Download - Urban Farming in Zürich
“Lizenziatsarbeit der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich“
Verortung, Vernetzung, Verhandlung
Eine kulturwissenschaftliche Betrachtung urbaner Garteninitiativen in Zürich
Eingereicht bei Prof. Dr. Thomas Hengartner
am Institut für populäre Kulturen
von Reinhard Benedikt Pestalozzi
im Dezember 2012
2
Verortung, Vernetzung, Verhandlung
Eine kulturwissenschaftliche Betrachtung urbaner Garteninitiativen in Zürich
3
1 Vorwort ..........................................................................................................................5
2 Einleitung .......................................................................................................................9
2.1 Das Rhizom ..............................................................................................................9
2.2 Kulturbegriffe......................................................................................................... 11
2.3 Der Essay ............................................................................................................... 14
2.4 Urban Gardening – Die Bewegung weltweit und vor Ort ........................................ 16
2.4.1 Feststellungen ................................................................................................. 16
2.4.2 Ansichten der Akteure ..................................................................................... 18
3 Das Feld ....................................................................................................................... 23
3.1 Kronenwiese .......................................................................................................... 23
3.2 Dunkelhölzli ........................................................................................................... 25
3.3 Pflanzlabor ............................................................................................................. 27
3.4 Seedcity.................................................................................................................. 29
3.5 Ortoloco ................................................................................................................. 30
3.6 Stadiongarten ......................................................................................................... 32
3.7 Kulturgarten ‚Pflanz dich frei‘ ................................................................................ 35
3.8 Frau Gerolds Garten ............................................................................................... 37
3.9 Brauergarten ........................................................................................................... 39
3.10 Typisierungen......................................................................................................... 40
4 Ansätze zur Interpretation ............................................................................................. 42
4.1 Der Stadiongarten als anthropologischer Ort ........................................................... 44
4.1.1 Die ‚Möblierung‘ des Stadiongartens............................................................... 47
4.1.2 Die Beschriftung des Stadiongartens ............................................................... 54
4.2 Das Heterotop ........................................................................................................ 59
4.2.1 Theoretische Merkmale des Heterotops ........................................................... 59
4.2.2 Der Garten als Heterotop ................................................................................. 60
4
4.3 Das Aneignen von Orten ........................................................................................ 66
4.3.1 Die Voraussetzung der Gruppe ........................................................................ 66
4.3.2 Ausgangsbasis Fabritzke-Areal........................................................................ 67
4.4 Der Ort und die Sprache ......................................................................................... 71
4.4.1 Umdeutungen .................................................................................................. 71
4.4.2 Namens- und Sprachspiele .............................................................................. 78
4.4.3 Verhandeln von Regeln ................................................................................... 80
4.5 Das Narrativ ........................................................................................................... 83
4.5.1 Narrative in der Presse..................................................................................... 90
4.5.2 Narrative in der populären Literatur ................................................................. 91
5 Traditionslinien ............................................................................................................. 93
5.1 Gartenvereine in Zürich .......................................................................................... 95
5.1.1 Verein für Schülergärten ................................................................................. 95
5.1.2 Verein für Familiengärten................................................................................ 97
5.2 Die Herkunft von Urban Farming ........................................................................... 99
6 Fazit und Ausblick ...................................................................................................... 102
7 Literaturverzeichnis .................................................................................................... 107
5
1 VORWORT
Sonntag, 16.10.2011
Ich nähere mich dem Unterstand. Er liegt mitten auf der mit
hohem Gras und Buschwerk überwachsenen Seite der Baubrache
des ehemaligen Hardturmstadions. Das Gerüst aus Holzlatten
und einem Blechdach überdeckt einen mannshohen Brotofen.
Mit seiner grauen Lehmummantelung und dem über der
Eingangsluke aufgesetzten Kamin gleicht er einem Schlümpfe-
Haus. Es ist kurz vor halb sechs an einem Sonntagabend im
Oktober. Es dämmert und aus dem Kamin steigt weisser Rauch.
Vor dem Ofen sitzt Steffi und liest die WOZ. Einmal
wöchentlich bringt jemand die Zeitung vorbei und legt sie
in den blechernen Kasten gleich hinter dem Ofen.
In der Woche zuvor erfuhr ich vom Hörensagen, dass auf der
Brache des ehemaligen Hardturmstadions gegärtnert würde.
Ich fuhr aufs Geratewohl hin und sah auf einem Anschlag die
Ankündigung: „Neu: regelmässige Backtage. Jeweils am
Donnerstag und Sonntag heizen wir ab 17 Uhr den Ofen ein.
Alle Interessierten sind herzlich eingeladen, mit oder ohne
Teig vorbeizukommen und mitzumachen! Bis bald,
Projektgruppe brotoloco.“ Die Mitteilung stand auf einem
Briefpapier mit dem Signet „ortoloco, Die regionale
Gartenkooperative“.
Dies ist der erste Eintrag in das Forschungstagebuch, als sich das Thema der vorliegenden
Arbeit vor einem Jahr zu konkretisieren begann. Hinweise aus verschiedensten Quellen
verdichteten sich zu einem Ganzen. Scheinbar unabhängig voneinander berichteten sie von
Stadtgeschichten rund um die Welt und aus Zürich. Sie hatten alle einen gemeinsamen
Nenner: sie erzählten von der unerhörten Begebenheit, dass Städter sich für
landwirtschaftliche Themen interessierten, oder bäuerische Tätigkeiten gleich selbst
ausprobierten. Einige Beispiele: Im Zuge der Wirtschaftskrise war zu lesen, wie in New York,
dem Sinnbild für westliche Urbanität, vermehrt Hühner im Hinterhof zwecks Eierproduktion
oder Suppenergänzung gezüchtet würden1. Eine Bloggerin aus Wien war an meinen
Erfahrungen im Landdienst vor zehn Jahren interessiert:2 Sie berichtet regelmässig von neuen
Projekten, porträtiert innovative Bauern und rezensiert einschlägige Literatur. Auf ihre
Anfrage zu weiterer Zusammenarbeit berichtete ich von einem Imker in Zürich, der mitten im
Hochschulquartier direkt neben der Tram-Haltestelle Pfauen und der stark befahrenen
1 Vgl. Tages Anzeiger, 27. 07.2010: „In der Not hält der Amerikaner Hühenr“;
http://www.tagesanzeiger.ch/20895542/print.html 2 http://www.ueber-land.eu/landdienst-agriviva-lebensmittel-landwirtschaft/
6
Heimstrasse seine Bienen hält. Er erzählte von der neuen Erkenntnis, dass Bienen auf
städtischem Gebiet mehr Honig sammelten als auf dem Land.3 In einem Praktikum beim
Hilfswerk HEKS diskutierten wir, inspiriert von Projekten aus Deutschland, über den
integrativen Charakter von Gemeinschaftsgärten. Solche werden mittlerweile in
verschiedenen Schweizer Städten wie in Zürich betrieben4. Eine Freundin etablierte einen
interkulturellen Garten auf einer Baubrache in Seebach: die Seebrache5. Nach drei Jahren
musste der blühende Garten einem Neubau weichen. Die Stadt begrüsste jedoch das Projekt
und etablierte in Zusammenarbeit mit der Initiantin den Gemeinschaftsgarten Kronenwiese,
ebenfalls eine Zwischennutzung: Der Baubeginn der städtischen Wohnsiedlung Kronenwiese
ist im Sommer 2014 geplant6.
Im Freundeskreis wurde über das Fleischessen und Vegetarier diskutiert, über das Rauchen
und gesundes Leben, Ressourcenverbrauch und Peak Oil, über die Lebensmittelindustrie und
das Gärtnern, Kochen, Einmachen und Beeren pflücken. Es fiel der Name der
Gartenkooperativen Ortoloco und Dunkelhölzli, und jemand wusste, dass auf der Brache des
ehemaligen Stadions Brot zum Selbstzweck gebacken wurde. Mir reichte es. Da war etwas in
Gange. Da war etwas, das all diese Themen verband. Diesem Etwas wollte ich auf den Grund
gehen und fuhr an jenem Sonntag im Oktober 2011 auf die Stadionbrache, brachte meinen
Teig mit und backte mein Brot mit den anderen Back-Aktiven im vorgeheizten Holzofen und
unterhielt mich mit den Leuten. Hielten auch sie Hühner im Hinterhof? Kannten sie den Imker
vom Pfauen? Was hatten sie mit Ortoloco zu tun und was ist das, eine regionale
Gartenkooperative? Waren all diese Phänomene nicht Ausdruck derselben Bewegung? Oder,
um mit Michel de Certeau zu sprechen: waren es nicht Alltagspraktiken, abgeleitet aus ein
und demselben System, das sich Kultur nennt? Was ist das für eine Kultur? Wie lässt sie sich
aufspüren? Wie lässt sie sich beschreiben?
Fortsetzung Tagebucheintrag vom Sonntag, 16.10.2011
Steffi legt Holz nach. Bald kommen hoffentlich ein paar
Leute und einige ihrer Freunde vorbei und dann soll der
Ofen backbereit sein. Sie erklärt mir, wie es zu Brotoloco
kam. Seit der Saison 2010 baut die genossenschaftlich
organisierte Gruppe Ortoloco auf einem gepachteten Feld in
Dietikon Gemüse an und verteilt es den Genossenschafter.
3 http://www.ueber-land.eu/urban-farming-stadThomker-regionale-lebensmittel-zurich/ 4 http://www.heks.ch/schweiz/regionalstelle-zuerichschaffhausen/heks-neue-gaerten-zuerich/ 5 http://www.stadt-zuerich.ch/content/ted/de/index/gsz/angebote_u_beratung/zwischennutzungen/ 6 ebd.
7
Diese finanzieren mittels Anteilsscheinen den Betrieb und
unterstützen mehrmals jährlich die ausgebildete
Gemüsegärtnerin mit Feldarbeit. Einmal die Woche erhalten
alle ‚Gnossis‘, je nach gewähltem Abo, eine grössere oder
kleinere Tasche voll frisch geerntetem Gemüse. Diese
können sie in ihrem Quartierdepot abholen.
Neben dem Gemüsebau entwickelten sich schnell Nebenprojekte wie die Kultivierung von
Beeren und Pilzen mit den sprechenden Namen Beeriloco und Fungoloco, und seit 2011 eben
Brotoloco, die genossenschaftliche Brotproduktion. So entfaltete sich das Netz: Zuerst war da
die Grundidee des Gemüsebaus und die Organisationsform der Genossenschaft. Dann das
Feld in Dietikon. Es folgten weitere Projekte und der Brotofen auf der Hardturm-Brache. Ein
Mitglied der Betriebsgruppe versuchte zu rekonstruieren, wie es dazu kam:
Weiss nicht wie im Detail das gelaufen ist. Man hat lange von diesem Ofen gesprochen, dass man den bauen will, und erst gesagt, das machen wir gleich auf dem Fondli [Hof in Dietikon], weil es ja ein Teil von Ortoloco war. Und da war ja Esther vom Kraftwerk [Wohngenossenschaft Nähe Hardturm], die fest mitgetan hat beim Brachenverein, weil sie hier gerade wohnt und – das ist auch so eine herzige Geschichte. Sie ist mit ihren Kindern hier vorbeigelaufen, die Securitas bewachte das Gelände blablabla, "kein Zutritt" papipapo, und die Kinder haben immer gefragt, "warum dörfet mir da nöd ie?", völlig bescheuert, ich meine das isch, da isch en uhuere ruum.. Ich: ah, da hast du nicht einmal hinein dürfen. Claude: Nein, da war zu, zu zu zu, da war ein Schloss am Tor, da hat niemand reingekonnt. Und sie hat nach dem fünften Mal Fragen ihrer Kinder sich auch gefragt: ja, eigentlich, warum dürfen wir hier nicht rein? Ist ja völlig bescheuert und hat dann bei der Stadt gefragt, warum dürfen wir hier nicht rein. Und die hat dann gesagt, ja, was, gut, ihr dürft hier schon rein, oder. So hat das angefangen. Und dann hat sich das einfach für diesen Ofen angeboten, ja. (Claude im Stadiongarten, 17.05.2012, 00:11:04)
Die Brache blieb ein öffentlicher Raum. Der Ofen wurde für die Brotproduktion nur einmal in
der Woche geheizt. Es passte in das Konzept von Ortoloco und Brotoloco, dass der Ofen auch
von anderen Leuten genutzt werden kann. So organisierten sie das freie Backen an Sonn- und
Donnerstagen. Hier stiess ich dazu.
Dieses Netzwerk ist eines von vielen in Zürich. Und das Netz über Zürich ist eines von vielen,
die sich überall auf der Welt ausbreiten. Soziale ‚Netze‘ werden von allen Gruppen und
Gesellschaften gebildet. Diese hier sind im Entstehen begriffen indem sich Menschen
8
entgegen der verbreiteten Alltagspraktik zwischen Erwerbsarbeit und Supermarkt
organisieren, um ihre Lebensmittel zu produzieren.
Kultur ist nicht nur ein System, aus dem sich verschiedene Alltagspraktiken ableiten. Kultur
ist auch ein Netz mit einer unüberblickbaren Anzahl Unternetzen. Dies ist bei jeder
Feldforschung zu erfahren: Geht der/die Forschende ins Feld und nistet sich ein in
vermeintlich überblickbare und feste Gruppen, sind sie meistens doch nur Abschussrampen in
ein vielfältiges Netzwerk von Kontakten und Orten. Dies stellt die Kulturwissenschaftlerin
Gisela Weltz in ihrem Aufsatz Sighting/Siting Globalization7 fest, und genauso ist es mir
ergangen: Über die Leute von Ortoloco und Brotoloco erfuhr ich von anderen Netzen, so z.B.
vom Permakulturgarten Seedctiy oder vom Milieugarten Brauergarten. Katja Keller,
Initiatorin des Gemeinschaftsgarten Kronenwiese, erzählte mir von der Genossenschaft
Dunkelhölzli. Über Umwege erfuhr ich von Wissenschaftlerinnen der ETH, die die
Auswirkungen des kommunalen Gartenbaus auf Mensch und Umwelt untersuchen. Diesen
Verästelungen bin ich gefolgt. Es stellte sich die Frage, ob und wie sich diese
mehrdimensionale Netzstruktur sichtbar machen lässt samt ihrer geschichtlichen Entwicklung
und geographischen Ausbreitung. Diese Arbeit soll diese Komplexität nicht auf eine Ebene
herunter brechen. Da ich die meiste Zeit auf der Stadionbrache und mit Leuten von Ortoloco
verbrachte, werden diese Orte mehr Platz beanspruchen als die anderen Projekte. Es ist eine
subjektive Annäherung an das Feld ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit und erst in einem
Essay werden Verwebung von theoretischen Ansätzen und Beschreibung des Gegenstandes
möglich. Dies entspricht der Tatsache von kulturwissenschaftlicher Theorie und ihrem
Untersuchungsgegenstand, die nicht ohne Verlust voneinander zu trennen sind.8
In der folgenden Einleitung finden verschiedene Berichte von Urban Farming ihren Platz. Aus
soziologischer Sicht beobachtet Christa Müller verschiedene Begebenheiten mit globaler
Reichweite, die für eine Hinwendung zum Gärtnern führen. Sie gehen ebenfalls dem Wesen
dieser scheinbar neuen Bewegung auf den Grund und erklären deren Zustandekommen.
Dazwischen teilen Protagonisten aus Zürich ihre Sichtweise mit. Ebenfalls in diesem Kapitel
sollen die Ansätze der Kulturwissenschaft erörtert werden. Mit dem Thema gleichsam
verwachsen ist die Vorstellung des Rhizoms. Dieses beschreibt eine Denkart oder Weltsicht,
auf der verschiedene hier verwendete Methoden aufbauen.
7 Gisela Welz: „Sighting/Sitin globalization“. Gegenstandskonstruktion und Feldbegriff einer ethnographischen
Globalisierungsforschung. 8 Vgl. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur.
9
2 EINLEITUNG
2.1 DAS RHIZOM
Eine umfassende Herangehensweise lässt an das Modell des Rhizoms denken, das die totale
Verknüpfung aller Phänomene unter einen Hut bringt. Der Begriff kommt ursprünglich aus
der Botanik und bezeichnet eine Art von Wurzelgeflecht. Im Gegensatz zur Pfahlwurzel
verläuft ein Rhizom horizontal, dicht unter oder über der Erdoberfläche und hat verschiedene
Funktionen: es hat aber wie die Pfahlwurzel die Funktion der Wasseraufnahme, bildet aber
auch Knöllchen als Nahrungsspeicher. Es sprosst an geeigneten Stellen wieder aus, um eine
neue Pflanze zu bilden und wächst auch dann weiter, wenn es von der Mutterpflanze
abgetrennt wird. Ein Rhizom ist im Gegensatz zur Pfahlwurzel nicht in sich abgeschlossen.
Als Modell zur Betrachtung von Gesellschafts- und Wissensstrukturen fiel es Mitte der
Siebzigerjahre auf fruchtbaren Boden, als grossflächig die in der Gesellschaft verwurzelten
Hierarchien und Autoritätsgläubigkeiten hinterfragt, überdacht und bekämpft wurden. Das
rhizomatische Denken beruht nicht auf eindeutigen Schlussfolgerungen und Abhängigkeiten.
Die im Strukturalismus etablierten Gesetze, auf denen die Welt und ihre Organisation beruhen
sollten, werden in Frage gestellt. In den linguistischen Theorien von Saussure oder Chomsky
wird der Aufbau der Sprache nach binären Modalitäten erklärt. In diesem Denkmuster wird
die Welt an sich wahrgenommen. Gegen diesen Determinismus wehren sich Deleuze und
Guattari und liefern mit dem Rhizom ein Gegenprogramm:
„Ein Rhizom verknüpft unaufhörlich semiotische Kettenteile, Machtorganisationen,
Ereignisse in Kunst, Wissenschaft und gesellschaftlichen Kämpfen. Ein semiotisches
Kettenglied gleicht einer Tuberkel, einer Agglomeration von mimischen und
gestischen Sprech-, Wahrnehmungs- und Denkakten: es gibt keine Sprache an sich,
keine Universalität der Sprache, sondern einen Wettstreit von Dialekten, Mundarten,
Jargons und Fachsprachen.“9
Der Begriff stellte die ganze Tradition der herkömmlichen Wissenschaft in Frage und wird
auch dem entsprechend kritisiert. Die Beliebigkeit seiner Anwendung und der Anspruch auf
eine umfassende Erklärung der Welt dienen als Vorwurf an einen Begriff, der sich einer
exakten Definition per se zu entziehen scheint. Trotzdem, oder gerade deshalb, erlangte er
eine Popularität, die ihn in philosophischen Abhandlungen bis hin zum Rockmagazin
9 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Rhizome, S. 12.
10
auftauchen liessen.10
Besonders in den Sozial-, Medien- oder Kulturwissenschaften werden
unübersichtliche, mehrschichtige Netzwerke und Systeme als Rhizome beschrieben.
Die Wahrnehmung eines Phänomens hängt von dessen Beschreibung ab. Eine hierarchische
Beschreibung der Gesellschaft bewirkt ein unflexibles Verständnis von deren Kultur. Die
Loslösung einer eindimensionalen Struktur durch das Rhizom öffnet auch das Verständnis hin
zu einem Zusammenspiel von verschiedensten, unübersichtlichen Verbindungen. Rhizome
wuchern, angetrieben von unzählbaren Elementen auf unterschiedlichsten Ebenen zu einem
Geflecht zusammen, das dann eine Gesellschaft bildet, oder ein System, oder eben, eine
Kultur. Ein Mitglied der Betriebsgruppe Ortoloco stellt ähnliche Strukturen fest in ihrem
Wohnatelier wie beim genossenschaftlichen Betrieb.
Dort geschehen ähnliche Dinge wie hier auf dem Fabritzke-Areal.11 Man hat eine gemeinsame Infrastruktur, die man aus einem alltäglichen Bedarf benutzt, man trifft sich, koordiniert den alltäglichen Bedarf, und nebenbei entstehen wie so Zusatzgeschichten zwischen den Leuten, die dann eine starke soziale Vernetzung bilden, die dann wiederum Ideen generieren. (Nick im Atelier Fabritzke, 04.05.2012, 01:27:50)
10 Vgl. Jörg Seidel: Rhizom; http://seidel.jaiden.de/rhizom.php, zuletzt 26.07.2012. 11
Seit 20 Jahren werden die Räume der drei ehemaligen Industriegebäude der Labitzke Farben AG für
verschiedene Zwecke vermietet: Kunstatelier, Tanzschule, Fotostudio, Architekturbüro, Proberaum, etc. 1999
wurde eine grosse Halle zum Wohn-Atelier umfunktioniert. Dort werden die Grenzen von privatem und
gemeinsamen Raum neu ausgelotet. Diese Gross-WG ist unter dem Namen Fabritzke bekannt geworden. Vgl.
dazu Kap. 4.3.2. Ausgangsbasis Fabritzke-Areal, S. 59.
