1082
Zur Bestätigung
wissenschaftlicher Theorien
1083
1084
Explanansallgemeine Gesetzmäßigkeiten
Wie müssen Explanans und Explanandum aufeinander bezogen sein,
damit man von einer erfolgreichen Erklärung sprechen kann?
Explanandumdas, was die Theorie erklärt
1085
Explanans Weltallgemeine Gesetzmäßigkeiten
In welchem Verhältnis müssen das Explanans und die Welt stehen,
damit es empirisch signifikant und wahr ist?
1086
Wie lassen sich Verallgemeinerungen (Theorien)
bestätigen, deren Wahrheit wir nicht direkt durch
Beobachtung feststellen können?
1087
Verifikationismus
Falsifikationismus
Holismus
Konventionalismus
Anything Goes
Paradigmen und Revolutionen
1088
VerifikationismusDie Hypothetisch-Deduktive Methode
1089
Eine Hypothese wird durch ihre beobachtbaren
Konsequenzen bestätigt bzw. widerlegt. Wenn die
beobachtbaren Konsequenzen eintreffen, dann gilt
eine Hypothese als (teilweise) bestätigt; sonst als
widerlegt.
1090
Boyles Gasgesetz P x V = konst. (T = konst.)
1091
Boyles Gesetz: Der Druck eines Gases ist bei
konstanter Temperatur umgekehrt proportional zu
seinem Volumen.
Versuchsbedingungen:Das Anfangsvolumen des beobachteten Gases ist 1 Liter.
Der Anfangsdruck ist 1 atm.
Der Druck wird auf 2 atm erhöht.
Die Temperatur bleibt konstant.
Beobachtung: Das Volumen verringert sich auf 0,5
Liter.
1092
Testschema (H-D Modell)
H (Hypothese)
A (beobachtbare Testbedingungen)
K (beobachtbare Konsequenz)
1093
ProblemTemperaturen und Drücke lassen sich nicht direkt
beobachten. Wir brauchen Thermometer,
Druckmesser, eine zuverlässige Gaskammer usw.
1094
Jedes reale H-D-Modell benötigt weitere
Hilfshypothesen, die die „Beobachtbarkeit“ der
Testbedingungen betreffen.
1095
Erweitertes Testschema
H (Hypothese)
A (beobachtbare Testbedingungen)
HH (Hilfshypothesen)
K (beobachtbare Konsequenz)
1096
Das Problem der
Alternativhypothesen
1097
Jede beliebige (aber endliche) Anzahl von Versuchen kann durch
unendlich viele alternative Kurven erklärt werden. Und jede
dieser möglichen Hypothesen wäre angesichts der gemachten
Versuche gleich gut bestätigt!
1098
Immer wenn ein beobachtbares Resultat eines H-D-
Tests eine gegebene Hypothese bestätigt, bestätigt
dieser Test ebenso unendlich viele andere
Hypothesen, die mit der gegebenen Hypothese
inkompatibel sind.
1099
Wie können wir sicher sein, dass ein Test als
Bestätigung für eine bestimmte Hypothese gilt, wenn
dieser Test viele weitere, inkompatible Hypothesen
bestätigen würde?
1100
Das Problem der statistischen
Hypothesen
1101
Angenommen, wir möchten die Hypothese testen,
dass der Gang zur Psychotherapie die
Wahrscheinlichkeit der Genesung im Falle einer
Depression erhöht.
1102
Angenommen, Bruce Brown leidet an Depressionen.
Er geht zur Psychotherapie (Randbedingungen) und
er gesundet (beobachtbare Konsequenz).
1103
Bestätigt dies unsere Hypothese?
1104
Aus einer statistischen Hypothese kann man nicht
ableiten, was tatsächlich passieren wird.
Statistische Gesetzmäßigkeiten lassen sich in einem
H-D-Modell nicht (so einfach) testen!
Ausnahmen bestätigen die Regel!
1105
Das Rabenparadox
1106
H-D-ModellHypothesen werden durch ihre positive Instanzen
bestätigt.
1107
Äquivalenzbedingung Die Bestätigung einer Hypothese hängt nicht von ihrer
Formulierung ab.
1108
Kontraposition(P Q) (Q P)
1109
Alle Raben sind schwarz.
