkehr dieses jungen
Mannes ein.<
der brutale Polizeieinsatzbewirkte einen GöttingerSolidaritätsruck
34
Blockade gegen drohendeKettenabschie-bung
GIEßEN 20.1. 15
Als die Polizei in
Gießen zur Überstel-
lung eines eritreischen
Asylsuchenden
anrückte, blockierten
rund 50 Bürgerinnen
und Bürger den
Eingang des Wohnhau-
ses. Der 27-Jährige sollte
nach Norwegen
überstellt werden, wo
ihm trotz der
desaströsen Menschen-
rechtslage in Eritrea die
Abschiebung ins
Herkunftsland droht.
Der norwegische Staat
will mit der brutalen
Militärdiktatur dafür
eigens ein Rücknahme-
abkommen schließen.
Bei unveränderter
Rechtslage solle es einen
neuen Abschiebever-
such geben - und eine
weitere Blockade .<
Foto: Göttinger Bündnis gegen Abschiebung
dagegen protestiert. Unbekannte zerkratzten dabeiangeblich den Lack am Dienstfahrzeug von Landespo-lizeipräsident Uwe Binias.
Ausblick auf die Zukunft
Siegfried Lieske und seiner Partei gefällt ihre Aufgabeals Ordnungsdezernat vermutlich inzwischen nichtmehr. Unlängst wurde Lieskes Wechsel ins Personalde-zernat bekannt, mit dessen jetzigen Vorsitzenden,Hans-Peter Suermann, solle er tauschen. Derartigemachttaktische Erwägungen seien nicht gerecht, sagteder Vorsitzende. Der grüneDezernent solle "im BereichOrdnung" nur aus derSchusslinie genommen werden,damit er sich bei künftigenAbschiebungen „nicht dieFinger schmutzig machen"muss.
Wie dem auch sei und mit wasfür kreativen Veränderungendie Behörden uns gegenüberweiterhin mobil machen wollen: Wir wollen zusam-men stehen für ein neues Recht auf Gesellschaft undTeilhabe an Stadt, denn wir bestimmen selbst wer hier"Recht auf Stadt" bekommt. Wir halten zusammenund lassen uns nicht spalten, von denen die uns inEcken drängen und unsere Kämpfe vereinzelnwollen.<
Seit März 2014 wurden allein in den Städten Osnabrück,
Göttingen und Hannover über 40 Abschiebungen durch
Blockaden verhindert, die größtenteils nach der Dublin-
Verordnung durchgeführt werden sollten. Dem Beispiel einer
Abschiebeblockade folgen viele andere Städte in Deutsch-
land.
Göttinger Bündnis:http://abschiebungenstoppen.noblogs.org
Osnabrücker Bündnis :http://nolageros.blogsport.eu<Anmerkungen>
Für mehrere Monate am Stückwurde die Stadt quasi zurabschiebungsfreien Zone.
Dublin, das Zuständigkeitssystem für Asylver-fahren innerhalb der EU, steht schon längerunter Druck. An erster Stelle sind hier
natürlich die Flüchtlinge zu nennen, die sich weigern,sich dem technokratischen System zu unterwerfenund sich immer wieder auf den Weg in einenanderen EU-Mitgliedsstaat machen, um dort Auf-nahme und Schutz zu suchen. Doch darüber hinausgab es bisher auch eine starke Allianz von antirassis-tischen Initiativen, NGOs, Anwältinnen und Anwälten,europäischen Gerichten und Regierungen aus demSüden der Europäischen Union, die eine tiefgreifendeReform Dublins forderten. Dies alles vor demHintergrund einer zunehmenden Dysfunktionalitätdes Dublin-Systems. Denn die tatsächlichen Überstel-lungsquoten sind mittlerweile im niedrigen zweistelli-gen Prozentbereich angekommen. Zudem ist es einoffenes Geheimnis, dass etwa Italien bestenfalls einelaxe Praxis der Registrierung von Fingerabdrücken inder EURODAC-Datenbank verfolgt, die das technischeHerzstück des Dublin-Systems bildet. Folge ist, dassdie nordeuropäischen Staaten, die dank Dublinjahrelang von historisch niedrigen Asylantragszahlenprofitierten, mittlerweile einen rasanten Anstieg neuerFälle verzeichnen. Damit stellt sich die Frage nachder Zukunft Dublins derzeit mit Vehemenz.
Diese Vehemenz wurde spätestens am 12. Juni 2015spürbar. „Österreich stoppt neue Asylverfahren“ titeltedie Süddeutsche Zeitung am 12.6.2015 und berichtete,dass die österreichische Innenministerin JohannaMikl-Leitner von der konservativen ÖVP die Asylbe-
hörden angewiesen habe, neue Asylanträge zwaranzunehmen und zu registrieren, diese aber nichtweiter zu bearbeiten. Vielmehr solle sich das Behör-denpersonal auf Rückführungen und Abschiebungenbeschränken.
Diese gezielte Herbeiführung eines systemischenMangels im österreichischen Asylsystem zielt selbst -verständlich nicht auf ein Ausscheiden Österreichsaus dem Dublin-System ab. Vielmehr erklärt Mikl-Leitner, dass es ihr mit diesem Schritt darum geht,den Druck auf die anderen EU-Staaten zu erhöhen.Sie habe sich schon seit Langem für eine Quoten-regelung anstelle des Zuständigkeitsbestimmungsver-fahrens à la Dublin ausgesprochen. Diesbezüglichwird sie folgendermaßen zitiert: „Bisher gibt es nureinzelne Absichtserklärungen. Die bringen uns nichtweiter.“
Der Zusammenbruch der Grenzkontrollen im Mittelmeer bringt Dublin ins Wanken
Dabei bleibt zunächst offen, warum das Dublin-System gerade im Jahr 2015 in die Krise gerät. DieEffekte des Dublin-Systems auf Flüchtlinge undsüdliche EU-Mitgliedsstaaten sind schon viele Jahrebekannt. Die höchstrichterliche Rechtsprechung desEuropäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (hiervor allem die Fälle MSS und Tarakhel) wie auch dasDublin-Urteil des Europäischen Gerichtshofs mit ihreneinschneidenden Konsequenzen für die Gesamtar-
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DublinEin System in der Krise
Die Verteilung von Flüchtlingen in der EU nach der Dublin-III-Verordnung funktioniert nicht mehr. NeueAnsätze oder ein Verfahren, das die Flüchtlinge in den Blick nimmt, sind nicht in Sicht.Von Aida Ibrahim und Bernd Kasparek
„Es fühlt sich anwie zu Hause“
GIEßEN 10.6.15
Seit Januar diesen
Jahres befinden sich
Yared, Sirak und
Degsew im Kirchenasyl
der Stephanus-Gemein -
de in Gießen. Allen
dreien droht die Ab -
schiebung. Sie haben
eine Odyssee durch
Europa hinter sich.
Yared ist seit 14 Jahren
auf der Flucht: Über
Äthiopien, den Sudan
und Libyen kam er
nach Europa: Italien,
Frankreich, Dänemark,
Norwegen und Schwe -
den. Degsew floh aus
der Obdachlosigkeit in
Äthiopien und landete
in den Niederlanden
erneut auf der Straße.
Sirak wurde in Eritrea
gefoltert, denn er wollte
zur Schule gehen, nicht
zum Militär.<
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„Wir bleiben, auch wenn es hart wird“
HANNOVER 20.12.14
Sudanesische Asyl -
suchende demon-
strieren mit einem
Protestcamp in
Hannover gegen Ab -
schiebungen und für
bessere Lebensbedin-
gungen. Als im
Sommer einer der
Protestierenden
nach Italien abge -
scho ben werden
sollte, traten 29
Flüchtlinge in den
Hungerstreik. Die
Flüchtlinge kriti -
sieren, dass nur
wenige Sudanesen
in Deutschland als
Flüchtlinge aner -
kannt werden.
Flüchtlingssprecher
Abdullah sagte der
EZN: „Wir bleiben,
auch wenn es hart
wird.“<
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Illustration: Andrea Huber
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„Das dürfen wirnicht zulassen“
LAM 16.1.2015
Mohamad Reza
Barzegar hat in Lam
viele Freundinnen und
Freunde gefunden. Als
dem jungen Iraner die
Abschiebung nach
Italien angedroht wird,
reichen diese eine
Petition ein. Für
Mohamad, der Epi -
leptiker ist, wäre eine
Abschiebung in ein
Land, in dem Flücht -
linge keine medizini-
sche Hilfe erhalten,
besonders gefährlich.
„Italien ist zwar ein EU-
Staat, dennoch werden
Flüchtlinge dort häufig
obdachlos, da es nicht
genügend Unterkünfte
gibt“, begründet
Jeannette Graßl die
Petition.<
chitektur Dublins wurden schon vor einiger Zeitgefällt. Eher jüngeren Datums ist die Novelle derDublin-Verordnung (Dublin III), die am 19. Juli 2013in Kraft getreten ist. Sie hat keine substanziellenÄnderungen der dem System immanenten Logikgebracht. Schon der legislative Prozess war durcheinen Konsens über die Beibehaltung des existieren-den Systems geprägt.
Vielmehr ist davon auszugehen, dass die derzeitigeKrise ein Effekt des Zusammenbruchs der Grenzkon-trolle im zentralen Mittelmeer ist. Diese Entwicklungnahm mit den Aufständen des arabischen Frühlingsund dem Bürgerkrieg in Libyen ihren Anfang, kamender EU und insbesondere Italien doch hier ihrestaatlichen Kooperationspartner in Fragen derMigrations- und Grenzkontrolle (Tunesien undLibyen) abhanden. Im Oktober 2013 führten dieSchiffsunglücke vor Lampedusa zu einer handfestenLegitimationskrise des Grenzregimes, die sich vorallem im europäischen Diskurs über die Zukunft derGrenzkontrolle niederschlägt. Das tödliche Wochen -ende vom 18. und 19. April 2014, an dem rund 650Flüchtlinge ertranken, hat diese Krise nur vertieft.
Die Unglücke von Lampedusa führten einerseits zuvollmundigen Ankündigungen der EU, ihre Migra-tions- und Grenzpolitik zu überdenken, andererseitssetzte die italienische Regierung die Marine-OperationMare Nostrum in Gang, die zum ersten Mal in derGeschichte des europäischen Grenzregimes derRettung von Menschenleben eine höhere Prioritätzuwies als dem Schutz der Außengrenze. Auf Druckder EU stellte Italien Mare Nostrum zum Novemberein, stattdessen startete die EU die Frontex-OperationTriton.
Dabei sind sowohl Mare Nostrum als auch Triton nurverschiedene Versuche, der stark angestiegenen(Flucht-)Migration über das Mittelmeer Herr zuwerden. Ob humanitaristisch angehaucht odervollkommen der Grenzkontrolle verpflichtet, beideOperationen waren und sind weiterhin mit derTatsache konfrontiert, dass im Jahr 2014 rund 200.000Flüchtlinge die EU über das Meer erreicht haben.Eine Vervierfachung der Zahlen von 2013, undFrontex – sicherlich nicht ohne Eigeninteresse – gehtfür 2015 von bis zu einer Million Flüchtlingen aus.
Auf der Ebene der EU-Politik entfaltete sich daher imFrühjahr 2015 hektische Aktivität. Der neue Kommis-sionspräsident Junker hatte schon bei der Vorstellung
seiner Kommission 2014 einen Neustart in dereuropäischen Migrationspolitik angekündigt. Dochzuerst preschte im März 2015 die italienischeRegierung mit einem „Non-Paper“ vor, in dem, malwieder, die Einbeziehung von Drittstaaten (nun vorallem Ägypten) in die Migrationskontrolle gefordertwurde. Dies führte erneut zu der unvermeidlichenDebatte um Flüchtlingslager in Nordafrika. Siewurden schon 2004 als Blair-Schily-Plan diskutiertund verworfen. Die Vorverlagerung der Migra-tionskontrolle war wiederum schon seit mindestenseinem Jahrzehnt gängige Praxis im Mittelmeer undhat sich in dieser Zeit nicht als praktikables Mittelerwiesen: Das Outsourcing von Kontrolle an Dik-taturen war und ist zum Scheitern verurteilt.
Nach dem tödlichen Wochenende im April präsen-tierte die Kommission einen Zehn-Punkte-Plan.Dieser beinhaltete vor allem eine Stärkung derFrontex-Operationen im Mittelmeer, ein forciertesVorgehen gegen Schlepper und Schleuser, eineUnterstützung der Asylsysteme in Italien undGriechenland durch das Europäische Asylunter-stützungsbüro (EASO) sowie eine Aufforderung andie Mitgliedsstaaten, die Praxis der Fingerabdruckab-nahme wieder ernsthaft zu verfolgen. Dazu folgenVerweise auf zu prüfende Relocation- und Resettle-ment-Programme sowie Absichtserklärungen imBereich der Vorverlagerung. Auch wenn der Plan einMaßnahmenpaket darstellt, so lässt er sich doch alsprägnante Analyse der Probleme des europäischenMigrationsregimes lesen. Insofern unterstreicht er denZusammenhang zwischen dem Zusammenbruch derKontrolle im Mittelmeer und der politischen KriseDublins.
Dabei ist erstmal nicht davon auszugehen, dass dieVorverlagerung der Migrationskontrolle in nähererZukunft umsetzbar ist und Ergebnisse im Sinne einerReduktion der Migration nach Europa zeitigen wird.Der vor allem von der EU-AußenbeauftragtenFederica Mogherini verfolgte Plan einer Militärmissionnach dem Vorbild der Anti-Piraten-Mission Atalantavor der Küste Somalias, die Schlepper und Schleuservor allem in Libyen militärisch bekämpfen soll,scheint eher verzweifelt. Dank der von Wikileaksveröffentlichten internen Dokumente (Rat 2015a und2015b) lässt sich mittlerweile abschätzen, wieillusorisch das Unterfangen ist. Gleichzeitig scheintdas notwendige UN-Mandat in Ferne, da sichRussland im UN-Sicherheitsrat gegen die Missionstellt.
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Abschiebungnach Italienblockiert
DORTMUND 5.2.2015
Die Initiative „Alle
bleiben hier – Abschie -
bungen stoppen!“ teilte
in einer Pressemit -
teilung mit: 50
Personen verhinderten
in den frühen
Morgenstunden die
Abschiebung eines
Pakistani in Dortmund
durch eine Sitzblocka -
de.Unter dem Hashtag
#abschiebestopruhr war
kurzfristig zu der
Aktion aufge rufen
worden.<
Relocation und Resettlement dienen nur als Überdruckventil
Ernstzunehmender und realistischer sind daher dieVorstellungen der Kommission, die im Mai in dreiMitteilungen veröffentlicht wurden. Am 13. Maiwurde die „European Agenda on Migration“ (2015b)vorgestellt. Diese orientiert sich am Zehn-Punkte-Plan, verspricht aber auch eine Aktivierung desNotfallmechanismus aus dem Vertrag von Lissabon(Art. 78(3)) bis Ende Mai 2015; außerdem einenlangfristigen Gesetzesvorschlag zur Relocation bisEnde des Jahres 2015 sowie eine Empfehlung füreinen EU-weiten Resettlement-Plan über 2016 hinaus.
Am 27. Mai folgte ein Vorschlag für eine Ratsentschei-dung zur Etablierung vorläufiger Maßnahmen, umItalien und Griechenland im Bereich des Asyls zuentlasten (2015d). Insgesamt 40.000 Asylsuchendesollen aus Italien (24.000) und Griechenland (16.000)in andere EU-Mitgliedsstaaten umgesiedelt werden(Relocation). Davon betroffen wären Flüchtlinge ausLändern mit einer Schutzquote von über 75 Prozent,Asylsuchende also, deren Anträge zu drei Vierteln inder EU anerkannt werden. Das ist zur Zeit lediglichbei Schutzsuchenden aus Syrien und Eritrea der Fall.Diese Vorgabe soll Flüchtlinge mit geringer Aussicht,als solche anerkannt zu werden, von der Umsiedlungausschließen. Insbesondere Schutzsuchende aus denwestlichen Balkanstaaten wären davon betroffen. DieRegelung ist zeitlich begrenzt: Sie soll für die Dauervon zwei Jahren und nur für Flüchtlinge gelten, dienach dem Inkrafttreten der Maßnahme nachGriechenland und Italien eingereist sind. DerVerteilungsschlüssel soll anhand der Bevölkerungs-größe, dem Bruttoinlandsprodukt, dem FaktorArbeitslosenquote sowie der Aufnahmequote vonFlüchtlingen berechnet werden. Die ersten beidenFaktoren fallen mit jeweils 40 Prozent ins Gewicht,die beiden letzten mit 10 Prozent. Nach demvorgeschlagenen Schlüssel müssten Deutschland undFrankreich als größte und wirtschaftsstärkste Mit-gliedsstaaten die meisten Flüchtlinge aufnehmen. AlsAnreiz sollen die Mitgliedstaaten für jede aufge -nommene Person eine Summe von 6.000 Euroerhalten. Insgesamt 240 Millionen Euro veranschlagtdie Kommission für das Vorhaben.
Denselben Verteilungsschlüssel schlägt die Kommis-sion in einer (rechtlich nicht bindenden) Empfehlungfür die Aufnahme von 20.000 Schutzsuchenden ausLändern außerhalb der EU vor (Resettlement). Andersals bei der „Notumsiedlung“ soll die Beteiligung der
Mitgliedsstaaten an einem Resettlement allerdingsfreiwillig sein. Die Ratio der Kommission folgt dabeiwieder der Krise der Grenze im Mittelmeer. Dennbegleitet wird dieser Vorschlag der Kommission voneinem „EU Action Plan against migrant smuggling(2015-2020)“. Konkreter wird die Kommission in ihrerEmpfehlung für einen europäischen Resettlement-Plan(2015f). Hier formuliert sie klar, welches Ziel sie mitdem Resettlement verfolgt. Es soll verhindert werden,dass Flüchtlinge für die gefährliche Reise über dasMittelmeer „Zuflucht bei kriminellen Schlepper- undMenschenhändlernetzen suchen“. Die Idee ist nichtneu: Bereits 2012 wurde ein gemeinsames EU-Resettlement-Programm beschlossen. Die Beteiligungfiel bisher mehr als verhalten aus: In einem Zeitraumvon sechs Jahren (2008-2014) wurden in dergesamten EU weniger als 40.000 Flüchtlinge neuangesiedelt. Verbindlichkeit bei der Aufnahme vonFlüchtlingen scheint in Europa ein Problem zu sein.
Die Mitgliedsstaaten wollen keine Relocation
Der Vorschlag der Kommission für eine Relocationvon Schutzsuchenden innerhalb Europas stießgrößtenteils auf Ablehnung. Die meisten Länderwollen nur einer freiwilligen Aufnahme zustimmen.Vor allem osteuropäische EU-Länder wie Tschechien,die Slowakei, Polen und die baltischen Staatenmeinen, sie könnten nicht so viele Flüchtlingeaufnehmen, wie sie der Quote nach müssten.Ungarns Regierungschef Viktor Orban nannte denVorschlag „absurd“ und „an Wahnsinn grenzend“. Dierechte Regierung des Landes kündigte jüngst dieErrichtung eines vier Meter hohen Drahtzauns an derGrenze zu Serbien an, um Flüchtlinge abzuwehren.Auch Großbritannien ist gegen eine Flüchtlingsquoteund kündigte wie Irland und Dänemark an, von ihrerOpt-out-Regelung Gebrauch zu machen. Spanien,Deutschland und Frankreich sind mit dem vorgeschla-genen Verteilungsschlüssel unzufrieden. Spanienfordert, dass die Arbeitslosenquoten stärker berück-sichtigt werden, während Deutschland und Frank -reich mit der Forderung, die Anzahl bereits aufge -nommener Flüchtlinge höher anzurechnen, ver-suchen, die ohnehin geringe Aufnahmequote von4.000 bis 5.000 Personen weiter zu senken.