11
2.2 KULTURBEGRIFFE
Kultur habe ich oben mit Michel de Certeau als System bezeichnet, das als
Orientierungsmuster den Leuten ihr Alltagshandeln ermöglicht. De Certeau vergleicht es mit
der linguistischen Theorie von Type und Token, resp. langue et language, also aktualisierter
Sprachgebrauch vom inhärenten Sprachsystem: Sprachbenutzer schöpfen ihre Wörter aus dem
Sprachschatz, den sie sich in ihrer Kindheit aus ihrer Umgebung angeeignet haben. Um das
Sprachsystem zu verstehen, müssen gesprochene oder geschriebene Äusserungen und
Formulierungen analysiert werden. Adäquat muss zur Analyse eines kulturellen Systems das
Alltagshandeln der Angehörigen dieses Systems betrachtet und in einen Zusammenhang
gestellt werden.
Wer als Kulturwissenschaftlerin im herkömmlichen Sinn einen Ort und seine Bewohner
erfassen will, sehe sich oft „in ein vielfältiges Netzwerk von Kontakten und Orten“ befördert,
schreibt Gisela Welz im oben genannten Aufsatz. Das hänge damit zusammen, dass die
Grenzen von bisher scheinbar homogenen Grössen wie soziale Gruppe, territoriale
Raumbindung oder historische Kontinuität sich auflösen. Räume werden zu Teleräumen. Das
heiss, wir sind nicht unbedingt an den Grund und Boden gebunden, auf dem wir uns befinden.
Wir fliegen für einen symbolischen Preis um den ganzen Globus oder pendeln tagtäglich von
einer Stadt in die andere. Effizienter geht es durch das Internet. Bild, Schrift und Ton
wechseln in Nullzeit die Kontinente. Die Bedeutung zum eigenen Ort und Raum verändert
sich.
Sind diese Begriffe und Abstraktionen fruchtbar für meine Arbeit? Ermöglichen sie die
Verdichtung meiner Beobachtungen zu aussagekräftigen Beschreibungen, die die seit 2009
medial präsente und sich ausbreitende Bewegung des Urban Farmings bestätigten?
Eine plakative Beschreibung könnte wie folgt heissen: eine Kultur wird von einer
Gesellschaft verkörpert, die sozial fest umrissen und geographisch an einem festen Ort
angesiedelt ist. Mit dieser Definition würde eine Kulturwissenschaft betrieben, die
Entwicklungen der Kommunikationstechnologie und deren miteinhergehenden
Veränderungen von Gesellschaftsstrukturen und Weltwahrnehmung nicht berücksichtigt.
Deshalb werden neue Sichtweisen diskutiert, die den Fokus der Kulturwissenschaften öffnen,
um sie den gegebenen Verhältnissen anzupassen. Dazu nimmt Gisela Welz im oben zitierten
Aufsatz Sighting/Siting globalization Stellung und gibt Einblick in die Fachdiskussion. Ihr
Ansatz ist der internationale und interkontinentale Fluss von Waren, Menschen und
12
Organisationen, sowie Abhängigkeiten, Ideen und Bewegungen in der fortschreitenden
Globalisierung. So wie ein Lichtstrahl erst durch die Reflexion an Staubkörner oder
Tautropfen erkennbar wird, werden Phänomene der Globalisierung erst in örtlichen
Fallstudien sichtbar. Dafür verwendet Welz den Begriff „sighting globalization“ – sichtbare
Globalisierung. Diese Studien werden an lokal beschränkten Orten durchgeführt. Daher
„siting globalization“. Erst nach dieser Zuordnung werden auch globale Phänomene für
Kulturwissenschaftler handhabbar. Die traditionelle Methode beschränkte sich auf die
Erforschung von regionalen und überblickbaren Feldern und vernachlässigte den Bezug zum
globalen Kontext.
Urban Farming ist ebenso Makro- wie Mikrokultur. Die konkreten Gärten bilden die
Mikroebene. Der ganze Hintergrund jedoch, die Ideen für urbane Gärten, die Techniken und
die Motivationen, die Hoffnungen und die Ängste verlaufen auf unsichtbaren Bahnen auf der
globalen Ebene. Diese Polarität ist in dieser Arbeit ersichtlich. Einerseits kamen Ansätze und
Theorien zur Erfassung der ganzen Welt zur Sprache. Andererseits hörten wir sie Stimmen
von Steffi und Claude, die die Vorgänge vor Ort ohne Gesamtreflexion beschreiben und ihre
Sichtweise darlegen. Ich als kleiner Forscher versuche nun, diese Ebenen zu verknüpfen und
Orientierung im Raum zu finden.
Die verschiedenen urbanen Gärten werden anhand der dichten Beschreibung dargestellt. Das
heisst, als Ausgangsmaterial dient meine subjektive Wahrnehmung der verschiedenen
Projekte. Nach Lehrbuch werden die subjektiven Beobachtungen mit kulturwissenschaftlichen
Theorien verglichen und zur handfesten Beschreibung verdichtet. Anhand der imaginären
Linien von kulturwissenschaftlichen Konzepten sollen diese Beobachtungen interpretiert und
zu einer dichten Beschreibung verarbeitet werden. Das erste dieser Konzepte ist der
anthropologische Ort. Damit kann ein Raum, z.B. ein Dorf, definiert und die Bedeutung der
verschiedenen Bauwerke für die Einwohner untersucht werden. Das Konzept des Heterotops
fokussiert auf die unterschiedliche Wahrnehmung verschiedener Orte und deren Verhältnis
und Funktionen zueinander. Wie lässt sich ein Ort in Abgrenzung seiner Umgebung
definieren? Wo hört z.B. eine Stadt auf? Wo sind die Grenzen, z.B. eines Quartiers? Was sind
die Funktionen eines Ortes, z.B. eines Parks? Wie beeinflusst der Ort die Zeitwahrnehmung,
oder wie strukturiert umgekehrt der Rhythmus einen Ort, z.B. einen Bahnhof? Ein drittes
Konzept führt eine Sprosse höher auf der Abstraktionsleiter: es fokussiert die Sprache und
13
untersucht sie auf ihr Funktion in der Gruppenbildung einerseits und in den mit-
kommunizierten Werthaltungen und Weltsicht andererseits.
14
2.3 DER ESSAY
Würden die rhizomatischen Überlegungen konsequent umgesetzt, wäre jede Struktur und
jeder Aufbau einer ethnographischen Arbeit legitim. Denn die Schrift soll ja einerseits die
gemachten Überlegungen darstellen. Diese entspringen dem menschlichen Gehirn, einem
rhizomatischen Gewebe aus Nervenzellen. Andererseits sollen sich thematische Darstellungen
auch in einen Bezug zu ihrem Untersuchungsgegenstand bringen lassen. Die hier
ausgewählten Urbane Gärten aus Zürich und deren Vernetzung sind als kulturelles
Phänomene von einer unüberblickbaren Anzahl Beziehungen und Verflechtungen geprägt.
Deren Darstellung müsste dieser Komplexität entsprechen. Die vorliegende Arbeit ist aber
nicht irgend eine schriftliche Darstellung, sondern muss in den wissenschaftlichen Diskurs
eingeordnet werden können. Nach einer fünfjährigen Schutzfrist ist sie in der
Zentralbibliothek der Öffentlichkeit zugänglich. Deshalb muss dieser Text auch diesen
Anforderungen genügen und sich dem Anspruch einer Wissenschaftlichkeit stellen. Diese
beschreibt Michel de Certeau so: „Ein Diskurs lässt sich also dann als wissenschaftlich
kennzeichnen, wenn er die Bedingungen und Regel seiner Produktion verdeutlicht, und vor
allem die Verhältnisse, unter denen er entstanden ist.“12
Ein rhizomatischer Text zur
Beschreibung eines rhizomatischen Phänomens ist im wissenschaftlichen Diskurs dann
legitim, wenn sein Zustandekommen beschrieben und wie mit einer Stimme aus dem Off
kommentiert wird.
Ein Essay folgt keiner linearen Struktur, sondern springt von einem Gedanken intuitiv zum
anderen springt. Die Kunst besteht darin, trotzdem einen roten Faden beizubehalten, der dem
Text eine kohärente Struktur verleiht. Für Clifford Geertz ist der Essay deshalb die
angemessenste Form zur Darstellung und Formulierung von Untersuchungen und der daraus
abgeleiteten bzw. für sie hergestellten theoretischen Rahmung, weil theoretische
Begrifflichkeiten und Beschreibung des Gegenstandes schwer zu entweben sind. Dies
entspricht der Tatsache, dass kulturwissenschaftliche Theorie und ihr
Untersuchungsgegenstand nicht ohne Verlust voneinander zu trennen sind. Zudem
ermöglichen im Essay übliche Perspektivenwechsel eine mehrdimensionale Darstellung des
Gegenstandes, als wenn dieser anhand der Linie einer einzigen Theorie abgehandelt wird.
Urban Farming kann als eine neue Bewegung gelten, deren Ideen nicht in den Strukturen und
Normen von Politik und Gesellschaft vorgesehen sind. Auch diese Arbeit ist wie jede
12 Michel de Certeau, Kunst des Handelns, S. 102.
15
Neuschaffung mit einer Kultivierung von Brachland vergleichbar: es müssen Beete bepflanzt,
Gartenwege angelegt, ein Werkzeugschuppen gebaut und für die Wasserversorgung geschaut
werden. In dieser Arbeit stehen die verschiedenen Schriftarten für die verschiedenen
Quellenarten: Forschertagebuch in Courir New, Interview-Zitate in Goudy Old
Style, Lauftext in Times New Roman, Auszüge von Homepages in Areal kursiv und
Zitate aus der Literatur in Times New Roman kursiv. Somit entsteht eine Art Collage, die das
wild wachsende Feld der Gärten, die Verschiedenheit ihrer Bewohner und meine Rolle als
Feldforscher beleuchtet. Der Text wird nicht in einen Blocksatz gepasst. Es entstehen
Unebenheiten am rechten Textrand, dafür bleibt der Wortabstand konstant, was den Lesefluss
begünstigt. Die Gespräche sind Experten-Interviews, wobei die Beiträge zwischen
persönlichem Zugang und objektivierten Erklärungen schwanken. Ich habe sie in
Schriftsprache transkribiert und den Wortlaut für eine bessere Lesefreundlichkeit leicht
verändert.
Diese Arbeit ist der Versuch einer Formulierung der Interpretation des Materials, das ich
generierte. Die Bilder wurden nicht verfälscht, die Stimmen wahrheitsgetreu aufgenommen
und nach bestem Gewissen transkribiert. Die Auswahl und Zusammenstellung der Kapitel
und der Zeugen geschah durch meine Intention. Die Namen wurden geändert.
16
2.4 URBAN GARDENING – DIE BEWEGUNG WELTWEIT UND VOR ORT
In den Medien war in den letzten Monaten und Jahren vermehrt von solchen Projekten
berichtet worden. Von der wiedergekehrten Mode, in der Stadt mit einfachsten Methoden
Blumen oder Gemüse zu ziehen. Wer kennt sie nicht, die Bilder aus New York, wo trendige
Mitdreissiger im Gärtnerlook sich an langen Gemüse-Beete zu schaffen machen, hoch über
den Dächern, im Hintergrund die Wolkenkratzerlandschaft: Roof-top-Farming heisst das.
Da gibt es innovative Ideen wie Aquaponic, die Produktion von Fisch und Gemüse in einem
zweigeteilten Container: unten ein Aquarium, oben eine Gemüsezucht. Das Wasser befindet
sich im Kreislauf, wird im Aquarium von den Fischen gedüngt, zum Gemüse gepumpt, und
fliesst gereinigt zurück zu den Fischen. Solche Container lassen sich auf jedem Untergrund
aufstellen und sollen ungenutzte Flächen besser verwerten. Leerstehende Betonplätzen,
Baubrachen und Flachdächer.13
Andere stellen dort ihre Kisten auf, füllen sie mit Gartenerde und pflanzen was sie gerne
mögen. Sie betreiben Urban Gardening. Beide Beispiele sind Versuchsanordnungen, um
alternative Produktionsweisen von Nahrungsmittel zu erproben. Zugleich lassen sie sich in die
Kultur des Selber-Machens einordnen. DIY – Do It Yourself.
Woher kommen diese Trends?
Dazu möchte ich Christa Müller das Wort geben. Die promovierte Soziologin beobachtet das
Phänomen seit längerem und publizierte 2011 das programmatische Buch „Urban
Gardening“. Darin nähern sich gut zwei Dutzend Aufsätze verschiedener Disziplinen dem
Phänomen an.
2.4.1 FESTSTELLUNGEN
Zur Einordnung der Bewegung einige Nebenentwicklungen: 2007 war der Urban Population
Peak. Ab 2007 leben global mehr Leute in der Stadt als auf dem Land.14
Zuvor war das
Verhältnis seit der Entstehung der ersten Städte vor ca. 20‘000 Jahren immer umgekehrt: es
lebten immer mehr Menschen in ländlichem Gebiet. Und die globale Landflucht hält an.
Gartencenter füllen sich an den Samstagen, es werden vermehrt Samen für Gemüse und Salat
gekauft als für Zierpflanzen.15
Dies bestätigt auch Claude im Gespräch:
13 Vgl. http://www.urbanfarmers.ch/ 14 Vgl. NZZ, 27. 06. 2007: „Erstmals mehr Menschen in Städten als auf dem Land“. 15 Christa Müller: Urban Gardening, S. 22.
17
Also wir hatten nie etwas auf dem Balkon, dass man nicht essen kann. Oder, das war klar, wir hatten nie Zeugs, das man nicht essen konnte, und jetzt, am neuen Ort wo wir wohnen, können wir ein Beet haben. Janine [seine Frau] hat sich schon mit einer Nachbarin angefreundet. Sie hat ihr gesagt, du, da vorne wachsen so Ziersträucher, das braucht doch eigentlich kein Mensch, dort können wir doch super Kürbisse machen. Und haben das schon beschlossen. <lachen> (Claude im Stadiongarten, 17.05.2012, 00:14:02)
Das ZDF nannte im Oktober 2009 einen Beitrag der Sendereihe aspekte „Die neue Lust am
Gärtnern.“ Inzwischen sind die Sendungen zum Thema auf allen Kanälen wie Pilze aus dem
Boden geschossen. Je nach zugrunde liegendem Modell erreichen wir heute bis in wenigen
Jahrzehnten den sogenannten Oil Peak, die maximale Fördermenge von Erdöl.16
Danach wird
es nur noch weniger Öl geben. Dies lenkte die Aufmerksamkeit auf die Endlichkeit aller
abbaubaren Ressourcen und deren bereits stark reduzierten Bestand.
Das Phänomen Garten repräsentiert das Modell einer besseren Gesellschaft mit Werten wie
„Kooperation, Gelassenheit, handwerkliches Können, Lebendigkeit, Empathie und
Grosszügigkeit, aber auch die Kunst des ‚einfachen Lebens‘“, die nötig sind für die
bevorstehenden Transformationsprozesse.17
Das Internet verändert die Welt. Wenn wir nicht schon als digital natives geboren wurden, so
sind wir digital immigrants. „Netzwerke, die prägende Charakteristik räumlicher
Organisation im 21. Jahrhundert, haben die Art verändert, in der Räume produziert und
erfahren werden“.18
Netzwerke stellen Beziehungen in den Vordergrund und ‚verflüssigen‘
vormals feststehende Grenzen. Das Internet sensibilisiert für Geschehen auf der ganzen Welt.
Die Nachrichten von Katastrophen erreichen uns unvermittelter und erhöhen Empathie und
Betroffenheit.19
Seit den 60er Jahren wird Hardins tragedy oft the commons20
akzeptiert und nicht hinterfragt:
Gemeingüter und öffentliche Ressourcen werden so lange ausgebeutet bis sie verschwinden.
Das ist das Schicksal der Menschheit, der egoistische Homo Oeconomicus ist unverbesserlich.
Elinor Ostrom widerlegt diese These mit Untersuchungen von Genossenschaften und
16
http://www.economist.com/node/15065719?story_id=15065719/ 17 Christa Müller: Urban Gardening. 18 Silke Borgsted: Das Paradis vor der Haustür. Die Ursprünge einer Sehnsucht aus der Perspektive
sozikultureller Trendforschung. 19 Ebd. 20 Garret Hardin: The Tragedy of the Commons. In: Science, Nr. 162 (1968), S. 1243–1248.
18
Allmenden. Mittels dezentraler Selbstorganisation kleiner Gruppen kann der Schutz von
Ressourcen erreicht werden und auch globale Probleme wie der Klimawandel angegangen
werden. Für ihre Erkenntnisse erhielt sie 2009 den Nobelpreis für
Wirtschaftswissenschaften.21
In diesem Sinne setzten sich verschiedene Modelle dem ständigen Wachstum als Mythos der
Moderne entgegen. Locavores ist eine Bewegung, die es sich zur Regel macht, nur Esswaren
und Konsumgüter zu kaufen, die nicht weiter als 100 Kilometer weg produziert wurden. Via
Campesina ist ein weltweiter Zusammenschluss von Kleinbauern, die sich gegen die
Ausbeutung von Lebensmittelkonzernen und die Verdrängung von ihrem Land wehren.
Gartengemeinschaften jeglicher Couleur leben nach derselben Idee der Subsistenz:
Lebensmittel selber zu produzieren ist gut für die Umwelt, fürs eigene Budget und für den
sozialen Zusammenhalt. Dafür muss jedoch Raum zur Verfügung gestellt werden, denn
Subsistenz schreibt sich eben nicht in die gängige Marktlogik ein. Kommunal verwaltete
Fläche und Gartenprojekte bedürfen daher nicht nur der Anerkennung, sondern einer aktiven
Unterstützung durch die Politik.
Die politische Dimension von urbanen Gärten reicht von institutioneller Nutzung bis zu
autonomem Guerilla Gardening. Von der Kronenwiese, die der Stadt Zürich als
Experimentierfeld dient für effektive Zwischennutzung von Brachland bis zum Pflanz-dich-
frei-Kulturgarten, der die Öffentlichkeit auf die Verdrängung durch den Immobilien-Markt
aufmerksam machen will.
2.4.2 ANSICHTEN DER AKTEURE
Christa Müller zählt verschiedene Fakten auf, die das Interesse an Urbanen Gärten
begünstigen oder als Auslöser der lokalen Projekte gelten, die weltweit die Form einer
Bewegung annehmen. Urban Population Peak, Oil Peak, das Internet.
Was sagen Stadtgärtner selber? Wie ist es dazu gekommen, dass mindestens drei Projekte im
Raum Zürich im Jahr 2010 ihren Produktionsstart hatten? Thom und Michi vom Dunkelhölzli
wagen eine These:
Ich: Warum liegt das so in der Luft?
21 Vgl. Die Zeit, 16.10.2009: „Wir dürfen uns nicht nur auf Klimaabkommen verlassen“;
http://www.zeit.de/wirtschaft/2009-10/interview-ostrom/
19
Michi: Das ist eine gute Frage. Das weiss ich auch nicht.<seufzt> Also es wollen ja alle gärtnern. In den 90er Jahren hatten sie Mühe, Schrebergärten zu verpachten. Ich: Jaha Michi: Und dann so um das Jahr 2000 hat sich das wie gekehrt, die Schrebergärten sind plötzlich überquollen. Thom: War es 2000 oder 2002? Michi: Ja, oder fünf, weiss es auch nicht so genau. Thom: Nach NINE-ELEVEN oder so. Michi: Jaha,vielleicht, das könnte sein, das hat schon damit zu tun. Thom: Das wäre so eine Spekulation. Michi : So eine gewisse Sicherheit oder so eine Verbundenheit. Die Idee dein eigenes Gemüse zu produzieren, was zwar total unrealistisch ist, was dir aber auch ein gewisses Vertrauen gibt und ein Gefühlt von Sicherheit und Verbundenheit, vielleicht ist es da, ja. (Thom und Michi im Dunkelhölzli, 28.02.2012, 00:03:41)
Michi stellt fest, dass es um das Jahr 2000 eine Trendwende gab. Zuvor hatten die
Gartenvereine Mühe, gewisse Gärten zu verpachten. Dann wendete der Trend und die
Nachfrage stieg an, Interessierte liessen sich auf Listen setzen, es gab kaum freie Gartenblätze
mehr. In dieser Zeit fand der Terroranschlag auf das World Trade Center statt. Gut möglich,
dass dies eine Verunsicherung bei den Menschen auslöste, welche sich bei der Gartenarbeit
legte.
Zu dieser Trendwende befrage ich auch Pia. Sie ist im Organisationsteam für den
Stadiongarten und in der Betriebsgruppe von Ortoloco. Sie studiert Biolandbau in Wädenswil
und wohnt in der Ateliergemeinschaft Fabritzke resp. Vorwerk. Wie erklärt sie sich, dass mit
Ortoloco 2010 noch mindestens zwei andere Projekte mit ähnlicher Absicht in der Stadt
entstanden, nämlich das Dunkelhölzli in Altstetten und Seedcity am Hönggerberg, Und in
Winterthur entstand die Gemüsekooperative StadtLandNetz und in Bern die
Vertragslandwirtschaft Soli Terre. Alle im Jahr 2010. Das war noch vor der Publikation von
Christa Müllers Urban Gardening. Wie also kam es, dass alle wie auf den Startschuss mit
ähnlichen Projekten begannen?