Alle nichtschwarzen Dinge sind keine Raben.
1110
KonsequenzDie Hypothese „Alle Raben sind schwarz“ und die
Hypothese „Alle nichtschwarzen Dinge sind keine
Raben“ werden durch dieselben Daten bestätigt.
1111
Alle Raben sind schwarz.
Wir müssen nicht in den Regen hinaus, um Vogelkunde zu betreiben.
1112
Reaktionen
1113
Hempel: Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Raben
schwarz sind, wird durch die Beobachtung von nicht-
schwarzen Nicht-Raben tatsächlich erhöht.
Jede Beobachtung, die einer Allaussage nicht widerspricht,
bestätigt sie.
1114
Karl Popper: Hypothesen lassen sich gar nicht
bestätigen, allenfalls falsifizieren.
Unser Bestreben muss es sein, Hypothesen durch negative
Beispiele zu Fall zu bringen.
1115
J. L. Mackie: Die Wahrscheinlichkeit für ein beliebiges
Objekt, ein schwarzer Rabe zu sein, ist bei weitem
geringer als ein nicht-schwarzer Nicht-Rabe zu sein.
Deshalb bestätigt die Beobachtung eines schwarzen
Raben die Hypothese stärker als die Beobachtung von
nicht-schwarzen Nicht-Raben.
Die Hypothese wird nur sehr schwach bestätigt.
1116
W. V. O. Quine: Gesetze handeln von natürlichen
Arten. „Nicht-Raben" jedoch stellen ein allenfalls ein
buntes Sammelsurium, aber keine natürliche Art dar.
Hypothesen, in denen von „Nicht-Raben“ die Rede ist, stellen
keine Naturgesetze dar, für die es eine Bestätigung geben
könnte.
1117
Goodmans neues Rätsel der
Induktion
1118
Nelson Goodman (1906-1998)
Goodman ist ein führender Vertreter der
analytischen Philosophie. Er arbeitete zu
erkenntnistheoretischen,
wissenschaftstheoretischen,
sprachphilosophischen und ästhetischen
Themenstellungen.
The Structure of Appearance (1951); Fact, Fiction, and Forecast (1955); Languages of Art
(1968); Ways of Worldmaking (1976)
1119
Wir definieren das Prädikat grot, welches eine
Eigenschaft bezeichnen soll, die ein Ding besitzt, wenn
es vor Juli 2013 grün ist und danach rot.
Juli 2013grün
Juli 2013grot
1120
Jetzt untersuchen wir dir folgenden beiden
Hypothesen:
1121
(1) Alle Smaragde sind grün.
(2) Alle Smaragde sind grot.
1122
Beide Hypothesen werden bis Juli 2013 durch genau
dieselben Evidenzen gestützt – grüne bzw. grote
Smaragde.
1123
Das Auffinden grüner Smaragde bestätigt beide
Hypothesen gleichermaßen; das Auffinden
andersfarbiger Smaragde würde beide gleichermaßen
widerlegen!
1124
Alle bisher gefundenen Smaragde
waren grün bzw. grot!
Beide Hypothesen werden exakt gleich gut bestätigt.
1125
Ein im August 2013 gefundenes grünes Ding ist grün;
ein grotes ist rot.
„Grün“ und „grot“ sind zwei inkompatible Prädikate. Es kann
nicht sein, dass beide Hypothesen wahr sind.
1126
Jetzt definieren wir das Prädikat Smarose, welches ein
Ding bezeichnen soll, das vor Juli 2013 ein Smaragd ist
und danach eine Rose.
1127
Wir untersuchen dir folgende Hypothese:
Jede Smarose ist grot.
1128
Jeder bisher gefundene grüne Smaragd stützt diese
Hypothese, ebenso wie die Voraussage, dass jede
nach Juli 2013 gefundene Rose rot sein wird.
1129
Fazit
Alles bestätigt alles. Der Begriff der Bestätigung
ist daher nutzlos.
1133
Goodmans Lösung:
entrenchment (Verankerung)
1134
ProblemstellungUnter allen Verallgemeinerungen, die mit den
bisherigen Daten im Einklang stehen, betrachten wir
einige (z.B. „Jeder Smaragd ist grün.“) als gutartig,
und andere (z.B. „Jede Smarose ist grot.“) als
inakzeptabel.