Es überrascht nicht, dass sich die EU-Innenministerin-nen und Innenminister auf ihrem Gipfel vom 16. Juni2015 nicht zu einer Entscheidung bezüglich desRelocation-Plans der Kommission durchringenkonnten. Es gab lediglich Beschwörungen dereuropäischen Solidarität sowie Absichtserklärungen
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Einfallsreichtumzahlt sich aus
OSNABRÜCK 11.2.2015
Mit einer SMS- und
Telefonkette organisie-
ren sich Osnabrücker
Bürgerinnen und
Bürger regelmäßig
gegen Abschiebungen.
Im Februar 2015 trafen
sich 50 von ihnen zu
ihrer 30. Blockade.
Etwas war anders. Die
Behörden hatten den
Flüchtling vorab
schriftlich verpflichtet,
sich vor dem Tor der
Unterkunft aufzuhalten.
Doch inmitten all der
Menschen war nicht zu
erkennen, wer
abgeschoben werden
soll. Mehrere Männer
heben die Hand und
riefen „Hier“. Die
Ausländerbehörde
bricht die Aktion unter
Applaus ab.<
bezüglich einer freiwilligen Beteiligung. Der deutscheInnenminister De Maizière brachte das Ergebnis daherauf die typische europäische Formel „Es gibt nochkein Ergebnis, aber es gibt eine gemeinsameÜberzeugung, dass wir bald eine gemeinsame Lösungbrauchen“.
Dabei zeigt sich in der gesamten Diskussion umRelocation und Resettlement an keiner Stelle eineweitreichende Reform Dublins. Vielmehr handelt essich um die Einführung eines Überdruckventils, dasDublin vor dem endgültigen Kollaps, der sichaufgrund der steigenden Ankunftszahlen abzeichnet,schützen soll. So ist auch die deutsche Verhand-lungsposition zu interpretieren. Nachdem Deutsch-land über ein Jahrzehnt von Dublin profitiert hat, istes das Land, das einen Zusammenbruch des gemein-samen europäischen Asylsystems am meisten zufürchten hat. Die deutsche Unterstützung für dieRelocation-Pläne der Kommission sind daher derVersuch, eine Brandmauer um Dublin zu errichten.Dies lässt sich konkret in einer Erklärung desfranzösischen und des deutschen Innenministers nachdem G6-Treffen der sechs wichtigsten EU-Innenminis-terinnen und -minister am 1. und 2. Juni 2015 aufSchloss Moritzburg nachlesen: „Das Dublin-Systemmuss in Kraft bleiben“ (BMI 2015). Zu diesem Zweckschlagen Deutschland und Frankreich eine verstärkteeuropäische Intervention in Form einer Asyl-Troikaaus EASO, Frontex und der Kommission in den EU-Mitgliedsstaaten an der Außengrenze vor.
Flüchtlinge suchen ihr Ziel nicht nach einemVerteilungsschlüssel aus
Festzuhalten bleibt, dass das politische Feld rund umDublin derzeit so dynamisch ist wie noch nie in derknapp 25-jährigen Geschichte der Verordnung. Dochlassen sich die Haltungen der aktuellen Akteureabschätzen. Die Position Deutschlands und Frankre-ichs wurde schon angedeutet. Für diese beidenStaaten, die nach dem von der Kommissionvorgeschlagenen Verteilungsschlüssel 22 Prozent und17 Prozent der Flüchtlinge in der EU aufnehmenmüssten, stellt der Schlüssel eine Obergrenze da, anderen Durchsetzung beide Staaten ein großesInteresse haben müssen. Die Position der Kommis-sion zielt wohl auf eine langfristige ModifikationDublins hin zu einem tatsächlichen Verteilungssystem.Die Aktivierung des Notfallmechanismus aus demVertrag von Lissabon verfolgt vor allem das Ziel,einen konkreten Verteilungsschlüssel in der politis-chen Realität der EU-Migrationspolitik zu etablieren.
In einem weiteren Schritt kann die Kommission aufdiesen Schlüssel verweisen und darauf aufbauend eintatsächliches Verteilungssystem vorschlagen, das dannvielleicht gar nicht mehr durch Ausgleichszahlungenversüßt werden muss.
Doch für all diejenigen, die gegenwärtig von derMisere des Dublin-Systems betroffen sind, also alljene Flüchtlinge, die schon in Europa sind oder diegerade erst ankommen, bedeuten diese Diskussionenwenig. Denn die grundsätzliche Krux sowohl desDublin-Systems als auch eines wie auch immergearteten Umverteilungssystems ist, dass die Fairnessdes Systems jeweils anhand der Lasten bewertet wird,die es in den einzelnen Mitgliedsstaaten verursacht.Damit fällt die Subjektivität der Flüchtlinge, diemeistens sehr genaue Vorstellungen haben, inwelchem Mitgliedsstaat der EU sie Zuflucht suchenwollen, erneut unter den Tisch. Es ist aber genaudiese Selbstbestimmtheit, die den Kern der gegenwär-tigen Krise Dublins ausmacht. Sie wird auch die Krisedes nächsten Systems ausmachen. So entstand jüngstein weiteres Flüchtlingscamp an den Landesgrenzeninnerhalb Europas: Dieses Mal sind Flüchtlinge an derfranzösisch-italienischen Grenze in einen Sitzstreikgetreten, weil Frankreich ihnen die Einreise unddamit die Weiterreise in ihr Zielland verweigert. DerVersuch, die Protestierenden mithilfe vonPolizeikräften zu vertreiben, lässt sich als Macht-losigkeit gegenüber der Beharrlichkeit und Selbstbe -stimmung der Flüchtlinge begreifen.<
Bernd Kasparekpromoviert über das europäische Grenz- und Migrationsre-
gime. Er ist Mitglied des Vorstands der Forschungsassoziation
bordermonitoring.eu und aktiv beim Netzwerk Kritische
Migrations- und Grenzregimeforschung
Aida Ibrahim studiert and der Uni Hamburg Afrikanistik und Politikwis-
senschaften. Sie ist Mitglied von MigMap und dem Netzwerk
für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung.
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Erfolg mit zivilem UngehorsamHOFHEIM 13.2.2015
Der Einsatz des
Freundeskreis Asyl in
Hofheim für eine
syrische Familie zeigt
Wirkung: Die Behörden
setzten die geplante
Abschiebungen nach
Bulgarien aus. Zuvor
hatten der Freundes-
kreis und lokale
Politiker öffentlich
gegen die geplante
Abschiebung protestiert.
Im Fall der Familie
Abass hoffen die
Unterstützer nun
darauf, dass vor
Gericht einem Eilantrag
stattgegeben wird. Falls
nicht, kündigt der
Freundeskreis notfalls
zivilen Ungehorsam
an.<
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Destination EUhopeEine Fotostrecke von Sil Egger
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„Meine Bilder sollen eine visuelle Annäherung ermöglichen. Sie implizieren Geschichten,
manchmal erreichen sie einen poetischen Moment, der über die konkreten Ereignisse hinausreicht.“
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„Wenn man an diesen Orten steht, ist man ganz fern von irgendwelchen paradiesischen Vorstellungen. Es ist unwirtlich, abweisend und karg.
Ich wollte zeigen, wo Träume zerschellen und wo sich Menschen für eine bessere Zukunft durchschlagen.“
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„Mir war es wichtig, auch die deprimierende Seite der Insel zu einzufangen.
Dabei kann es auch sonnig sein. Das grelle Sonnenlicht auf den Gräbern fand ich besonders bedrückend.“
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Die Insel ist berühmt für ihre kilometerweißenSandstrände, für verlässlichen Wind und Wellen.Homer besang die Kanaren als „Inseln der Glückseli-gen“. Sie waren stets ein Sehnsuchtsziel. Doch wiesieht die Schwelle nach Europa aus, fur dieFluchtlinge, die auf dem illegalen Seeweg fur eineungewisse Zukunft in Europa ihr Leben aufs Spielsetzen?
Ein Spiel mit der Vorstellungskraft
Das Projekt „Destination EUhope“ entstand 2003wahrend eines mehrmonatigen Aufenthalts derKunstlerin Sil Egger auf den Kanarischen Inseln. Mitihren Aufnahmen spielt sie subtil mit der Imagination,dem Vorwissen und dem Standpunkt des Betrachten-den. Die geographischen Gegebenheiten stehen fürOrte des Geschehens, ohne es darzustellen. Dazugehoren abgelegene Stra nde mit verfallenen oderschiffbru chigen Booten, Anlagen zur Radar- undSatellitenuberwachung, Friedho fe mit namenlosenGrabern, das Zwischenlager fur gefasste Fluchtlinge,Baustellen und Siedlungen sowie einige Portraits vonDurchreisenden und Gestrandeten. Die Landungs -plätze der Bootsflüchtlinge befinden sich oft unweitder gut besuchten Strände, vielleicht nur getrennt
durch eine Biegung oder ein paar Felsen. Es mögendie gleichen sein.
Einen Strand weiter könnte alles anders sein
Wenn leblose Körper an Land gespült werden oderFlüchtlinge nach der Ankunft sterben, werden sie auförtlichen Friedhöfen in namenlosen Gräbern beige-setzt. Soweit sie bekannt sind, werden Initialen undTodesdatum in den Beton geritzt, der das Grabverschließt. Durch Gespräche vor Ort erfuhr dieFotografin, dass Geflüchtete, die durchkommen, sichdie Schattenwirtschaft im Bauwesen und der Gas-tronomie aufteilen. Die Schlepper und Vorarbeiterseien meist Marokkaner, der Elektronikmarkt scheintfest in indischer Hand. Das Hotelwesen zeige sichdagegen etwas durchmischter. Fuerteventura als Ortdes Transits, des kurzen Verweilens für viele. Einigewerden aufgegriffen und abgeschoben. Für dasAbschiebegefängnis hat Sil Egger trotz offiziellerEmpfehlungsschreiben keinen Zutritt erhalten, estaucht nun fern am Horizont als trutzig in dieLandschaft gesetztes Bollwerk auf einem Foto auf,weit weit von den Hotels, in denen sonnenhungrigeBadegäste und Surfer auch in diesem Jahr ihrenUrlaub verbringen.<
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Europas südlichste Grenze, ein Strand
Mit ihrem Fotoprojekt „Destination EUhope“ machte sich die Künstlerin Sil Egger auf eine Spurensuchenach Bootsflüchtlingen auf Fuerteventura. Von Jessica Schallock
Sil Egger ist Fotografin,
Filmemacherin und
Künstlerin, sie lebt
und arbeitet in
Berlin.
Jessica Schallock ist Kultur- und
Kommunikationswis-
senschaftlerin und
arbeitet in München
als Kommunikato-
rin.
Die Bilderserie ist als limitierte Edition erhältlich. Die Edition erscheint mit 8 Abzügen der originalen Fotos (Farbe und
Schwarz-Weiß) im Format 60 x 40 cm auf hochwertigem Hahnemühle Papier. Die Einnahmen gehen vollständig als Spende
an den Bayerischen Flüchtlingsrat.
10er Edition / 8 Fotos von Sil Egger / 400 Euro
Bei Interesse melden bei [email protected]
In Ungarn ist die Zahl der Asyl-suchenden in der letzten Zeitrasant gestiegen. Wie ist dieaktuelle Situation?
Im letzten Jahr gab es in Ungarnüber 40.000 Asylanträge. Damithat sich die Zahl innerhalb vonnur zwei Jahren verzwanzigfacht.Und die Zahlen steigen weiter:Allein bis Mai diesen Jahres gab esbereits über 50.000 Asylanträge.Anfang diesen Jahres waren es vorallem Personen aus dem Kosovo,die in Ungarn einen Asylantragstellten. Deren Anteil ist allerdings
neuerdings stark rückläufig.Mittlerweile kommt die über-wiegende Mehrheit der Flüchtlingeaus Afghanistan und Syrien. Demstehen gerade einmal 2.000 Plätzein den offenen Aufnahmeeinrich-tungen und 500 Plätze in dersogenannten Asylhaft gegenüber.Für Flüchtlinge, die einen Schutz -status in Ungarn erhalten haben,gibt es sogar nur knapp über 100Plätze in zwei kirchlichenProjekten. Die meisten Flüchtlinge,die nach Ungarn kommen, reiseninnerhalb weniger Tage weiter ineinen der restlichen Schengen-
staaten. Würden sie dies nicht tun,wäre das ungarische Aufnahme -system bereits komplett kollabiert.
Auf welchen Wegen kommen dieFlüchtlinge nach Ungarn?
Der Großteil reist über die Türkeinach Griechenland. Von dort ausüberschreiten sie zunächst dieGrenze nach Mazedonien. Inetlichen Interviews berichten unsFlüchtlinge davon, dass sieMazedonien zu Fuß in RichtungSerbien durchquert haben, nichtselten entlang der Bahngleise.
Marc Speerarbeitet als Migra -
tionsforscher für
bordermonitoring.eu
in Budapest
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Ungarn:Staatlich geförderter Rassismus
Das Asylsystem in Ungarn droht zu kollabieren, da die Flüchtlingszahlen immer weiter ansteigen. Marc Speervon bordermonitoring.eu e.V. berichtet über die derzeitige Situation von Flüchtlingen in Ungarn und diedrastischen Maßnahmen, mit denen die ungarische Regierung die Migration nach Ungarn stoppen will. EinInterview von Agnes Andrae
Fotos: Marc Speer
Hintergrund ist, dass es Flüchtlin-gen in Mazedonien bis vorKurzem nicht erlaubt war,öffentliche Transportmittel wieBusse oder Züge zu benutzen. Inder südmazedonischen StadtDemir Kapija hat sich daher seiteiniger Zeit ein schwunghafterHandel mit Fahrrädern entwickelt,die von der lokalen Bevölkerungfür den doppelten Preis anFlüchtlinge verkauft wurden. Dassdie Leute zu Fuß oder mit demFahrrad durch Mazedonien reisen,spricht übrigens auch gegen dieThese, dass nahezu alle Reisen vonhochkriminellen, transnationaloperierenden Schleuserbandenorganisiert werden. In Serbien istdie Situation so, dass die meistenFlüchtlinge Busse bzw. Taxisnutzen und von diesen in dieNähe der Grenze zu Ungarngebracht werden, die sie dannmithilfe von Google Maps inGruppen von drei bis zwanzigPersonen in der Nacht überqueren.
Wie ist die Situation von Dublin-Rückkehrerinnen und Rückkehrernin Ungarn?
Im Juli letzten Jahres wurde inUngarn die sogenannte Asylhafteingeführt. Das bedeutet, dass dieungarische MigrationsbehördeAsylsuchende aus insgesamt sechsverschiedenen Gründen bis zusechs Monate inhaftieren kann.Einer dieser Haftgründe zieltdarauf ab, dass Asylsuchendeinhaftiert werden können, wenndie Gefahr besteht, dass sie sichdem Asylverfahren entziehen. FürLeute, die Ungarn bereits einmalverlassen haben, trifft das natür-lich zu. Insofern ist die Wahr -schein lichkeit, dass Dublin-Rückkehrerinnen und Rückkehrernach ihrer Ankunft in Ungarnsofort inhaftiert werden relativhoch. Gegenwärtig ist die Situationallerdings so, dass Ungarnmaximal zwölf Personen täglichaus den restlichen Dublin-Staatenzurücknimmt. Es überrascht daherkaum, dass im ersten Quartal
2015 gerade einmal 42 Personenaus Deutschland nach Ungarnüberstellt wurden, obwohl imselben Zeitraum 2.952 Übernah-meersuchen an Ungarn gerichtetwurden. Vor Kurzem hat dieungarische Regierung sogaroffiziell erklärt, das Dublin-Abkommen einseitig aufzukündi-gen und überhaupt niemandenmehr zurückzunehmen. Allerdingsmusste diese Ankündigungaufgrund des Drucks aus denanderen Staaten bereits einen Tagspäter wieder zurückgezogenwerden. Dennoch halte ich es fürabsolut unrealistisch, dass Ungarnin der nächsten Zeit tatsächlichzehntausende Asylsuchende ausden anderen Dublin-Staatenzurücknehmen wird. Nur werdensie es halt nicht nochmal offiziellverkünden, sondern auf eineLösung im Stillen setzen, also überunkooperatives Verhaltengegenüber den anderen Dublin-Units einen Fristablauf für dieÜberstellungen provozieren.Faktisch hat die permanente
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„Die Abschiebungwurde abgesagt"
GIEßEN 20.2.2015
Im Februar 2015
fanden sich um 4:30
Uhr morgens 200
Menschen vor einer
Flüchtlingsunterkunft
in Gießen ein, der
Eingang ist blockiert.
Ihr Ziel: Die Abschie-
bung eines 19-jährigen
Flüchtlings aus Eritrea
zu verhindern. Die
Behörden wollten ihn
nach Italien abschie-
ben. Schließlich großer
Jubel: „Die Abschiebung
wurde abgesagt" wird
verkündet. Die
Initiative „RASSISMUS
TÖTET" hatte über
facebook zu der Aktion
aufgerufen.<
Foto: Marc Speer
Plakat oben:„Wenn du nach Ungarn kommst,musst du unsere Kultur respektieren!“
Plakat unten: „Wenn du nach Ungarn kommst,darfst du den Ungarn keine Jobswegnehmen!“
unkontrollierbare Bewegung derMigration zum totalen Scheiternder Dublin-Verordnung geführt.Nur sagen möchte oder darf mandas halt nicht.
Kannst du noch was zu dengeplanten Maßnahmen derungarischen Regierung sagen, umdie Zahl der Flüchtlinge in Ungarnzu senken? In dem Medien warkürzlich die Rede von der Errich-tung eines Zauns an der serbisch-ungarischen Grenze.
Dass ein vier Meter hoher Zaun ander insgesamt 175 Kilometerlangen serbisch-ungarischenGrenze errichtet werden wird, istbereits beschlossen. Weiterhin hatdie ungarische Regierung voreiniger Zeit eine sogenanntenationale Befragung durchführenlassen, bei der alle ungarischenStaatsbürgerinnen und Staats-bürger einen Fragebogen erhaltenhaben, den sie dann an dieRegierung zurückschicken sollten.Aber eigentlich war das keinFragebogen, sondern überSuggestivfragen vermittelterassistische Propaganda, in der dieThemen Terrorismus und irregu -läre Migration auf übelste Art undWeise vermischt wurden. Eine derFragen war: „Manche sagen, dassdie fehlgeleitete Einwanderungs -politik Brüssels zum Anwachsendes Terrorismus führt. Stimmen Siedamit überein?“. Die letzte derinsgesamt 12 Fragen war: „Stim-men Sie mit der ungarischenRegierung überein, anstelle Mittelfür die Einwanderung bereit zustellen, dass wir ungarischeFamilien und die Kinder, die nochgeboren werden, unterstützensollten?“. Weil der Rücklauf aller -dings mehr als mau war, hat dieRegierung eine landesweitePlakatkampagne gestartet. Aufdiesen Plakaten hieß es beispiel-sweise: „Wenn du nach Ungarnkommst, darfst du den Ungarn
keine Jobs wegnehmen“. All diesmuss sicherlich so gewertet werden,dass sich die ungarische RegierungRückhalt in der Bevölkerungverschaffen möchte, nicht nur fürden Bau des Zauns sondern auffür weitere Maßnahmen gegenirreguläre Migrantinnen undMigranten. Im Gespräch ist aktuell,Serbien zum sicheren Drittstaat zuerklären, das Inhaftierungsregimeauszuweiten und Asylsuchendezur Zwangsarbeit zu verpflichten.Voraussichtlich werden diese Maß -nahmen auch den gewünsch tenErfolg haben: Die Asylan trags -zahlen in Ungarn werden innächster Zeit sicherlich wiedersinken. Allerdings wird dies auchnicht dazu führen, dass dieFlüchtlinge in Griechenlandbleiben. Sie werden sich nurandere Wege suchen: Beispiels -weise über Kroatien.