Ich: Es ist auffällig, dass gleichzeitig so viele begannen 2009/10. Ortoloco ist dann, Dunkelhölzli ist auch dann, Seedcity glaub ich auch,…
20
Pia: Ja, es ist schon auffällig, also man kann es Trend nennen oder Bewegung oder Lauffeuer oder was auch immer. Aber es ist schon <überlegt lange> ja, es ist irgendwie faszinierend. Also ich frage mich manchmal was die Auslöser gewesen sind. Da war sicher das Bedürfnis da von den Leuten, die es machen, das ist das eine. Und es ist das Wissen da, wie z.B. der Artikel in der WoZ, der uns prägte. Oder von Agricole in Basel, die es schon lange gibt und uns viel erzählte. Und dann ist es auch ein glücklicher Zufall, wie die Leute so aufeinander gestossen sind. (Pia im Alten Botanischen Garten, 08.05.2012, 00:39:35)
Also ein Trend? Ein Bedürfnis der Macher? Motivation vermittelt durch den Zeitungsartikel?
Schon nur für das Zustandekommen von Ortoloco ist es schwierig, die Gründe zu benennen.
Nick sieht den Auslöser in den Verunsicherungen nach dem Beginn der Wirtschaftskrise:
Ich: Wie erklärst du dir, dass gerade das Jahr 2009, in dem ihr Ortoloco gegründet hatten, auch der Pflanzplatz Dunkelhölzli startete, die ja ein ganz ähnliches Prinzip haben. [Mit dem Gemüsebau begann Ortolco 2010, wie auch Dunkelhölzli u.a.] Nick: Ja und in Winterthur gibt es auch welche, die haben im selben Jahr begonnen. Ich: Das ist schon noch auffällig. Nick <lacht>: Allerdings, und in Bern Solliterre hat auch gerade dann angefangen, einige Monate früher sogar. Ich weiss auch nicht, wahrscheinlich, also, also bei uns mit der Montagswerkstatt und dem Versuch die Wirtschaft neu oder anders zu organisieren, das hat schon mit dieser Wirtschaftskrise zu tun, 2008 der Lehman-Crash, der uns und alles so durchschüttelte, dass danach alle sagten, oh shit, äh, sogar Allan Greenspan, der so ein totaler Markt- also freier-Markt-Fetischist war, hat dann öffentlich bekundet, äh tschuldigung Leuts, funktioniert doch nicht, habe mich geirrt, sorry [lachen], und äh, die Leute die sich im Kasama getroffen haben, die fanden Kapitalismus, Wachstum und Profitorientierung etc., alles schon vorher scheisse. Aber es ergab sich dann wie eine Gelegenheit, sich mal ernsthaft mit alternativer Wirtschaftsform auseinanderzusetzen, mit einer gewissen Chance, dass das auch realisiert werden könnte, wenn schon dieses konventionelle eigentlich am versagen ist. (Nick im Atelier Fabritzke, 04.05.2012, 00:12:15)
Die Frage nach dem Anfang der Bewegung wird verschieden beantwortet, z.B mit dem
Attentat auf die Zwillingstürme des World Trade Centers 2011 als Anfang einer
fundamentalen Verunsicherung. Die in Feuersbrunst einstürzenden Twin-Towers gingen als
Fernsehbilder sofort um die Welt und konnten nur schwer gegenüber fiktionalen Hollywood-
Inszenierungen abgegrenzt werden. Und niemand wusste, wann und wo der nächste Anschlag
ausgeübt werden würde. Es könnte jeden von uns treffen, das Unvorstellbare löste sich von
21
der Mattscheibe und trat in unsere Wohnzimmer. Als Reaktion eine Hinwendung zum
Gärtnern, das einen universalen Bezug der eigenen Existenz zum Boden und zur Welt
herstellt. Ein menschlicher Trieb, formuliert in dem zum Sprichwort avancierten Zitat: Wenn
ich wüsste, dass morgen der jüngste Tag wäre, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen
pflanzen.22
Oder die Wirtschaftskrise, losgetreten durch den Banken-Crash der Lehman-Brothers 2007,
die in den Folgejahren als Subprime-Krise weltweit die sogenannte ‚Realwirtschaft‘
beeinträchtigte. Seit 2009 hat sie sich in die Staatsschuldenkrise der europäischen Länder
verwandelt. Die Staaten zogen mit unvorstellbaren Krediten die scheinbar unersetzbaren „too-
big-to-fail“-Banken aus dem Sumpf. Es wurden reihenweise Steuer- und Boni-Skandale
aufgedeckt, der Wert des Euros sackte ab, in den EU-Ländern steigt die Arbeitslosigkeit nach
wie vor, die Schweizer Exportindustrie muss sich mit Preisen unter den Produktionskosten
begnügen. Die Krise herrscht zwar überall, bei uns aber vor allem in den Medien, abgsehen
davon ist der Alltag von Normalität geprägt. Wie lange wir diese aufrechterhalten können,
weiss niemand. Aber wer Gärtnern kann, vermag sich unabhängig von Lohn und Arbeitsplatz
Nahrung zu beschaffen und ist besser fürs Überleben gerüstet. Dieses Bewusstsein sorgt für
eine vermeintliche Sicherheit.
Die Frage nach den Anfängen der Bewegung muss nicht in einer umfassenden These
beantwortet werden. Pia versteht die Frage nach dem Anfang konkret auf Ortoloco bezogen,
das ja auch ein Teil dieser Bewegung ist. Es war erstens das Bedürfnis der Organisatoren nach
einem solchen Projekt, zweitens das Umfeld, das die Umsetzung ermöglicht, und nicht zuletzt
der Zufall, der die richtigen Leute zusammenführte und die anderen Bedingungen
ermöglichte, die zur Umsetzung notwendig waren. Es war nicht das Bedürfnis von
‚Konsumenten‘, die zur Initiative motivierten, sondern das Bedürfnis der Gründer selber, ein
solches Projekt auf die Beine zu stellen. Es verortet sich ausserhalb vom tief verwurzelten
binärem Denken von Produzent vs. Konsument, Angebot vs. Nachfrage, Preis vs. Leistung.
Darauf soll später im Kapitel zum Narrativ eingegangen werden. Projekte des Urban Farming
stellen Plattformen dar, wo alternative Denk-, Wirtschafts-, oder Lebensweisen je nach
Bedürfnis im kleinen oder allumfassend gelebt werden können. Das Narrativ als Begriff und
Methode kann solche Ansätze aufspüren und beschreiben. Dazu mehr im Kapitel 4.4.
22 Das Zitat wird fälschlicherweise Luther zugeschrieben. Erstmals belegt sei es in einem Rundbrief der
hessischen Kirche 1944. Vgl. http://de.wikiquote.org/wiki/Martin_Luther/, zuletzt 01.11.2012.
22
In den Kapiteln 2.1. bis 2.3. stellte ich den theoretischen Hintergrund vor, der als Einordnung
der Arbeit gelten soll. 2.4. verortete die Bewegung Urban Farming im internationalen und
historischen Kontext. Im Folgenden wird der Fokus auf die Zürcher Gärten gerichtet. Was ist
ihre Charakteristik? Mit welcher Motivation sind sie gestartet worden? Mit welchen
Konzepten lassen sie sich beschreiben? Dazu stelle ich zuerst die Projekte vor, bevor ich dann
zwei exemplarisch genauer unter die Lupe nehme.
23
3 DAS FELD
Im folgenden Kapitel werden die prominentesten urbanen Gärten in und um Zürich
vorgestellt.23
Ein Foto, Auszüge aus dem Forschertagebuch oder Interview-Zitate illustrieren
die Projekte. Je nach Relevanz für die Arbeit werden sie unterschiedlich detailliert
beschrieben.
3.1 KRONENWIESE
12. Mai 2012, Kronenwiese vom ‚Alterskänzeli‘ aus, Gartenfest ‚Frühlingserwachen‘ bei Regen.
Freitag, 28. Oktober 2011
Ich besuche Katja auf der Kronenwiese. Die Brache ist auf
verschiedene Aktivitäten/Vereine aufgeteilt. Die untere
Hälfte wurde zum BMX-Parcours ausgebaut, auf der oberen
Hälfte gibt es einen Bauspielplatz unter der Leitung des
Gemeinschaftszentrum Schindlergut, ein Hühnergehege mit
eigenem Verein und Gartenbeete mit Betreuung von Katja in
zwei langen Reihen bis an die Kornhaustrasse.
23 Vgl. Tages Anzeiger, 17.10.2012: „Blühende Brachen“.
24
Der ‚Generationengarten‘ Kronenwies ist eine Fortführung des ‚Interkulturellen Gartens
Seebrache‘, der 2010 einer Überbauung weichen musste. 2009 suchte die Stadt Ideen für eine
Zwischennutzung in Seebach. Katja Keller wollte einen Gemeinschaftsgarten verwirklichen
und fand grosses Gehör. Die Seebrache war beschlossene Sache und wurde ein grosser Erfolg.
Zwanzig BewohnerInnen des Quartiers mit acht verschiedenen Nationalitäten bebauten
gemeinsam Gartenbeete, 70 Kinder aus dem benachbarten Schulhaus beackerten ein
Kartoffelfeld und ernteten 150 kg Erdäpfel.
Also das auf der Seebrache war ein stiller Erfolg. Nach der Seebrache ist eine Gruppe von Leuten, die dort war, weitergezogen und ist als erstes Kollektiv aufgenommen worden in den Schrebergärten von Zürich. Das ist wirklich etwas Neues das entstanden ist aus diesem Projekt. Ich: Und das hättest du dir wie nicht denken können vor fünf Jahren. Katja: Nein, und das ist mega toll. Es ist zu einem Selbstläufer geworden. Und das ist ein riesiger Erfolg für einen Garten, dass es zu einem Selbstläufer wird. Da kann man von einer Bewegung reden. (Katja im Stadiongarten, 11.04.2012, 00:10:54)
Die im Kapitel 2.4.2. zitierten Stimmen mutmassen über das Zustandekommen des eigenen
Projekts oder die ‚Bewegung‘ im Allgemeinen. Hier zeigt sich, was Bewegung heisst,
nämlich, dass sie nicht beim eigenen Projekt aufhört, sondern da vielleicht erst beginnt und
weitergeht. Das Rhizom bleibt nicht bei einzelnen Knollen stehen, sondern wächst immer
weiter. Nach 2010 war mit der Kronenwiese der Standort für ein Nachfolgeprojekt gefunden,
bis 2014 der Spatenstich für eine neue Wohnsiedlung erfolgen wird. Für Christoph Widmer
von Grün Stadt Zürich ist auch hier die soziale Durchmischung der NutzerInnen das
Spannendste. Die Seebrache war ein Interkultureller Garten, es trafen sich da Menschen aus
allen Weltregionen (ausser Australien, wie Ruedi bemerkt). Auf der Kronenwiese ist es eher
die Altersdurchmischung die auffällt. Auf dem Lehmspielplatz können sich die Kleinkinder
austoben. Der Bauspielplatz ist für Kinder zwischen acht und fünfzehn Jahre gedacht, ältere
können auf der Velobahn herumkurven. Auf den Beeten dominiert die Gärtner- und
Familienszene, und oben auf dem sogenannten Känzeli können die Leute aus dem Altersheim
nebenan ihre Blumen und Gemüse ziehen, eine Art Aktivierungstherapie. Eine Gruppe von
Studierenden baute einen Pizzaofen, Schulklassen zogen ein Weidehäuschen.
Wenn man es vergleicht mit einem Fussballfeld, wo ein kleiner Sektor immer gleich tätig ist, finde ich das eine irrsinnig schöne Form von einem Quartiertreff. Da treffen sich Leute, wirklich, von der Wiege bis zur Bahre. (Christoph Widmer, 13.06.2012, 00:31:00)
25
3.2 DUNKELHÖLZLI
Dunkelhölzli, 28. März 2012, in der Stadt oder auf dem Land?
Dienstag, 27. März 2012
Die Arbeit ist sehr meditativ. Ich stehe an einem
Gartentisch mit zwei Kistenstapel. Vor mir die Sicht über
das Feld, drei-, vierhundert Meter bis zum Waldrand,
hinter mir die Remise mit Werkzeugen und Kühlraum, rechts
die Anzuchtbeete, die Komposthaufen und dahinter der
Acker, ca. 25 Aaren, das sind 25x100 Quadratmeter. Mit
einem Griffel löse ich im linken Kistchen Eichblattsalat-
Sprösslinge aus der Erde, und setzte sie einzeln in die
Löcher von kleinen Töpfchen.
Es ist ruhig. Blauer Himmel und Sonnenschein.
Rabengekrächze, Hundegekläff vom Waldrand, dann wieder
nichts. Ein Motorflugzeug. Fernes Geklapper von trabenden
Pferden. Der Motor eines Gartengerätes von der
Grossgärtnerei nebenan.
Am Mittag erzählen mir Thom und Michi von den Plänen der
Stadt, hier Schrebergärten zu installieren, die auf dem
Vulkanplatz wegen eines Autobahnanschlusses weichen
müssen. Der Boden ist jedoch sehr schlecht wegen dem
Schiessstand früher und einer Gärtnerei, die den Boden, wo
26
jetzt Gras wächst, überdüngte und kaputt machte. Aber
sicher sei nichts bei der städtischen Planung. Etwas
verloren das Bienenhaus neben dem Asthaufen in der Mitte
des Feldes.
Auf der Homepage stellt sich das Dunkelhölzli so vor:
Der Pflanzplatz Dunkelhölzli ist eine Ackerfläche am Stadtrand von Zürich. Das Land wird durch eine Anbaugemeinschaft - unter der Schirmherrschaft des Vereins „Stadtrandacker“ - bewirtschaftet. In Zusammenarbeit mit einem Landwirt aus der Nachbarschaft und unter Fachkundiger Anleitung wird gemeinschaftlich und nach biologischen Richtlinien Gemüse angebaut.
Alles auf dem Pflanzplatz geerntete Gemüse wird in Form von Gemüsetaschen an die beteiligten AbonnentInnen weiter gegeben.
Die Gemüsetaschen können in den Räumen der Foodcoop Tor 14 abgeholt werden, doch es
handelt sich beim Pflanzplatz und bei der Foodcoop um zwei unabhängige Organisationen,
wenn auch mit ähnlicher Philosophie und personellen Überscheidungen. Das Wissen um die
Herkunft der Lebensmittel besitzt hier einen hohen Stellenwert. Deshalb werden sie gleich
selbst produziert, wie das Gemüse auf dem Pflanzplatz Dunkelhölzli, oder die Foodcoop
bestellt bei den Produzenten ohne Zwischenhändler. Dies kommt der Qualität der Produkte
und der Transparenz der Preise zugute.
27
3.3 PFLANZLABOR
Pflanzlabor ETH Institut für Agrarwissenschaften, 13. April 2012. Wie wachsen Pflanzen unter
klimatischen Bedingungen wie in 50 Jahren?
Freitag, 13. April 2012
Treffe um 14 Uhr Silvia Meyer-Miller in ihrem Büro in
einem Gebäude der ETH, vis-à-vis vom Hot Pasta. Sie
spricht ein sympathisches Schweizerdeutsch mit
amerikanischem Akzent. Seit 1997 an der ETH Zürich,
studierte Kommunikation, Soziologie und Wissenschaft aber
sieht sich als Künstlerin. Die Kunst soll zwischen der
Wissenschaft und der Öffentlichkeit vermitteln. Sie war
verantwortlich für eine Ausstellung am Paul-Schärrer-
Institut und kam dabei mit verschiedenen BiologInnen und
KlimatologInnen in Kontakt. Am meisten war sie vom Klima-
Forscher Michi Fischlin beeindruckt, der u.a. für das IPCC
[International Panel for Climate Change] arbeitete. Sie
machte es sich zur Aufgabe, seine Modelle, die sonst in
der Öffentlichkeit wenig Gehör fanden, künstlerisch zu
gestalten und so unter die Leute zu bringen.
Der Treffpunkt Science City, eine Präsentationsplattform von Uni und ETH zu einem
bestimmten Thema, lud sie daraufhin ein, ihr Experiment Klimagarten auszustellen. Darin
28
lässt sie verschiedene Pflanzen unter den bis 2080 prognostizierten klimatischen Bedingungen
wachsen. Die Folgen der Veränderungen sollen so direkt sicht- und erfahrbar werden.
Ich formuliere zu Beginn mein Interesse an ihrer
Motivation für das Thema Urban Farming. Sie schwenkt dann
jedoch schnell auf Objektives ab. Sie gab mir sofort den
Tipp vom ‚Besuchstag‘ auf dem Permakulturgarten Seedcity.
Sie meinte einen der zwei mal wöchentlich stattfindenden
Aktionstage, wo Interessierte unter Anleitung einer
erfahrenen GärtnerIn den Garten bestellen.
29
3.4 SEEDCITY
Blick vom Hönggerberg über die Landschaft, verhangener Himmel, 15. April 2012.
Sonntag, 15. April 2012
Besuch bei nass-kaltem Wetter Seedcity. Peter ist da und
ein Agronomie-Student. Wir philosophieren ab über
Lebensmittelindustrie, Notwendigkeit lokaler Produktion
und Bienenhaltung und –facts. Ich schlage Bienen-Projekt
vor, Peter findet das eine gute Idee.
Seedcity ist ein Garten auf dem Gelände der ETH Hönggerberg. Er ist ein
Gemeinschaftsgarten in dem Sinn, dass alle, die daran interessiert sind, mitgärtnern dürfen
und sich dann auch an der Ernte beteiligen. Die Idee hatten einige Studenten der ETH Zürich
und gewannen damit den Wettbewerb ecoworks. Seit 2010 wird der Garten mit einer
Anschubfinanzierung von der ETH unterstützt. Er wird nach den Richtlinien der Permakultur
betrieben. Gartenexperten sind regelmässig vor Ort und unterstützen die Gartengemeinschaft.
Dank seiner Lage kommen viele Studenten hierher, aber auch Leute, die in der Nachbarschaft
wohnen.
30
3.5 ORTOLOCO
Gemüsefelder von Ortolco, 11. August 2012. Im Hintergrund nördlicher Rand vom Limmattal,
Zersiedlung auf der rechten Seite der Limmat.
Ortoloco ist eine selbstverwaltete und genossenschaftlich organisierte Gemüsekooperative mit
200 Genossenschafter und einer Betriebsgruppe von sieben Personen. Ziel der Genossenschaft
ist es, nach dem Prinzip der Vertragslandwirtschaft Gemüse anzubauen und zu konsumieren.
Vertragslandwirtschaft bedeutet, dass ein Bauernbetrieb von den Leuten unterstützt wird, die
dafür in den Genuss von seinen Produkten kommen. Der Garten liegt auf dem Fondli-Hof,
zwischen der Stadthalle Dietikon und Spreitenbach beidseits des Landweges. Auf
1,4 Hektaren Anbaufläche und in zwei grossen Plastiktunnels werden über das Jahr hinweg
über 60 verschiedene Gemüse produziert und an die Genossenschafter verteilt. Die Idee
entstand während einer Diskussions-Plattform zu alternativen Wirtschaftsweisen, die 2009 in
Folge der Wirtschaftskrise stattfand.
Dietikon liegt an der Grenze vom Kanton Zürich, Spreitenbach gehört schon zum Kanton
Aargau. Die genaue Grenzlinie durchquert den von Ortoloco bebauten Acker. Dieses Stück
scheinbar heile Ackerland wird politisch einvernommen und auf seine Potentiale hin
31
untersucht. Voraussichtlich wird in den nächsten Jahren die Limmattalbahn das Gebiet die
wirtschaftliche Attraktivität des Gebiets erhöhen. Falls sich die Entwicklung in den nächsten
zehn bis zwanzig Jahren so fortsetzt wie in den letzten zehn Jahren, wird bis dahin das
Limmattal zur attraktiven Wohn- und Arbeitsgebiet umgestaltet worden sein. Aus dieser
Perspektive handelt es sich bei den heutigen Landwirtschaftszonen bereits um
Zwischennutzungen, die bald umgezont werden sollen, weil sich mit Überbauungen mehr
Geld generieren lässt und der Boden effektiver genutzt werden kann. Die Zukunft lässt sich
jedoch nicht voraus sagen. Und die Frage nach dem Wert von Geld oder Wert von Profit ist
auch relativ. Dies wird in Äusserungen verschiedener Gespräche deutlich.24
24 Vgl. Kap. 4.5. Das Narrativ, S. 71.
32
3.6 STADIONGARTEN
Üppiger Stadiongarten im Sommer. Im Hintergrund die Swisscom mit Antenne und ein Zirkuszelt.
August 2012.