Warum betrachten wir manche Hypothesen als inakzeptabel?
1135
Goodmans TheseGutartig sind solche Prädikate, die in unserer
wissenschaftlichen Praxis verankert sind.
1136
EntrenchmentEin Prädikat gilt in unserer wissenschaftlichen Praxis
als verankert, wenn es häufig verwendet wurde.
Plausibel?
1137
Fazit
Das H-D-Modell der Bestätigung von Hypothesen
hat mit einer Reihe von Paradoxien zu kämpfen.
Gelingt es dem Verifikationismus, die Bestätigungs-
Beziehung angemessen zu charakterisieren?
1138
Falsifikationismus
1139
Karl Popper (1902-1994)Popper gilt als einer der einflussreichsten Autoren
auf den Gebieten der Wissenschaftstheorie sowie
der politischen Philosophie. Er kritisierte den
Logischen Empirismus und dessen Sichtweise der
wissenschaftlichen Methode. In die politische
Theorie ist er als wichtiger Kritiker des Marxismus
eingegangen. Popper wurde 1965 von der Queen
Elizabeth II geadelt.
Logik der Forschung (1934); The Open Society and Its Enemies (1945); Conjectures and
Refutations (1965); Objective Knowledge (1972); The Self and Its Brain (1977)
1140
Deduktion vs. Induktion
1141
DeduktionAlle Menschen sind sterblich.
Sokrates ist ein Mensch.
Sokrates ist sterblich.
InduktionDieser Rabe ist schwarz.
Jener Rabe ist schwarz.
Alle Raben sind schwarz.
1142
Deduktive Argument sindnicht erkenntniserweiternd: Wir lernen
nichts Neues hinzu.
notwendig wahrheitserhaltend: Wenn
die Prämissen wahr sind, dann muss
die Konklusion ebenfalls wahr sein.
erosionsbeständig:
Zusatzinformationen verändern nicht
die Gültigkeit eines deduktiven
Arguments.
absolut: Die Gültigkeit eines
deduktiven Arguments kennt keine
Grade.
Induktive Argumente sinderkenntniserweiternd: Wir lernen
etwas Neues hinzu.
nicht notwendig wahrheitserhaltend:
Ein induktives Argument kann trotz
wahrer Prämissen eine falsche
Konklusion besitzen.
nicht erosionsbeständig: Neue
Prämissen können die Gültigkeit eines
induktiven Arguments unterminieren.
graduell: Die Prämissen können die
Konklusion in unterschiedlicher Stärke
stützen.
1143
Das klassische Bild
Hypothesenbildung und Bestätigung
1144
HypothesenbildungDieser beobachtete Rabe ist schwarz.
Jener beobachtete Rabe ist schwarz.
Alle Raben sind schwarz.
Das Aufstellen von Hypothesen
geschieht über induktive
Verallgemeinerungen, die unsere
Beobachtungen zusammenfassen.
BestätigungAlle Raben sind schwarz.
Dies ist ein Rabe.
Er ist schwarz.
Wissenschaftliche Hypothesen
werden anhand ihrer
beobachtbaren Konsequenzen
(graduell) bestätigt.
1145
ProblemeEntdeckungszusammenhang
Humes Induktionsskepsis: Es gibt
keinerlei Rechtfertigung für induktive
Schlüsse.
Das Problem der alternativen
Hypothesen: Ein und dieselben
Beobachtungen rechtfertigen eine
Vielzahl inkompatibler Hypothesen.
ProblemeRechtfertigungszusammenhang
Goodmans neues Rätsel der Induktion:
Jede Bestätigung einer Hypothese gilt
auch als eine Bestätigung vieler
anderer inkompatibler Hypothesen.
Hempels Rabenparadox: Hypothesen
scheinen sich auch durch irrelevante
Beobachtungen stützen zu lassen.
1146
Poppers FalsifikationismusVermutungen und Widerlegungen
1147
The work of the scientist consists in putting forward
and testing theories. The initial stage, the act of
conceiving or inventing a theory, seems to me neither
to call for logical analysis nor to be susceptible of it.
The question how it happens that a new idea occurs
to a man ... may be of great interest to empirical
psychology; but it is irrelevant to the logical analysis of
scientific knowledge.