Was heißt das für Dublin alsGanzes?
Das System Dublin steckt aktuell ineiner nicht zu lösenden Krise, dieLeute lassen sich eben nichteinfach über einen Fingerabdruckdauerhaft an das Land ihrerEinreise festkleben. Es steht zuhoffen, dass auch die National-staaten und die EU dieses Faktumendlich akzeptieren und tatsäch-liche Lösungen erarbeiten, dieauch den Interessen undBedürfnissen der Betroffenengerecht werden.<
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Kinder gebenAnstoß fürAbschiebungs-blockade
ERFURT 23.2.2015
In Erfurt wurde die
Abschiebung einer
Familie aus Kambod-
scha verhindert. Kinder
gaben den Anstoß für
die Aktion: Eines der
betroffenen Kinder
erzählte einem anderen
Kind in der Schulklasse
von der drohenden
Abschiebung nach
Tschechien – und das
rief seine Eltern auf den
Plan, die sich in der
Initiative Roma
Thüringen engagieren,
einer Initiative gegen
Abschiebungen und
Ausgrenzung von
Flüchtlingen. 100
Menschen fanden sich
daraufhin vor der
Flüchtlingsunterkunft
ein. Die Familie erhielt
Kirchenasyl.<
Illustration: Andrea Huber
d u b l i n d r e i
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Menschen, die von Krieg, Verfolgung,Klimawandel oder welchen Gründen auchimmer nach Europa fliehen, lernen, einmal
angekommen, schnell eine neue Vokabel: „Dublin“.Dublin ist zum Synonym geworden für Abschiebe-haft, monatelange Unsicherheit, Trennung vonFamilien, Verschleppung von Asylanträgen: Das Spielmit Menschen im Namen eines politischen Theaters.Geflüchtete und ihre Unterstützerinnen und Unter-stützer wissen schon lange um das Leid, das Dublinverursacht. Doch neuerdings überlegen auch einigeRegierungen, ob sie die Dublin-Verordnung eventuelländern wollen. Denn auch aus einer Logik derAbschiebung heraus bringt Dublin wenig: Dänemarkverschickt Flüchtlinge an Schweden, Schweden anDeutschland, Deutschland an Österreich, Österreichan Schweden. Da alle Sender und Empfängergleichzeitig sind, ändert sich für viele Mitgliedstaatendie Zahl der Flüchtlinge, um die sie sich kümmernmüssen, nur unerheblich.
Das Dublin-System, das die Zuständigkeit fürAsylsuchende in der EU regelt, hat nur Nachteile.Trotzdem halten nach wie vor viele Mitgliedsstaatendaran fest. Denn Dublin ist auch ein politischesVersprechen, die Staaten zu bestrafen, die nicht
genug gegen Migration tun. Zuständig für Schutz-suchende ist nämlich immer der Mitgliedstaat, in demAsylsuchende zuerst ihren Fuß auf europäischenBoden gesetzt haben. Damit ist der Anreiz klar: DieStaaten sollen nichts unversucht lassen, Menschendraußen zu halten, damit sie ihr Recht auf interna-tionalen Schutz nicht wahrnehmen können. DieToten im Mittelmeer und die Zäune an den Außen-grenzen sind Zeugnis davon.
An Dublin schrauben: der Verteilungsschlüssel
Der Druck auf Dublin hat jedoch zugenommen: Diesüdlichen Grenzstaaten beschweren sich lautstark.Sogar die deutsche Bundesregierung ist mit Dublinnicht mehr zufrieden, seitdem Deutschland besondersviele Flüchtlinge zu versorgen hat. Andere Staaten mitniedrigen Flüchtlingszahlen sperren sich aber nachwie vor gegen eine Reform, sogar wenn sie nurvorübergehend greifen soll. Gerade hat die EU-Kommission vorgeschlagen, für den aktuellen Notfallder Überforderung Italiens und Griechenlands, einenVerteilungsschlüssel greifen zu lassen. Damit würden
Abgeschobennach Italien:Spenderkreis hilftnigerianischerFamilie
EHINGEN 8.6.2015
Arbeitskreis Asyl
Donauwörth: Elisabeth
Havelka lernte die
nigerianische Familie
Osazee kennen. Sechs
Monate später werden
Emmanuel und
Precious mit ihren zwei
kleinen Kindern abge -
schoben – nach Italien.
Die Familie landet in
Castel Volturno. Dort
sind die Hälfte der
Bevölkerung Flücht -
linge. Elisabeth Havelka
gründet einen Spender -
kreis: Die Familie kann
sich eine Unterkunft
leisten. Die Unterstützer
hoffen, dass die Familie
aus der Perspektivlosig-
keit in Italien entfliehen
und wieder nach
Deutschland ziehen
kann.<
Notfallquote kratzt an Dublin
Das Dublin-System hat vor allem Nachteile. Dies erkennen mittlerweile auch viele Mitgliedstaaten der EUund plädieren für einen Verteilungsschlüssel. Doch auch dieses Konzept birgt bislang kaum eine Verbes-serung für Geflüchtete. Von Ska Keller
über die nächsten zwei Jahre 40.000 syrische underitreische Flüchtlinge aus Italien und Griechenlandauf andere EU-Länder umverteilt. Selbst gegen dieseminimale Zahl gibt es Widerstand. Der Verteilungsschlüssel für den Notfall ist einTrippelschritt in die richtige Richtung. Die Solidaritätzwischen den Mitgliedsstaaten wird durch 40.000Plätze zwar eher symbolisch angegangen, aberimmerhin. Flüchtlinge, die jetzt tage- und wochenlangauf griechischen Inseln oder Sizilien festhängen,können zumindest darauf hoffen, dass ihr Asylantragim neuen Aufnahmeland schneller entschieden wird,als in den überforderten örtlichen Behörden.
Der Verteilungsschlüssel rechnet am eigentlichProblem vorbei
Der von der EU-Kommission vorgeschlageneVerteilungsschlüssel hat allerdings einen entscheiden-den Haken: Falls die Flüchtlinge wegen Sprachkennt-nissen, Familie oder Jobaussichten in ein bestimmtesMitgliedsland wollen, haben sie schlechte Karten(Anerkennungschancen werden bei der Notfallquotekaum eine Rolle spielen, denn nur Flüchtlinge miteiner sehr hohen Anerkennungschance kommenüberhaupt in das Verteilungsprogramm). Für denVerteilungsschlüssel bleiben Flüchtlinge letztlichZahlen, die sich mal eben hin und her schiebenlassen. Das ist schlecht für die Flüchtlinge, aber auchfür die Mitgliedstaaten. Denn Menschen, die nicht dasind, wo sie sein wollen, werden stets versuchen,dorthin zu gelangen, wo sie sein möchten. Das heißtdann: weitere Abschiebungen zurück in die zuständi-gen Länder. Weder an der menschlichen Tragödienoch an dem polizeilichen Aufwand und demVerwaltungsaufwand ändert sich irgendetwas durcheinen Verteilungsschlüssel, egal ob vorübergehendoder langfristig festgelegt. Beides lässt sich nur positivbeeinflussen, wenn die Asylsuchenden dieMöglichkeit haben, dorthin zu gehen, wohin siewollen. Und warum auch nicht? Wer in das Landgehen kann, in dem er oder sie die Sprache sprichtoder Verwandte hat, hat dort bessereIntegrationschancen und ist weniger auf staatlicheUnterstützung angewiesen.
Echte Dublin Alternativen zerschellen an einzelnen Mitgliedsstaaten
Wichtig bleibt aber, dass sich alle Mitgliedsstaatenbeteiligen. Das kann über einen finanziellen Aus -gleich passieren. Aber nur Geld wäre nicht fair undwenig hilfreich. Zumal ein Freikaufen von derFlüchtlingsaufnahme wie moderner Menschenhandelanmutet. Staaten, in die wenige Flüchtlinge wollen,könnten aber beispielsweise diejenigen aufnehmen,die kein bestimmtes Zielland haben. Damit solcheStaaten für Flüchtlinge attraktiver werden, könnten sieauch Flüchtlinge aus Flüchtlingslagern außerhalb derEU aufnehmen. Die EU-Kommission hat zusätzlichzum Verteilungsschlüssel für die Verteilung vonFlüchtlingen innerhalb der EU ein europäischesResettlement-Programm für die Aufnahme von 20.000Flüchtlingen vorgeschlagen. Darüber könnten auch inMitgliedstaaten, die bisher für Flüchtlinge kaumattraktiv sind, neue Communities entstehen, die dannNachzügler anziehen.
Ideen gibt es also genug. Mit der Durchsetzung wirdes trotzdem schwierig. Denn Regierungen scheinenlieber Naturkatastrophen auf sich zu nehmen alsFlüchtlinge. Es gibt kaum eine Regierungschefin odereinen Regierungschef, die oder der sich öffentlich zurhumanitären Verantwortung bekennt und dabei nichtdie Nachbarn, sondern sich selbst meint. DochRassismus kann man nur bekämpfen, indem man ihmentgegentritt, nicht indem man ihm Legitimität gibtdurch Gesetze, die Flüchtlinge diskriminieren. DasEuropäische Parlament ist kritischer, aber alleine kannes keine Dublin Reform durchziehen. Die Regierun-gen werden sich allerdings nur bewegen, wenn siemerken, dass es starken öffentlichen Druck für dieRechte von Geflüchteten gibt.<
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Ska Keller,grüne Europaabge-
ordnete, flüchtlings-
politische Sprecherin
und stellvertretende
Vorsitzende der
Grünen im
Europäischen
Parlament
35 verhinderteDublin-Abschie-bungen
OSNABRÜCK 8.6.2015
Seit März 2014 wurden
in Osnabrück 35
Abschiebungen
verhindert. Das Osna -
brücker „Bündnis
gegen Abschiebungen“
erklärt, wie sie das
erreicht haben: Per
Telefonkette und SMS-
Verteiler wird über
anstehende Abschie-
bungen informiert und
sich dann vor den
Geflüchtetenunterkünf-
ten versammelt, um die
abzuschiebende Person
und eintreffende
Beamtinnen und
Beam te nicht zusam -
menkommen zu lassen.
Dieser erfolgreiche
Einsatz ist zum Vorbild
für viele Initiativen
geworden.<
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Stillstand
Wie Geflüchtete durch das Dublin-System blockiert werden
Das Dublin-System ist nicht nur ein Verschiebebahnhof, der Geflüchtete gegen ihren Willen von Land Anach Land B verfrachtet. Es hält darüber hinaus viele Menschen über viele Monate hinweg in einerunsicheren Warteposition, ohne Zugang zu elementaren Rechten und Ressourcen. Es hindert sie daran,endlich ein neues Leben in einem neuen Land zu beginnen. Zwei syrische Geflüchtete erzählen, wieDublin III ihr Leben blockiert. Von Sebastian Muy
Kampf für dasRecht aufSelbstbestim-mung
BERLIN 20.2.2015
In Berlin haben
Flüchtlinge das
„Aktions bündnis gegen
Dublin" gegründet. Mit
Kundgebungen und
gegenseitiger Hilfe
wehren sie sich gegen
die Rückführung in
Haft und Elend.
Unterstützt werden sie
u.a. vom Beratungs-
und Betreuungszen-
trum für junge
Flüchtlinge und
MigrantInnen (BBZ),
borderline-europe und
Xenion. Sie fordern ein
Bleiberecht und ein
Ende der Dublin-
Abschiebungen. In
einem offenen Brief
plädieren sie für ein
gerechtes und
solidarisches System der
Flüchtlingsaufnahme in
Europa.<
Hassan Nour kommt aus Aleppo. Nachdem erwegen des Krieges in Syrien seine Arbeit alsIngenieur in einem Klimaanlagenunternehmen
verlor, war er als freiwilliger Mitarbeiter bei derhumanitären Organisation Jesuit Refugee Service inAleppo tätig. Wegen dieser Tätigkeit wurde er sowohlvom Regime als auch von Oppositionellen verfolgt.Er beschloss zu fliehen. 2014 reiste er zunächst nachErbil in Irakisch-Kurdistan und fand dort Arbeit.Nachdem sich die Situation auchdort verschlechterte, wurde erarbeitslos und zurück nachSyrien geschickt. Dort ist ererneut bedroht worden und erentschied, nach Europa zufliehen. Er kam über die Türkei,Griechenland, Mazedonien undSerbien nach Ungarn. Dort ist ervon seinem Schlepper in einemWald im Stich gelassen worden.Er ist von der Polizei festgenom-men, geschlagen und ins Gefängnis gesperrt worden.Obwohl er unter starken Schwellungen an den Füßenlitt, ist ihm der Zugang zu medizinischer Versorgungverwehrt worden. Unter Schlägen und der falschenBehauptung seitens des Dolmetschers, es handelesich lediglich um eine polizeiliche Maßnahme ohneBezug zum Asylverfahren, gab er seine Fingerab-drücke ab. Alle seine Dokumente sind ihmweggenommen worden. Am dritten Tag kam er freiund er wurde aufgefordert, ein Lager aufzusuchen.
Pass in Ungarn, Stillstand in Brandenburg
Stattdessen floh er weiter nach Deutschland. Hinterder Grenze ist er von der Polizei aufgegriffen undendlich medizinisch versorgt worden. Nach der Ver -teilung nach Brandenburg erhielt er vom Bundes amtfür Migration und Flüchtlinge eine Vorladung zumInterview. Dort ist er jedoch nicht nach seinenFluchtgründen befragt worden, sondern nur nachseiner Fluchtroute. Kurze Zeit später kam derBescheid: Das Dublin-Verfahren wurde eingeleitet.Seitdem wartet er, nichts passiert. Sein Pass sowiediverse Arbeitszeugnisse sind immer noch in Ungarn.Er wird sie nicht zurückerhalten, bis sein Dublin-Verfahren abgeschlossen ist und er in Deutschland alsFlüchtling anerkannt wird. Ohne seine Dokumente istsein Leben aber massiv erschwert. „Ich bin sogelangweilt, ich habe nichts zu tun“, sagt Hassan.Zweimal in der Woche besuche er in der Nähe desHeims einen Deutschkurs, jeweils für eineinhalbStunden. Aber sonst hänge er immer nur im Lager
herum und verbringe viel Zeit im Internet. Er habenur mit anderen arabischsprachigen Personen zu tun.So könne er kein Deutsch lernen, denn drei StundenKurs pro Woche seien sinnlos.
Seit drei Monaten lebt der 26-Jährige in einemSammellager in der Nähe von Berlin. Der Bescheidzur Einleitung des Dublin-Verfahrens kam AnfangMai. Es droht die Abschiebung nach Ungarn. Aber
auch im positiven Fall, dass erdie sechsmonatige Überstellungs-frist übersteht, wird sich vor2016 wohl nicht viel an seinerSituation ändern. „Alles inmeinem Leben steht still“, sagter, „ich will leben!“. Er wollenicht immer nur herum sitzenund nichts tun, er wolle arbeitenund Bürger dieses Landeswerden. „Wir sind vor dem Krieggeflohen, kommen hier nach
Deutschland, sehen die Leute zur Arbeit gehen, inihre Häuser, in die Bücherei, ins Schwimmbad, siehaben ihr Leben – warum können wir das nicht?“
Ein Jahr und noch nichts passiert
Auch Mohammed Ali Treifi kommt aus Syrien. Er ist45 Jahre alt und wohnt in einer Sammelunterkunft inBerlin. Zehn Jahre lang lebte er mit seiner Frau undseinen drei Kindern in Saudi-Arabien und arbeitetedort als Arzt. Die 13, 15 und 16 Jahre alten Kindergingen zur Schule. Aufgrund der Ausbeutung,Diskriminierung und Entrechtung, die sie als syrischeArbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten dorterlebten, und weil es in Saudi-Arabien für die Kindernach der Schule keine Zukunft geben würde, flohensie 2013 nach Istanbul. Dort besuchte Mohammed Alieinen Türkischkurs und wollte in seinem Berufarbeiten. Er bekam aber keine Arbeitserlaubnis.Deswegen lieh er sich Geld, um die Überfahrt nachEuropa bezahlen zu können. Er hatte gehört, dass inDeutschland Ärzte gebraucht werden. Darumentschied er sich, nach Deutschland zu reisen, umdann seine Familie aus der Türkei nachzuholen. Erwagte mehrmals die gefährliche Überfahrt über dasMittelmeer auf eine griechische Insel. Drei Versuchescheiterten. Bei einem der Versuche kenterte dasBoot, die Reisenden trieben stundenlang im Meer,eine Frau ertrank. Bei seinem vierten Versuch klapptees. Über Griechenland, Mazedonien und Serbien
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„Es ist einständiger Kampfmit der Angst“
ANDERSWO 6.2.2015
Eine Studentin hat
einen Flüchtling aus
Ghana bei sich
aufgenommen, dem die
Abschiebung nach
Italien droht und der
jetzt „illegal" in
Deutschland lebt. Da in
A.s Fall alle Einspruchs-
fristen bereits abge -
laufen waren, sah sie
keine andere Möglich -
keit, als ihn bei sich zu
verstecken. Die
Situation ist für alle
Beteiligten sehr
schwierig. Aber eines
macht ihnen Hoffnung:
Die große Solidarität in
ihrer Nachbarschaft.<
Unter Schlägen und der falschen Behauptung seitens des Dolmetschers, gab er seine Fingerabdrücke ab
gelangte er weiter nach Ungarn. Dort wurde erinhaftiert, und – genau wie Hassan – unter falschenBehauptungen dazu gebracht, seine Fingerabdrückeabzugeben. Im Gefängnis gab es kaum etwas zuessen und er musste mit 30 anderen Personen ineinem Raum leben. Am dritten Tag wurde er freige-lassen.
Ende Juli 2014 fuhr er mit einem Auto weiter nachDeutschland und beantragte Asyl. Vom Dublin-Verfahren hatte er bis dahin noch nie gehört. ZweiMonate später erhielt er einen Brief vom Bundesamt:Sein Asylantrag wurde als unzulässig abgelehnt, dieAbschiebung nach Ungarn angeordnet. Mit Hilfeeines Rechtsanwalts klagte er gegen die Entschei-dung. Letztlich erfolgreich: Nach sechs Monaten, imApril 2015, lief die Überstellungsfrist ab. Nun warteter darauf, dass sein Asylverfahren in Deutschlanderöffnet wird. Mohammed Ali ist nun also schon seitfast einem Jahr in Deutschland und sein Asylver-fahren hat noch nicht einmal begonnen.
Wegen des laufenden Dublin-Verfahrens konnteMohammed Al Treifi gerade einmal das A1-Niveauabschließen. Bald beginnt er mit einem A2-Deutsch-Kurs. Schnell und gut die Sprache zu lernen, sei sehrwichtig für ihn als Arzt, sagt er, denn er müsse sichdie Fachsprache aneignen, um in seinem Beruf Arbeitzu finden. Durch das Dublin-Verfahren habe er abersehr viel Zeit verloren. Bekannte von ihm, die ohneein Dublin-Verfahren als Flüchtlinge in Deutschlandanerkannt wurden, hätten im gleichen Zeitraumbereits das B1-Niveau abgeschlossen.
Gemeinsamer Kampf
Seine Frau und seine Kinder hat er das letzte MalAnfang Mai 2014 gesehen, als er sich von Istanbulaus auf den Weg machte. Seine Frau habe es sehrschwer dort, erzählt Mohammed Ali. Auch wenn dieAsylanträge von Menschen aus Syrien vergleichsweiseschnell bearbeitet werden, kann es noch viele Monatedauern, bis sein Gesuch bewilligt ist und er einenAntrag auf Familiennachzug stellen kann – auch weilbeim Bundesamt Personal durch die Bearbeitung vonDublin-Fällen gebunden wird. Hinzu kommen diekatrastrophal langen Wartezeiten bei den deutschenAuslandsvertretungen in der Türkei: Um überhauptnur einmal vorsprechen und ein Visum zum Familien-nachzug beantragen zu können, werden mittlerweileTermine bis zu zwölf Monaten vergeben.