Der Stadiongarten ist ein mobiler Mitmachgarten auf der Hardturm-Brache, einer der letzten
und grössten Baubrachen im Raum Zürich. Um dem Bedürfnis nach einem Zentrum im
Quartier einerseits und nach der Gelegenheit zu gärtnern andererseits entgegenzukommen,
lancierte eine Gruppe von fünf Personen den Stadiongarten. Dies war auch eine Gelegenheit,
etwas auszuprobieren, was es in dieser Art in Zürich noch kaum gab: Urban Gardening. Als
Vorbilder dienten der Berliner Prinzessinnengarten und der frisch entstandene urbane Garten
auf dem Gelände des Flughafens Tempelhof, ebenfalls in Berlin: der Bodenqualität auf
städtischem Gebiet kann oft schlecht, zu hoch ist das Risiko industrieller Kontamination oder
Auslaugung durch frühere Übernutzung. Zudem herrschen oft Besitzverhältnisse, die keine
dauerhaften Plätze für solche Projekte garantieren. Darum bieten sich Holzkisten und
Palettrahmen als Pflanzbeete an: sie sind transportierbar. Zudem fördern sie die Kreativität:
welche Behälter lassen sich alles zu Blumenbette umfunktionieren? Auf der Brache finden
sich auch Badewannen, Reissäcke oder Fahrradkörbchen. Der Reiz liegt in der Verbindung
gegensätzlicher Ästhetiken: die Wiederverwertung industrieller Behälter als Boden für
33
organisches Wachsen. Grüne Wildnis und graue Industrie. Darum sind Urbane Gärten auch
Magnete für Kunstinstallationen. Die Stadionbrache ist von vornherein von solchen
Gegensätzen geprägt. Dazu zwei Fotos von der Stadionbrache im April 2012:
14. April – Stadionbrache Seite Trainingsplätze
Richtung Nord-Westen
14. April – Stadionbrache Seite Betonplatz
Richtung Süden-Westen
Ein Merkmal von Urban Farming ist für Christa Müller das hybride Wesen: „grossstädtische
vs. kleinbäuerliche Ästhetik“ resp. ländliche vs. urbane Ansichten. Diese Spannung sorgt für
eine grosse mediale Aufmerksamkeit. Sie ist auch eines des Merkmale von Kunst: es entsteht
Spannung in der Verfremdung von gewohnten Bildern. Vielleicht nicht zufällig kam die
Installation mit dem Namen Apolitico des Kunstfestivals Art and the City genau auf dem
Grenzwall dieser beiden Flächen zu stehen. Der Titel der Installation verweist auf das
Gegenteil: die Symbolik von Nationalflaggen ist hoch politisch. Aber deren Deutung ist frei.
34
Installation Apolitico von Wilfredo Prieto im Rahmen von Art and the City. Welche Symbolik tragen die
Flaggen? (Foto: http://www.artandthecity.ch/de/kunst/wilfredo-prieto/)
Die politische Dimension von urbanen Gärten: Sie hinterfragen überkommene Normalitäten:
wie wird mit Landeigentum umgegangen? Welchen Raum darf öffentlich zugänglich gemacht
werden? Wie gehen wir mit industriellen Abfällen und nicht mehr benutzten Gegenständen
um?
Die weit sichtbaren Nationalflaggen in schwarz-weiss als Kunstinstallation lassen sich auf
vielfältige Weise interpretieren: Die Brache wird als Ort als Kunstraum inszeniert. Weshalb
eignet er sich dazu? Nationalflaggen haben eine starke Symbolik. Indem sie der Künstler in
schwarz und weiss gestaltete, weckten sie Assoziationen wie der Gleichheit aller Länder oder
der kritische Zustand aller Länder. Eine Flagge symbolisiert einen Besitzanspruch, auch wenn
sie künstlerisch gestaltet wird. Dazu die fast schon rhetorische Frage: Was bedeutet es, dass
der Hauptsponsor des Kunstfestivals Art and the City zugleich der grösste Investor im
Quartier ist, nämlich die Mobimo Immobilien AG? Wie lassen sich die Flaggen in Schwarz
und Weiss selbst deuten? Das sind interessante Fragestellungen für Forschungen rund um
Kunst, Raum und Öffentlichkeit, die in einer anderen Arbeit ihren Platz finden.
35
3.7 KULTURGARTEN ‚PFLANZ DICH FREI‘
Der Kulturgarten als Protestgarten. Mit Erde gefüllte Kisten bilden den Boden, um den grauen Vorplatz
zu begrünen und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit anzuregen. (Photos: 3. Juli, 29. August, maetti)
36
Der Kulturgarten auf dem Labitzke-Areal entstand im Juli 2012 unter dem Motto „Pflanz dich
frei!“. Die erklärte Idee war, ungenutzte Grauplätze in lebendige Grünräume zu verwandeln.
Tatsächlich wurde der Garten als eine Intervention verstanden, deren Protest sich gegen die
Gentrifizierung im Allgemeinen und in diesem Fall gegen die Mobimo Immobilien AG
richtet. Diese hat das Grundstück aufgekauft und möchte darauf Wohnungen mit grosser
Rentabilität errichten. In einer Medienmitteilung von Bewohnern des Labitzke-Areal heisst
es:
Der Garten steht der ganzen Bevölkerung für (agri-)kulturelle und künstlerische Aktivitäten zur Verfügung. Es gibt noch viel Platz für deine Beiträge: Bring Blumenkisten, Setzlinge, Kunst, Musik, Brot und Rosen!
Aus dem Forschungstagebuch:
Sonntag, 1. Juli 2012
Seit Freitagabend lief ja die Aktion „Pflanz dich frei“,
die Guerilla-Gardening-Bepflanzung auf dem Vorplatz des
Labitzke-Areals. Dabei wurde in einer Nacht-und-Nebel-
Aktion Erde vom Stadiongarten ‚ausgeliehen‘ und in die
selbst gezimmerten Pflanzkisten gefüllt. Diese bilden den
Boden für die Begrünung des grauen Platzes mitten auf dem
Areal. Die Idee ist, dass mehr Raum entsteht, der zu
sozialem Austausch einlädt. Damit werden auch die Pläne
der Mobimo Immobilien AG hinterfragt, die neue Besitzerin
des Geländes. Per Ende 2013 kündigt sie allen Mietparteien
und will das ganze Areal mit Neuwohnungen überbauen. Am
Tag danach war ich ja auf dem Feld und abends zu müde, um
noch ans Fest zu gehen. An den Brunch am Sonntag-Morgen
hätte ich es geschafft, aber habe ihn vergessen. Es ist
alles ein bisschen viel.
37
3.8 FRAU GEROLDS GARTEN
Bewährte Pflanztechnik in mit Erde gefüllte Paletten. Im Hintergrund die Containerkonstruktion, Bar
und Aufgang zur Terrasse von Frau Gerolds Garten (21.08.2012, Handy-Photo)
Freitag, 20. Juli 2012
Ich treffe einen Freund auf ein Feierabendbier. Es regnet
den ganzen Tag ohne Unterbruch. Ich wollte ihm erst den
Stadiongarten zeigen, wir weichen aber aus, gehen ein Bier
trinken im „Frau Gerolds Garten“. Mit grösstem Aufwand
wurde da ein zum Konsum einladender Park geschaffen:
spektakuläre Schiffscontainer-Landschaft mit integrierter
Aussichts-Terrasse, eine grossflächig mit „Urban Art“
bemalte Hauswand, drei Masten stützen ein Trinkzelt als
wäre es ein Zirkus. Eine Bar mit voll aufgefüllten
Spirituosen-Auswahl; zwar nur drei Sorten, dafür über ein
Dutzend Flaschen je Marke: Baccardi, Vodka Smirnov, eine
Whiskey-Brand. Die Bedienung ist auf Marketing geschult,
sind gut frisiert und würden mit ihrem weissen Lächeln gut
auf das Titelblatt einer Kundenzeitschrift passen: die
drei Frauen hinter dem Tresen teilen sich die Kundschaft
auf („ist gut, ich übernehme die beiden“, sagte die eine
zur anderen als wir uns näherten, wohl damit die andere
38
nicht in Gefahr einer Doppelbedienung lief und sich somit
die Zeit bis zur Bestellung verzögerte. Die Zielkundschaft
darf nicht auf eine unnötige Geduldsprobe gestellt werden,
denn sie ist es sich Effizienz gewohnt:
Dienstleistungsfunktionäre im hippen Zürich West zwischen
Viadukt und Primetower, Angestellte der ZKB und anderen
Banken, Versicherungen, etc.) Dieser Kundschaft
entsprechen die Preise. Die Bänke unter dem Zelt sind sehr
gut besetzt. Wir finden zwei Plätze am Rand und müssen uns
laut über den Tisch hinweg zurufen, damit wir uns
verstehen. Zwischen uns auf dem Tisch eine
Reservationstafel mit exakter Zeit und Name des Kunden,
..äh Gastes.
Was soll man von diesem Projekt halten? Es scheint, als
wäre es ein erfolgreicher Versuch der Kapitalismus-
Integration: Trends werden aufgespürt, Coolness verortet,
den ideologischen Hintergrund wegseziert, das Ganze in
eine urban-arty-farty-trendy-fancy Hülle verpackt und zu
einem hohen Preis auf den Markt gestellt.
39
3.9 BRAUERGARTEN
Ein eigentlicher Pflanzenteppich begrünt den Kiesplatz hinter Stundenhotel und exotischem Grill an der
Brauerstrasse. (Photo: www.brauergarten.ch, 2012)
Der Brauergarten stellt sich auf der Homepage so vor:
Der Brauergarten ist ein kleiner Gemüse- & Blumengarten mitten im Zürcher Langstrassenquartier. Die Bio- Pflanzen wachsen aber nicht wie üblich direkt im Boden, sondern in recycelten Beeten. Erdbeeren reifen in alten Einkaufswagen, Kartoffeln & Tomaten wachsen im Reissack, Tetrapacks dienen als Setzlingsboxen, in ausgemusterten Bausäcken wachsen ganze Bäume, eine Strassenbaukisten wurde zum Frühbeet umfunktioniert und alte Kisten übereinander bilden ein Hochbeet für Rucola, Rüebli, Salat, Erbsen, Rhabarber, Mais, Auberginen, Randen, Bohnen, Lauch, Radisli, Peperoni und vieles mehr. Alles ist mobil, alles ist Bio, alles kann gezügelt werden. Quartierbewohner mit Lust und Laune sind eingeladen, mit zupflanzen, zujäten, zuernten und zug(en)iessen. So entsteht auf kleinem Raum eine kulturelle und gärtnerische Vielfalt. Der Garten wird zu einem Ort der Begegnung und des Austauschs, zu einem Sozio- und Biotop. Immer Samstagnachmittag ist der Garten für Alle offen.
40
3.10 TYPISIERUNGEN
Die verschiedenen Gärten sind durch drei wesentliche Faktoren bestimmt. Initianten: Wer
organisierte mit welcher Absicht ein Projekt? Gärtnernde/Öffentlichkeit: Wie wird das Projekt
wahrgenommen in der Öffentlichkeit und wie wird es genutzt? Ort und Lage: Wie gross ist
das Projekt, wie ist der Boden und in welchem Quartier liegt es, wie ist die Nachbarschaft etc.
Diese Faktoren beeinflussen die Art des Gartens, die Grösse seiner Nutzer, der Grad seiner
Bekanntheit und die Stimmung, die er vermittelt. Im Anschluss an die vorgestellten Gärten
könnten folgende Typisierungen vorgenommen werden:
Kulturgarten / Generationengarten: auf der Kronenwiese steht die Gemeinschaft und die
Aktivität von Menschen verschiedenen Alters und Herkunft im Zentrum.
Mitmachgarten / Gemeinschaftsgarten: Im Stadiongarten wird ohne erklärtes Ziel drauflos
gegärtnert. Das Funktionieren einer Gruppe mit möglichst keiner Hierarchie wird erprobt.
Konsumgarten / Gastrogarten: Im Geroldsgarten werden die Gäste für einen angemessenen
Preis verpflegt.
Protestgarten / Interventionsgarten: Der Kulturgarten Pflanz dich macht auf die Verdrängung
gewachsener Strukturen durch den Immobilien-Markt aufmerksam.
Permakulturgarten : Das Ziel von Seedcity ist die Pflege eines Gemeinschaftsgartens auf der
Basis der Permakultur. Durch eine ideale Kombination der Pflanzen entstehen Synergien, die
ein möglichst nachhaltiges System ermöglichen.
Pflanzlabor / Laborgarten: Eine Simulation, die die Effekte der Klimaveränderung am
Pflanzenwachstum aufzeigt und die Menschen darauf sensibilisieren soll.
Gemüsegarten / Produktionsgarten: Mitglieder von Ortoloco und Dunkelhölzli produzieren
ihr eigenes Gemüse aus unterschiedlichen Gründen: gute Qualität, Bezug zur Nahrung,
alternatives System, soziale und ökologische Nachhaltigkeit.
Pop-Up Garten / KunstgARTen: Viele urbane Gärten sind Zwischennutzungen. Wie Pop-Up
Gallerien werden viele als alternativer Inszenierungsort mit Kunst bestückt.
41
Experimentiergarten: Innovationen wie Kompost-Klo, Düngerkohle etc. als Pilotprojekte
kommen in urbanen Gärten zur Anwendung.
Die obigen Gartenbezeichnungen sind Prototypen. Die Kategorien überlappen sich und
können mehreren Gärten zugeordnet werden, so sind zum Beispiel alle urbanen Gärten
Gemeinschaftsgärten. Oder alle urbanen Gärten machen schon nur durch ihre Existenz eine
politische Aussage. Im nächsten Kapitel ‚Anwendungen‘ soll aufgezeigt werden, wie diese
Projekte mit den Ortsbegebenheiten und den aktiven Menschen zusammenhängen und mit
welchen Methoden sie beschrieben werden können. Es wird aufgrund meines höheren
Engagements zuerst vom Stadiongarten berichtet. Durch die grosse personelle
Verwandtschaft werden hier auch das ‚Mutterprojekt‘ Ortoloco und das ‚Schwesterprojekt‘
Brotoloco beschrieben.
42
4 ANSÄTZE ZUR INTERPRETATION
Im folgenden Kapitel werden zwei Ansätze zur Beschreibung von Orten zur Anwendung
kommen und dann der Begriff Narrativ etabliert, um verschiedene und gemeinsame
Ansichten und Absichten hinter den Aussagen der Akteure aufzuspüren. Zuerst soll der
Begriff anthropologischer Ort den Stadiongarten fassbar machen und allgemein das
Verhältnis zwischen Menschen und Orten aufzeigen. Marc Augé konzeptualisierte den
Begriff: Menschen suchen Identität als Individuen und als Kollektive. Die Manifestation von
Identität hinterlässt Spuren, die im Raum zu finden sind: Bauwerke, Schriftstücke oder
Rückstände von Aktivitäten wie die Asche nach einem Lagerfeuer oder die Komposthaufen
nach einem Workshop dazu. Hier setzt die Anthropologie an und interpretiert das Verhältnis
solcher Spuren zu deren Verursacher und die Auswirkung auf den Ort. Wer verwandelt
städtische Brachen in Gärten? Welche Strukturen bilden sich dabei? Was für Bauwerke finden
sich auf solchem Gelände? Oder welche Absichten könnten hinter der als absichtslose
Beschäftigung deklarierten Gartenarbeit stehen?
Das Konzept Heterotop fokussiert mehr auf die Art der Wahrnehmung von Orten. Es stellt
sich die Frage, welche Bilder Leute in bestimmte Orte projizieren, nach welchen
Vorstellungen sie hier leben und welche Bedürfnisse befriedigt werden sollen. Michel
Foucault versteht ein Heterotop als eine verörtlichte Utopie. Die Utopie, dem Wortsinn nach
ein ‚Nicht-Ort‘, steht für Vorstellungen und Wünsche, die nicht oder noch nicht in der Welt
bestand haben. Ein Heterotop soll einer solchen Wunschvorstellung entsprechen. Das
Verhältnis von abstrakten, gedanklichen Vorstellungen und den konkreten Orten kann nur auf
einer sinnlichen Ebene wahrgenommen werde. Foucault definiert Heterotope durch fünf
Merkmale: 1) sie sind veränderbar, 2) sie können andere Orte abbilden, 3) sie sind
heterochron, d.h. sie akkumulieren Überreste anderer Zeiten und sie besitzen selber einen
eigenen Zeitrhythmus, 4) jedes Heterotop ist mit mindestens je einem Mechanismus zum
Öffnen oder Schliessen versehen, 5) sind Orte der Abweichung, d.h. sie haben die Funktion
von Illusions- oder Kompensationsräumen. Diese Merkmale sollen als Ausgangsbasis dienen.
Ob und wie weit sich meine Erfahrungen damit decken, wird sich zeigen. Ich ging nach
folgenden Fragen und Herangehensweise vor: Wie unterscheiden sich die sinnlichen
Eindrücke in den Gärten gegenüber anderen Orten? Welche Assoziationen werden dadurch
geweckt? Was für Wünsche oder Vorstellungen werden dadurch verkörpert? Als welche
43
Symbole können sie gelesen werden? Zur Veranschaulichung beschreibe ich hier
exemplarisch meine Erfahrungen auf dem Dunkelhölzli.
Im dritten Teil beschreibe ich, wie die Orte besiedelt wurden und durch welche sozialen
Konstellation dies begünstigt wurde. Es sind jedoch nicht nur die Menschen, die etwas mit
den Orten machen, sondern es sind auch die Orte, die etwas mit den Menschen machen. Die
sozialen Bedingungen werden neu justiert oder gefestigt, es bilden sich Regeln im Umgang
miteinander und im Umgang mit dem gemeinsamen Ort. An der Basis von diesen Vorgängen
sitzt die Sprache: wie kann ihre Funktion im Vorgang der Raumgestaltung beschrieben
werden? Was passiert, wenn ein neuer Ort kultiviert wird und darauf eine neue Gemeinschaft
entsteht, die ihren gemeinsamen Sprachraum25
schaffen muss?
Zuletzt fokussiert der Begriff Narrativ die Sprache auf einer allgemeineren Ebene. Ideen
werden in Geschichten verpackt, die erzählt werden oder den Grundstoff von Artikeln und
Sendungen in den Medien bildet. Sie haben Neuigkeitswert und werden geglaubt oder
verworfen, weitererzählt oder vergessen. Als Narrativ soll der Teil einer Erzählung bezeichnet
werden, mit dem auf die Realität der Welt referiert wird und der zu einer Stellungnahme
verpflichtet: will ich der Aussage glauben oder nicht? Soll ich ihr Beachtung schenken oder
nicht? Ist sie dringend oder nicht? Narrative sind notwendig, um Trends auszulösen: globale
Megatrends ebenso wie individuelle Alltagsgewohnheiten.
Es wird in der Folge oft von Ort und Raum die Rede sein. Was unterscheiden die beiden
Begriffe? Für de Certeau ist ein Ort die Ordnung, in der verschiedene Dinge in festen
Verhältnissen und Beziehungen zueinander stehen. Dagegen ist ein Raum das Geflecht von
beweglichen Elementen. Ein Raum ist der Ort, an dem etwas gemacht wird.
25 Vgl. Kap. 4.4.2. Namens- und Sprachspiele, S. 68, rhetorisches Territorium.
44
4.1 DER STADIONGARTEN ALS ANTHROPOLOGISCHER ORT
Den anthropologischen Ort gibt es nicht. Das heisst, der Begriff steht für die modellhafte
Betrachtung, mit der ‚der Anthropologe‘ sein Forschungsfeld fassbar und beschreibbar macht.
Er ist eine Abgrenzung des zu untersuchenden Ortes gegenüber den ihn umgebenden. Wenn
oben mit de Certeau ein Ort als die Ordnung und das Verhältnis verschiedener Dinge
bezeichnet wird, so ist ein anthropologischer Ort das Verhältnis von den Menschen zu dem
Ort, den sie besiedeln. Menschen und Gruppen benötigen individuelle und kollektive
Identität. Sie sind in der Welt aktiv, bewegen sich und interagieren mit Menschen und
Dingen. Sie schaffen soziale Beziehungen und Beziehungen zum Ort, an dem sie sich
aufhalten. Sie hinterlassen Spuren und Bauwerke. Die Analyse von Bauten ermöglicht
Rückschlüsse auf ihre Konstrukteure und ihr Verhältnis zum Ort.26
Mit dieser
Herangehensweise lässt sich der Stadiongarten als Ort fassbar machen. Ich trug zu seiner
Entstehung bei und konnte somit seine Entwicklung mitverfolgen. Der Platz, wo er entstehen
sollte, hatte schon vorher eine eigene Charakteristik. Vielleicht war sogar dieses Gelände mit
seinen Eigenschaften Voraussetzung, dass der Stadiongarten so entstehen konnte. Dazu also
zunächst die Geschichte der Brache.
Nach dem Abbruch des Hardturmstadions Anfang 2009 war das Gelände eine eingezäunte
Brache: auf der Stadionseite umgaben die Betonstufen der Tribünen den asphaltierten Platz
und auf der Südseite blieben eine Wand aus drei Verschalungselementen der alten
Ummantelung stehen, als sollten sie als Denkmal an legendäre Stätte des Fussballs erinnern.