Popper, Logic of Inquiry
1148
HypothesenbildungEntdeckungszusammenhang
Wissenschaft beginnt nie mit Beobachtungen
(induktiv), sondern immer mit Vermutungen
(deduktiv).
1149
BestätigungRechtfertigungszusammenhang
Beobachtungen können zwar nie die Wahrheit
wissenschaftlicher Hypothesen begründen
(Verifikation), wohl aber ihre Falschheit (Falsifikation).
Die Beobachtung eines schwarzen Schwans falsifiziert die
Hypothese ein für alle mal, dass alle Schwäne weiß sind.
1150
Die Keplerschen Gesetze
1151
Kepler entdeckte, dass sich der Mars in einer
elliptischen Bahn um die Sonne bewegt. Er stellte die
Vermutung an, dass die Bewegung der Planeten
entweder zirkulär oder zusammengesetzt aus
wenigen zirkulären Bewegungen ist.
… und bildete drei Hypothesen.
1152
1 Der Orbit des Mars ist ein Kreis um ein Zentrum C, welches
sich ein wenig von der Sonne entfernt befindet.
2 Der Orbit des Mars setzt sich aus zwei Kreisen zusammen,
deren zusammengesetzte Form eiförmig ist, wobei das spitze
Ende den sonnennächsten Punkt des Mars bildet.
3 Der Orbit des Mars ist eine Ellipse mit der Sonne in einem der
Zentren.
1153
Jede der Hypothesen hat er daraufhin sorgfältig mit
den empirischen Daten verglichen.
1154
Die ersten beiden Vermutungen musste er aufgrund
ihrer Nichtübereinstimmung mit den verfügbaren
Daten verwerfen; nur die dritte Hypothese widerstand
allen ihm verfügbaren Kenntnissen über die
Bewegung des Mars.
1155
Diese ist als das Keplersche Gesetz in die
Wissenschaftsgeschichte eingegangen.
1156
Kepler hat einfache Vermutungen angestellt.
Er hat diese mit dem beobachteten Daten verglichen.
Er hat diejenigen Hypothesen verworfen, deren
Konsequenzen nicht mit den beobachteten Daten im
Einklang standen.
Hypothesenbildung ist kreativ. Bestätigung ist falsifikatorisch.
1157
Probleme
1158
Das ist Dr. E.
1159
Dr. E. stellt zum Zeitpunkt t1 eine Theorie T auf. Zu t1
gibt es noch keine Evidenzen für T, so dass es sich um
eine reine Vermutung handelt.
1160
Zwischen t1 und t2 jedoch haben Dr. E und seine
Kollegen gezeigt, dass sich mit T eine ganze Reihe von
Beobachtungen erklären lassen. Außerdem haben sie
vielen Experimente angestellt, um T zu testen, von
denen sich jedes einzelne als Erfolg herausgestellt
hat.
1161
IntuitionFür T hat es zu t1 keine Rechtfertigung durch
Evidenzen gegeben, aber zu t2 liegen starke
empirische Evidenzen für T vor, die uns rechtfertigen,
T als eine gute Theorie in der Wissenschaftspraxis
weiter zu verwenden.
1162
Aus Poppers These folgt, dass sich am Status der
Theorie nichts geändert hat. Wenn nur
Widerlegungen eine Rolle spielen, dann ist T zu t2 nur
eine Vermutung genauso wie zu t1.
Das ist kontraintuitiv.
1163
BewährungsgradJe häufiger eine Theorie dem Versuch der
Widerlegung widerstanden hat, desto höher ist ihr
Bewährungsgrad.
1164
Der Begriff des Bewährungsgrades entspricht
unserem alten Begriff der (graduellen) Bestätigung
einer Theorie (Hypothese), wodurch wir uns genau die
Probleme wieder einhandeln, die Popper vermeiden
wollte!
1165
Verifikation und Falsifikation sitzen im selben Boot!
1166
Alle Raben sind schwarz.
Diese Aussage lässt sich durch die
Beobachtung von schwarzen
Raben nur graduell bestätigen.
Sie lässt sich jedoch durch die
Beobachtung eines einzigen
nichtschwarzen Raben ein für alle
Mal falsifizieren.