Mohammed Ali berichtet, wie er unter der Situationzunehmend leidet. Während er anfangs noch vielunter Leute gegangen sei, einen Sprachkurs fürMedizinerinnen und Mediziner sowie die zwei-wöchentlichen Treffen des Aktionsbündnis gegenDublin im Beratungszentrum BBZ besucht habe,finde er dazu wegen seiner psychischen Problemeseit einigen Wochen kaum noch Motivation.
Er werde trotzdem auch nach seiner Anerkennung alsFlüchtling weiter im Aktionsbündnis gegen Dublinaktiv sein, sagt er. Denn er habe selbst erlebt, wie esist, in einem Dublin-Verfahren festzustecken. So wieer selbst für seine Zukunft und die seiner Familiegekämpft habe, so wolle er auch andere betroffeneFlüchtlinge unterstützen. Gemeinsam mit anderenGeflüchteten und Unterstützerinnen und Unter-stützern hatte er vor dem Bundesinnenministeriumdemonstriert, einen offenen Brief übergeben und inöffentlichen Veranstaltungen und Pressegesprächendarauf aufmerksam gemacht, welche Leiden dasDublin-System für die Betroffenen mit sich bringt.
Die Mehrheit bleibt
Im Jahr 2014 stellte die Bundesrepublik Deutschland3.913 Übernahmeersuchen an Ungarn. ObwohlUngarn in 3.282 Fällen der Übernahme zustimmte,fanden „nur“ 178 Überstellungen statt. Bei anderenMitgliedsstaaten ist die Überstellungsquote nochniedriger. Für die überwiegende Zahl derGeflüchteten in der BRD, die von einem Dublin-Verfahren betroffen sind, endet dieses also nicht miteiner Abschiebung, sondern mit einem Asylverfahrenin Deutschland. Bei einer Gesamtschutzquote vonderzeit fast 35 % – bei Menschen aus Syrien fast 100% – heißt das, dass viele Dublin-Betroffene am Endeeine Aufenthaltserlaubnis erhalten und in Deutsch-land bleiben. Dabei erschwert es massiv tausendenschutzberechtigten Flüchtlingen den Spracherwerbund den Arbeitsmarktzugang, und das über vieleMonate hinweg. Vor allem aber, das zeigen diebeiden Beispiele von Hassan und Mohammed Ali,stellvertretend für tausende weitere, führt das Dublin-Verfahren auch im positiven Fall der Nicht-Ab-schiebung zu einer monatelangen Zeit des Wartensund des Stillstands, die mit Unsicherheit, großenBelastungen und dem Ausschluss von zahlreichenRechten und Ressourcen verbunden ist. Höchste Zeitfür Europa, damit endlich Schluss zu machen, so dassdie Geflüchteten anfangen können dort zu leben, wosie sind und wo sie sein wollen.<.
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Sebastian Muyist Sozialarbeiter im
Berliner Beratungs-
zentrum BBZ und
ist dort, zusammen
mit Hassan Nour
und Mohammed Ali
Treifi, aktiv im
Aktionsbündnis
gegen Dublin.
„Ich hätte niegedacht, dass soviele Menschennur wegen mirkommen“
FRANKFURT 9.3.2015
Am Morgen des
9.3.2015 blockierten 40
Bürgerinnen und
Bürger in Frankfurt
den Zugang einer
Flüchtlingsunterkunft
und entrollten
Transparente. Die
Behörden wollten eine
Schutzsuchende aus
Äthiopien nach
Norwegen abschieben,
es drohte eine
Kettenabschiebung
nach Addis Abeba.
Über SMS hatte die
Initiative „Hierbleiben"
kurzfristig zu einer
Blockade aufgerufen.
Um 10:30 Uhr war klar,
dass es keine
Abschiebung geben
würde.<
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Samuels Reise Die Flucht des Kindersoldaten aus Eritrea führte über viele Länder in eine Grauzone – das Kirchenasyl.Und das ist nun seine letzte Hoffnung. Von Birgit Neufert und Nils Baudisch.
Illustration: Agnes Andrae
Es ist Mai. Seit einem Jahr lebt Samuel in Lübeck imKirchenasyl. Was heute wie Alltag anmutet, hat nurwenig Alltägliches an sich. Bis hierher waren es langeWege für Samuel und die Kirchengemeinde. Von derFlucht aus Eritrea, durch den Sudan, durch dieSahara, nach Libyen, über das Mittelmeer, wiederLibyen, wieder Mittelmeer, bis Europa. Italien. „Man brachte uns in das Aufnahmelager bei Cataniaauf Sizilien. Es war völlig überfüllt. Von mindestensdrei oder vier Schiffen wurden alle Menschen dorthineingestopft – vielleicht 1000 insgesamt. Manvergab keine neuen Ausweise, die Zugang zu Essen,Getränken oder Schlafplätzen gewährleisteten. Mankonnte sich nachts nur in der Cafeteria oder imFreien aufhalten“, sagt Samuel. Er lebte auf der Straßein Catania, ernährte sich von etwas Wasser undwildwachsenden Kaktusfeigen, die ihm Bauch-schmerzen und Hautausschlag am ganzen Körperbescherten. Medizinische Behandlung für dieseBeschwerden gibt es nicht. Auch nicht für dieKriegsverletzungen aus Eritrea.
Das ist Europa. Während Menschen wie Samuel ihrLeben riskieren, um es bis hierher zu schaffen,beschäftigt die europäischen Staaten vor allem eineFrage: Wer ist zuständig? Während Geflüchtete inItalien, Spanien, Griechenland, Malta, Ungarn,Bulgarien oder Polen auf der Straße leben oder imGefängnis, während sie Hunger oder fehlendermedizinischer Versorgung und/oder Folter ausgesetztsind, vermittelt Europa vor allem eines: Die Botschaft,dass niemand für diese Menschen verantwortlich seinwill. Die Zuständigkeiten werden an die RänderEuropas verlagert. Im Vordergrund steht das Ziel,Menschen möglichst schnell wieder los zu werdenund sie, bis das gelingt, in untragbaren Verhältnissenam Rande des Kontinents festzuhalten. Die dramati -schen Folgen dieser Zuständigkeitsprüfung, in der dieAufnahme von Geflüchteten zum bloßen Verwal-tungsakt wird, tragen vor allem die ankommendenMenschen selbst.
Deutschland = Sicherheit?
Samuel ist einer von ihnen. Kaum 14 Jahre alt wird erin Eritrea zum Militärdienst gezwungen. Die nächstenzehn Jahre ist er Soldat. Aus Angst um sein Lebenund weil er nicht selber auf Menschen schießen will,desertiert er immer wieder. Erfolglos. ViereinhalbJahre verbringt er deshalb im Militärgefängnis, ohnedass er je einen Richter gesehen hätte, ohne zuwissen, was mit ihm passieren würde. Er ist nichtmehr sicher und beschließt zu fliehen – sicher imGlauben, es würde ihm in Europa besser ergehen.Aber in Italien angekommen, fürchtet Samuel erneutum sein Leben. Über Mailand schafft er es nachDeutschland und wähnt sich in Sicherheit.
Die Hintergründe sind egal
Dort angekommen stellt sich wieder die Frage, werzuständig ist. Die „Dublin III“-Verordnung sieht vor,dass jeder Flüchtling in dem EU-Land, das er oder siezuerst betreten hat, einen Asylantrag stellt. Ist manweitergereist, wird man in das Ankunftsland zurück-geschoben. Die genauen Hintergründe der Fluchtsind dabei egal. Für Länder wie Deutschland ist essomit ein Leichtes, Geflüchtete immer wiederabzuschieben – nach Italien, Spanien, Ungarn und inandere Länder. Dabei hätte Deutschland durchaus dieMöglichkeit, von seinem so genannten „Selbstein-trittsrecht“ Gebrauch zu machen. Das bedeutete, dassDeutschland in diesem Fall doch die Durchführungdes Asylverfahrens übernehmen würde. Das jedochsetzte voraus, dass die deutschen Behörden dieFluchtgeschichte ernst nähmen und für schwer-wiegend genug hielten, um einen Menschen nicht einweiteres Mal auf Reisen zu schicken. Und so ist dieFrage nicht nur: Wer ist zuständig?, sondern vor allemauch: Wer will zuständig sein?
Darüber hinaus gibt es bestimmte Fristen, innerhalbderer Deutschland die Abschiebung erfolgreichdurchführen muss. Gelingt dies Deutschland nicht ineinem Zeitraum von sechs Monaten – oder 18Monaten, wenn der oder die Betroffene zwischen-durch als „flüchtig“ gilt – wird die Bundesrepublikautomatisch zuständig für das Asylverfahren. Undgenau hier kommt das Kirchenasyl ins Spiel.
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Alberschwende:Dorf schützt Syrerin Kirchenräumen
ALBERSCHWENDE
1.6.2015
Im österreichischen
Alberschwende
durchkämmten die
Behörden den Ort auf
der Suche nach einem
Syrer, der abgeschoben
werden sollte. In der
Gemeinde gab es
breiten Widerstand.
Unter dem Motto “Wir
sind Asyl”, wird für ein
Bleiberecht demon-
striert. Die Abschiebung
scheiterte damals. Doch
es droht insgesamt fünf
syrischen Asylbewer-
bern ein neuer
Abschiebungsversuch.
Sie sind deshalb im
Pfarrhaus einquartiert.
Kirchenasyl gibt es in
Österreich formal
nicht.<
Samuel meldet sich also bei den deutschen Behördenund will Asyl beantragen. Er wird nach Lübeckgeschickt. Nach zwei Monaten erhält Samuel einenBrief von den Behörden. Er soll nach Italien zurück-geschoben werden. Aber in seiner Unterkunft inLübeck gibt es einen kleinen Kreis ausEhrenamtlichen, die ihn unterstützen. Einige sindMitglied der Kirchengemeinde im Stadtteil. Als sievon der drohenden Abschiebung hören, tragen sieSamuels Geschichte in die Gemeinde und richtenschließlich ein Kirchenasyl ein.
Zum Schutz der Menschenwürde
Durch Kirchenasyl werden Menschen, die akut voneiner Abschiebung in lebensgefährliche oder men-schenrechtsverletzende Zustände bedroht sind,geschützt. Sie werden für einen begrenzten Zeitraumvon einer Kirchengemeinde aufgenommen. Siewerden untergebracht, mit Lebensmitteln versorgt, beiden weiteren rechtlichen Schritten begleitet, werdenTeil der Gemeinschaft. Zusammen mit Anwältinnenund Anwälten werden alle in Betracht zu ziehendenrechtlichen, sozialen und humanitären Gesichtspunkteneu geprüft. Damit soll eine Entscheidung zugunstender Geflüchteten erreicht werden – was in denmeisten Fällen gelingt.
Zu viele Kirchenasyl-Fälle?
Dass gerade auch in „Dublin III“-Fällen Kirchenasylgewährt wird, ist ein trauriger Ausdruck dessen, wiedieses Dublin-System funktioniert beziehungsweisewie es nicht funktioniert. Menschen werden durchKirchenasyl auch vor Abschiebungen innerhalbEuropas geschützt, weil die Situation in Europa istwie sie ist. Dennoch gibt es seit Herbst 2014 einekontroverse Debatte zwischen dem Bundesamt fürMigration und Flüchtlinge (BAMF), dem Bundesin-nenministerium und den Kirchen: Der Kirchenasylbe-wegung werden die vielen Dublin-Kirchenasyl-Fällezum Vorwurf gemacht. Wer Kirchenasyl im Zusam-menhang mit Dublin III kritisiert, täte gut daran, dasDublin-System selbst in Frage zu stellen. Stattdessenallerdings fahren deutsche Politikerinnen und Politkerfort, die menschenunwürdigen Zustände innerhalbEuropas zu leugnen oder zu rechtfertigen oder dieLösung allein an den Rändern Europas zu suchen.Dabei sind die Grenzen längst mitten in Europaangekommen. Auch mitten in Deutschland. ZumBeispiel in Lübeck.
Samuel indes scheint Glück zu haben. Noch zweiMonate muss er im Kirchenasyl verbringen. Danachwird sein Asylverfahren in Deutschland durchgeführtund er kann hier bleiben. Er hofft, dass er dann einganz normales Leben führen kann: Abschlüssenachholen, die er wegen seiner Militärzeit versäumthat. Eine Ausbildung. Arbeiten. Freizeit mit Freundenverbringen – wenn man ihn nur lässt.<
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Nils Baudischist Sozialökonom
und arbeitet in
Hamburg
Birgit Neufert
ist seit April 2013
Referentin der BAG-
Geschäftsstelle in
Hamburg. Bevor sie
zur BAG kam, hat
sie selbst Kirchen-
asyle begleitet.
Abgeschobentrotz anerkannterVaterschaft
CHEMNITZ 28.5.2015
Im August wird El
Kamel Vater. Doch
wenn seine Freundin
Jessica ihr Kind
bekommt, kann er
nicht dabei sein. Trotz
einer vorliegenden
vorgeburtlichen
Vaterschaftsanerken-
nung wurde er mitten
in der Nacht aus seiner
Unterkunft in Zwickau
abgeholt und abge -
schoben.Die Familie
kämpft nun mit der
Hilfe des Sächsischen
Flüchtlingsrats und
einem Anwalt dafür,
dass El Kamel wieder
zu ihnen nach
Deutschland darf. Auch
eine Petition an den
sächsischen Innenmini-
ster wurde gestartet.<
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Obdach in der Kirche
Das Dublin-Verfahren hat eine Lücke. Und in die ist Alia geraten. Die evangelische Gemeinde in Immenstadt im Allgäu gewährte ihr Asyl. Von Christian Steinmüller
„Ein hoffnungs-voller Moment“
GIEßEN 1.6.2015
Etwa 80 Personen
haben die Abschiebung
des dschibutischen
Flüchtling A. blockiert –
es ist die dritte
Abschiebung, die 2015
in Gießen verhindert
werden konnte. Dies
berichtete das Netzwerk
Gegen Abschiebung
Marburg. Da die nun
verhinderte Abschie-
bung nach mehr als
einem halben Jahr
stattfand, ist die
Überstellungsfrist
überschritten und er
kann hier Asyl
beantragen.<
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Leben in Dublins Lücke. Alia wurde Kirchenasyl gewährt
Foto: Christian Steinmüller
Blickt Alia* in den Spiegel, fängt sie manchmalan zu sprechen. Zwiegespräche. „Ich sagedann Dinge wie ‚Warum bist du abgehauen
und hast deine Familie im Stich gelassen?’ oder ‚Ach,du hattest Angst zu sterben? Wärst du geblieben,könntest du das wenigstens in deiner Heimat tun’.“
Als Alia davon erzählt, kreist sie sanft mit dem Löffelin ihrem Tee. Ihr Blick ist entspannt. Hin und wiedersucht sie Fixpunkte im Raum. „Heimat“, sagt sie undmuss etwas lächeln. Ihre Heimat, das sind Konturenvon altem Steingemäuer vor braunen Hügeln.Schmale Pfade zwischen Terror und Trümmern.Damaskus. Blickt Alia aus dem Fenster, kann sie diesteilen Grasberge der Allgäuer Alpen sehen, Mehr -familienhäuser hinter gemähten Rasen. Touristen aufdem Weg zur Bergbahn. Immenstadt. Kirchenasyl.
„Sie wären sich selbst überlassen worden“
Die Evangelische Gemeinde hat sich entschlossen,Alia sowie einer jungen Mutteraus Somalia mit ihrem Kind Asylzu gewähren. Sie sollten nachItalien abgeschoben werden –ins Erstaufnahmeland. „Dortwären sie letztendlich sich selbstüberlassen worden“, sagt PfarrerUlrich Gampert. Ein medizini-sches Gutachten, das beideFrauen aufgrund der traumati-schen Erfahrungen für nichtreisefähig erklärte, sollte daran nichts ändern. „Vonden Behörden hieß es, es gebe einen Arzt alsBegleitung. Dann sei von dieser Seite aus allesgetan.“ Das drohende Schicksal der beiden Frauenrief Michael Immler auf den Plan.
Von Bürgern und Nazis
Immler ist ein unbequemer Mensch. Einer, der Dingenicht hinnimmt. 2011 kamen die ersten 30 syrischenFlüchtlinge in der Kleinstadt unter. Einer Stadt, in dersich viele Bürgerinnen und Bürger vor ihnenfürchteten. Sie organisierten sich, nannten sich„Bürgerinitiative Südstadt“ und protestierten vor demWohnblock der Asylsuchenden. Die neonazistische
Gruppe „Bündnis Freies Allgäu“ platzierte – imVoraus juristisch abgeklärt – ein Banner gegenüberdem Wohnheim auf einem Brückengeländer. DieAufschrift: "Je mehr desto schlechter – AsylheimInnenstadt – BFA". Immler übernahm als Integra-tionsreferent der Stadt die Betreuung derGeflüchteten. Er zeigte Probleme auf, setzte sich fürsie ein, sammelte Mobiliar. So bildete sich um Immlerherum ein Kreis von Helfenden in Immenstadt. Sienennen sich „Unterstützerkreis Asyl“.
Dublins Grauzone
Alia sagt, Immler sei für sie ein Heiliger. Und ihr Blickzeugt davon, dass sie es nicht übertrieben meint. Ersah für die beiden Frauen keinen anderen Auswegund sprach Pfarrer Gampert auf ein möglichesKirchenasyl an. Eine Art Grauzone in der Dublin-Verordnung: In der Regel werden Flüchtlinge, dieüber andere Länder nach Deutschland einreisen,wieder in das Land abgeschoben, in dem ihnen zuerstFingerabdrücke abgenommen wurden. Bei Alia und
der jungen Mutter aus Somaliawar das Italien. Ein Land, das mitder Flüchtlingssituation völligüberfordert ist. Nimmt aber einekirchliche Gemeinde Geflüchtetefür sechs Monate auf, dürfen sienicht mehr abgeschoben werdenund das Asylverfahren muss imLand der kirchlichen Gemeindeabgewickelt werden. Deutsch-land.
„Es war unbequem“
Mit dem Kirchenvorstand kontrovers diskutieren,Behörden und Polizei informieren, Papierkrambearbeiten. „Es war unbequem“, sagt Pfarrer Gampert.Am Ende stimmten neun von zehn Kirchenvorständenbei einer Enthaltung für die Aufnahme der beidenFrauen und die Behörden mauerten nicht. ImPfarrheim wurden Räume eingerichtet und ein überJahre nicht genutzter Mutter-Kind-Raum im Gemein-dehaus erfüllte so wieder seinen Zweck. Der katholis-che Kollege Gamperts wünschte viel Glück und Aliaund die Mutter aus Somalia können sich in Sicherheitwiegen.
d u b l i n d r e i
„Dublin-III ist dergrößte Unsinn“
BEELEN 31.5.2015
Die Katholische
Pfarrgemeinde in
Beelen bietet drei
Syrern Schutz. Die
deutschen Behörden
möchten sie nach
Italien und Ungarn
abschieben. Zwei der
Männer sind Brüder –
ein dritter Bruder lebt
in Düsseldorf. Er ist als
Flüchtling in Deutsch -
land anerkannt, da er
bei der Durchreise in
Ungarn nicht registriert
wurde. Seine Brüder
hatten dieses Glück
nicht. Der Beelener
Pfarreirat handelte
schnell:. Die drei
Männer leben nun im
Kirchenasyl.
UPDATE: Am 12. Juni
erreichte die
Pfarrgemeinde die
Nachricht, dass die
beiden syrischen
Brüder Alfaray als
Asylsuchende in
Deutschland anerkannt
wurden.<
65
Die neonazistische Gruppe„Bündnis Freies Allgäu“ platzierte – im Voraus juristischabgeklärt – ein Banner gegenüber dem Wohnheim aufeinem Brückengeländer.