Tatsächlich aber wird diese Wand als Werbefläche gegen die Verkehrsachse Aargauerstrasse
hin vermietet. Die andere Seite der Fläche, wo einst die Trainingsplätze lagen, wurde umzäunt
und so belassen. Das Gras wuchs und die Brache verwilderte. An den Grenzen gegen den
Sportweg und gegen die Förrlibuckstrasse bildeten sich Hecken mit dichtem Buschwerk und
verschiedenen Baumarten: ein Paradies für die Vogelwelt. Bald parkierte der bekannteste
Obdachlose von Zürich ‚Hanf-Ueli‘ hier seine Wohnwagen und wollte für andere Leute ohne
feste Bleibe ein eigentliches ‚Obdachlosen-Camp‘ errichten.27
Die damalige Landbesitzerin
Credit Suisse duldete dies nicht und liess ihn entfernen. Seither bewacht die Securitas das
Gelände. Der Landbesitz ist inzwischen an die Stadt Zürich übergegangen: Die CS hatte
genug von der Stadionplanung, nachdem das Grossprojekt mit integriertem Shopping-Center
und Altersheim abblitzte. Die Brache blieb unberührt und verwilderte bis im Jahr 2011:
26 Marc Augé: Nicht-Orte, S. 58. 27 Vgl. SF 1, Schweiz aktuell, „Obdachlosen-Camp statt Fussball-Tempel“, 05.10.2009.
45
Stadionbrache und Zürich West, Februar 2011, vom Parkhaus Hardturm. (Photo: simoniini/Flickr)
Dann fragten Quartierbewohner nach, warum ihnen das Gelände verschlossen ist, obwohl es
nicht genutzt wird, worauf es geöffnet wurde. Claude erzählte die Begebenheiten:
Das ist auch so eine herzige Geschichte. Sie [Esther] ist mit ihren Kindern hier vorbeigelaufen, die Securitas bewachte das Gelände blablabla, "kein Zutritt" papipapo, und die Kinder haben immer gefragt, "warum dörfet mir da nöd ie?", völlig bescheuert, ich meine „das isch, da isch en uhuere ruum.“ Ich: ah, da hast du nicht einmal hinein dürfen. Claude: Nein, da war zu, zu zu zu, da war ein Schloss am Tor, da hat niemand reingekonnt. Und sie hat nach dem fünften Mal Fragen ihrer Kinder sich auch gefragt: ja, eigentlich, warum dürfen wir hier nicht rein? Ist ja völlig bescheuert und hat dann bei der Stadt gefragt, warum dürfen wir hier nicht rein. Und die hat dann gesagt, ja, was, gut, ihr dürft hier schon rein, oder. So hat das angefangen. (Claude im Stadiongarten, 17.05.2012, 00:11:04)
Es gründete sich der Verein Stadionbrache. Einige Bewohner aus der Wohngenossenschaft
Kraftwerk1 schlossen sich im April 2011 zusammen, um mit der Stadt zu verhandeln. Ende
Juni unterzeichneten sie einen Gebrauchsleih-Vertrag und durften in der Folge das Gelände
unter Einhaltung einiger Auflagen nutzen: der Platz muss für die Öffentlichkeit zugänglich
bleiben, es dürfen keine kommerziellen Einrichtungen darauf installiert werden und zweimal
jährlich wird die betonierte Seite für kommerzielle Zwecke vermietet und muss dann frei sein.
46
Bald standen der kleine Holzofen und der Skate-Pool auf der Wiese. Ansonsten blieb das
Gelände weitgehend leer. Erste Gartenversuche fruchteten nicht, wurden dann aber neu
aufgegleist. So erzählt Martina aus dem Stadiongartenverein, wie sie auf die Brache
aufmerksam wurde.
Ich begann mich für das Projekt zu interessieren, ich sprach mit dem Brachenverein zwei-, dreimal und begann dann letztes Jahr mit so Gartensachen. Wir waren ein kleineres Grüppchen, aber nicht so effektiv. Klein und unauffällig haben wir da einfach Sachen angepflanzt. Und der Dominik hat das mitbekommen und mich dann Ende Sommer angesprochen, ob wir nicht zusammen einen Garten initiieren wollten. So quasi "ein richtiger Garten". Dann haben wir zusammen gesprochen und dann beschlossen, komm, das machen wir. Darauf gab es ein zweites Meeting mit anderen Interessierten. (Martina im Stadiongarten, 03.06.2012, 00:17:56)
Stadionbrache, 16. Oktober 2011. Der Anker als Symbol des Skate-Pools (links unten), das schwarze
Zirkuszelt vom Musical Cats (eine der beiden „Grossveranstaltungen“), die mit Absperrband
abgesteckten Gartenbereiche, „klein und unauffällig“.
Einer dieser Interessierten war ich. Wie ich dazu kam: ein Nebenwürzelchen des Rhizoms.
Am Backabend Mitte Oktober auf der Stadionbrache fanden sich einige Leute aus der
Betriebsgruppe von Ortoloco, besonders Nick, mit dem ich herzhaft angeregt diskutierte. Als
ich ihm von meiner Arbeit erzählte, lud er mich zu einem Workshop ein im Atelier Fabritzke,
wo eine geplante Verdoppelung der Genossenschaft Ortoloco diskutiert werden sollte. Zwei
Monate später fand ich mich ohne weitere Einladung da ein. Nach der Diskussion wurde noch
47
geplaudert und Dominik fragte mich an, ob ich bei der Planung des Stadiongartens mithelfen
wolle. Sie hätten schon eine Sitzung gehabt, auch jemand anderem der Organisatoren diene
das Projekt als Untersuchungsgegenstand für eine wissenschaftliche Arbeit. Sehr gerne, ich
sagte zu. Wir trafen uns in der Folge erst wöchentlich, dann alle zwei Wochen. Wir
überlegten uns, wer angesprochen werden soll, wie viele Leute da mitmachen könnten, wie
das ganze funktionieren soll, wie viel das ganze kosten darf und wie wir das Geld auftreiben
würden. Wie der Garten denn aussehen soll und wo wir das nötige Material her bekommen
würden. Ende Februar veranstalteten wir einen Info-Abend im Gemeinschaftsraum der
Wohngenossenschaft Kraftwerk, einen Steinwurf von der Brache entfernt. Gut dreissig Leute
sind der Einladung auf Flyer und Plakaten im Quartier gefolgt. Ende März starteten wir mit
dem Aufbau. Es kamen etwa hundert Leute.
Der Stadiongarten ergab sich erst aus dem Zusammentreffen von zwei Entwicklungen: der
Ort Stadionbrache wurde auf das Engagement von einigen Nachbarn zugänglich gemacht und
Projekte wie Brotoloco und später der Stadiongarten liessen sich hier nieder. Für mich ist es
ein Knöllchen im Rhizom, auf das ich durch das Hörensagen, durch das Kennenlernen der
Leute auf der Brache beim Ofen, durch das Kennenlernen von Ortoloco und die Anfrage zur
Mitorganisation gestossen bin.
4.1.1 DIE ‚MÖBLIERUNG‘ DES STADIONGARTENS
In der ‚Gemeindeanthropologie‘ wird als kleinste autonome Einheit die Gemeinde oder das
Dorf angenommen. Dörfer bestehen je nach Region aus einer fixen Palette von Bauten, die sie
als Dorf klassifizieren. Die ‚Dorfstruktur‘ kann verallgemeinert für jeden bewohnten Raum
gelten. Der Dorfplatz, das Gemeindehaus, die Kirche, das Wohnhaus, der Bauernhof. In einer
Wohnung lassen sich wieder ähnliche Strukturen finden.
An WG-Partys versammeln sich normalerweise in der Küche am meisten Leute. Es ist ein
Hinweis auf die Bedeutung vom Raum der Nahrungszubereitung und Geselligkeit. In einem
Dorf befindet sich das Gemeindehaus, also die organisierende Instanz, normalerweise im
Zentrum. In der Wohnung steht das Tischchen für Post, Zeitung und Schlüsselbund im
Eingangsbereich. Das Schlafzimmer ist der private Rückzugsort. Auf ähnliche Weise lassen
sich diese funktionalisierten Orte und verörtlichte Funktionen an jedem bewohnten oder
benutzten Ort finden. Das Bild oben vom 16. Oktober 2011 zeigt die Brache im Herbst, bevor
das Gartenprojekt lanciert wurde. Mitten auf der später zu bebauenden Wiese steht zuerst der
Unterstand, etwas verlassen, scheinbar ohne Bezug zum Raum. Er überdeckt den Brotofen
48
von Brotoloco, das Nebenprojekt von Ortoloco. Das leere Feld rundherum ist wie gemacht,
um besiedelt zu werden.
Ende März 2012 (Bild unten) findet das Aufbauwochenende statt. Vorgängig wurde ein
Baucontainer neben dem Ofen platziert und eine Holzwand gezimmert, die als Info-Pinwand
dienen soll. Dazu stehen die ca. 70 organisierten Holz-Paletten bereit und werden zu
Pflanzkisten umfunktioniert. Zwei leere Plastikbehälter mit je etwa 800 Liter
Fassungsvermögen dienen als Wassertanks, die restlichen werden in der Höhe halbiert und zu
Free-Style-Blumenkisten umgenutzt.
24. März 2012. Gartenaufbau. Links der Ofen mit Unterstand, in der Mitte der blaue Container, rechts
werden die Beete aufgebaut und mit Erde gefüllt.
Der Container bildet das Scharnier zwischen dem Holzofen und dem Garten. Er dient als
Gartenschuppen für Werkzeug, Schnüre, Samen und anderen Zubehör einerseits und als
Lagerraum für Mehl und weitere Koch- und Backutensilien andererseits. Wer über den
Eingang an der Förrlibuckstrasse das Gelände betritt, folgt quer über die Wiese dem
ausgetretenen Weg. Dieser führt zum vollständig abdeckbaren Platz zwischen altem und
neuem Ofen und dem Container.
49
Stadiongarten, 12. August 2012, vom Kletterwürfeldach
Das Bild oben zeigt den funktionierenden Stadiongarten und seine Lage auf der Brache.
Standort des Fotografen: auf dem Dach des Kletterwürfels, ca. 3 Meter über Boden, die
Eternit-Blumenkisten markieren den Rand des Daches.
Rechts vorne im Bild: Unterstand und erster Holzofen mit aufgetürmtem Holzvorrat,
angelehntem Fahrrad, Zeitungsbox am Pfosten rechts hinten, ein Hackstock links vom Velo,
zwei Steinbänke.
In der Mitte: der Container (blau) mit grossem Vordach, Eingangstür mit Zahlenschloss,
grosser neuerer Holzofen, am Pfosten ganz rechts die Veranstaltungstafel. Links vom
Container: Leiter, Garette, Veloanhänger. Hinter dem Container: Beete, Garten.
Links im Bild eine aus Paletten gebastelte Sitzgelegenheit. Das weisse Zelt steht hinter der
Absperrung und gehört zur Vorhut des Cirque du Soleil, der in den folgenden Tagen auf dem
Betonplatz aufgebaut wird. Links vom weissen Zelt auf der Gartenfläche sind zwei weisse
Wassertanks erkennbar. Sie werden alle ein bis zwei Wochen gefüllt mit einem
Wasserschlauch, der am Hydranten auf der Aargauerstrasse ausserhalb des Areals
50
angeschlossen werden kann. Die Fahnenmasten mit den Flaggen in schwarz-weiss gehören zu
einer Installation von Art and the City.28
In Wohnhäusern werden sanitäre Einrichtungen und andere grundlegende Elemente zum
Haushaltsbetrieb im Keller oder an peripheren Orten installiert: Heizung, Wasserleitungen,
Sicherungskasten, Tiefkühltruhe oder Vorratskeller.29
Diese Einrichtungen lassen sich in den
Gärten wiederfinden, sind hier jedoch nicht zentriert. Exemplarische das Bild oben vom
Stadiongarten: als Heizung und Koch-, bzw. Backvorrichtung der Ofen, der Holzvorrat und
der Hackstock. Im blauen Container die Lagerung von Werkzeugen für den Gartenunterhalt
und Nahrungsmittel für die Brot- und Pizzaproduktion. Die Wassertanks wurden an der
Peripherie des Gartens installiert, wo die Distanz zum nächsten Wasseranschluss beim
Hydrant auf der Aargauerstrasse am kürzesten ist. Dazwischen die Blumen- und Gemüsebeete
und zwischen den Beeten verschiedene Sitzgelegenheiten und Tischchen. Auf der Höhe der
Wassertanks ist die Kompostanlage, wie die Reservoirs ebenfalls am Rande der Pflanzzone
(auf dem Bild hinter der satt grünen Robinie links am Bildrand). Zentral neben der Infowand
gegen den Betonplatz hin liegt das abdeckbare Anzuchtbeet. Daneben der Erdhaufen mit von
Grün Stadt Zürich gekauftem Substrat.
28 Vgl. Kap. 3.6. Stadiongarten, S. 28. 29 Vgl. Sigfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung. Der mechanische Kern des Hauses, S. 773 ff. In
diesem Kapitel beschreibt Giedion die Vereinheitlichung von Einfamilienhäusern in den USA der 40er und 50er
Jahre. Dabei war der ‚mechanical core‘ mit allen wesentlichen sanitären Anlagen im Zentrum des Hauses. Die
verschiedenen Aufenthaltsräume und Schlafzimmer umgaben diesen Kern.
51
Wie der Container auf der Brache liegt der mechanische Kern im Zentrum eines Hauses und verbindet
verschiedene Wohneinheiten.30
Die Anordnung dieser Elemente wurde nicht geplant. Der einzige Plan war es, möglichst
offen zu bleiben und keine Regeln festzuschreiben. Ebenso sollte möglichst keine Hierarchie
entstehen. Wir wollten einen Kontrapunkt zu den starren Institutionen und der
überregularisierten Stadt setzen. Daher gibt es auch keinen Verein für die Gärtner. Es ist frei
zu kommen und zu gehen wer will, es ist ein öffentlicher Platz, wer den Newsletter
bekommen will, hinterlässt seine Email-Adresse.
Nur wir Initiatoren organisierten uns als Verein, um den Stadiongarten gegen aussen zu
vertreten. Der Garten sollte eigentlich von der Initiative der Leute leben: wer Werkzeuge
30 Sigfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung, S. 674.
52
übrig hat, soll sie mitbringen, wer Blumenkisten im Keller stehen hat, darf ihnen im
Stadiongarten einen neuen Ort geben, wer eine ausrangierte Badewanne in einer Schuttmulde
sieht, lässt seine Kreativität spielen und funktioniert sie zum Schlüsselblumentrog um. Nur für
den Beginn brauchten wir etwas Geld, um die erste Erde zu kaufen, und das Wasser aus dem
Hydranten zu bezahlen und es nicht über hunderte von Metern hinschleppen zu müssen.
Obwohl wir es gerne so gehabt hätten: das Projekt kostete nicht nichts. Obwohl wir eine
Alternative leben wollten, gehörten wir immer noch zur Stadt und mussten mitspielen. Wir
gingen davon aus, dass sich die Leute selbst arrangieren und sich der Garten so am besten
ergeben würde. So würden wir nur den Garten ermöglicht haben, dann aber keine Rolle mehr
spielen müssen. Ganz so reibungslos verlief der Anfang aber nicht.
Samstag, 24. März 2012
Pünktlich um 10h auf der Brache. Martina ist da und
Christopher, wenig später kommt Christa, das war schön.
Wir trinken und loben meinen mitgebrachten Milchkaffee.
Leute kommen auf die Brache, zu Beginn etwa 20, später
mehr und mehr. Joana meldet sich, sie habe Verspätung,
aber komme gleich. Die Spannung steigt. Endlich ist sie da
und wir erklären den Leuten das Projekt. Es machen sich
alle motiviert an die Arbeit. Schnell entsteht eine Art
Wettkampf: wer darf welches Beet, welches sind ‚private‘,
welches Gemeinschafts-Beete, ein chaotischer Haufen, die
Leute konkurrieren um die besten Plätze, wollen sich die
besten Kisten schnappen. Joana bemerkt das, wir rufen die
Leute nochmals zusammen, und sagen nochmals unsere
Vorstellung, dass der Fokus nicht auf eigene Beete gelegt
werden soll, sondern auf den Garten als Ganzes. Wenn Leute
ihre eigenen Beete wollten, so können sie die später
‚besetzen‘ oder abtauschen.
Einige Leute quatschen, während wir sprechen, so wie in
der Schule, und ich rufe, vielleicht ein bisschen zu
scharf, „Ruhe!“. Joana erschrickt und mahnt mich, „ganz
ruhig“. Aber es nützte. Die Botschaft kam rüber und danach
ging der ganze Aufbau sehr gemeinschaftlich weiter. Wir
probierten ad hoc die Kisten zu installieren, zeigten den
Leuten, wie wir es machen oder nahmen Ideen auf, wie es
besser ging. Die Hierarchie war sehr gering, die Leute
halfen sich auch untereinander oder gaben sich Tipps:
Palette platzieren, Rahmen drauf, Plastiksack
aufschneiden, unter den Rahmen klemmen, Löcher hinein
stechen, Erde in die Garette und die Kisten füllen, fertig
ist das Beet.
Ich half mit, zwei grosse Wassertanks als Reservoir in der
Ecke des Gartens aufzustellen. Joana gab gute Tipps: drei
Paletten darunter, dass der Ausfluss erhöht ist, und so
aufstellen, dass sie sich leicht gegen hinten neigen, so
53
dass das Wasser nicht aus dem Ausfluss tröpfelt und den
Boden aufweicht. Wir schieben die Tanks auf dem Boden
herum, entscheiden uns, hinten eine Delle in den Boden zu
graben, so dass die Lage stimmt. Was ich davon halte,
„Chef“, fragen sie mich. Ich bin nicht der Chef, sagte
ich, was denn sie davon halten. Es kommt gut.
Wir stellten uns zu Beginn vor, dass sich der Garten ohne Plan ergeben sollte. Trotzdem
musste einen Rahmen gesetzt werden. Sonst hätten sich Muster reproduziert, wie wir meinten,
dass sie in Zürich vorherrschen. Wir wollten eine Alternative. So wie die Bestückung des
Gartens, sollten sich auch die Leute ohne ‚Anleitung von oben‘ organisieren. Minima le
‚betriebliche Regeln‘ ergaben sich aber trotzdem. Sie entstanden aus der Tätigkeit der
Gärtnernden und durch die (Selbst-)Darstellung des Projekts. Dies hinterliess schriftliche
Spuren. Einige davon werden im nächsten Kapitel dargestellt. .
Die Stadionbrache war zu Beginn leer. Durch die Etablierung des Gartens wurde das Land
kultiviert und somit bewohnbar gemacht. Dies ist eine Charakteristik von Urban Farming: es
kultiviert Brachland, das aus unterschiedlichsten Gründen nicht genutzt wird, indem Gärten
angelegt werden. Gärten sind Siedlungen. Wie in Wohnungen bilden sich die sanitären
Einrichtungen, Wasserversorgung, Kochmöglichkeit, Heizsystem, Werkzeugkasten. Im
Stadiongarten gibt es den Informations- und Organisationsbereich wie das Gemeindehaus in
einem Dorf oder die Briefablage in der Wohnung. Diese Strukturen ergaben sich durch ihre
Funktionalität. Es gab keinen Aufbauplan. Es war die ‚cloud‘, die ‚Schwarmintelligenz‘31
, die
zur Grundstruktur des Stadiongartens führte. Es ist davon auszugehen, dass eine solche
Grundeinrichtung universeller Natur ist und überall vorkommt, wo Menschen sich an einem
Ort einrichten.
31
Zum Begriff und vgl. Manfred Fassler: Der Infogene Mensch. Interkation und Kooperation. Fassler erkennt Schwarmintelligenz in Smart Populations. Das sind Gruppen, die nicht mehr durch traditionelle und statische Faktoren wie Nation, Religion, Ortschaft, Familie etc. bestimmt sind. Sie sind temporale, vom Ort losgelöste Gemeinschaften, d.h. Schwärme, die sich je nach Interessenlage zusammenfinden.
54
4.1.2 DIE BESCHRIFTUNG DES STADIONGARTENS
Stadiongarten, 25. März 2012, Container und Infowand.
In grossen Lettern ist auf die Info-Wand gepinselt: STADION GARTEN. Auf der rechten
Seite ein Plan des Gartens mit der Anordnung der Paloxen, links als Illustration ein weisses
Huhn auf schwarzem Hintergrund und das Plakat mit einer Begrüssung in gut leserlicher
Handschrift:
Herzlich Willkommen im Gemeinschaftsgarten
Am Wochenende vom 24./25. März bauten rund hundert Menschen Beete, Bänke und
Blumentöpfe auf. Die StadiongärtnerInnen pflegen ihre Pflanzkisten mit Liebe, Lust und
Leidenschaft. Alle sind für ihre Beete selber verantwortlich, zudem gibt es in der Gartenmitte
einige Gemeinschaftskisten. Mitmachen können alle. Interessierte kommen jeweils am ersten
Sonntag des Monats um 17 Uhr hierher an die Gartenversammlung, nächste Termine:
Sonntag, 1. April, 6. Mai, 3. Juni. Weitere Infos auf www.stadiongarten.ch
Es soll ein Gemeinschaftsgarten sein, wo jeder für sich selber verantwortlich ist, aber mit den
magischen drei ‚L‘s hier seine Wonnen finden soll: Liebe, Lust und Leidenschaft. Eine
ironische Zuspitzung. Trotzdem sollen nicht Geld und Hierarchie und festgeschriebene
55
Vorschriften den Garten organisieren, sondern Engagement und zwischenmenschliche
Beziehungen. Rund hundert Leute waren beim Aufbau dabei, weitere GärtnerInnen sind
immer willkommen. Das weisse Huhn auf schwarzem Hintergrund könnte ein Maskottchen
und Stellvertreter des Gartens darstellen, als ob es den Willkommensgruss gackerte. Es ist
gerade im Begriff, ein Ei zu legen mit einem aufgepinselten Fragezeichen. Das Ei als Symbol
für das Projekt: Wir sind am Anfang und wissen nicht, wie es sich entwickeln wird. Wer
dieses Huhn aufgehängt hat, weiss ich nicht, wahrscheinlich bastelte es ein Kind aus der
Nachbarschaft. Ungeplant kam es hier zu hängen und passt perfekt. Auf der rechten Seite der
Tafel ein Gartenplan mit der Anordnung der Kisten. Mit Filzstiftschrift ist das Kroki verortet.