Es gibt weiße Raben.
Diese Aussage lässt sich durch die
Beobachtung von schwarzen
Raben nur graduell falsifizieren.
Sie lässt sich jedoch durch die
Beobachtung eines einzigen
weißen Raben ein für alle Mal
verifizieren.
1167
Fazit
Ob sich eine Hypothese absolut oder nur graduell
bestätigen bzw. falsifizieren lässt, hängt von ihrer
logischen Form und nicht von der angewandten
Methode ab.
1168
Holismus
1169
Pierre Duhem (1861-1916)Duhem war ein bedeutender französischer Physiker
und Mathematiker. Er lieferte es sich einen heftigen
Disput mit seinem Kollegen Poincaré. Seine
Entdeckung, dass bei der Bestätigung einer
Hypothese stets ein Gefüge weiterer Annahmen
vorausgesetzt werden muss, ist als Duhem-Quine
These in die Geschichte eingegangen.
The Aim and Structure of Physical Theory (1904/05); The Value of Science (1904/05);
Physics of a Believer (1905); To Save the Phaenomena (1908)
1170
Kein Experiment ist in der Lage, eine einzelne
Hypothese zu falsifizieren.
Was auf dem Prüfstand der Erfahrung steht, ist immer
eine ganze Theorie, bzw. eine Theorie zusammen mit
einem ganzen Netz von Zusatzannahmen.
1171
H-D-Testmodell
(H & A1 & A2 & A2) O
H ... Hypothese, die überprüft werden soll
A1, A2, A2 ... Zusatzannahmen und Randbedingungen
O ... Beobachtungssatz
1172
Angenommen, O tritt nicht ein. Dann gilt nicht-O und
das impliziert:
nicht (H & A1 & A2 & A2)
1173
… und das ist äquivalent mit:
Nicht-H oder
Nicht-A1 oder
Nicht-A2 oder
Nicht-A3
1174
Was hat der fehlgeschlagene Test gezeigt? Konnten
wir damit die Hypothese tatsächlich falsifizieren?
1175
Fazit
Wir können aus dem Fehlschlagen eines
empirischen Tests nur schließen, dass entweder
unsere Hypothese oder eine oder mehrere
Zusatzannahmen falsch sind. Weder die
Beobachtung noch die Logik kann uns zeigen,
welche der Annahmen wir verwerfen sollen! Es
steht uns frei zu entscheiden, an welcher Stelle
wir Veränderungen vornehmen.
1176
Poincarés Konventionalismus
1177
Henry Poincaré (1854-1912)Poincaré ist ein bedeutender Mathematiker,
Physiker und Wissenschaftstheoretiker, welcher in
Paris lehrte. Er interessierte sich für nicht-
Euklidische Geometrie, entdeckte einen Vorläufer
der speziellen Relativitätstheorie und formulierte
wichtige Gesetze in der Chaostheorie. In
wissenschaftstheoretischer Perspektive gilt er als
Begründer des Konventionalismus.
Science and Hypothesis (1902); The Value of Science (1905); Science and Method (1908)
1178
Welchen Status haben die
Axiome der Geometrie?
1179
Kant betrachtete die Axiome der Euklidischen
Geometrie als synthetische Urteile a priori (d.h. als
Urteile, die vor aller Erfahrung liegen und gleichzeitig
als die Bedingung der Möglichkeit der räumlichen
Erfahrung gelten).
1180
Hilbert und Lobachevsky haben die Geometrie
weiterentwickelt und gezeigt, dass sich alternative
Geometrien entwickeln lassen, die dieselbe logische
und mathematische Legitimität wie die Euklidische
Geometrie besitzen.
1181
Die geometrischen Axiome sind ... weder synthetische
Urteile a priori noch experimentelle Tatsachen. Es
sind auf Übereinkommen beruhende Festsetzungen;
unter allen möglichen Festsetzungen wird unsere
Wahl von experimentellen Tatsachen geleitet; aber sie
bleibt frei und ist nur durch die Notwendigkeit
begrenzt, jeden Widerspruch zu vermeiden ... Mit
anderen Worten: die geometrischen Axiome ... sind
nur verkleidete Definitionen.