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Hoffnungsträger.Pfarrer Gampert aus Immenstadt
Foto: Christian Steinmüller
„Ich habe endlich wieder einen Platz zum Denken“,sagt Alia. Dann dreht sie sich zur Fensterbank umund greift nach einer Skulptur, die sie gemacht hat.Ein Quader aus Ton. An ihm türmen sich Menschen.Es scheint, als wollen sie nach oben. Als wollen sieden Quader überwinden. Etwas erreichen. „Ich willendlich wieder ein Leben“, sagt Alia. Denn seit überdrei Jahren sei sie nur in einer Art Stand-By-Modus.Fremdbestimmt. Die letzte große Entscheidung, diesie für sich getroffen hat, war zu gehen, Syrien zuverlassen. Ist das Asylverfahren durch, will Aliawieder eigene Entscheidungen treffen. Arbeiten undleben. „Und irgendwann wieder nach Hause“, sagtAlia.
Ihr Kirchenasyl endet im Herbst. Ob danach weitereFlüchtlinge aufgenommen werden? „Ich denke mitmanchen Handlungen setzt man ein Zeichen – odereine Linie, hinter die man nicht mehr zurück kann“,sagt Gampert.<
*Name geändert
Christian Steinmüllerist Journalist und lebt und arbeitet in München.
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„Wir werdendafür sorgen, dassdie Ausländerbe-hörde Faris nichtabschiebt“
GÖTTINGEN 16.3.2015
Freundinnen und
Freunde des Asylbewer-
bers Faris H. riefen auf
ihrer Website dazu auf,
Protestfaxe und E-Mails
an die zuständige
Ausländerbehörde in
Göttingen, das Bundes -
amt für Migration und
Flüchtlinge sowie das
Innenministerium zu
verfassen. Am 16. März
protestierten knapp 50
Göttingerinnen und
Göttinger vor der Aus -
länderbehörde gegen
die geplante Überstel-
lung nach Bulgarien.<
Nimmt eine kirchliche Ge-meinde Geflüchtete für sechsMonate auf, dürfen sie nichtmehr abgeschoben werden.
Foto: Christian Steinmüller
Hilfe beim Überwinden. Kunststück einer Geflüchteten
Worum geht es in deinem Film?
Paolo Martino: Die Geschichtedreht sich hauptsächlich umRahell und seine Reise, abergleichzeitig ist es die Geschichtevon vielen Flüchtlingen, die inItalien stranden. Menschen, diegezwungen waren, ihr Land zu
verlassen und für die die Reise inItalien abrupt endete. Viele sindeigentlich nur auf der Durchreiseweiter in den Norden und Italienstellt die natürliche Verbindungzwischen Nordafrika zu Europadar. Die Dublin-Verordnungzwingt sie aber, in Italien zubleiben, auch wenn sie anderes
geplant hatten. Unser Film A landof Transit hat zum Ziel, hinter diegroße Zahl von Dublin Fällen zusehen und dadurch persönlicheSchicksale zu erzählen. Denn inRahells Fall war der Plan, nachSchweden zu gelangen, weil erdort Familie hat, die auf ihnwartet. Der Film zeigt, wie
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A Land of Transit – zwischen Italien und Schweden
Paolo Martino kommt aus Italien und ist Filmemacher. Seit einigen Jahren dreht er vor allem Dokumenta-tionen über das Leben von Flüchtlingen. Das Filmen hat er sich auf vielen Reisen zwischen Europa und demMittleren Osten selbst beigebracht. Er lebte über ein Jahr lang in Flüchtlingscamps im Libanon, Syrien unddem Jordan. Er begleitete afghanische Flüchtlinge von der Türkei bis nach Italien. Paolos Motor ist seineNeugierde nach den Geschichten von Menschen auf der Flucht, die ihm auf seinen Reisen begegnen. Anna-Katinka Neetzke Svensson hat mit ihm und Rahell, dem Protagonisten aus seinem aktuellen DokumentarfilmA Land of Transit über den Film selbst, über Freiheit und ihre Grenzen, über das Reisen, über das Dublin-System und über die Geschichten seiner Begegnungen gesprochen.
Foto: Stil aus „A land of transit“
integriert Rahells Familie ist undwelche Möglichkeiten sie dadurchhätten, ihn in der ersten Zeit zuunterstützen. Aber das alles bleibtleider nur ein Traum, da Rahelllaut Dublin-Verordnung in demLand bleiben muss, wo er seineFingerabdrücke hinterlassen hat:Italien. Er kann zwar seineFamilie besuchen, kann sich aberin Schweden kein Leben aufbauen.Er muss sich in Italien durch-kämpfen, wo das System vieleProbleme aufweist. Er entscheidetsich für das Stückchen Freiheit,das ihm in dem legalen Systemgelassen wird.
Welches Stück Freiheit meinst du?
Paolo Martino: Lass es mich soerklären: Das Dublin Systembesteht vor allem aus Zahlen undnicht aus persönlichen Schicksa-len. Genauso ist es, wenn Flücht-linge in den Medien dargestelltwerden - es handelt sich immerum eine große Masse, meistzusammengepfercht in kleinenBooten auf der gefährlichenÜberfahrt, aber selten werdeneinzelne Gesichter oder Geschich-ten dargestellt. Das ist einepopulistische Einstellung, die vorallem in Europa angewendet wird,wenn man über Flüchtlinge redet.Und in unserem Beispiel ebenauch in Italien, da Italien alsGrenzland unter extremerSpannung steht. Denn jeden Tagwird über Neuankömmlingeberichtet: 350 heute, 250 gestern -es wird alltäglich. Und dieAntwort, die das System zu gebenversucht, ähnelt der allgemeinenEinstellung der Leute: Ein Krite-rium, das angewandt wird, umLeute einzuteilen und zu beurtei-len. Aber in Wirklichkeit handelt essich um unglaubliche Lebensge-schichten, um Leute mit gutorganisierten Netzwerken und umLeute mit einem starken Willen.Wir wollen eben auch aufzeigen,
wie lächerlich das alles ist. UnserHauptdarsteller zum Beispielfindet irgendwann trotz allemseine Freiheit in dem irrwitzigenSystem, indem er einige Jahrezwar gezwungen ist, an einem Ortzu bleiben, aber dadurch wiede-rum die Möglichkeit hat, irgend-wann dahin zu gehen, wo er will,sobald er erst die italienischeStaatsbürgerschaft hat. Vor allemaber kämpft er in seiner verstrick -ten Situation weiter um Freiheit,nicht nur für sich selbst, sondernauch für viele andere in dergleichen Situation. Wir haben denFilm im Europäischen Parlamentgeschaut und uns danach mitMitarbeiterinnen und Mitarbeiterndes EU-Parlaments unterhalten.Das war ein sehr bewegenderMoment für Rahell, mit denendiskutieren zu können, die für dasGesetz verantwortlich sind.
Wie bist du darauf gekommen, eineReportage über Dublin zu machen?
Paolo Martino: Alles hat wohl 2010angefangen, als ich längere Zeitunterwegs war und von derGrenze zwischen dem Iran undder Türkei den kompletten Wegnach Rom gereist bin. Da bin ichauf Dublin aufmerksam geworden.Natürlich wusste ich ein bisschenwas aus den Nachrichten, abererst auf meiner Reise habe ichverstanden, was es wirklich damitauf sich hat. Ich war geschockt, alsich das Grenzgebiet Türkei-Griechenland erreichte. Das warwirklich einer der extremstenErlebnisse für mich. Weißt du,jeder sieht Europa als das Landder Menschenrechte, wo selbstunsere Identität auf universellenMenschenrechten basiert. Wirhaben verstanden, wie lächerlichdas alles ist, besonders für Leute,die sich darauf berufen wollen.Und Dublin war Flüchtlingennicht wirklich bekannt, zumindestnicht so, wie es heute ist. Damals
waren es vor allem kurdische undafghanische Flüchtlinge, kaumsyrische und vielleicht ein paaraus dem Irak. Aber die Leutewaren nicht wirklich über Dublininformiert und die gesamteSituation war um einiges schlim-mer, da Griechenland zu der Zeit -anders als heute - noch Teil derDublin-Verordnung war. DiePolizei war sehr gewalttätig, dieBevölkerung war komplett gegenFlüchtlinge eingenommen und diesoziale Spannung war enormhoch. Ein Albtraum. Der Zustanddort hat mich persönlich erschüt-tert und ich habe mich entschie-den, alles zu tun, was ich kann. Eshat weniger mit Idealismus zu tun,sondern ist etwas, was michpersönlich betrifft.
Und dann kamst du mit Rahell undden anderen Darstellerinnen undDarstellern im Film in Kontakt?
Paolo Martino: Ja, ich habe ihntatsächlich vor fünf Jahrenwährend der Reise kennengelernt.Wir sind in Kontakt geblieben. Erwar einer von den Flüchtlingen,die auf ihrer Reise nach Europa inGriechenland gefangen waren. Erfragte mich, ob ich ihm ein Ticketfür die Fähre nach Italien kaufenkönne. Das war in Igoumenitsa. Erhat dort über ein Jahr lang ineinem Waldgebiet gelebt. Natürlichhat unser Plan nicht funktioniertund er wurde wieder zurückge-schickt.
Letztendlich dann nach einemJahr und nach vielen Versuchen,sich in LKWs zu verstecken undähnliches, hat er es dann ge-schafft, nach Italien zu gelangen.Ich habe sogar einen Film darübergedreht: Just about my fingers. Undseitdem haben wir zusammengearbeitet. Wir haben einige Filmegemeinsam gedreht. Wir habenzum Beispiel was über Push-Backsvon Italien nach Griechenland
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„Wo bleibenMenschenwürdeund Gleichbe-handlung?“
KAARST 17.3.2015
In Kaarst setzen sich
Bürgerinnen und
Bürger für eine syrische
Flüchtlingsfamilie ein.
Im Sommer 2014 kam
die Familie in NRW an,
nachdem sie in
Bulgarien genötigt
wurde, einen
Asylantrag zu stellen.
Sie lernen deutsch,
werden durch einen
Helferkreis unterstützt.
Doch das Bundesamt
für Migration und
Flüchtlinge lehnte den
Asylantrag ab. Antje
Grünberg aus dem
Helferkreis hat daher
eine Petition an das
Bundesamt gestartet,
um die Abschiebung zu
verhindern.<
gemacht, einen Film namensReadmitted.
In manchen Fällen habe ichWochen und Tage mit den Leutenverbracht, bevor wir gefilmt haben.In anderen Fällen ist es einfach sospontan passiert. Es gibt einigeInterviews im Film mit Leuten, dieich nie davor gesehen hatte undnach dem Interview sind siewieder verschwunden. Eigentlichist das der interessanteste Teilmeines Jobs: wenn diese Begeg-nungen einfach so passieren.
Rahell, wie waren die Dreharbeitenmit Paolo? Wie hat sein Dokumen-tarfilm deine Situation in Italienbeeinflusst?
Rahell: Paolo hat mehr dentechnischen Teil übernommenund ich habe sozusagen mehr dasZwischenmenschliche gemacht.Aber irgendwann hatte es dannnicht mehr so viel mit mirpersönlich zu tun. Es geht nichtnur um mich, sondern um etwas,das viele Flüchtlinge angeht.Darum ist es nicht einfach nurmeine Geschichte. Ich denke, dasist auch deshalb so, weil ich durchdie vielen Begegnungen Teil derGeschichten von anderen Flücht-linge werde. Im größeren Zu-sammenhang hat mir meinepersönliche Geschichte geholfen,andere Lebensgeschichten erzählenzu können.
Ich wusste, dass es in Italienschwierig werden würde. Schon abdem Moment, in dem ich meineFingerabdrücke abgegeben habe,war mir klar, dass ich hier vieleProbleme zu bewältigen habenwürde. Aber wenn ich michentschieden hätte, nach Schwedenweiterzureisen, weiß ich, dass siemich früher oder später zurückge-schickt hätten und ich dadurchmehr Zeit verloren hätte. Deshalbhabe ich beschlossen, die Heraus-
forderung anzunehmen, in Italienzu bleiben. Und dadurch kann ichvielleicht auch den Dingen, die ichüber Italien gehört habe, selbst aufden Grund gehen und sehen, obsie sich als richtig oder falscherweisen. Meistens geht es um dieWohnverhältnisse oder Problemebei der Integration. Für mich wares herausfordernd, mich selbstüber die Verhältnisse schlau zumachen. Und ja, die Situation istein Desaster!
Wie war die Rückmeldung ausItalien, nachdem der Film erschie-nen ist? Denn es gibt ja einiges anKritik, was das italienische Asylsy-stem betrifft.
Paolo Martino: Nun ist der Film jaschon ein Jahr alt, aber als ergerade raus kam, gab es wirklichnoch wenig Kenntnisse überDublin. Heute gibt es schon mehr.Und dann ist es natürlich sehrschwierig zu erfahren, vor allemvon Flüchtlingen selbst, dassItalien kein guter Ort zum Lebenist, sondern oftmals sogar als Käfigbeschrieben wird. Denn die Leutehier wollen weiterhin daranglauben, dass Menschen gernenach Italien kommen, weil es einreiches Land ist. Europa eben.Aber insgesamt wird der Filmakzeptiert. Das Problem mitDokumentarfilmen ist, dass dieZuschauerinnen und Zuschauervon vorne herein ausgewählt sind.Denn die meisten, die sich denFilm anschauen, bringen einInteresse für das Thema mit. Siesind dafür sensibilisiert undwissen schon Bescheid. DerDokumentarfilm ist halt keineFernsehsendung, die sich jede undjeder anschauen kann. Das machtmich sehr traurig. Ich mag esgerne, zu konfrontieren.
Habt ihr schon Pläne für ein neuesFilmprojekt?
Paolo Martino: Ja, wir habenmehrere Ideen, vor allem zuGriechenland. Wir sind ja erst vorKurzem zurückgekommen undmüssen uns noch überlegen, wiewir mit dem Filmmaterial umge-hen: Es kommen darin etwaMenschen vor, die mit falschenPapieren reisen und vor allemGesetzesverstöße umgehen. Abereigentlich ist die grundlegendeIdee, uns über die Unterscheidung„Migrant“ und sogenannte„Sonstige Personen“ hinwegzuset-zen. Meiner Meinung nach ist dasvöllig überholt, da man nichtmehr von „Migranten“ und „Nicht-Migranten“ sprechen kann. Ichsehe keinen Sinn mehr darin,darüber zu reden, wer eingereistist und wer hier geboren wurde.Was ich machen will, ist eineMomentaufnahme der Gesellschaft.Natürlich wird es irgendwie umImmigration gehen. Das ist esdoch, was die Leute sehen wollen(Er lacht).<
Anna-Katinka Neetzke Svensson lebt
und arbetet in Malmö (Schweden)
Infos zuA Land of Transit unter:www.facebook.com/ALandofTransit
Infos zuJust about my fingers unter:www.youtube.com/watch?v=4HnxltX7cNo
Infos zuReadmitted unter: www.zalab.org/project-en/74/#.VYGvfVXtmkp
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Abschiebungnach Ungarnverhindert!
HILDESHEIM 24.3.2015
Über 100 Bürgerinnen
und Bürger blockierten
die Zugänge zu der
Wohnung eines
22jährigen sudanesi-
schen Flüchtlings und
haben eine Abschie-
bung nach Ungarn
verhindert.
„Den Normal -betrieb desabgeschottetenEuropa gestört”
HILDESHEIM 8.4.15
Refugees Welcome:
Wieder sollte in
Hildesheim eine Dublin
III Abschiebung
stattfinden. Wieder
konnten circa 100
Bürgerinnen und
Bürger das verhindern.
Die Beamten mussten
die geplante Abschie-
bung eines Irakers nach
Frankreich abbrechen,
nachdem sie sich
keinen Zutritt zur
Flüchtlingsunterkunft
verschaffen konnten.<
1. FC Quickbäääm:Fußballer gegenAbschiebung
QUICKBORN 21.5.15
Aliakbar ist 17 Jahre
und Stürmer des FC
Quickborn. Alleine ist
der Minderjährige aus
dem Bürgerkriegsland
Afghanistan bis nach
Deutschland geflüchtet
und soll jetzt abge -
schoben werden.
Trainer und Mitspieler
machen den Fall
öffentlich und schalten
die Lokalpolitik ein.
Einstimmig sprachen
sich die Vertreter aller
Parteien dafür aus,
dass Aliakbar bleibt.
Zudem wandten die
Freunde sich an den
lokalen Bundestagsab-
geordneten Ole
Schröder (CDU), der
auch Staatssekretär im
Bundesinnenministe-
rium ist. Das Engage -
ment war er folgreich:
sein Asyl antrag wird in
Deutsch land bear -
beitet.<
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Polen:Inhaftierung statt Schutz
Viel ist hierzulande nicht bekannt über das polnische Asylsystem und die Umstände, unter denenGeflüchtete in Polen leben. Der mediale Fokus liegt auf Südeuropa, auf dem Massensterben im Mittelmeer,auf überfüllten Aufnahmelagern in Griechenland und Gefängnissen auf Malta. Die östlichen Mitgliedstaatender Europäischen Union geraten dabei häufig aus dem Blick. Mit fatalen Folgen. Denn auch nach Polensollte nicht abgeschoben werden. Von Heiner Thiele
Collage: Matthias Weinzierl
Das Verwaltungsgericht Magdeburg rechtfertigteine Abschiebung nach Polen unter anderemmit der Tatsache, dass es im Internet zu
Polen keine nennenswerten Informationen habefinden können:
„Dabei ist zunächst festzustellen, dass es Internetnahezu keine verwertbaren Informationen zu denBegrifflichkeiten ,Polen systemische Mängel, Dublin’auffindbar sind. […] Bereits diese Tatsache derfehlenden Veröffentlichungen im Internet, lässt denSchluss zu, dass die ‚systemischen Mängel’ geradenicht zu verzeichnen sind. Denn ansonsten wärenmit an Sicherheit grenzender WahrscheinlichkeitInformationen erhältlich.“ (VG Magdeburg,14.04.2015 - 9 B 147/15, Fehler im Original)
Polen, einst Transitland, wurde durch die EU-Osterweiterung 2004 Mitglied des Dublin-Raumes undist so für einen Teil der EU-Außengrenzen verant-wortlich. Ziel der Dublin-Rege lungen war unteranderem eine Angleichungrechtlicher Standards und Ver-fahrensweisen, um die europäis-che Rechtspraxis zu verein-heitlichen und Geflüchteten injedem Land der EU dieMöglichkeit zu geben, einenAsylantrag zu stellen. So sinnvolleine Harmonisierung voneuropäischem Recht in dieserHinsicht auch erscheinen mag, sobringt sie doch enorme Problememit sich, wenn die Mitgliedsstaaten nicht gleichzeitigmit der Rechtsangleichung auch die Standards imUmgang mit Geflüchteten den Menschenrechtenentsprechend anpassen.
Polen rangierte 2014 mit über 3000 Überstellungser-suchen Deutschlands im Rahmen des Dublin-Verfahrens an vierter Stelle nach Italien, Bulgarienund Ungarn, liegt mit 1218 erfolgten Überstellungenjedoch noch weit vor diesen Ländern. Die Überstel-lungsquote ist demnach wesentlich höher. DieseZahlen machen den Umfang der Abschiebungen ausDeutschland nach Polen deutlich.