Im Uhrzeigersinn sind das Baucontainer, Ofen/Feuerstelle, Boulderwürfel, Skate-Pool, Boule-
Bahn, Stadion und auf der rechten Seite des Plans: Eingang. Dies sind die verschiedenen Orte
auf der Brache. Diese Orte sind Projekte, die schon vor dem Gartenaufbau bestanden, oder
sich in der Planung befinden. Es sind materielle Bauwerke aber auch konzeptuelle,
anthropologische Orte: ohne die gedankliche Aneignung durch die Menschen würden sie
nicht wahrgenommen und akzeptiert.
Stadionbrache, 19. April 2012. Angepinnter Ortoloco-Flyer auf der Rückseite der Infowand.
Die Info-Wand ist eine ideale Fläche für Werbung im Bereich Garten und Do-It-Yourself. Sie
besitzt ein einnehmendes Flair: selbstgemacht aber stabil steht sie mitten auf der Wiese und
fügt sich gut in den Raum neben dem blauen Container. Auf der Rückwand ist hier ein
56
Faltblatt von Ortoloco zu sehen. Auf der Vorderseite angebracht wäre es zu aufdringlich
erschienen. Die Stelle auf der Rückseite der Wand symbolisiert auch die Herkunft der
Initiative: das Mutterprojekt ist Ortoloco, über das Nebenprojekt des ‚Brot-Abos‘ Brotoloco
wurde die Stadionbrache ‚entdeckt‘, und es entstand die Idee des Gemeinschaftsgartens.
Später wird ein besserer Standort gefunden, um Präsenz zu markieren: die Flyer-Säule kommt
am zentralsten Punkt zu stehen. (s. Bild unten)
Stadionbrache, 12. August 2012, grosser Brotofen, Container, Ortoloco Info-Säule.
Später wird die Wand als Informationsplattform zur Selbstverortung genutzt. Links ein Papier
der Stadionbrache und in kurzen Worten die grundlegendsten Regeln. Daneben eine Spontan-
Botschaft: der Kompost-Workshop wird um eine Woche verschoben. Darunter ein Saisonplan
verschiedener Gemüse. Daneben der monatliche Giessplan, der an der Gartenversammlung
immer am ersten Sonntag im Monat abgemacht wird. In der Mitte Absenzfähnchen: „Wir sind
in den Ferien – Bitte Giessen und Ernten-Fänli“ (sic!), eine Massnahme gegen die
Verwahrlosung und Verwaisung von Pflanzkisten. Eine andere Sorte Fähnchen „Bitte bis in
zwei Wochen zurück bringen“ sorgt dafür, dass Beete, denen nicht mehr geschaut wird,
weitergegeben werden können. Es sind nicht alle GärtnerInnen so engagiert, dass sie sich
57
komplett selber organisieren. Die Schriftspuren üben die minimale Autorität aus, um das
Projekt am Laufen zu halten. Ein Garten muss gepflegt werden, sonst verkommt er. Mit
Gartenwerkzeugen werden die Pflanzen kultiviert, die Schrift sorgt für das Fuktionieren der
Gruppe.
Stadionbrache, 12. August 2012, Infowand, Giesskannendepot, kurz-Infos, Spatz-Werbung.
Auf der rechten Tafel gibt es eine Kurzfassung des Stadiongartens. Daneben eine Präsentation
von Art and the City. Weiter rechts eine Ankündigung für den nächsten Event: ein einmaliges
Spielfest für Kinder und Jugendliche organisiert von den GZ Loogarten, Bachwiesen und
Grünau. Im rechten Ecken eine Werbung, die ohne Rücksprache aber mit Gegenleistung
angebracht wurden. „Ihr bekommt einen feuerfesten Kochkessel samt Dreibein, dafür
hinterlassen wir hier unser Logo.“ Hier findet sich das ideale Publikum für Qualitätzelte und
Camping-Artikel. Besprochen wurde der Tausch Topf gegen Werbung nicht und
stillschweigend angenommen.
Die Möblierung folgt universalen Bedürfnissen einer Wohneinrichtung, obwohl es keinen
Masterplan gab, nachdem die Einrichtung aufgestellt worden wäre. Aber: die Anordnung lässt
sich mit standardisiertem Wohnungsbau vergleichen. Daraus kann geschlossen werden, dass
58
es eine allgemeine Vorstellung gibt, wie die Elemente angeordnet werden müssen, damit der
Ort möglichst funktional und zugleich möglichst wohnlich herauskommt.
Ein anthropologischer Ort besteht in der Verbindung eines Raumes mit einer Gruppe. Diese
gestaltet ihn nach ihren Bedüfnissen und gibt ihm eine Identität. Die Schriften prägen den Ort
und verkörpern diesen Anspruch. Sie sind Spuren und lassen sich auf das Verhältnis Mensch-
Raum, resp. die Absichten der Gruppe zur Gestaltgebung deuten. Da es sich bei der
Gestaltung des Stadiongartens um eine offene Gruppe handelt, die sich erst duch das Ziel, den
Raum so zu gestalten, dass er für weitere Leute offen bleibt, erfüllen Schriftspuren
unterschiedliche Zwecke: Selbstdarstellung, Information, Planung, Werbung, Verweis auf die
Herkunft.
59
4.2 DAS HETEROTOP
Dienstag, 27. März 2012
Nachmittags im Dunkelhölzli. Ich übernehme die
Setzlingsarbeit von einer Tanja, die mich auf Anhieb
wiedererkannte: „Germanistik oder Kunstgeschichte?“ Mir
kommt ihr Gesicht erst nach nochmaligem Anschauen bekannt
vor. Sie bezieht ihr Gemüse vom Dunkelhölzli, dafür hilft
sie mit, wenn sie gerade Zeit dazu hat.
Die Arbeit ist sehr meditativ. Ich stehe an einem
Gartentisch mit zwei Kistenstapeln. Vor mir die Sicht über
das Feld, dreihundert Meter bis zum dunklen Waldrand,
hinter mir die Remise mit Werkzeugen und Kühlraum, rechts
die Anziehkästen, die Komposthaufen und dahinter der
Acker, ca. 25 Aren, das ist ein Feld von 25x100 Meter. Mit
einem Griffel löse ich im linken Kistchen zarte
Eichblattsalat-Sprösslinge aus der Erde, und setzte sie in
der rechten Kiste einzeln in die Löcher von kleinen
Töpfchen.
Es ist ruhig. Blauer Himmel und Sonnenschein.
Rabengekrächze, Hundegekläff vom Waldrand, dann wieder
Stille. Ein Motorflugzeug. Fernes Geklapper von trabenden
Pferden. Der Motor einer Gartenmaschine von der Gärtnerei
linkerhand.
Der Griffel in der Hand, die feinen Pflänzchen aus der Erde lösen und vom einen ins andere
Kistchen verpflanzen (‚pikieren‘ heisst das in der Gartenfachsprache), wenig Bewegung um
einen herum, die grünen Wiesen, die Feldwege, Fussgänger aus weiter Distanz gemächlich
durch die Landschaft ziehend. Die Zeit tickte anders. Langsamer? Beruhigender? Bin ich
noch in der Stadt oder schon auf dem Land? Steht dieser Gegensatz überhaupt in Frage?
Wie sind solche Wahrnehmungen zu theoretisieren? Dazu passt das Konzept des Heterotops
(gr.: topos = Ort, hetero = unterschiedlich; Heterotop = der andere/unterschiedene Ort).
4.2.1 THEORETISCHE MERKMALE DES HETEROTOPS
Im Gegensatz zum anthropologischen Ort, der durch seine Möblierung und seine
Bewohnbarkeit objektiv fassbar ist, beschreiben die Ansätze des Heterotops die Qualitäten
und Erlebbarkeiten eines Raumes. Dadurch wird ein Heterotop klar von seiner Umgebung
abgrenzbar. Michel Foucault nennt als typische Heterotopien Kino, Museum, Gärten, Spitäler,
Friedhöfe, Gefängnisse oder das Doppelbett ihrer Eltern, wenn diese nicht da sind und die
Kinder darauf herumhopsen und sich alle möglichen Welten vorstellen. Diese Orte haben eine
besondere Wirkung auf ihre ‚Bewohner‘: Raum und Zeit werden anders erfahren als im
Alltag. Heterotope zeichnen sich dadurch aus, dass sie andere Räume abbilden (Kino,
60
Museen). Sie sind von einer Grenze umgeben und durch bestimmte Passagen betretbar. Wer
ein Heterotop betritt, begibt sich in eine Heterochronie, d.h. erlebt eine spezifischen
Zeiterfahrung, die nicht der gewohnten alltäglichen entspricht. Mit der Bezeichnung Illusions-
oder Kompensationsraum will Foucault das Verhältnis des Heterotops zu Nicht-Heterotopien
erfassen:
„Hier stoßen wir zweifellos auf das eigentliche Wesen der Heterotopien. Sie stellen
alle anderen Räume in Frage, und zwar auf zweierlei Weise: entweder […] indem sie
eine Illusion schaffen, welche die gesamte übrige Realität als Illusion entlarvt, oder
indem sie ganz real einen anderen realen Raum schaffen, der im Gegensatz zur wirren
Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist.“32
4.2.2 DER GARTEN ALS HETEROTOP
Lässt sich nun dieser Begriff auf meine Erfahrung im Dunkelhölzli übertragen? Am
auffälligsten war für mich die Ruhe, die weite Sicht, die meditative Arbeit. Diese in der Stadt
ungewohnten Eindrücke veränderten mein Zeitgefühl. Im Verhältnis zur meinem
Wohnquartier Wipkingen als Vergleichsgrösse ist das Dunkelhölzli ein Heterotop.
32 Michel Foucault: Heterotopien, S. 19 f.
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Dunkelhölzli, 28. März 2012. Im linken Haus mit Dachschräge der Gartenschuppen. Im Hintergrund
Wohnsiedlungen von Zürich Altstetten. Der Stadtrand dehnt sich aus.
Ansonsten ist der Pflanzplatz einfach ein Ort des Stadtrands. Da gibt es keine bestimmte
Öffnungen, um den Ort zu betreten und keine Schliessmechanismen, um das Feld von der
Umgebung zu isolieren. Der Acker ist ein Acker und will keine andere Welt sein. An den
geernteten Rüben klebt noch etwas Erde und zwischen den Salatblättern verkriechen sich
kleine Schnecken. Das ist Realität und an sich kein Illusionsraum. Aber wenn Menschen mit
einer anderen Lebenswirklichkeit diesen Raum betreten, kann eine Gegenwelt entstehen. So
z.B. Stadtbewohner, die in der Gemüseabteilung von Grossdetaillisten ihre Rüben in der Kilo-
Packung kaufen, mit oder ohne aufgedrucktem Bio-Label, haben diesen Bezug nicht. Die
Erde wurde entfernt, Schnecken und andere ‚Schädlinge‘ sowieso. Im Alltag wird nicht
danach gefragt, woher die Karotte kommt. Erst wenn der Nachwuchs fragt, Papi, woher
kommen die Rüebli, wird dieses alte Wissen wieder hervorgekramt, „vom Feld, Eugen, da
wächst es in der Erde und über der Erde wächst das Kraut und wenn es genug gross ist, wird
es aus dem Boden gezogen und es klebt etwas Erde dran. Da gibt es so grosse Rüebli wie
dieses da, aber auch ganz kleine, so klein wie dein kleiner Finger. Die meisten sind schön
gerade, wie diese hier, aber andere sind zusammengewachsen oder sind ganz knorrig. Zum
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Essen sind sie trotzdem gut.“ Dieses Wissen ist Erfahrungswissen. Vielleicht hat es dieser
Papi es in der Primarschule gelernt, hat darüber gelesen oder eine Bauern-Doku gesehen und
war von der Rübenernte besonders beeindruckt. Dies ist jedoch eher unwahrscheinlich.
Erfahrungswissen muss selbst gelebt werden. Wer nie selbst eine Rübe aus dem Boden
gezogen hat, kann sich nur schlecht vorstellen, wie verschiedenartig die Erde daran kleben
bleiben kann. Dunkel, schwer und feucht, wenn der Boden nach starkem Regen durchnässt ist.
Hellbraun, leicht und krümelig bei trockener Erde. Dieses Erfahrungswissen kann nur in einer
Realität ausserhalb vom Shopping-Center oder schön sortierten Gemüse-Händler erworben
werden. Eine solche Gegenrealität gibt es auf dem Dunkelhölzli.
Tag der offenen Äcker am 12. Mai: es regnete in Strömen. Zu viert schauen wir die Äcker an
im Ifang bei Schlieren. Michi , Thom, ein benachbarter Landwirt und ich. Wir spazieren über
das Herrenbergli zum Dunkelhölzli. Eine Mitpflanzerin ist schon da, kocht Suppe, gesprächelt
über den Salat. Thom versucht sich am Feuer unter einer wackeligen Konstruktion gegen den
Regen. Gegen Mittag kommen doch noch ein halbes Dutzend Leute und geniesst eine
Bratwurst an den aufgestellten Bänken im Schuppen. Das Gespräch entwickelt sich etwas
zögerlich, wie immer, wenn Leute zusammensitzen, die sich nicht kennen. Dann wird die
Qualität des Gemüses gelobt, die Entspannung beim Gärtnern, das Unverständnis, dass nicht
mehr Leute gärtnern. Die Empörung, dass Pflanzenkunde und Heilkräuterwissen von hiesigen
Blumen und Pflanzen in der Schule verhindert würde von der Pharma-Lobby, die so die
Abhängigkeit von ihren Medikamenten vergrösserte und sich so Kundschaft und Rendite
sicherten. Dabei könne so viel behandelt werden mit Kräutern, sogar solchen, die unscheinbar
am Wegrand wachsen. Dieses Wissen müsse doch wieder gepflegt werden. Es sei so schön,
dass sie jetzt wieder Gemüse säen und ernten könnten, dieser Bezug zur Natur habe ihnen so
gefehlt. So stellt das Projekt Dunkelhölzli eine ideale Gegenwelt dar, in der noch (oder
wieder) ein Bezug zur Natur hergestellt wird. In der Welt des Marketings, der Werbung, der
Gross-Detail-Händler gehe es ja nur noch um Konsum und Profit. Das Dunkelhölzli
verkörpert eine Heterotopie, in der entgegen dem Trend ideale Vorstellungen von
Stadtbewohnern gelebt werden können.
63
Pflanzplatz Dunkelhölzli, 12. Mai 2012: Im Ifang bei Schlieren.
Unten: Dunkelhölzli am Stadtrand bei Altstetten.
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Ein Heterotop ist heterochron. Auf dem Dunkelhölzli besteht die Vorstellung, wieder nach
altem Wissen zu handeln. ‚Altes Wissen‘ ist das Wissen um die Pflanzenpflege, den Zeitpunkt
der Aussaat, die Bearbeitung des Bodens, die Zeit der Ernte, die Kultivierung eines Komposts
für nahrhafte Erde im Folgejahr. Zum alten Wissen gehört aber auch Spezialwissen wie
Wirkungen und Nebenwirkungen von Gemüse und Kräutern.
Wo sind die Grenzen vom Pflanzplatz Dunkelhölzli? Beim Waldrand am Horizont? Hinter
dem Acker? Für mich spielte das keine Rolle. Am Tisch stehend, die Hände ihre Arbeit
verrichten lassend, über die Fläche schauend, die ruhigen Geräusche hörend: plötzlich gab es
mehr Raum für die Aufmerksamkeit, plötzlich wurde einem die Wahrnehmung bewusst, es
gab eine Aufmerksamkeit für die Aufmerksamkeit. Auf der Hinfahrt per Fahrrad war höchste
Konzentration gefordert. Autos, Busse und Trams, Fussgänger, Verkehrsampeln,
Ausweichmanöver, Gangschaltung, vorbeisausende Ladenschilder, Werbeplakate, Baustellen,
Umleitungen, sich orientieren, Strassen wiedererkennen und andere zum ersten Mal befahren.
Die Arbeit dann an den Setzlingen auf dem Pflanzplatz Dunkelhölzli eine Welt der Ruhe, der
Übersicht, der Geborgenheit.
Durch die auffällig unterschiedliche Zeiterfahrung ist mir das Dunkelhölzli als Heterotop
aufgefallen. Ähnliche Erfahrungen lassen sich auch in den anderen Gärten machen: auf der
Kronenwiese, auf dem Feld in Dietikon, auf der Fläche der Stadionbrache, in der Gegend von
Seedcity. Physische Grenzen mit besonderen Zugängen gibt es im Dunkelhölzli nicht. Die
Beschränkung zeigt sich dann, wenn sich die Nachbarn der roten Neubauwohnungen33
an den
Leuten stören, die um das Feuer herumstehen, oder wenn die Kinder im Planschbecken
spielen. Der Streit ging so weit, dass jemand von der Stadt vermitteln kam. Als Beitrag zur
Lösung des Konflikts schlugen Michi und Thom vor, das Planschbecken auf die andere Seite
des Schopfes zu stellen, auch wenn sie dafür noch einen Schattenplatz schaffen müssen. Die
Grenzen wurden von den gereizten Nachbarn gesetzt und vom Dunkelhölzli überschritten.
Am Tag der offenen Äcker lobten die Besucher das alte Wissen des Gärtnerns und der
Pflanzenkunde. In dieser Hinsicht ist das Dunkelhölzli eine Vorlage zum Aufleben anderer
Welten. Es ist ein Kompensationsraum für Leute, die die Wirksamkeit der eigenen Hände
erfahren, die ihrer Nahrung beim Entstehen mithelfen und sich ein Gefühl der Autonomie
gegenüber Detailhandels-Multis bewahren wollen.
33 Vgl. Bild S. 54.
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Merkmale des Heterotops sind in den Gärten nachvollziehbar. Das Modell, resp. das
Radiogespräch von Michel Foucault lotet die Denkmöglichkeit zur Beschreibung und
Unterscheidung verschiedener Orte. Die Unterschiedliche Wahrnehmung verschiedener Orte
begründete sich in diesem Beispiel hauptsächlich durch die unterschiedlichen Lokalitäten.
Vieles wird von den ‚Bewohnern‘ und ‚Nutzern‘ der Heterotope intendiert.
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4.3 DAS ANEIGNEN VON ORTEN
4.3.1 DIE VORAUSSETZUNG DER GRUPPE
Die Voraussetzung zur Gestaltung von Räumen ist der Mensch. Die Kultivierung von Natur
ist vielleicht eine der grundlegendsten Tätigkeiten in der Entwicklung des Homo Sapiens. Sie
emanzipierte ihn vom rastlosen Jäger und Sammler zum sesshaften Viehzüchter und
Feldbauer. Voraussetzung zum Überleben des Individuum und der Gattung ist in beiden
Entwicklungsstadien jedoch die Gruppe. Im Jahr 2012 mögen sich die Lebensbedingungen
mit Medienwandel und Verstädterung geändert haben. Es sind aber nach wie vor
Zusammenschlüsse von Menschen notwendig, um grössere Projekte umzusetzen. Dies geht
aus den folgenden Zitaten hervor.
Also ich habe früher auch mit verschiedenen Gruppen zu tun gehabt. Ich war mal im Blauring und dort Leiterin. Und ich habe mal Volleyball gespielt. Und auch dort haben wir als Gruppen Dinge angepackt und zusammen gemacht aber es war nie diese Begeisterung drin. Vielleicht weil wir uns nie so nahe kamen, oder weil uns die Dinge nicht so wichtig waren. Etwas von beidem. Also es braucht wie beides: die Sache muss dir viel bedeuten und sie muss Erfolg haben und vorwärts gehen. Und andererseits musst du dich auch gerne treffen, um zu organisieren. (Pia im Alten Botanischen Garten, 08.05.2012, 00:39:46)
Es sind nicht alle Gruppen gleich. Pia denkt, dass besonders gute Gruppen dann entstehen,
wenn sich die Leute gut kennenlernen und wenn die Leute von der Absicht der Gruppe
begeistert sind. So war es für sie bei Ortoloco der Fall.
Auch der Stadiongarten entstand durch die Initiative von Leuten aus dem Umkreis von
Ortoloco. Der Elan aus dieser Gruppe übertrug sich auf die Stadionbrache.
Ich mag den Personenkult nicht, aber es zeigt sich schon, dass wenn sich einige initiative Menschen finden, die gut zusammen arbeiten, ist extrem vieles möglich. Dann sind die paar Hindernisse recht schnell überwunden. Und einfach überwunden. Es müsste ein Beispiel sein, dass es so einfach anfangen kann. Weil solche Plätze wirklich vielen Leuten fehlen. (Joana im Stadiongarten, 30.05.2012, 00:23:07)
Doch die Idee für den Garten bestand schon vor der Gründung des Vereins zur Planung des
Stadiongartens. Martina äussert sich über den Anfang, warum es zuerst nicht so recht geklappt
hat, aber dann mit Dominik und dem Stadiongarten schon.