Poincaré, Science and Hypothesis
1182
Poincaré stellte verschiedene geometrische
Axiomensysteme und deren Anwendungen vor und
bezeichnet sie als verschiedene „Sprachen“.
„unsere Geometrie ist nicht wahr, sondern sie ist vorteilhaft“
1183
Welchen Status haben
wissenschaftliche Hypothesen?
1184
1185
Wenn wir ein mathematisches Gesetz finden
möchten, das eine gegebene Serie von
Beobachtungen beschreiben soll, dann interpolieren
wir üblicherweise die einfachste Linie eines gegeben
Graphen von Punkten. Diese Entscheidung beruht
nicht „in der Natur der Sache selbst“, sondern sie
geschieht rein konventionell.
1186
Die tatsächliche Kurve, die wir in unserer Theorie mit
mathematischen Mitteln konstruieren, hängt sowohl
von der Erfahrung als auch von der Einfachheit der
Kurve ab – je einfacher die Kurve, desto mehr Punkte
werden außerhalb dieser liegen.
Einfach aber ungenau, oder kompliziert und genau? Wie
entscheiden wir uns?
1187
Die interpolierte Kurve – das angenommene Gesetz –
ist keine direkte Generalisierung aus der Erfahrung.
Sie korrigiert die Erfahrung! Welche Linie wir wählen
(welche Theorie wir favorisieren), hängt von unseren
Entscheidungen ab! Obwohl wissenschaftliche
Theorien auf Erfahrung beruhen, so sind sie doch
weder verifizier- noch falsifizierbar durch die
Erfahrung allein!
1188
Anything goes
1189
Paul Feyerabend (1924-1994)Der österreichische Philosoph Paul Feyerabend
beschäftigte sich vorwiegend mit der
Wissenschaftstheorie, und den sozialen Folgen der
Wissenschaft. In „Wider den Methodenzwang“
behauptete er, dass der Wissenschaftsfortschritt
hauptsächlich durch Irrtümer, Irrationalitäten und
abgelehnte Theorien zustande gekommen ist.
Wider den Methodenzwang (1974); Science in Free Society (1978); Wissenschaft als
Kunst (1984)
1190
Der Gedanke, die Wissenschaft könne und sollte nach festen und
allgemeinen Regeln betrieben werden, ist sowohl wirklichkeitsfern als
auch schädlich. Er ist wirklichkeitsfern, weil er sich die Fähigkeiten des
Menschen und die Bedingungen ihrer Entwicklung zu einfach vorstellt.
Und er ist schädlich, weil der Versuch, die Regeln durchzusetzen, zur
Erhöhung der fachlichen Fähigkeiten auf Kosten unserer Menschlichkeit
führen muss. Außerdem ist der Gedanke für die Wissenschaft selbst von
Nachteil, denn er vernachlässigt die komplizierten physikalischen und
historischen Bedingungen des Fortschritts. ... Alle Methodologien haben
ihre Grenzen, und die einzige ‚Regel‘, die übrigbleibt, lautet ‚Anything
goes‘.
Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang
1191
Inkommensurabilität
1192
In einigen Fällen können sich die Prinzipien zweier
rivalisierender Theorien so radikal voneinander
unterscheiden, dass beide Theorien keine einzige
Beobachtungsaussage gemeinsam haben! Dann ist es
nicht möglich, die beiden Theorien sinnvoll
miteinander zu vergleichen. Sie sind daher
inkommensurabel.
1193
Klassische MechanikPhysikalische Objekte besitzen eine Form, eine Masse
und ein Volumen, und diese Eigenschaften können
nur durch physikalische Wechselwirkungen verändert
werden.
1194
RelativitätstheorieEigenschaften wie Form, Masse oder Volumen
existieren nicht als solche. Sie sind abhängig von
einem Bezugsrahmen und können daher ohne eine
physikalische Wechselwirkung verändert werden,
einfach indem man von einem Bezugsrahmen zu
einem anderen wechselt.
1195
Jeder Beobachtungsaussage über Gegenstände in der
klassischen Mechanik kommt eine grundsätzlich
andere Bedeutung zu als einer ähnlichen
Beobachtungsaussage innerhalb der
Relativitätstheorie! Die beiden Theorien sind
zueinander inkommensurabel.
Wissenschaftlicher Fortschritt ist disruptiv und nicht graduell.