Verteilung in offene oder geschlossene Zentren
Ein Recht auf Asyl ist in der polnischen Verfassungverankert, Schutzgründe definiert die Legislative. Aufdieser Ebene sind vier Aufenthaltstitel vorgesehen:Flüchtlingsstatus, subsidiärer Schutz, Asyl und
temporärer Schutz. Mit der Novellierung des Auslän-dergesetzes 2014 hat die Regierung das Rückkehrver-fahren vom Asylverfahren entkoppelt, so dass einenegative Entscheidung über einen Schutzantrag nichtmehr direkt einen Abschiebebescheid nach sich zieht.Kommen Geflüchtete erstmals in Polen mit denBehörden in Kontakt, werden sie vorübergehend inden Erstaufnahmeeinrichtungen in Dębak oder BiałaPodlaska untergebracht. Von dort aus erfolgt dieVerteilung in offene oder geschlossene Zentren. DieseZentren betreibt der polnische Grenzschutz, zusät-zlich existieren spezielle Abschiebehaftanstalten. DieEntscheidung, ob Personen in offenen odergeschlossenen Zentren untergebracht werden, mussein Gericht treffen. Den Antrag dazu stellt derGrenzschutz. Die räumliche Verteilung folgt außernach der Kapazität der Einrichtungen keinen nach -vollziehbaren Kriterien. Geflüchtete können die Wahldes Ortes nicht beeinflussen.
Die maximale Aufenthaltsdauer in geschlossenenZentren beträgt ein Jahr, kann aber nach einer
Beschwerde gegen die Ab-schiebeentscheidung um einweiteres halbes Jahr verlängertwerden. Warum bestimmtePersonen inhaftiert werden,scheint willkürlich und ist auchfür polnische NGOs nichtimmer nachvollziehbar. LautGesetz können Personen unteranderem in Haft genommenwerden, um ihre Identitätfestzustellen oder auch um
einen Missbrauch des Asylsystems zu verhindern.Dies trifft häufig Personen, die im Rahmen derDublin-Regelung aus Deutschland nach Polenabgeschoben werden.
Auch Familien und Minderjährige kommen in Haft
In geschlossenen Zentren werden regelmäßig auchFamilien mit Kindern inhaftiert. Unbegleitete minder-jährige Flüchtlinge sind zwar inzwischen nach einerGesetzesänderung von Haft explizit ausgenommen,befinden sich in Einzelfällen jedoch trotzdem ingeschlossenen Zentren, zum Beispiel, wenn derGrenzschutz sie volljährig schätzt.
Haft schränkt nicht nur die BewegungsfreiheitGeflüchteter ein, sondern auch massiv ihren Zugangzu Bildung. Insbesondere Minderjährige, die in Poleneigentlich der Schulpflicht unterliegen, haben sokeine Möglichkeit, dieser Pflicht und ihrem Recht auf
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„Wir warengeschockt als dieSMS kam“
HAMBURG-BERGE-
DORF 9.4.15
Conrad Schoo erhielt,
genauso wie seine
Teamkameraden vom
TSG Bergedorf, eine
SMS von ihrem
Mitspieler Ahmad. Die
Familie Mohammad
aus Syrien sollte nach
Zypern überstellt
werden. Aber die
Familie ist heute noch
hier. Das ist dem
Piloten zu verdanken,
der die Familie nach
Larnaka fliegen sollte:
Als der Vater während
des Abschiebungsver-
suchs in Panik geriet,
weigerte sich der
Kapitän des Flugzeugs,
die Familie mitzuneh-
men. Conrad S. hat
eine Online-Petition für
seinen Freund Ahmad
und seine Familie
gestartet.<
Polen liegt mit 1218 erfolgtenÜberstellungen weit vor Italien,Bulgarien und Ungarn.
Bildung überhaupt nachzukommen. In einigenZentren wurden zwar sogenannte educational classes eingerichtet, sie sind jedoch weder inhaltlich noch imUmfang mit regulärem Schulunterricht zu vergleichen.
Medizinische und psychologische Versorgung
In geschlossenen Zentren arbeitet zwar medizinischesFachpersonal, doch sind dessen Dienstzeiten gesetz -lich nicht geregelt. Sie arbeiten oft hauptberuflich fürein Krankenhaus und sind nur kurzzeitig im Zentrumpräsent. Die Arztwahl ist damit stark eingeschränkt,lediglich über den Notruf haben Geflüchtete dieMöglichkeit, sich in ein Krankenhaus einweisen zulassen. So ist die medizinischeVersorgung in vielen Fällennotdürftig. Durch großenAndrang und Überlastung desPersonals werden insbesonderePersonen, die nicht energischgenug auf sich aufmerksammachen können, ungenügendbehandelt.
Die Situation in offenen Zentrenist nicht wesentlich besser. Auchhier ist medizinisches Personal stundenweiseeingestellt. Die Versorgung reicht für die Menge deruntergebrachten Personen oft nicht aus. In dringen-den Fällen bleibt auch hier nur die Notaufnahme desKrankenhauses, das je nach Lage der Einrichtungschwierig zu erreichen sein kann. Vorsorgende oderpalliative Behandlungen sind so nicht möglich. Noch prekärer gestaltet sich der Zugang zu psycholo-gischer Versorgung. Auch wenn sowohl in offenen alsauch in geschlossenen Zentren psychologischqualifiziertes Fachpersonal eingestellt werden muss,ist dieses oft nur wenige Stunden anwesend und sokaum in der Lage, akute Notfälle aufzufangen,geschweige denn Therapie anzubieten. TraumatisierteGeflüchtete bekommen höchstens rudimentäreUnterstützung, Retraumatisierungen und Krisen sindvorprogrammiert.
Besonders Schutzbedürftige fallen durchs Raster
Besonders problematisch scheint in Polen dieIdentifikation von vulnerablen, also besondersschutzbedürftigen Personen. Dazu zählen unteranderem Opfer von Folter und Gewalt sowieTraumatisierte. Auch wenn diese Personengruppegesetzlich von der Haft ausgenommen sein sollte,fehlen Mechanismen, um sie zu erkennen undentsprechend anders zu behandeln. Angestellte des
Grenzschutzes werden nicht genügend weitergebildet.Hinzu kommt, dass die Ärzte Gewalterfahrung ledig -lich anhand körperlicher Merkmale identifizierten:Akute Traumata, sexuelle Gewalterfahrungen undposttraumatische Belastungsstörungen werden soregelmäßig übersehen und besonders schutzbe dürf -tige Personen inhaftiert.
Übersetzungen der Formulare fehlen
Fehlende Übersetzungen von Formularen undverfahrensrelevanten Informationen erschweren esGeflüchteten, ihre Rechte wahrzunehmen. Dies ist ingeschlossenen Zentren besonders problematisch.
Dokumente, die nur auf polnisch,englisch oder russisch vorliegen,werden im Einzelfall nichtübersetzt. Für manche Sprachen,die nur wenige Geflüchtete inPolen sprechen, existieren kaumqualifizierte Dolmetscher undDolmetscherinnen. Sprache hat jedoch einenwichtigen Einfluss darauf, dasseine medizinische oder psycholo-gische Behandlung gelingt. Hier
zeigt sich ein weiteres Problem: Weder wird medi-zinisches Personal in Zentren speziell fremdsprachlichgeschult, noch existieren Möglichkeiten, Dokumentekostenlos zu übersetzen. So kann die Behandlungvon Krankheiten, die keine klaren, äußerlicherkennbaren Symptome zeigen, nur schwer gelingen.Psychologische Diagnostik und Therapie scheintunter diesen Bedingungen kaum möglich.
Ein Aufenthaltstitel schützt nicht vor Armut Haben Geflüchtete einen der Aufenthaltstitel erwor-ben, drohen ihnen häufig Armut und Obdach -losigkeit. Auch wenn ihnen der polnische Staat durchdie städtischen Sozialhilfezentren (Miejski OśrodekPomocy Społecznej, kurz MOPS) die gleichen Trans-ferleistungen wie Staatsangehörigen gewährt, reichendiese ohne Arbeit, Wohnung und ein sozialesNetzwerk kaum zum Überleben. Obwohl einIntegrationsjahr mit Sprachkurs und finanziellerUnterstützung auf die Arbeitssuche vorbereiten soll,gelingt es Geflüchteten kaum, in Polen Fuß zu fassen.Hohe Konkurrenz im Niedriglohnsektor und einschwacher Arbeitsmarkt lassen oft nur noch illegaleBeschäftigung zu, die im polnischen Recht sehr weitdefiniert ist. Illegale Arbeit kann jedoch bereits einGrund sein, aus Polen abgeschoben zu werden.Hinzu kommt rassistische Diskriminierung, die nicht
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„Die Polizeientfernte sichunverrichteterDinge“
MÜLLHEIM · 13.4.2015
Die Ausländerbehörde
wollte vier junge
Männer aus Gambia
nach Italien überfüh-
ren, da sie dort zum
ersten Mal europäi-
schen Boden betraten.
Mit einer Blockade der
Flüchtlingsunterkunft
am Bahnhof
verhinderten 80
Bürgerinnen und
Bürger eine Abschie-
bung aus Müllheim,
jedenfalls vorerst.
Warum bestimmte Personeninhaftiert werden, ist auch fürpolnische NGOs nicht immernachvollziehbar.
nur auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt offen-sichtlich wird.
Tschetschenen haben Angst vor Verfolgung
Tschetschenische Geflüchtete leben in Polen inständiger Angst vor Gewalt bis hin zu Tötungendurch Gefolgsleute des tschetschenischen PräsidentenRamsan Kadyrow. Es gibt jedoch kaum ausreichenddokumentierte Fälle, Ermittlungen der Polizeiverlaufen häufig im Sande. Geflüchtete haben oftSorge, sich jemandem mitzuteilen oder ärztliche Hilfein Anspruch zu nehmen, aus Angst, die Informatio-nen könnten weitergeben werden. Hinzu kommt,dass eine Abschiebung von Polen nach Tschetsche-nien oder Russland die Betroffenen direkt derpolitischen Verfolgung durch dortige Geheimdienst-und Sicherheitskräfte ausliefert.
Abschiebungen verhindern!
Als systemische Mängel sind in der Diktion desVerwaltungsgerichts Magdeburg „solche Störungenanzusehen, die entweder im System eines nationalenAsylverfahrens angelegt sind und deswegen Asylbe-werber oder bestimmte Gruppen von ihnen nichtvereinzelt oder zufällig, sondern in einer Vielzahl vonFällen objektiv vorhersehbar treffen oder die diesesSystem aufgrund einer empirisch feststellbarenUmsetzung in der Praxis in Teilen funktionsloswerden lassen.“ (VG Magdeburg, 14.04.2015 - 9 B147/15)
„Objektiv vorhersehbar“ ist, trotz aktueller Gesetzes -änderungen, insbesondere für Familien, Minderjährigeund Kranke eine Unterversorgung in allen relevantenLebensbereichen. Kommt eine Inhaftierung dazu –bei Dublin-Abschiebungen sehr wahrscheinlich –werden elementare Menschenrechte massiv beschnit-ten. Wenn deutsche Gerichte dennoch regelmäßigden Selbsteintritt verweigern, zeigt dies nicht nurvöllige Unkenntnis der Situation in Polen, sondernpolitisches Kalkül. Geflüchtete sollen, wenn sie dieFlucht nach Europa überlebt haben, an der Peripherieeingesperrt werden, zur Abschreckung all derer, dieüber Flucht nachdenken oder sich bereits auf denWeg gemacht haben.
Hinzu kommt, dass der Europäische Gerichtshof fürMenschenrechte im Fall „Tarakhel v. Switzerland“(04.11.2014) bereits im letzten Jahr klar entschiedenhat, dass nicht systemische Mängel, sondern dietatsächliche Gefahr von Menschenrechtsverletzungendurch die Abschiebung entscheidungsrelevant sind.
Lässt sich eine Abschiebung nicht mehr vermeiden,haben polnische NGOs eine praktische Bitte:Geflüchteten Dokumente, insbesondere medizinischnotwendige, vor der Abreise zu übersetzen. DieseHilfe kann unter Umständen wenigstens besondersschutzbedürftige Personen vor einer Inhaftierungbewahren.<
Heiner Thiele ist Sozialarbeiter und Lehrbeauftragter an der Alice
Salomon Hochschule Berlin und hat im Rahmen des Masters
„Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession“ zu Polen
geforscht.
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SportfreundeGerresheimwollen EnzusAbschiebungverhindern
DÜSSELDORF 11.4.15
Enzu aus Guinea (17)
ist in Gerresheim
angekommen. Seine
Eltern sind tot, ihm
selbst gelang über
Marokko die Flucht
nach Spanien und
weiter nach Deutsch-
land. Doch die Be -
hörden erklären ihn für
volljährig, die Abschie -
bung ist angedroht.
Seine Mitspieler im
Fußballverein nehmen
das nicht hin. Ein
Eilantrag auf vor -
läufigen Rechtsschutz
wurde jedoch abge -
lehnt. Die Sportfreunde
Gerresheim senden nun
u.a. Protestbriefe an
den zuständigen
Richter, das Bundesamt
für Migration und
Flüchtlinge und an
Bundespräsident
Gauck. Mittlerweile
konnte auch ein
Altersnachweis aus
Guinea beschafft
werden.<
Ein Zimmer in Izmir, Türkei. Es ist Ende Aprildieses Jahres. Ich sitze hier auf fünf Quadrat-metern, es ist Tag drei in dieser Stadt und
diesem Zimmer. In den anderen Zimmern sitzenMenschen wie ich, die meisten aus Syrien und demIrak. Wir warten. Warten auf den Anruf unsererKontaktperson, M.. Er soll uns von hier nach Mitiliniauf der griechischen Insel Lesbos bringen. Ich binnervös, angespannt. Warten darauf, dass er unsanruft, um zu sagen: Es geht los!
Mein Name ist Amir. Ich bin 22 Jahre alt und kommeaus Damaskus in Syrien. Aufgewachsen bin ich imVorort Jobar mit meinen Eltern und meinenGeschwistern. Ich habe immer viel Fußball gespielt,am Anfang wollte ich sogar Profifußballer werden –bis mir klar wurde, dass das in meinem Land nur mitKorruption und besonderen Verbindungen zur oberen
Schicht funktioniert. Ich besuchte das Gymnasium inDamaskus und schrieb mich nach meinem Abschluss2009 an der Universität Damaskus für EnglischeLiteratur ein. Englisch hat mich begeistert, ich wolltediese Sprache immer schon perfekt sprechen können.
2013 gründete ich mit Freunden eine Metal-Band. Eslief super, wir nahmen in einem Jahr ein Album auf.Als es fertig war, wurde der Konflikt im Landschlimmer. Wir bekamen ihn im täglichen Leben zuspüren. Es begann mit Schusswechseln und Scharf-schützen, die sich in Gebäuden versteckt hielten.Irgendwann durfte man nach fünf Uhr nachmittagsnicht mehr auf die Straße. Auch ich wurde manchmalin schlimme Situationen verwickelt, man ist zurfalschen Zeit am falschen Ort. Ernsthaft passiert istmir nie etwas. Es gab allerdings Situationen, die mirklar gemacht haben, dass das nicht ewig so sein
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„Fahr weiter! Nicht zurück!“Amir war Student in Damaskus, als die Situation in der Stadt immer bedrohlicher wurde. Schließlich be-schloss er, in den Libanon einzureisen und von dort weiter nach Europa zu gelangen. Er beschreibt seinenWeg von Syrien nach Deutschland und wie er vom Studenten zum Flüchtling wurde. Übersetzt und auf-geschrieben von Clara Taxis.
wird, wenn ich in Syrien bleibe. Ich wurde zumBeispiel gemeinsam mit einem Freund für knappzwei Stunden als Geisel genommen. Wir wurden mitKapuzen über dem Kopf in einen Transporterverfrachtet und irgendwo hingebracht. Der Grundwar, dass die Gruppe eigene Geiseln befreien wollte,wir waren das Druckmittel. Am Ende wurden wir mitden Geiseln der Gruppe ausgetauscht und konntenwieder nach Hause. Wer genau die Leute waren,wissen wir bis heute nicht.
2012 wurden die Vorfälle mehr, es ging nicht mehrum einzelne Schusswechsel, sondern um Luftangriffeund Bomben, die immer näher an unserem Viertelvom Himmel fielen. Der letzte Tag für mich inunserem Viertel war der, als unsere Straße und dasHaus unserer Nachbarn getroffen wurden. MeineFamilie und ich versteckten uns in einem Bunker.Nach zwei Stunden gingen wirhoch auf die Straße, die Bombehatte viel zerstört. Das war derMoment, in dem wir wirklichAngst bekamen.
Wir setzten uns ins Auto undfuhren zu meinem Großvater,der im Zentrum von Damaskuswohnt. Mein Vater konntespäter noch einmal zu unseremHaus fahren und viele unsererpersönlichen Sachen herausholen.
Ich war 15 Tage bei meinem Großvater, mein ältererBruder und meine Eltern blieben bei ihm. MeinBruder ist später auch los, aber meine Eltern wohnenheute noch in diesem Haus.
BEIRUT
Ich hatte damals das erste Semester meines drittenJahres an der Universität gerade abgeschlossen. Mitmeiner Band beschloss ich, nach Beirut im Libanonzu fahren und zu versuchen, unser Album zuveröffentlichen.Wir fuhren mit dem Auto und kamenohne Schwierigkeiten an.
Wir waren guter Dinge und hatten große Hoffnun-gen, dass wir uns mit unserer Musik eine Zukunftaufbauen könnten. Unsere Texte sind auf Englisch,sie handeln von Anarchie und einer neuen Weltord-nung. Ich bin der Sänger und mein Lieblingstitel ist
unsere Vertonung der berühmten Rede CharlieChaplins als Diktator. Meine Meinung über Anarchieals System habe ich mittlerweile geändert. Mir ist klargeworden, dass man die Welt nicht durch Wutverändern kann. Menschen haben hart dafür gear-beitet, dass die Welt ist, wie sie ist. Um sie zu ändern,muss man mindestens genauso hart arbeiten. InBeirut haben wir realisiert, dass die Metal-Szene dortziemlich unterentwickelt ist. Über Freunde haben wirdann einen Vertrieb für unser Album gefunden,allerdings in Dubai.
Wir hatten auch einige Angebote für den Vertrieb desAlbums aus Italien. Da wir den Verkauf aber schonorganisiert hatten, wollten wir mehr, Sponsoring oderam besten Auftritte. Aber das war alles nicht möglich.Wir sind Syrer und sie hatten Angst, dass wir nachunserem ersten Auftritt in Italien nicht mehr nach
Beirut zurückfliegen würden. Undsie hatten Recht, wir wären nichtzurückgeflogen.
Also mussten wir die Musikhinten anstellen. Beirut ist eineteure Stadt, die Mietpreise sindhöher als in Deutschland. Um inBeirut bleiben zu können,suchten wir uns Arbeit, in CoffeeShops und Bars, später alsÜbersetzer. Die Übersetzungsjobs
werden von Medienkonzernen ausgeschrieben, wirübersetzen arabische Untertitel ins Englische undumgekehrt. Mein großer Bruder kam nach einigenMonaten auch nach Beirut und nahm denselben Joban. Er hatte in Syrien Arabische Literatur studiert. Inder Zeit bestand das Leben aus Arbeiten undSchlafen. Es war klar, dass ich hier nicht zumStudieren kommen würde. Arbeiten um zu überlebenwar und ist für mich keine Langzeitoption. Also nahmich nach einem Jahr und acht Monaten, am 4.Dezember 2014 ein Flugzeug nach Istanbul. Als Syrerbrauchen wir kein Visum, um in die Türkei zu reisen.Mit dem Libanon war das bis vor kurzem dasselbe,aber jetzt brauchen wir plötzlich Visa, um im Libanoneinzureisen und zu leben – das war für uns alle einSchock. Mein Bruder blieb damals erst einmal nochin Beirut.