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Wir waren ein kleineres Grüppchen, aber nicht so effektiv. Klein und unauffällig haben wir da einfach Sachen angepflanzt. Und der Dominik hat das mitbekommen und mich dann Ende Sommer angesprochen, ob wir nicht zusammen einen Garten initiieren wollten. So quasi "einen richtigen Garten". Dann haben wir zusammen gesprochen und dann gab es ein zweites Meeting mit anderen Interessierten. Und schnell wurde es konkret und alle wussten: „das wollen wir machen, das müssen wir gar nicht lange diskutieren, das sieht so und so aus.“ Man war sich auch über den Namen extrem schnell einig, es war alles total einfach dann, von diesem Moment weg. (Martina im Stadiongarten, 03.06.2012, 00:17:56)
Mit dem Ansatz des anthropologischen Ortes könnte interpretierte werden, dass die erste
Gruppe zu wenig initiativ war. Erst mit der Lancierung eines „richtigen Gartens“ kam
Schwung in die Planung, eine Name wurde gefunden und die Basis für den Stadiongarten
gelegt.
4.3.2 AUSGANGSBASIS FABRITZKE-AREAL
„Das „Eigene“ ist ein Sieg des Ortes über die Zeit. Es ermöglicht, aus den
errungenen Vorteilen Gewinn zu schlagen, künftige Expansionen vorzubereiten
und sich somit eine Unabhängigkeit gegenüber den wechselnden Umständen zu
verschaffen.“
(Michel de Certeau)34
Zurück an den Anfang: Nachdem ich die Leute auf der Stadionbrache rund um den Brotofen
im Oktober 2011 kennengelernt hatte, wurde ich zu einen Vortrag-Abend im Vorwerk
eingeladen. Das Vorwerk ist eine der Wohngemeinschaften auf dem Labitzke-Areal35
. Zwei
Lizenziats-Arbeiten wurden vorgestellt, die eine mit dem Titel Ökologie und Freiheit. Die
Geschichte der Öko-Bewegung in der Schweiz. Die andere: Freiheit und Eigentum. Eine
vergleichende Untersuchung von Locke, Kant und Marx- mit Bezügen auf die Gegenwart. Die
Vorträge sind sehr informativ. Etwa 20 Leute, rund die Hälfte davon wohnt auf dem Labitzke-
Areal, bedienen sich beim Apéro, hören die Vorträge, diskutieren danach über die Schweizer
Landwirtschaft, über die Subventionspolitik, über die ideologische Verortung des Bio-
Landbaus, dessen Geschichte und Zusammenhänge. Jemand möchte mich für die
Organisation einer Lebensmittel-Kooperative gewinnen. Jemand hat Beziehungen zum
Präsident des kantonalen Imkerverbandes, falls ich eine weitere Geschichte über Bienen und
Imker in der Stadt schreiben möchte. Jemand erzählt mir von einem Guerilla Gardener, der
auch in einer WG der Labitzke wohne.
34 Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Strategien und Taktiken, S. 88. 35 Diese Wohngemeinschaften sind eigentliche „Wohn-Ateliers“. ca. 10 Personen teilen sich eine grosse Halle
und richten da ihre wenige Quadratmeter Privatsphäre ein ohne Türen und Wände zur Abgrenzung.
68
Ich werde zu einer weiteren Veranstaltung eingeladen: ein Workshop über die Verdoppelung
der Genossenschaft Ortoloco. Fünfzehn Genossenschafter überlegen sich Vor- und Nachteile
einer solchen Vergrösserung: Auswirkungen auf die Finanzen, Auswirkungen auf die Arbeit
und auf die Stimmung zwischen den Genossenschafter und die Zukunft des Projekts. Es ist
eine angeregte und produktive Runde. Verschiedene Arbeitsgruppen diskutieren
unterschiedliche Bereiche: Infrastruktur, Finanzen, Ausweitung des Abonnentenkreises. Nach
der Arbeitsrunde erzähle ich Dominik von meiner Arbeit und er fragt mich, ob ich bei der
Organisation des Stadiongartens mithelfen will. Ich sage zu. Auch dieser Abend fand in einer
Räumlichkeit des Labitzke-Areals statt, in der Fabritzke, dem grossen und vermutlich ersten
Zürcher Wohn-Atelier seiner Art. Welche Bedeutung hat der Ort und die spezielle Wohnform
für die verschiedenen Projekte?
Dazu sagte Nick im Mai:
Ja, da bin ich überzeugt davon, dass es ein grosse Rolle spielt, dass es sehr fördernd war am Anfang, weil so wie man heute normal lebt, nämlich so individualisiert, jeder hat eine Wohnung und eine komplette Lebensinfrastruktur innerhalb dieser Wohnung, muss nur raus um einzukaufen oder um zu arbeiten, oder. Man trifft zwar viele Leute aber spricht nicht mit ihnen, versucht an ihnen vorbeizuschauen und so <lacht>. Das ist da anders. Es gibt Infrastrukturen, die wir teilen. Man muss miteinander zu tun haben, aber das empfinden wir hier nie als Zwang oder unangenehm, sondern im Gegenteil, das ist etwas total Positives. Und man tauscht sich ständig aus. Und zwar einerseits auf der Basis dieser Infrastrukturen, die wir gemeinsam nutzen, aber dann auch über andere Dinge, man kommt auf Ideen und merkt dass man zusammen ganz viele Dinge tun kann, die man alleine nicht tun kann. Ja. (Nick im Atelier Fabritzke, 04.05.2012, 00:04:30)
Nick betont, wie sich durch das Benutzen einer gemeinsamen Infrastruktur öfters Gelegenheit
bietet, sich informell auszutauschen. So entstehen Ideen und Synergien, die in der
individualistischen Lebensweise innerhalb der Kleinwohnungen bleiben. Auf dasselbe Thema
angesprochen, betont Pia die persönliche Nähe, die dabei entsteht und den Vorteil geteilter
Infrastruktur, die viel effektiver Genutzt werden kann, wenn sie vielen Leute zur Verfügung
steht:
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Das Areal ist schon recht wichtig für all das Zeugs. Einerseits weil wir uns dort dadurch gut kennenlernten, andererseits weil wir den Raum haben für Sitzungen, für Workshops, für Depots fürs Gemüse und weil sonst noch viel läuft, was gut zusammenspielt. Es gibt Veloanhänger und Zeugs um zu transportieren, es gibt Maschinen, um Dinge zu bauen. Dann gibt es viele Leute, die gerade mitmachen, wenn du etwas machst. Obwohl wir trotzdem viel mailen, obwohl wir gleich nebeneinander wohnen. (Pia im Alten Botanischen Garten, 08.05.2012, 00:32:11)
Menschen verschiedenster Kulturen sind mit dem Gelände verbunden. Sie leben da, arbeiten,
gestalten ihre Zeit. Es gibt Autogaragen, Tanzkurse, Trommelkurse, Bandräume, ein
Architekturbüro, verschiedene Kunstateliers, ein Fotostudio, ein Bordell, eine Moschee, ein
Café, eine Velowerkstatt, etc. 36
Die Grenzen zwischen Wohnort, Arbeitsort, Privatsphäre und
öffentliche Sphäre verschwimmen, neue Strukturen werden verhandelt. Es handelt sich um ein
Pioniermilieu, wo sich Menschen nicht in die bestehende Ordnung einschreiben und andere
Lebensentwürfe gestalten als klassische Erwerbsarbeit, Mittelstandswohnung und
Standardbiographie. Fehlende Organisationsstrukturen erfordern hohen
Kommunikationseinsatz und Schlüsselkompetenzen wie Flexibilität und
Transformationsbereitschaft.37
Pioniermilieus bevorzugen Orte ohne fest definierte Regeln.
Zu finden sind sie oft auf Brachen und anderen Zwischennutzungen. Durch ihren Einsatz
werden diese Orte ‚aufgewertet‘: sie werden gestaltet, sie stehen am Anfang des Prozesses der
Gentrification: sie verleihen dem Nicht-Ort eine Identität, gewinnen Kult-Status, es erhöht
sich die öffentliche Aufmerksamkeit, dadurch der Bodenpreis und es etablieren sich
geldbringende Einrichtungen, Wohnungen, Büros, Läden. In solchen Milieus finden sich
Künstlerinnen und Kreative, Handwerker und Ideenköpfe. Es ist eine „Kultur des selber
Machens“, die auch das Umfeld der Urbanen Gärtner bestimmt.
Es bleibt eine hinterfragbare These, dass Pioniermilieus Bedingung sind, um Projekte wie
Ortoloco zu ersinnen und zu betreiben. Denn es gibt auch Stimmen, die den ganzen Betrieb
eher hinderlich finden.
36 Kulturen am Rand: Zürich Labitzke. Eine Feature aus dem „Wilden Westen“ der Boomstadt Zürich, Porträt
einer Verdrängung. Radio Lora, 31.08.2012. Archiv: http://www.freie-radios.net/50535. 37 Bastian Lange: Koop Stadt? Was ist von der „kreativen Stadt“ zukünftig zu erwarten?
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Ich: Und es ist ja nicht nur wohnen, sondern auch Atelier, man hat Sitzungen, Workshops zu Ortoloco auf dem selben Areal und es bewegt sich ja auch viel, mit dem AutoBeautySalon, wo du noch eine Velowerkstatt hast und einen Gratisladen… Joana: Dass alles gerade so zusammenkommt ist Zufall. Es gibt viele Leute, die dort nur ihr Atelier haben oder nur dort wohnen, oder nur an Sitzungen gehen, und das nicht mehrfach nutzen. Das finde ich auch gut. Es wäre sonst eine rechte Anforderung, wenn du alles in diesem Kuchen machen müsstest. (Joana im Stadiongarten, 30.05.2012, 00:14:55)
Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Wohnform und der sozialen Durchmischung auf
dem Labitzke-Areal und Ortoloco. Zwei der Beteiligten sehen dies als Bereicherung, eine
findet den ganzen Betrieb eher hinderlich. Joana war allerdings nicht in der
Gründungsgruppe. Sie wurde erst durch ein Inserat auf Ortoloco aufmerksam und wurde als
Gemüsefachkraft angestellt. Nach eigener Aussage hätten ihr Profil und das von Ortoloco
perfekt zusammengepasst (Joana im Stadiongarten, 30. Mai 2012, 00:06:38). Dann zog sie
auch in eine der Wohngemeinschaften auf dem Labitzke-Areal.
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4.4 DER ORT UND DIE SPRACHE
„Orte werden durch die Zeichen geschaffen, die ihm im Raum eine
Charakterisierung geben: Anweisungen und Verbote im öffentlichen Raum,
Ortsschilder, Informationen, Ideogramme, Werbung und Plakate, Firmen-Namen,
Slogans, Urban Art.“
(Marc Augé)38
Das Grundlegende einer Gruppe ist ihre Kommunikation. Für mich als Feldforscher ist
deshalb ihre Sprache eine Spur, die Rückschlüsse auf deren Verständnis vom Ort und sich
selbst zulässt. Die vorhergehenden Kapitel illustrieren die Bedeutung der Konstellation einer
Gruppen zur Gestaltung von Orten. Im Kapitel 4.2. bin ich auf die Beschriftungen im
Stadiongarten eingegangen. Diese organisieren die Gruppe im Garten. Im Folgenden wird auf
die mündliche Sprache fokussiert. Diese werden spontaner geäussert und lassen Schlüsse auf
die Weltsicht der Sprechenden zu.
Eine Gruppe muss eine gemeinsame Sprache haben, damit sie als Gruppe funktioniert. Von
den Initiatoren des Stadiongartens kannten sich einige schon zuvor, andere lernten sich erst
kennen. Wir sprachen zwar die selbe Sprache, aber wir mussten uns auf Ziele und Strukturen
des Gartens einigen, um diesen zu organisieren. Dies zeigte sich in den Formulierungen. Mit
einer Neugründung geht immer eine Namensgebung einher. Das Wichtigste war der Name
des Gartens: Stadiongarten. Der stand schon, bevor ich dazu stiess und passte so gut, dass
daran nichts mehr zu ändern war: Stadionbrache – Stadiongarten.39
4.4.1 UMDEUTUNGEN
In den Sitzungen zur Planung des Stadiongartens stellten wir unsere Visionen vor, verteilten
Aufgaben, machten neue Termine ab. Eine Einladung für den Info-Abend musste geschrieben
werden, Begleitbriefe für die Stiftungsanfragen, der Willkommenstext im Stadiongarten40
, die
Newsletter für Gartenversammlungen und Protokolle derselben. Der Garten kam ins Laufen,
ein Kompost wurde aufgesetzt und in Workshops Gartentricks verraten. Um eine
Verbindlichkeit gegenüber uns selbst, gegenüber den Interessierten und nicht zuletzt
gegenüber dem Garten an sich herzustellen , wurde ein Gartenteam gegründet. Dieses sollte
aus Leuten bestehen, die Regelmässig vor Ort sein würden, sich in Gartenfragen auskannten,
die Workshops planten und gelegentlich thematische Abende mit Konzert organisierten.
38 Marc Augé: Nicht-Orte, S. 80. 39 Vgl. zum Namen Stadiongarten Kap. 4.3.1. Die Voraussetzung der Gruppe, S. 58.
40 Vgl. Kap. 4.1.2. Die Beschriftung des Stadiongartens, S. 48.
72
Einmal fand mit grossem Erfolg ein Kasperlitheater statt. Dieses Team sollte aus vier
Personen bestehen und jede sollte einen Lohn von tausend Franken pro Monat bekommen.
Dazu notierte ich im Forschungstagebuch:
Donnerstag, 24. Mai
Sitzung zum erweiterten Gartenteam. Anstatt „Lohn“ soll es
heissen „Ermöglichungspauschale“.
Der Stadiongarten soll nicht ein ‚Dienstleistungs-Betrieb‘ werden, der Leute anstellt und
ihnen einen ‚Lohn‘‘ auszahlt. Die ‚Ermöglichungspauschale‘ soll einen Raum für
Engagement eröffnen. Sie soll sicherstellen, dass Ideen nicht verhindert werden, weil es an
Geld fehlt. Eine regelmässige Anwesenheit und ein Grundengagement sind wichtig, um das
Projekt am Leben zu halten. Das Gartenteam kommt zustande.
Das Engagement soll erst Gastfreundschaft heissen und das Team Gastfreundschaftsteam.
Dann finden wird diesen Namen zu vereinnahmend oder aufdringlich. An der
Gartenversammlung vom 3. Juni stellen wir das Projekt als Stadiongarten-Erweiterung vor.
Die Zusammensetzung des Begriffs verkürzt sich in der Folge wieder zu Stadiongarten. Das
Team gehört zum Garten, der Name wird identisch. Die Teammitglieder entscheiden selbst,
wie stark sie sich engagieren wollen oder können. Die Ermöglichungspauschale verpflichtet
sie nicht zu einer bestimmten Leistung. Es funktioniert gut.
Ende Juni wird ein Wechsel im Team absehbar. Jemand verreist für längere Zeit und soll
ersetzt werden. Verschiedene Personen werden vorgeschlagen. Alle sollen die gleiche
Möglichkeit haben, im Team mitzumachen. Plötzlich jedoch wird bei den einen betont, dass
sie gerade keine Arbeit haben. Die ‚Ermöglichungspauschale‘ verliert plötzlich ihren rein auf
das Projekt bezogene Funktion und wird als ‚Lohn‘ gehandelt. Damit bekommt das
Engagement im Gartenteam einen Job-Charakter.
Donnerstag, 28. Juni
Sitzung erweitertes Gartenteam
Die Diskussion wird ziemlich emotional geführt, wo es um
die Nachfolge von Joana geht. Christa schlägt Katja vor,
Pia hat Patrizia angefragt. Bei einem gemeinsamen Treffen
werden sie sich einigen und wohl beide mitmachen. Da es
bei dem Engagement ja auch um eine kleine Entlöhnung geht,
und weil Christa anmerkt, dass Katja froh ist um jedes
Einkommen, ist bald die Rede von fifty-fifty der
Entlöhnung, so als ob die vom Freundschaftsteam einen
73
festen Job bezögen. Es vermischen sich die Interessen.
Oberflächlich wird zwar so geredet, dass es nur um die
Unterstützung der Garten-Nutzer geht und das Geld der
Unterstützung des Garten-Teams dient. Der Fokus steht
jedoch auf der Kippe, so dass es schnell mehr um das Geld
geht, und das Engagement als Mittel zum Geld und nicht
Mittel zum Zweck degradiert wird. Die Diskussion verläuft
so, dass dies gar nicht betont wird. Da bringe ich mich
ein, und sage das, und sage, dass das einfach zu Kenntnis
genommen werden müsse, ich sei persönlich nicht dagegen.
Das Votum wird jedoch kaum aufgegriffen.
Der Begriff ‚Lohn‘ kann immer relativiert werden und als ‚Ermöglichungspauschale’
verstanden werden. Er ‚ermöglicht‘ uns zu essen und zu wohnen und somit eine Tätigkeit
auszuüben. Bekämen alle eine berufsunabhängige Grundpauschale, könnten wir unseren
Projekten nachgehen und müssten uns nicht dem Machtgefüge der Lohnarbeitsverhältnisse
unterwerfen. In diesem Sinne ist der Stadiongarten auch ein Experimentierfeld der Initiative
Bedingungsloses Grundeinkommen, die sich hier auch präsentiert. In der oben skizzierten
Sitzung wurde diese Bedeutung des Begriffs übernommen.
Stadiongarten, 12. August 2012, linke Containerwand. Unterschriften-Bögen für die Initiative
Bedingungsloses Grundeinkommen und Schliessmechanismus gegen ungebetene Gäste.
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Auf ähnliche Weise dreht die regionale Vertragslandwirtschaft den Mechanismus von Preis
und Ware um: anstatt das Produkt wird der Betrieb finanziert. Mit dem jährlichen Beitrag der
Genossenschafter wird das Land gepachtet, die professionellen GemüsespezialistInnen
vergütet, die nötige Infrastruktur beschafft und unterhalten. Neben dem Gemüse können
Zusatzprodukte wie Pilze, Käse, Beeren oder Eier bezogen werden. Zur Unterscheidung der
Bezugsprodukte wird von Gemüse-Abo, Pilz-Abo, etc. gesprochen. Dazu Claude:
Ich: Also nochmals wegen Ortoloco. Dort brauchst du ja einen Anteilsschein und dann zahlst du noch so ein Gemüse-Abo. Claude: Nein du zahlst nicht ein Gemüse-Abo. Du zahlst einen Betriebsbeitrag. Du zahlst Saatgut und die Gärtnerinnen, die den ganzen Betrieb am Laufen halten und die ganze Infrastruktur. Das Gemüse fällt dann einfach an und man verteilt das unter die Leute. Das ist nicht dasselbe. Das ist schlussendlich nur dialektisch. Ich: Aber dann ist auch der Begriff Abo falsch. Claude: Ja das mag sein. Ja gut, oder er ist in unseren Köpfen falsch oder anders abgespeichert. (Claude im Stadiongarten, 17.05.2012, 00:37:22)
Es wird zwar der Begriff ‚Abo‘ verwendet. Anders zu einem Zeitungs-Abo beispielsweise
wird den Abonnenten aber nicht ein Produkt garantiert, sondern den Betrieb. Dadurch ist ein
Gemüseproduzent nicht vom momentanen Gemüsepreis und vom Markt abhängig, sondern
produziert nach seinen Kräften und die Konsumenten bekommen, was anfällt. Dafür können
sie mitbestimmen und mithelfen und bekommen so einen Bezug zu ihren Lebensmitteln.
Durch eine einfach Umbesetzung des Begriffs ‚Abo‘ wird hier ein ganzes Hierarchiegefüge
auf den Kopf gestellt. Oder die Umnutzung des Begriffs ‚Abo‘ ist ein Teil dieser Umkehrung
des Blickwinkels.
Der Umwertung des Begriffs ‚Abo‘ liegt ein differenziertes Verständnis von ‚Wert‘ im
Allgemeinen zu Grunde. Als Gemüseabonnent bei Ortoloco werde ich immer gefragt, was es
denn kostet und was ich für den Preis bekomme. Dann wird abgeschätzt, ob eine volle
Gemüsetasche in der Woche für einen jährlichen Gemüsebeitrag von 1100 Franken günstiger
oder teurer kommt als im Migros oder in einem Bio-Laden. Und dann muss noch die Arbeit
kalkuliert werden, die jeder Abonnent zu leisten hat. „Also fünf Halbtage pro Jahr? Wie viele
Stunden sind denn das?“ Dabei werden in einem Garten auch andere Ebenen berücksichtigt,
die sich nicht einfach in Zahlen ausdrücken lassen. Dazu sagt Nick:
75
Man kann es eigentlich gar nicht rechnen, weil die Produktionsbedingungen dieses Gemüses kannst du auf dem Markt nicht bekommen. Die vier Aspekte lokal, saisonal, bio und ohne sklavenähnliche Arbeitsbedingungen, das kannst du auf dem Markt nicht bekommen. Ausser bei irgend einem Kleinstproduzent, der gerade mal seine Freunde versorgen kann. Also das, und dann deine Zeit, also wie sinnvoll dass du sie verbringst, dass du hinausgehst mit Familie oder WG oder so, dass du dich körperlich betätigst. Also für den Tunnel [Gewächstunnel] mussten wir eine Wasserleitung verlegen, dafür mussten wir graben, das heisst einen ganzen Tag hacken und schaufeln und spaten. Das ist anstrengend und du schwitzst aber das ist auch geil. Und dann gibt es an diesen Aktionstagen immer jemanden der kocht, und das ist budgetiert, also das ist im Betriebsbeitrag drin, den du zahlst für das Abo. Das heisst wenn du an einen Aktionstag kommst, dann holst du dir etwas, das im Betriebsbeitrag drin ist. Wenn du nicht gehst, holst du dir das einfach nicht ab. Es gibt ganz viele Aspekte und die sind unzahlbar. (Nick im Atelier Fabritzke, 04.05.2012, 00:32:31)
Dem monetären Preis und der zu leistenden Arbeit steht nicht nur wöchentlich eine volle
Gemüsetasche gegenüber, sondern ein umfänglicher Bezug: Die Betätigung im Freien, die
Beteiligung an der Produktion, soziale Beziehungen, gemeinsames Essen. Es ist eine
ganzheitliche Herangehensweise und ein Angebot von Sinn. Dieses lässt sich nicht mit einem
Geldpreis beziffern.