1196
Paradigmen und Revolutionen
1197
Thomas Kuhn (1922-1996)Kuhn gilt als einer der wichtigsten
amerikanischen Wissenschaftstheoretiker. Er
lehrte in Berkeley und später am MIT
Philosophie und Wissenschaftsgeschichte.
Sein wichtigstes Werk „Die Struktur
wissenschaftlicher Revolutionen“ schrieb er
schon als Student. Er gilt als einer der
wichtigsten Kritiker des Falsifikationismus.
The Structure of Scientific Revolutions (1962)
1198
Wissenschaftlicher Fortschritt geschieht nicht
graduell, sondern disruptiv. Er geschieht nicht durch
die Anwendung einer bestimmten Methode, sondern
durch den Niedergang und Zerfall von Paradigmen.
Paradigmen und Revolutionen statt „anything goes“.
1199
Vor-Wissenschaft (keine Prinzipien, keine Methoden)
Normalwissenschaft (Prinzipien, Methoden, Schwierigkeiten)
Krise (Schwierigkeiten nehmen überhand)
Revolution (neue Prinzipien, neue Methoden)
Normalwissenschaft (Prinzipien, Methoden, Schwierigkeiten)
1200
Paradigmen und
Normalwissenschaft
1201
Die Probleme und Rätsel eines Paradigmas sind
entweder theoretischer Natur (Beispiel: Berechnung
der Planetenbewegungen) oder instrumenteller Natur
(Beispiel: Präzisierung teleskopischer Betrachtungen).
1202
Das Scheitern bei der Lösung paradigmatischer
Probleme wird als Scheitern des Wissenschaftlers und
nicht als Scheitern des Paradigmas gewertet.
1203
Ein Wissenschaftler steht dem Paradigma, in welchem
er arbeitet, unkritisch gegenüber.
1204
Die Ausbildung eines Wissenschaftlers innerhalb
eines Paradigmas besteht im Lösen von
Standardproblemen, der Anwendung der Theorie auf
Standardsituationen, sowie dem Ausführen von
Standardexperimenten, die ihn mit den Methoden
und Techniken des Paradigmas vertraut machen.
1205
Probleme, die sich einer Lösung widersetzen, werden
eher als Anomalien im Paradigma statt als
Falsifikationen des Paradigmas betrachtet.
1206
Die Normalwissenschaft orientiert sich vorwiegend an
Paradigmen, welche die zentralen Fragestellungen,
Methoden, sowie zulässigen Lösungswege vorgeben.
Probleme, die sich einer Lösung widersetzen, werden
in der Regel als Anomalien statt als Falsifikationen des
Paradigmas betrachtet.
1207
Zu einer Krise kommt es, wenn:
… eine Anomalie die Grundlagen eines Paradigmas bedroht,
… sich eine Anomalie nicht länger bagatellisieren lässt,
… es zu viele Anomalien gibt,
… die Zeitspanne der Resistenz einer Anomalie zu groß wird,
… oder sich ein rivalisierendes Paradigma einstellt.
1208
Ein neues Paradigma bringt gewöhnlich ganz andere
Fragestellungen mit sich. Die Problemstellungen des
alten Paradigmas werden als obsolet oder müßig
betrachtet.
Rivalisierende Paradigmen erachten unterschiedliche Fragen als
legitim oder bedeutsam!
1209
Die Inkommensurabilität von
wissenschaftlichen Paradigmen
1210
Weil die Fragen, die Problemstellungen und die
Ansicht, was die zu erklärenden die Phänomene sind,
für rivalisierende Paradigmen unterschiedlich sind,
kann es kein logisches oder empirisches Argument
geben, das die Überlegenheit des einen über das
andere Paradigma beweist, oder das einen
Wissenschaftler zwingen könnte, den Wandel zu
vollziehen.
Anhänger rivalisierender Paradigmen leben „in verschiedenen Welten“.
1211
Wenn zwei Paradigmen keine wissenschaftlichen
Standards miteinander teilen, dann gibt es keine
gemeinsamen Voraussetzungen, vor welchen sich
stringente Argumentationen für und wider eine
Theorie überhaupt entwickeln lassen.
Rivalisierende Paradigmen sind einander inkommensurabel!