ISTANBUL
In Istanbul arbeitete ich weiter für die libanesischenKonzerne. Wir arbeiten online. Auch in der Türkeimusste ich teilweise bis zu zwölf Stunden am Tagarbeiten, um über die Runden zu kommen. Ich
a u f d e r f l u c h t
76
Ein Dorf steht auf gegenAbschiebungen
ALBERSCHWENDE
11.5.2015
In der österreichischen
Gemeinde Alber-
schwende wird mit der
Aktion »Wir sind Asyl«
seit Wochen für den
Verbleib von fünf
Syrern gekämpft. Ganz
vorne dabei: Bürger -
meisterin Angelika
Schwarzmann. Sie
alarmierte über eine
Telefonkette rund 150
Unterstützende der
Aktion, als die Polizei
zur Abschiebung die
Flüchtlingsunterkunft
umstellte. Die Abschie -
bung scheiterte, da der
Flüchtling nicht aufzu -
finden war. Danach
verfassten Gemeinde
und Kirche gemeinsam
einen Brief an den
Bundespräsidenten, um
die Odyssee der Flücht -
linge zu schildern.<
… sie hatten Angst, dass wirnach unserem ersten Auftritt inItalien nicht mehr nach Beirutzurückfliegen würden. Und siehatten Recht, wir wären nichtzurückgeflogen.
bekomme meinen Lohn über Western Union undwerde in Dollar bezahlt. Das macht mich relativunabhängig von meinem Aufenthaltsort. In Istanbulhabe ich mich bisher amwohlsten gefühlt. Es ist relativbillig und ich habe großartigeMenschen kennengelernt.Insgesamt war ich fünf Monatedort. Neben der Arbeit habe ichFußball gespielt. Wir waren einezusammengewürfelte Gruppeund trafen uns zweimal dieWoche zum Fußball: Türken,Syrer, Franzosen, Deutsche,Amerikaner und andere Leuteaus der ganzen Welt. Ansonstenhabe ich gelesen. Auch Geschichten von Syrerinnenund Syrern, die in Europa angekommen waren undAsyl beantragt hatten. Es gibt ja mittlerweile vieleFacebook- Seiten, auf denen viele ihre Geschichte,Reisen und Tipps veröffentlichen. Manchebeschreiben ihre Situation und sagen, auf welchemWeg oder über welche Stationen sie eingereist sind.Die Gedanken kreisen immer um diese Fragen:Wohin gehe ich? Wie gehe ich? Wo habe ich diebesten Chancen, um mein Studium fortsetzen zukönnen? Wo sind Freunde oder Freundinnen von mirschon angekommen?
Es stellte sich heraus, dass sich besonders die LänderDeutschland und Schweden anbieten. Viele meinerFreunde sind bereits in Deutschland, Schweden oderÖsterreich angekommen und haben erfolgreich Asylbeantragt. Ich habe außer dem illegalen Weg nachEuropa per Boot auch andere Wege auf meiner Listegehabt. Einen nach dem anderen habe ich danngestrichen. Entweder waren sie schlichtweg un-möglich, wie ein reguläres Visum ausgestellt zubekommen oder man braucht viel Geld, zum Beispielfür ein Studierendenvisum.
DER WEG NACH EUROPA
Also habe ich angefangen, mich auf die Überfahrtvorzubereiten. Ich bin von Istanbul nach Izmirgefahren. Dort ging alles wie von selbst: der Kontaktzu Schmugglern ergibt sich beinahe automatisch, derSchwarzmarkt ist riesig. Ich habe mich dort sehrunwohl gefühlt, die Atmosphäre ist feindselig, mankann niemandem vertrauen. Ich hatte den Eindruck,dass jeder versucht, von meiner Situation zu profi-tieren und das schlimmste ist, dass ich mich vonLeuten abhängig machen musste. Sobald ich mir mit
M., einem von ihnen, einig war, musste ich mir einZimmer nehmen, das die Schmuggler vermieten. Siebringen alle ihre Kundinnen und Kunden in Hotels
unter, deren Räume einzelnvermietet werden. Sie machenalso doppelt Geld mit uns.
Diese Zimmer sind klein, meineskostete 15 türkische Lira am Tag(5 bis 6 Euro). Ich habe michgefühlt wie in einer Zelle, eswar einfach kein Platz. Dasganze Haus ist immer vollerFlüchtlinge, die auf die Über-fahrt warten: Syrerinnen undSyrer, aber auch viele Menschen
aus Somalia und dem Irak.
Geschichten machen die Runde, für viele ist es nichtder erste Versuch. Das drückt auf die Stimmung,überall die Gerüchte und Erzählungen davon, wasalles schief gehen könnte. Ich notierte mir: „Wichtig:Schwimmweste kaufen!“. Ansonsten: denken,versuchen nicht zu viel zu denken und ein wenigAblenkung übers Smartphone. Meine Freunde inIstanbul und Syrien und natürlich meine Familiewussten wo ich war, viele schrieben mir. Diese Wortevon Menschen, die ich teilweise nur kurz in Istanbulgekannt habe, bauen mich immer wieder auf undhelfen mir, wenn ich mal wieder Tage oder Wochenauf etwas warten muss. Über eine deutsche Freundinhabe ich die Alarmphone-Nummer bekommen undnatürlich hatte ich die Nummer von Freunden imHandy, für den Notfall.
An Tag drei am Nachmittag kam der Anruf von M.,dem Schmuggler: Heute findet die Überfahrt statt.„Halte dich bereit!“ - Nach weiteren zwei Stundenkamen sie, um mich abzuholen.
Die Überfahrt von der Türkei nach Griechenland hatfür mich mit Warten begonnen. Meine erste Stationwar eine Hotellobby, ich wartete mit zehn anderen.Dann kamen Taxen und holten uns gruppenweise ab.Nach einer Stunde Fahrt hielten wir an einem StückStraße, das rechts und links von dichtem Waldumgeben war. Wir mussten aussteigen und wurden inden Wald geführt. 100-150 Menschen waren schondort. Wir sollten leise sein, was mir absurd vorkam:Alle waren angespannt, manche haben angefangenzu diskutieren oder um Zigaretten zu streiten. Vonleise konnte keine Rede sein. Wieder mussten wirwarten. Für die nächste Etappe holten uns nach zweiStunden schließlich große, offene Trucks ab. Je 50
a u f d e r f l u c h t
„Nehmen Sieunseren Freundennicht ihr Leben!“
WEILER-SIMMENBERG
14.5.15
Da die drei Syrer
Abdullah, Fadi und
Mokhennen auf ihrer
Flucht aus Syrien und
Eritrea in Italien die EU
erreicht haben, droht
ihnen nun die Abschie -
bung zurück dorthin.
In der Gemeinde
Weiler-Simmenberg will
man das nicht
hinnehmen: Entwick -
lungsminister Dr. Gerd
Müller wurden über 20
Briefe übergeben, in
denen er aufgefordert
wird, sich für die
Flüchtlinge einzusetzen.
Eine Petition an das
BAMF wurde bereits
gestartet.<
77
Unter Schlägen und der falschen Behauptung seitens des Dolmetschers, gab er seine Fingerabdrücke ab
Menschen auf eine Ladefläche. Es war so eng, dassman nicht einmal die Füße bewegen konnte. Wirtrafen eine Abmachung: Frauen und Kinder dürfendie gesamte Fahrt sitzen, Jungs und Männer sitzen inSchichten. Trotzdem stand ich die meiste Zeit, dieSitzenden schliefen. Oder taten zumindest so. DieFahrt dauerte sieben Stunden, meine Beine warentaub. Unser Ziel war ein abgelegener Ort ohneWiedererkennungswert. Mit einer ungefährenRichtungsanweisung liefen wir los, nach 15 MinutenFußmarsch kamen wir an den Strand, es war vier Uhrmorgens. Am Strand warteten schon weitere 100Menschen.
Es gab vier Boote. Ich sehe es noch vor mir: Daserste, zweite und dritte Boot stechen in See. Dasvierte Boot bleibt und istunseres. Es ist das Kleinsteder Boote, nur etwa fünfMeter lang. Schon beimBesteigen drängeln undschubsen manche, das Bootschwankt.
Bis zur griechischen StadtMitilini sind es nur 9 km,man kann sie sehen. An Bordsind 36 Menschen, dieses Malsind es nur Männer undJungen. Einer von uns, der damit Erfahrung hat, lenktdas Boot. Die Schmuggler bleiben in der Türkei anLand. Nach einem Viertel der Strecke läuft das Bootlangsam mit Wasser voll. Es gibt noch die Möglichkeitumzukehren, aber wir sind uns einig: „Fahr weiter!Nicht zurück!“. Nach ungefähr der Hälfte der Streckesteht das Wasser so hoch, dass es den Leuten in derMitte des Bootes bis zum Hals reicht.
Ich sitze am Anfang am Rand des Bootes, als einanderer fast aus dem Boot fällt, kann ich ihn geradenoch halten. Ich selbst bleibe nur an Bord, weiljemand auf meinen Beinen sitzt. Ich habe keinGefühl mehr. Langsam bekomme ich Angst, ichdenke an die Alarmphone-Nummer. Aber ich habekeine Chance, ans Handy zu kommen. Ich mussPerson neben mir halten und jemand sitzt auf meinenBeinen. Alles ist nass.
Jemand auf dem Boot ruft die griechischeKüstenwache an, großes Geschrei, niemand kannEnglisch und die Frau am Telefon kein Arabisch. Ichrufe ihnen zu, dass ich Englisch kann, und ichbekomme ein Handy in die Hand. Ich erkläre derFrau die Dringlichkeit der Situation, bitte um Hilfe,
bekomme die Nummer der türkischen Küstenwacheals Antwort. In dem Moment lege ich einfach auf.
Diese Hoffnung ist geplatzt, trotzdem entscheiden wiralle: „Weiter, weiter, weiter!“ Am Ende kommen wiran, wir schwimmen die letzten Meter. Es kommt unsallen vor wie ein Wunder.
MITILINI
Am Strand kommen wir kurz zu Kräften und machenuns dann zu Fuß auf. Es ist mittlerweile 7 Uhrmorgens. Mein Rucksack hat im trockenen Zustand13 Kilogramm gewogen, im nassen Zustand wiegt er30! Unser Marsch bis zur Polizeistation dauert zweiStunden. Wir werden registriert, dann gleich zur
Station im Hafen weiter geschickt.Dort bekommen wir Essen undwarten. Auf unsere Papiere und dennächsten Morgen. Wir sollen dannins Camp umziehen, das noch vollbelegt ist, als wir ankommen.
Ich bin während des Essens aufund ab gelaufen. Ein griechischesFernsehteam wird auf michaufmerksam und bittet um einInterview! Die anderen machenWitze: „Kaum angekommen, bist du
schon im Fernsehen!“
Wir verbringen drei Tage im Camp. Wir haben Zeituns auszutauschen und ich höre viele Geschichtenvon anderen. Es wird mir klar: Ich habe Glück. Es istFreitagabend, als wir auf freien Fuß gesetzt werden.Die Angestellten sagen uns, dass Samstag ein Schiffzum Festland fahren würde. Als wir am Hafenankommen, sagt man uns, dass das nicht der Fall istund erst am Montag wieder Schiffe fahren. Was nun?Ich entscheide mich, zum Flughafen zu fahren. Dortangekommen, kann ich es kaum glauben: DerFlughafen ist geschlossen! Ich finde eine Kirche, inder ich ein paar Stunden schlafen kann, bevor derFlughafen öffnet. Morgens nehme ich einen Direkt-flug nach Athen. Der kostet 112 Euro, ich habe nurnoch 150 Euro Startgeld, als ich ankomme.
ATHEN
In Athen komme ich bei Freunden von Freundenunter. Auch mein Kumpel, mit dem ich damals inDamaskus entführt wurde, wohnt hier. Wir könnenumsonst bleiben, das nimmt uns eine große Last vonden Schultern! Es ist schön, einen langjährigen
a u f d e r f l u c h t
„Es ist unserechristliche Pflicht“
WIRGES 22.5.15
Die evangelische
Kirchengemeinde
Wirges bietet seit Ende
April einem Syrer
Schutz, der erneut
nach Ungarn
abgeschoben werden
sollte. Dort hatte er
nach seiner Flucht über
die Türkei, Griechen-
land, Mazedonien und
Serbien ohne sein
Wissen einen Asylan -
trag unterschrieben.
Aber für Khalid ist klar:
In Ungarn, wo er be -
reits unter miserablen
Bedingungen inhaftiert
war, wird er nicht
bleiben. Die dortigen
Be hörden wollen ihn
nach Serbien abschie -
ben. Ihm gelingt erneut
die Flucht nach Wirges.
Dort nimmt Pfarrer
Wilfried Steinke ihn
sofort ins Kirchenasyl.
Nun hofft Khalid,
dessen Heimatort von
islamischen Kämpfern
kontrolliert wird, dass
die neue Anwältin, die
die Gemeinde engagiert
hat, dafür sorgt, dass er
bleiben kann.<
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Nach ungefähr der Hälfte derStrecke steht das Wasser sohoch, dass es den Leuten in derMitte des Bootes bis zum Halsreicht.
Freund an meiner Seite zu haben.
Trotzdem ist es schwierig in Athen, auch hier ist allesunglaublich teuer und es gibt keine Arbeit. MeineArbeit für die libanesische Firma kann ich auch nichtmachen, denn meinen Laptop konnte ich nicht mitnach Griechenland nehmen.
Ich mache mir viele Gedanken, wie es weiter gehensoll. Auf der Straße bekommt man jeden Tag vieleAngebote für falsche Dokumente, bezahlen müsse icherst, wenn die Ausreise erfolgreich ist. Die Pässe sindfür 300-400 Euro zu bekommen. Für mich ist das ersteinmal keine Option, ich habe nicht genug Geld.Stattdessen lasse ich mich registrieren und bewerbemich um den Status eines Flüchtlings in Griechen-land. Wir sollen eine International Protection Cardausgestellt bekommen, auf der der Flüchtlingsstatusausgewiesen ist. Es gibt auch die Möglichkeit, einenblauen Pass für Geflüchtete zu beantragen, falls keingültiger Pass vorhanden ist. Da ich meinen gültigensyrischen Pass habe, werde ich mit diesem nachDeutschland einreisen. Die griechischen Behördenstellen uns nämlich gleichzeitig mit der ProtectionCard auch eine sechsmonatige Aufenthaltsgenehmi-gung für Griechenland aus. Mit dieser kann ichweiterreisen, einige meiner Freunde sind auf diesemWege nach Deutschland gekommen.
Nachdem ich meinen Antrag abgegeben hatte,wartete ich 23 Tage. Und dann gestern die erlösendeNachricht: Meine Papiere wurden ausgestellt! Ichhabe meinen Flug direkt für nächste Woche gebucht.
Jetzt kann ich nur hoffen, dass meine Dokumente dieRichtigen sind und in Deutschland akzeptiert werden.Aber wenn ich eines auf meiner Reise gelernt habeist es, dass man über Probleme erst nachdenkensollte, wenn sie da sind, vorher hat das keinen Sinn.<
a u f d e r f l u c h t
79
Clara Taxis studiert Politik an
der Universität
Hamburg und hat
das letzte akademi-
sche Jahr in Istanbul
verbracht.
Fluglinie verweigertAbschiebung
STOLLBERG 23.5.15
aus einem Beitrag des
MDR-Sachsenspiegel.
Eine syrische Familie
sollte aus dem
sächsischen Stollberg
nach Bulgarien
abgeschoben werden.
Besonders zynisch: Der
sächsische Innenmini-
ster Markus Ulbig
besuchte die Familie,
lobte die gelungene
Integration und
schlachtete den Besuch
öffentlichkeitswirksam
aus. Dennoch wurde
die Familie in der
Nacht unter Zwang an
den Flughafen ge -
bracht. Dort weigerten
sich die Mitarbeiter der
Fluglinie, die Familie
mitzunehmen. Die
Abschiebung scheiterte.
Die Kirchengemeinde
kümmert sich jetzt um
sie. Jederzeit droht
allerdings ein neuer
Abschiebungsversuch.<
Die Idylle ist beinahe unerträglich: Der strahlendblaue Himmel mit seinen unschuldigen Schäfchen-wolken, ein paar Kühe, malerisch über die saftigen,oberbayerischen Wiesen verstreut. Dazu die alpen-ländischen Klänge einer Blaskapelle, die vor demBergpanorama platziert wurde. Diese ersten Einstel-lungen des Dokumentarfilms „Das Golddorf“ zeigenden Chiemgau von seiner strahlendsten Seite. Es sindBilder wie aus einem touristischen Werbeprospekt,die perfekte Projektionsfläche für jegliche Klischee -vorstellung von der heilen bayerischen Bergwelt.Seine Heimat verlassen würde Bauer Vachingerniemals: „Da sind wir geboren, da sterben wir“, sagter in dem Film über Bergen am Chiemsee. Dieser Ortist nun nicht mehr nur Heimat für Bauer Vachingerund seine Stammtischbrüder. Seit Herbst 2013 werdenhier Flüchtlinge aus Eritrea, Syrien und Afghanistanim Gasthof „Hochfelln“ untergebracht.
Traurige Culture-Clash-Komödie
Die 1984 geborene Caroline Genreith begleitet inihrem berührenden Dokumentarfilm einige derAsylbewerber über zehn Monate lang bei ihremVersuch, sich in der neuen Umgebung zurecht -zufinden: „Ich wollte diese beiden Parallelwelten, dieda aufeinanderprallen, verbildlichen“, sagt die jungeRegisseurin. Das Resultat: OberbayerischeHeimatidylle trifft auf Heimatlosigkeit, Flüchtlings -schicksal und Kriegserfahrung. Das ergibt einetraurige Culture-Clash-Komödie mit absurden, aberauch hoffnungsvollen Momenten. „Jeder einzelneFlüchtling, der zu uns kommt, ist Botschafter für dasLeid, das in der Welt passiert“, so Genreith über denAntrieb, einen Film über Flüchtlinge zu machen. Dasssie Bergen zum Drehort erkor, war reiner Zufall, wiesie erzählt: „Ich wollte ein ganz klischeehaftesbayerisches Dorf haben. Das hätte ich aber vielleichtauch überall anders finden können.“ Die jungeRegisseurin stammt aus der Eifel, lebt aber nun inHamburg. Die Idee zu dem Film kam ihr, da es dortso viele Lampedusa-Flüchtlinge gab. Bei ihrer
a n s e h e n
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Heimat kann man teilenRezension zum Dokumentarfilm „Das Golddorf“, in dem Regisseurin Caroline Genreith die Parallelweltender Flüchtlinge und der Einwohner des bayerischen Örtchens Bergen aufeinander prallen lässt. Von Anna Steinbauer.
Fotos: Stils aus „Das Golddorf“
Recherche stieß sie auf eine Meldung im TraunsteinerTagblatt, in der berichtet wurde, dass Asylbewerber inBergen eingetroffen seien.
Ethnologischer Blick auf das Aufnahmeland: eszeigt sich ohne Empathie oder Verständnis
Es gibt zahlreiche Filme, die sich mit Migration undFlüchtlingsschicksalen beschäftigen, „Das Golddorf“jedoch fällt durch seinen ethnologischen Blick auf dieKultur des Aufnahmelandes auf. Dieser ist teilweisesehr schematisch, manchmal vermisst man zwischenDialekt, Brauchtum und Tracht das alternativeBayern. Dennoch gibt der Film einen ergreifendenEinblick in das eher eintönige und frustrierendeLeben der Flüchtlinge. Sie erhalten Deutsch-Unterrichtund Hilfe bei Behördengängen, müssen vor allemaber eines aushalten: das Warten. Ein quälenderDauerzustand, der die beiden HauptprotagonistenFishatsyon und Ghafar auf die Dauer zermürbt.Schlimm ist dies vor allem für Ghafar, der seine Frauund seine beiden Kinder in Kabul zurückgelassenhat. Noch einmal würde er dies nicht tun, gesteht erin einer der bewegendsten Szenen des Films. Für dieFlüchtlinge fühlt sich ihr ungewisser Wartezustand anwie Zwangsurlaub oder Gefängnis. Auch wenn dieTüren des Landgasthofs ihnen offen stehen, ver-schlossen bleibt ihnen der Zugang zur Welt derBergener. Mehr als vorsichtige Annäherungen gibt esda nicht. Zu groß sind Unverständnis und Em-pathielosigkeit der Einheimischen, so erschreckendder bayerische Rassismus, der zuweilen durchblitzt.
Der Film erzeugte Aufmerksamkeit - und die half Ghafar bei der Aufenthaltsgenehmigung
Zumindest für den 29-jährigen Afghanen hat dasWarten nun ein Ende. Gafhar hat Ende März eineAufenthaltsgenehmigung bekommen und darf seineFamilie nach Deutschland holen. Das hat er auchGenreith und ihrem Engagement zu verdanken, diemit ihrem Film Druck und Aufmerksamkeit bei denBehörden erreichen konnte. „Die Angst vor demAnderen, dem Fremden haben wir alle.“, sagt dieRegisseurin. „Das wichtigste ist für mich ist aber, daswir begreifen, dass die Heimat sich nicht verändert,wenn wir sie teilen.“<
Der Film lief auf dem 30. DOKfest in München und wurde
dort zum Publikumsliebling gewählt. Am 10.7. ist er im
Programm der Musikfilmtage Oberaudorf zu sehen. Am
28.7. wird er in der ARD ausgestrahlt und ist danach in der
Mediathek verfügbar.
a n s e h e n
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Anna Steinbauerstudiert an der
Hochschule für
Fernsehen und Film
München und
arbeitet als freie
Journalistin u.a. für
die Süddeutsche
Zeitung.
„Hier findet heutekeine Abschie-bung mehr statt“
MAGDEBURG · 27.5.15
1:00 Uhr nachts inMagdeburg: Mehr als70 Menschenversammeln sich vor derFlüchtlingsunterkunftim Stadtteil Alt-Westerhüsen, entrollenTransparente undblockieren den Zugang,um die Abschiebung des21-Jährigen Shushayzu verhindern. DieBehörden wollten denjungen Mann ausEritrea nach Italienüberstellen. Gegen 4Uhr zog sich diePolizei zurück mit demKommentar: Hierfindet heute keineAbschiebung mehrstatt. Zu der Blockadewar unter anderem aufder Facebook-Seite »grenzen. lose.perspektiven« aufgerufen worden<
Zwanzig Kilometer südlich von Göttingen unddamit im Herzen der BRD liegt das „Tor zurFreiheit“. 1945 gründeten die britischen
Streitkräfte nahe der damaligen Sektorengrenze das„Grenzdurchgangslager (GDL) Friedland“ um dieBewegung von Kriegsheimkehrenden und Vertriebe-nen zu koordinieren. Später kamen zehntausendevon deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetuniondurch Friedland in „die Freiheit“ wodurch das Lagerzu einem Integrationsort von Versöhnung wurde. InFolge des Ungarischen Volksaufstandes 1956 wurdendas erste Mal Geflüchtete in die BRD aufgenommen.Es folgten Menschen aus Chile und Vietnam undAusgereiste aus der DDR. Seit 2002 passierten dannSpätaussiedlerinnen und Spätaussiedler das Lager,anschließend Resettlement-Flüchtlinge. Seit vierJahren dient es auch als Erstaufnahmelager fürAsylbewerberinnen und Asylbewerber.
Das GDL Friedland erscheint zunächst als kompletterGegensatz zur Vorstellung von einer Festung Europa.Hier gibt es keinen Stacheldraht, keine Mauern oderpatrouillierende Polizei. Gerade die seit 70 Jahrenbestehende enge Einbindung von karitativen Einrich-tungen wie der Friedland Hilfe, dem MalteserHilfsdienst, dem Deutschen Roten Kreuz (bis 2013),der Inneren Mission sowie der Caritas stellen gelebteHumanität und Solidarität in den Vordergrund.
Eine neue Kategorie humanitärer Hilfe
Für die Erweiterung von Sorge und gelebter Huma -nität steht die als „Boat People“ bezeichnete Gruppevietnamesischer Kontingentflüchtlinge, die 1978 vonder BRD aufgenommen wurde. Entgegen früherer,nicht deutscher Flüchtlingsgruppen, die Friedlandpassierten, mussten sie erstmals kein Asylverfahrendurchlaufen. Stattdessen wurden unmittelbar Aufent -haltstitel vergeben. Diese politische Ausnahmeaktion
wurde mit dem 1980 verabschiedeten „Gesetz überMaßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktio-nen aufgenommene Flüchtlinge“ in einen juristischenRahmen gebracht.
Beschäftigt man sich mit der Geschichte des GDLFriedland, so wird immer wieder deutlich, wie dortPraktiken des Kümmerns, humanitaristische Argumen-tation und regulierende Migration zusammenwirken.Das „Humanitäre Aufnahmeprogramm (HAP)“ alsReaktion auf die aktuelle Syrienkrise kann deshalb alsWeiterführung dieses besonderen Umgangs bezeich-net werden.
Das Humanitäre Aufnahmeprogramm (HAP)
Die Bundesregierung entschied ab März 2013 einKontingent von anfangs 5.000, später abermals 15.000syrischen Flüchtlingen, die zu den „besondersschutzbedürftigen Personen“ zählen oder „bereitsVerwandte in Deutschland“ haben, über die neugeschaffene HAP-Regelung aufzunehmen. Derhumanitäre Aufenthalt und die seit der Syrienkrisebeginnende Forcierung eines verbindlichen Rechts -rahmens führen auch zu einer Veränderung in derOrganisation der Flucht. Die syrischen Gruppen, dieüber das HAP-Programm kommen, werden vomUNHCR, im Libanon zum Teil von der Caritas undüber die Botschaften an das Bundesamt für Migrationund Flüchtlinge (BAMF) vermittelt, das dann dieEntscheidungen trifft. Anschließend werden dieMenschen von der IOM (International Organization ofMigration) logistisch organisiert, untersucht, bekom-men „kulturelle Orientierungskurse“ und werdendann nach Deutschland gebracht.
Die Bundesregierung und auch das BAMF bemühensich intensiv, das HAP in ein positives Licht zurücken. Erst im März dieses Jahres wurde der 50. in
l a g e r l a n d
„Die Sache selbstin die Handnehmen“
LEHNITZ · 27.5.2015
Ab 8 Uhr morgens
versammelten sich
30 Bürgerinnen und
Bürger und stellten
sich schützend vor
den Eingang zur
Unterkunft. Damit
verhinderten sie die
Überstellung von
M.H. nach Italien,
der als Jugendlicher
aus Eritrea geflohen
war, um dem
bevorstehenden
Kriegsdienst zu
entkommen. Die
Aktion zeigte Erfolg:
Kein Behördenmit-
arbeiter erschien,
um M.H. zum
Flughafen zu
bringen.<
83
Das Humanitäre Ausnahmeprogramm
Das Grenzdurchgangslager Friedland in Niedersachsen gilt als bundesdeutsches Laboratorium für dieRegulation von Fluchtmigration. Vor dem Hintergrund seiner Historie verstehen Mathias Fiedler und LeeHielscher aktuelle humanitäre Ausnahmeprogramme als mediale Ablenkungsmanöver.
Fotos: Mathias Fiedler
Hannover-Langenhagen gelandete Flug mit einerPressemitteilung angekündigt. Die meisten Syrer undSyrerinnen, die nach Deutschland kommen, müssenjedoch sehr viel beschwerlichere Wege zurücklegen,beispielsweise über das Mittelmeer. Von März 2011bis heute stellten mehr als 75.000 Menschen syrischerStaatsbürgerschaft einen Asylantrag beim BAMF.
„Warum können syrische Flüchtlinge nicht mit derFähre nach Europa kommen?“, fragte Sigmar Gabrielkürzlich in seiner Rede während einer SPD-Konferenzzum Thema Flüchtlingspolitik. Das fragen sichvermutlich auch viele syrische Menschen in Friedland.Denn es gibt, neben denen, die über das HAP-Verfahren nach Friedland gekommen sind und eineArt Sonderstatus besitzen, bedeutend mehr Kate-gorien, in die das deutsche Rechtssystem einteilt. Statteiner Fähre für viele bietet die Bundesregierung nureiner Handvoll von Syrerinnen und Syrern einesichere Einreise per Flugzeug. Alle anderen erhaltenkeine Hilfe. Ihnen bleiben nur die gefährlichenhochmilitarisierten Fluchtwege.
Das BAMF sortiert Asylanträge in verschiedeneKategorien: Menschen mit EURODAC-Treffer (dassind jene, die über ein anderes Land im europäischenRaum nach Deutschland eingereist sind), Menschenmit einem Aufenthaltsstatus in einem anderen EU-Staat (humanitär oder nach der GenferFlüchtlingskonvention) und Menschen, die noch nichterfasst sind und dementsprechend einen Erstantragstellen. Viele syrische Menschen setzten ihre Fluchtfort, da die Zustände in Ländern wie Bulgarien,Ungarn oder Italien zu katastrophal für sie waren.Wie in zahlreichen Berichten von Menschenrechts -organisationen beschrieben, erfuhren sie in Europaähnliche Misshandlungen wie in ihrem Herkunftsland.
Ein Zweiklassen-Asyl
Während Asylsuchende einzeln oder maximal inKleingruppen von der Polizei begleitet zum Lagerkommen, beginnt der humanitäre Aufenthalt mit einerSammeleinreise und einem Busshuttle vom Flughafen.Verbunden ist die offizielle Einreise mit einer Be-grüßung durch karitative Einrichtungen innerhalb desLagers, in Ausnahmefällen sogar durch den Bundes -präsidenten. Hier wird beständig gezeigt, dass dieBundesrepublik Deutschland hilft und dass dieHilfeersuche der Geflüchteten von Anfang an positivmit einem Aufenthalt von zwei Jahren und zahl -reichen Rechten beantwortet werden. Ein Zustand,von dem ein anderer Teil der Menschen im LagerFriedland noch weit entfernt ist.
Die Asylsuchenden in Friedland sind grundsätzlichvon einer Vielzahl an Möglichkeiten ausgeschlossen,welche sich den durch ein humanitäres Aufnahme-programm Aufgenommenen durchaus bieten.Sprachkurse sind fester Bestandteil in der Erstver-sorgung der Aufgenommenen. Im regulären Asylver-fahren werden Sprachkurse immer noch nichtdurchgängig angeboten, sondern sind weiter von derBereitschaft von Ehrenamtlichen und Sachspendenabhängig, während den über ein AufnahmeprogrammEingereisten ein täglicher Sprachkurs mit ausgebilde-ten Lehrkräften, eingerichtete Unterrichtsräume undentsprechende Lehrmaterialien zur Verfügung stehen.Sie haben explizit Möglichkeiten, ihren gewünschtenWohnort zu benennen und werden bei der Zusam-menführung mit anderen Familienmitgliedernunterstützt. Lediglich einem klar eingegrenztenPersonenkreis werden hier elementare Rechtegestattet. Auf der praktischen Ebene bedeutet dies,dass Menschen, die aus dem selben Krisengebiet
l a g e r l a n d
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Abschiebungblockiert
GÖTTINGEN 28.5.15
Bürgerinnen undBürger verhinderten inGöttingen dieAbschiebung einersechsköpfigen Roma-Familie nachFrankreich. Ab 6 Uhrstellten sie sichschützend vor dieUnterkunft undblockierten denZugang. Gegen 8:30Uhr twittern dieAbschiebungsgegner:„#Blockade für heuteerfolgreich. Bis zumnächsten Mal.#allekommen#allebleiben“ DieInitiative „Abschiebun-gen Stoppen“ ruftregelmäßig zum Protestauf.<
Zimmer mit AussichtNeonazi Propaganda vor Lager Friedlands Toren
geflohen sind, fortan nicht anhand ihrer Flucht -ursachen und ihres Begehrens um Schutz behandeltwerden, sondern anhand des rechtlichen Status, deraus ihrer Migrationspraxis resultiert. Die Art undWeise der Migration hat damit Auswirkung auf diePraxis der Aufenthaltsvergabe.
Im Moment müssen Menschen, die einen Asylantragin Friedland beim BAMF stellen, häufig bis zu sechsMonate warten, bis ihnen überhaupt die Fingerab-drücke abgenommen werden, sie das erste Interviewbeim BAMF haben und das Asylverfahren beginnenkann. Andere bekommen bereits im Lager eineAblehnung, werden aber trotzdem nach dem König-steiner Schlüssel im Bundesgebiet umverteilt, dennaus Imagegründen soll aus Friedland selbst nichtabgeschoben werden. Die verschiedenen Statuseigen-schaften lösen häufig Verwirrung aus und führensomit zu entsprechenden Komplikationen: Stellt zumBeispiel ein Mensch syrischer Herkunft, der über das
humanitäre Aufnahmeverfahren nach Niedersachsengekommen ist einen Asylantrag, erlischt augenblick-lich das der Person erteilte Visum und den Asyl-suchenden wird vom Bundesamt gemäß Asylver-fahrensgesetz eine Aufenthaltsgestattung erteilt. DieseGestattung ist auf den Bezirk der zuständigenAusländerbehörde beschränkt – bei Antragstellung inFriedland auf den Landkreis und die Stadt Göttingen.“
Greenwashing durch humanitäre Sonderleistungen
Mit der Vergabe eines humanitären Aufenthalts, z.B.für syrische Menschen, wird direkt auf die beste-hende Bedrohungssituation reagiert. Gleichzeitigbleiben die bestehenden Restriktionen wie beispiels -weise die Dublin-Verordnung von der Situationunberührt. Kritik und Krise des Dublin-Systemswerden seitens politischer Entscheidungsträger nichtbehandelt, stattdessen wird politisches Greenwashingdes europäischen Grenzregimes betrieben, indemman auf eine humanitäre Sonderleistung verweist. Dieintensive mediale Vermarktung dieses Programmserwähnt nicht, wie kurz es greift: HumanitäreAufnahme bedeutet Ausnahmeregelung. Während dieweltpolitische Lage eine grundlegende Kursänderungder europäischen Migrationspolitik erfordert, werdenInterimslösungen erdacht. Diese Sonderprogrammesind zeitlich beschränkt und kommen nur einem sehrkleinen Teil der Flüchtenden zugute.
Ambulante Hilfsleistungen sind für die direkt Betrof-fenen eine wichtige und dringend notwendige Hilfe,gleichzeitig sind sie auf einer strukturellen Ebenekritikwürdig. Die vielfach kritisierte Abschottungspoli-tik gegen Migration von Deutschland und EU bleibtunangetastet, da die humanitäre Aufnahme eineAufnahmeleistung außerhalb der eigentlichenpolitischen Regularien darstellt. Humanitäre Auf-nahme wird nicht eine humanere Flüchtlingspolitikbewirken, sondern sie ist ein Teil der politischenStrategie, Migration gezielt zu steuern. Das HAP mussdeshalb viel mehr im Kontext der Novellierung desAsylgesetzes, der Debatte um Asylzentren und dermilitärischen Mandate in der Mittelmeerregiongesehen werden. Das Dublin-System war eineMöglichkeit in jene Migration nachträglich einzu-greifen, die durch die aufgerüstete Grenze nichtverhindert werden konnte. Die Praktik des HAP gehtweiter. Sie ist eine Option, bereits steuernd einzu-greifen, bevor die Migration in ein potenziellesZufluchtsland stattfindet. Analog zur Dublinpraxisgeschieht dies auf einer administrativen Ebene, die
l a g e r l a n d
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„Wir stehen umeuch wie eineWand!“
SALZHEMMENDORF
20.5.2015
Der Familie vonMarwan undMohamad droht dieAbschiebung. IhreFreundinnen undFreunde wollen dasverhindern. Unter demMotto #SaveKraja hatdie Schülerschaft derKGS Salzhemmendorfdaher begonnen, für einBleiberecht für FamilieKraja zu kämpfen. Ineiner ersten Aktiontrafen sich überhundert Menschen aufdem Schulhof, um einZeichen zu setzen<
Willkommen Daheim im Lagerglobiges steinernes Andenken im Lager Friedland für den
„heimkehrenden Soldaten“
Zuständigkeiten einschätzt und zuteilt.
Das Drängen auf weitere Aufnahmeprogramme, wiees von einigen Nichtregierungsorganisationen nachder jüngsten Mittelmeerkatastrophe betrieben wurde,sorgt zusätzlich dafür, dass aus der Ausnahme-Aufnahme die Regel werden könnte. Diese starkeingeschränkten Programme bieten aber kaumSicherheit für jene, die fliehen müssen. Didier Fassinweist in seinem 2007 erschienenen Artikel „Humani-tarism: A Nongovernmental Government“ darauf hin,dass karitative Einrichtungen mit ihren Forderungennach humanitärem Handeln stets auch Gefahr laufen,neuen, zunächst unsichtbaren Formen der Kontrolleund des Grenzregimes Vorschub zu leisten.
Politische Träger humanitärer Aufnahmeprogrammeheben die Vorauswahl der Aufgenommenen beson-ders hervor. Eine Prüfung und Auswahl für dieseAufnahmeprogramme setzt in diesem Fall Institutio-nen voraus, die den EU-Grenzen vorgelagert sind.Menschen auf der Flucht wird suggeriert, ihre Chancesei größer, wenn sie sich über die staatlichen oderkaritativen Institutionen ihres eventuellen Ziellandesum einen Aufenthalt bewerben, statt selbst dieGrenzen zu überwinden, um von dort aus einenAntrag auf Asyl zu stellen. Das bedeutet auch immerwieder, den leidenden Kriegsflüchtling in denMittelpunkt zu stellen und dem fordernden politi -schen Flüchtling Stimme und Aufmerksamkeit zunehmen.
Ausnahmen nur in Ausnahmefällen?
Das Problem der zeitlich und zahlenmäßig begrenztenhumanitären Aufnahme ist die Spezialisierung aufbestimmte Gruppen, in diesem Fall Syrerinnen undSyrer. Die fortschreitenden Landeroberungen durchden sogenannten Islamischen Staat haben dieBundesregierung sichtlich überrascht. Konnte sie sichnach längerer Zeit durchringen, das HAP für Syrien zuentwickeln, gibt es kein entsprechendes Programmfür Menschen im Irak oder anderen Krisengebieten.Die europaweit aktuell diskutierten Quoten stellenerneut eine Bevormundung der Menschen dar, diesich auf den Weg in eine lebenswertere Welt machen.
Aktuelle Forderungen wie von „Watch the medAlarmphone“, die erst kürzlich „Fähren statt Frontex“forderten, oder durch Mitglieder des Rats für Migra-tion nach „humanitären Moratorien“, stellen interes-sante Alternativen zur Politik der regulierten Migrationdar, da sie gleichzeitig die bestehende politischePraxis in Frage stellen. Sie rufen auch dazu auf,
Fluchthelferinnen und Fluchthelfer zu entkriminali -sieren und machen andere (Flucht-)Wege sichtbar. Einpolitischer Prozess, der in der EU und der nationalenPolitik längst überfällig ist.<
l a g e r l a n d
86
Mathias Fiedlerund Lee Hielscherstudieren Kultur -
anthropologie und
Europäische Ethno -
logie an der Uni -
versität Göttingen
und haben das GDL
Friedland über ein
Jahr lang ethnogra-
phisch betrachtet. Sie
sind zudem Teil des
Netzwerks für kriti -
sche Migrations-
und Grenzregime-
forschung.
„Jeder Menschhat das Recht aufein normalesLeben“
TARMSTEDT 27.5.15
Ayub stammt aus dem
Sudan und soll nach
Italien abgeschoben
werden. In Tarmstedt
hingegen hat der 20-
Jährige sich bestens
eingelebt, ist im
Badminton- und
Volleyball-Verein aktiv
und hat Freunde
gefunden. Diese haben
nun eine Facebook-
Seite ins Leben gerufen:
"Ayub soll bleiben". Um
die Abschiebung zu
verhindern, haben sie
außerdem eine Petition
gestartet, die sich an
die niedersächsischen
Behörden richtet.
Geschichtsträchtigsichtbare Relikte einer langen Lagertradition…