Ähnlich stellt auch Silvia Meyer die Bedeutung von Wert zur Diskussion.
Was ist der Wert davon, selber Gemüse anzubauen. Ich hatte die Idee, das für meinen Schrebergarten zu messen: was sind meine Inputs, was sind die Outputs. Dabei kommt es darauf an, wonach man fragt, worauf man Wert legt. Wenn nur nach den Arbeitsstunden und dem Ernährungswert der Gemüse gefragt wird, dann lohnt es sich nicht. Aber wenn man andere Werte berücksichtigt, z.B. dass meine Tochter jetzt Gemüse essen will, weil sie es selber gepflanzt hat, was ist denn das Wert? Das sind Millionen Dollar wert, das kann man nicht messen. Was ist denn die Biodiversität wert? Solche Fragen sind mehr und mehr prägnant in unserer Gesellschaft. (Silvia im Pflanzlabor, 13.04.2012, 00:07:50)
Nick und Silvia stellen die einseitig mit Geld ausgedrückten Wertgebungen in Frage. Zu viele
Faktoren sind mit der Produktion von Nahrungsmittel verbunden, die nicht mitberechnet
werden können. Es sind emotionale und persönliche Bezüge, die vernachlässigt werden. Dies
führt zur Labilität von Mensch und Umwelt. Der Bezug zu den Nahrungsmitteln wird umso
76
intensiver, je mehr wir uns darum kümmern. Dies wird in den Gärten gefördert. Joana bringt
dies auf den Punkt:
Es gibt den offenen Markt, wo eine Zucchetti nichts Wert ist quasi, weil du sie dir mit zwei Minuten deiner Arbeitszeit verdienen kannst. Hier im Garten ist eine Zucchetti extrem viel Wert. Bei allem, was du aus so einem Kistchen [Pflanzkiste] rausholst, hast du eine extreme Freude und du hast noch hundert Anekdoten dazu. Es geht um die Möglichkeit, dies zu erfahren. Aber das sind alles so Mutmassungen, ich weiss auch nicht um was es den Leuten im einzelnen geht. (Joana im Stadiongarten, 30.05.2012, 00:21:43)
Es sind die Geschichten, die den Wert von den Dingen ausmachen. Indem wir Gemüse selbst
kultivieren, gibt es einen ganz anderen Bezug dazu. Blasen an den Händen vom Jäten, das
unterschiedliche Wetter auf dem Feld oder im Garten, das Bangen bei Hagelsturm, die
Erleichterung, wenn es doch nicht so schlimm war und die Freude, wenn etwas reif geerntet
werden kann.
Wert entsteht auch durch die gemeinsam erlebten Geschichten und durch deren erzählen.
Darin kommen auch die Werthaltungen zum Ausdruck. Claude beschreibt, wie er Ortoloco
wahrnimmt und wie es funktioniert:
Ortoloco ist wie ein Labor. Also wir, irgendwelche Freaks, haben wir gesagt, ja machen wir doch Holzofenbrot. Wir haben zwar keine Ahnung von Backen, wir haben keine Ahnung von Öfen, wir haben keine Ahnung wo und wir wissen nicht warum, aber komm, wir machen doch mal. Jetzt stehen da zwei Öfen, die jassen schnell am Sonntag 600 Pizzas raus [am Frühlingsfest] und die Leute sind bereit, Geld dafür zu geben. Nicht dass Geld jetzt wichtig wäre, aber das ist halt in unserer Gesellschaft immer noch ein Massstab. Und das läuft einfach, und da ist kein Stutz involviert. "Jäh, was verdient ihr denn", wird gefragt. Nein, wir machen doch einfach mal, dann ist es irgendwie cool und wenn nicht, dann lassen wir es wieder. Das ist ein Gegenkonzept, das finde ich schon. Nach dem Bigger-better-faster-more-Scheiss. (Claude im Stadiongarten, 17.05.2012, 00:31:27)
Die tradierten Begriffe werden als solche und auf spielerische Weise hinterfragt. So z.B.
Claude, als er erzählte, dass er die Rechnungen und die Buchhaltung seiner Frau überlassen
kann:
77
So Zeugs kümmert mich einfach überhaupt nicht, weil meine Frau kümmert sich um den ganzen Scheiss. Das ist Gold wert. Ähm, wenn Gold denn etwas wert wäre, aber ist ja Wurst, ist ja eine Redensart. (Claude im Stadiongarten, 17.05.2012, 00:38:26)
Ähnlich wird auch das Verständnis von ‚Garten‘ ausgedehnt. Unter Garten werden nicht nur
schön umzäunte Vor- oder Schrebergärten verstanden. Michi im Dunkelhölzli sprach immer
vom Garten und zeigt auf den 15 Aren grossen Acker. Für Pia ist auch Ortoloco ein
Gartenprojekt:
Und dann das letzte, was fast am wichtigsten ist zeitlich und emotional, das sind meine Gartenprojekte. Das eine ist Ortoloco und das andere, das jetzt neu das dazu gekommen ist, ist der Stadiongarten. (Pia im Alten Botanischen Garten, 08.05.2012, 00:27:14 )
Auch Nick spricht von Garten und meint das Feld in Dietikon:
Ich: Du spricht immer von Garten, obwohl es fast ein Landwirtschaftsbetrieb ist. Nick: Also nicht fast. Es ist ein landwirtschaftlicher Betrieb. Ich: Man sagt Garten, aber Garten ist ja auch vieldeutig. Andere stellen sich nur einen Rosengarten darunter vor, oder einen englischen Garten mit feinem Rasen und so. Nick: Also ein Garten, auch ein Gemüsegarten wird ja oft, also wird vor allem assoziiert mit Freizeitbeschäftigung. Und bei Ortoloco ist es wirklich eine Bedarfsdeckung. Also hundert Haushalte bis jetzt, und ab diesem Jahr zweihundert Haushalte werden ihren Gemüsebedarf so decken. (Nick im Atelier Fabritzke, 04.05.2012, 00:20:44)
Wobei Ortoloco ja eine alternative Wirtschaftsform darstellt, wo die Trennung von Produzent
und Konsument verschwimmt und wo Freizeit und Arbeitszeit zusammenfallen oder
verschwinden. Ortoloco produziert Gemüse zur Bedarfsdeckung. Die Tätigkeit ist je nach
Perspektive anregend oder ermüdend, entspannend oder monoton. In der Landwirtschaft
werden Leuten für diese Arbeit tiefe Löhne bezahlt. Es ist für sie Erwerbsarbeit. Der Lohn
reicht jedoch nur für einen Lebensstandard, der unter dem westeuropäischen Anspruch liegt.
Wird der ‚Arbeitsort‘ jedoch nicht als ‚Feld‘ oder ‚Acker‘ sondern als ‚Garten‘ bezeichnet,
verwandelt sich die Erwerbsarbeit in eine Freizeitbetätigung. Je nach Bezeichnung variieren
die Assoziationen für die selbe Arbeit sehr stark. Der Begriff ‚Garten‘ kommt ganz
unscheinbar daher, aber er hat politisches Potential. Wer den Garten als Lebenskonzept
78
versteht, stellt ganze Strukturen der Öffentlichkeit auf den Kopf. Dieses Potential steckt wohl
nicht zufällig auch im Sprachspiel ‚Orto-loco‘.
4.4.2 NAMENS- UND SPRACHSPIELE
„[…] oder aber man untersucht die Produktionsformen, so zum Beispiel das
Verfahren, durch das bei den Sprichwörtern […] die Eindringlichkeit des Sinns
verstärkt wird, indem die klanglichen Differenzen (durch Reim, Alliteration etc.)
abgeschwächt werden.“
(Michel de Certeau)41
Hypothese: Äusserungen jeder Art weisen auf die Kultur einer Gesellschaft oder
Sprachgemeinschaft hin. Äusserungen haben immer zwei Bezüge: einerseits rekurrieren sie
auf die Sprache, aus der sie gemacht sind, andererseits gewinnen sie ihren aktuellen Sinn erst
durch die Situation, in der sie geäussert werden. Gleichzeitig schaffen sie erst diese Situation
oder soziale Praktik.42
Mit dieser Ausgangslage kann durch die Interpretation von sprachlichem Material auf das
(Selbst-)Verständnis ihrer Produzenten geschlossen werden. Zwei bekannte Anwender dieser
Methoden sind Vladimir Propp, er sammelte und klassifizierte Volksmärchen und Fabeln,
Claude Lévi-Strauss schloss aus der Analyse von Mythen auf das Wesen ihrer Kulturen. In
derselben Weise können auch Sprichwörter und Redewendungen untersucht werden.
Es müssten dann entweder der Inhalt klassifiziert und nach Elementen wie Aktanten, Themen
und Wortfelder etc. aufgeschlüsselt werden. Oder es wird die Form fokussiert (formale
Eigenschaften: z.B. Länge, Reime, Alliterationen). Mit dem Wissen um die Form wird die
Produktionsweise erlernt und damit die Fähigkeit, selbst Sprichwörter herzustellen.43
Der Name „Ortoloco“ symbolisiert Vielfalt und Flexibilität als Ideal der Genossenschaft,
gespickt mit einer Prise Humor. Es ist ein Kompositum mit spanisch-italienischer
Doppelbedeutung. Die italienisch ist dabei die seriösere Übersetzung: orto heisst
Gemüsegarten, (in) loco (an) Ort und Stelle: orto loco ist etwas wie ein regionaler
Gemüsegarten. Ein spanischer loco ist ein Verrückter, orto hat als vulgär-poetische
Doppelbedeutung Arsch und Sonnenaufgang. Im Dokumentarfilm über Ortoloco „Eine Hand
voll Zukunft“ sagt Steffi: Die italienische Übersetzung passt trifft gut auf die Kooperative zu,
die spanische Doppeldeutigkeit nehmen sie gerne in Kauf. Leute, die etwas anders machen als
41 Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Die sprichwörtliche Äusserung, S. 60. 42 Vgl. Sprechakttheorie nach John Searle und John Austin. 43 Michel de Certeau: Kunst des Handelns. S. 60 ff.
79
der Mainstream gelten ja oft als etwas verrückt. Orto-loco ist auch deshalb als Namen
geeignet, weil sich die beiden Wortteile sehr ähnlich sind. Das Komposita erhält so einen
Klang und musikalischen Rhythmus, der es eingängig und gut merkbar macht.
Die vielen Nebenprojekte von Ortoloco haben alle ähnlich klingende Namen, die auf ihre
‚Verwandtschaft‘ verweisen: Brotoloco, Fungoloco, Beeriloco, Önoloco, etc. Ähnlichkeiten
gibt es auch auf der Stadionbrache mit dem Stadiongarten, die schnell miteinander
verwechselt werden. Ähnlich ist auch die Bezeichnung ihrer Mitglieder: bei Ortoloco sind das
Locos und Locas, beim Stadiongarten heissen sie Stagas. Die Ähnlichkeit der Namen
verbindet sie wie ein Netz, das ihre Verwandtschaft zur Schau trägt. Es entsteht ein
rhetorischer Raum, der nur betreten kann, wer diese Namen akzeptiert und sich mit ihnen
anfreunden kann. Die Sprache von Gruppen, die einen Raum als ‚anthropologischen Ort‘
definieren, kann selbst als ein ‚sozialer Ort‘ begriffen werden. Augé zitiert Vincent
Descorbes, ein Proust-Analytiker, der bei der Figur Françoise ein rhetorisches Territorium
feststellt, zu dem sich diejenigen zugehörig fühlen, die ihrer Sprache und Ausdrücke familiär
sind. Andere, die mit diesen Ausdrücken nichts anfangen können, sind von diesem
rhetorischen Ort ausgeschlossen.44
Der Stadiongarten wird also auf vielfältige Weise als Ort gestaltet. Zuerst ermöglichte das
initiative Vorgehen des Vereins Stadionbrache einen Zugang. Dann gab es das Nebenprojekt
von Ortoloco, Brotoloco. Dadurch kamen mehr Leute auf die Brache, der Ort wurde belebt,
neu Interessierte waren immer willkommen, es blieb ein offener Ort. Der Stadiongarten wurde
geplant und konnte erst mit dem Einsatz vieler Leute realisiert werden. Diese wurden durch
Flyer und Plakate auf die Infoveranstaltung aufmerksam gemacht. Eine Präsentation auf der
neuartigen Fundraising-Seite www.wemakeit.com zog weitere Kreise. Der Züritipp machte
auf den Gartenstart aufmerksam, das Schweizer Fernsehen war vor Ort, der mediale Anstupf
war riesig, der Rest war Mund-zu-Mund-Propaganda. So wurde der Garten mit vereinten
Kräften möbliert, alle waren eingeladen, sich einzubringen. Die, die sich am meisten
engagieren, prägen den Raum: durch Konstruktionen, durch Aktivitäten, durch das Anbringen
von Schriften, durch das Verhandeln von Regeln.
44 Marc Augé:Nicht-Orte. S. 80 ff.
80
4.4.3 VERHANDELN VON REGELN
„Die Erzählung geht der Rechtsprechung voraus und liegt ihr zugrunde.“
(Michel de Certeau)45
Erzählungen sind Narrative. Ohne Erzählungen wäre Gesellschaft nicht möglich, es bilden
sich keine Gruppen. Erzählungen bilden Identität und sie organisieren Gemeinschaften: sie
Verweisen auf ihre Herkunft, sie regeln die Hierarchiestruktur, sie bilden latente Regeln, nach
denen sich alle Mitglieder Ausrichten, wenn die Gruppe als solche funktionieren soll. Um
Erzählungen aufeinander abzustimmen, müssen Regeln etabliert werden, die bestimmen,
welche Erzählungen möglich und welche unmöglich sind. Soll eine Gruppe oder deren
Regelwerk verändert werden, müssen deren Geschichten verändert werden.
Bei der Installierung des Stadiongartens wurde versucht, einen Gegenraum zur
übernormierten und durchstrukturierten städtischen Öffentlichkeit zu schaffen. Eine gute
Portion Unordnung sollte möglich sein, Strukturen sollten organisch wachsen und sich den
Bedürfnissen anpassen, im Gegensatz zur Gefühlten Realität, die sich an den gegebenen
Gesetzen unterordnen muss, über die wir kein reales Mitbestimmungsrecht haben.
Geschichten im Sinne des Narrativs entwickeln sich spontan im Alltag, in der
Kommunikation von Menschen, die dadurch in den Status einer Gruppe treten. Sie
legitimieren immer die bestehenden Regeln, oder sie legen die Basis zur Bildung von neuen.
Die folgenden Transkripte sind Ausschnitte aus dem ersten Gartenworkshop im Stadiongarten
nach der Bildung des Gartenteams. Joana als ausgebildete Gärtnerin und Mitglied des
Gartenteams führt ein Grüppchen durch den Garten, um den angehenden und oder schon
aktiven GärtnerInnen Tipps zu geben und ihnen die Pflanzen vorzustellen, denen sie
begegnen. Leute aus dem Grüppchen stellen Fragen oder bringen Ideen ein, wie sie sich
organisieren könnten, dass z.B. der Kompost funktioniert, dass gegossen wird, dass die Beete
gepflegt werden, auch wenn nicht bekannt ist, wem das Beet gehört. Auch Lolo ist dabei,
selber engagierter Gärtner mit grossem Vorwissen (später sollte er selber ein Teil des
Gartenteams werden) und übernimmt die Rolle des Co-Moderators, die ihm auch
zugeschrieben wird von uns weniger fachkundigen Leuten. Hier geht es gerade um
Nutzpflanzen und Unkräuter. Lolo ist gegen eine solche Hierarchisierung.
45 Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Berichte von Räumen. Grenzziehungen. S. 232.
81
Lolo: Aber ich denke, es geht ja auch nicht darum, rigoros irgend ein Beikraut, ich sage bewusst Beikraut, auszurotten. Es ist ja schön wenn immer wieder mal etwas wächst, und man kann sie ja einfach ein bisschen regulieren, die Population. (Gartenführung, 03.06.2012, 02:26:20)
Joana pflichtet ihm bei, wendet aber ein, dass wir im Garten nur einen beschränkten Raum
haben. Deshalb können wir nicht alles pflanzen was es gibt, sondern müssen uns beschränken.
Joanas Kommentar zu einem Beet: Das ist ein Beet, das ich schon zweimal gejättet habe und das immer so krass aussieht, das ist für mich ein Kandidat zum Freigeben. Ich <murmelnd>: das gehört Andrea. <Alle durcheinander> ah das gehört Andrea, ah d'Andrea, Andrea. Aber die ist immer da. Die Andrea ist doch immer da. Aber man könnte ihr mal sagen, du, übrigens, es hat eine Kritik gegeben. <lachen> (Gartenführung, 03.06.2012, 02:35:52)
Es gibt keine Regel, wie gut ein Beet gepflegt werden muss. Im Prinzip sollte es allen
freistehen, selbst über die Ordnung in ihrem Beet zu befinden. Die einzige Bedingung ist, dass
sich die Person anwesend ist, sich darum kümmert. Wenn festgestellt wird, dass es sich um
ein verwaistes Beet handelt, wird es anderen interessierten weitergegeben. Die obige Szene
sollte noch weitreichende Folgen haben, die ich im folgenden Kapitel beschreiben möchte.
Andrea wird nämlich von dieser Kritik erfahren und darauf reagieren. Auch dazu gibt es keine
Regel: wie soll einen Kommentar über seine Gartenkiste bewertet werden? Andrea wählte die
Konfrontation: einige Tage später wird sie Joana in einem den Verhältnissen unangepassten
Ton zur Rede stellen. Sie und ihre Freunde hätten keinen Kommentar nötig, Joana solle sich
um ihr eigenes Beet kümmern. Dieses Scharmützel kann als Hierarchiebehauptung in der
Gruppe gedeutet werden.
Zurück zur Gartenführung. Wir stehen immer noch am Rande der Pflanzkiste von Andrea und
begutachten die Vegetation. Lolo besteht auf seiner Meinung, dass alle Pflanzen gleiches
Recht auf Leben haben.
Lolo: Das ist jetzt da ein problematisches Beikraut. Aber ich finde das müssen wir ein bisschen differenzieren. Wenn es unordentlich aussieht, heisst das für mich: 'in unserem Sinn unordentlich', nicht für die Natur. ‚Unordentlich‘ heisst ja nicht, dass es nicht gepflegt ist. Das finde ich einen heiklen Punkt. Joana: Also ich sehe einfach nicht, dass da jemand etwas getan hat an dieser Kiste in den letzten Monaten. (Gartenführung, 3.06.2012, 02:36:16)
82
Es wird sich die Haltung durchsetzen, dass die Pflanzenpopulation frei gewählt und auch nach
eigenem Gutdünken gepflegt werden darf. Dass man sich darum kümmert, ist jedoch Pflicht.
Ein Vorschlag aus der Runde:
Jeder, der Verantwortung für ein Beet übernimmt, sollte dort seine Telefonnummer lassen. Oder wäre dann zu viel preisgegeben? Oder die Emailadresse, dann könnte man schnell kontaktieren. Das wäre weniger Aufwand. Und wenn jemand in zwei Wochen nicht kontaktierbar ist, dann wäre das Beet freigegeben. (Gartenführung, 03.06.2012, 02:16:06)
Damit möglichst wenig Administration anfällt und das Gärtnern auf der Brache möglichst
ungezwungen bleibt, wird sich ein Fähnchensystem etablieren. Auf der Info-Wand
festgeschrieben: Fähnchen werden in scheinbar ungepflegte Beete gesteckt. Werden diese
nicht in einem bestimmten Zeitraum zurückgebracht, wird das Beet weitergegeben.
Die in dieser Situation entstandenen Geschichten werden auf ihre Akzeptanz geprüft. Ein
Saatplan-Regime kann sich nicht durchsetzen. Die Anwesenheit und Sorge um sein Beet wird
jedoch zur Regel und mit dem Fähnchensystem gewissermassen institutionalisiert. Nicht alle
Regeln durchlaufen die Metamorphose von der Geschichte zum Gesetz. Der Aufwand dazu
wäre zu gross. Einige werden direkt umgesetzt und diktiert, wie folgendes Beispiel zeigt.
Donnerstag, 21. Juni
Auf der Brache: Sabine (eine der Köchinnen vom 3. Juni)
scheint deprimiert. Sie findet ihr Regal samt den
gepünktelten Gummistiefeln nicht mehr, die sie neben ihrem
Beet aufgestellt hatte. Später stellte sich heraus, dass
Esther es auf den Material-Haufen tat. Dem Sinn nach sagte
sie: „Die Brache ist ein öffentlicher Raum, wo die Dinge
je nach Gebrauch verschoben werden dürfen, wo es keinen
‚Besitz‘ gibt. Diese Spielregeln müssen die Leute
akzeptieren, die mitmachen wollen.“
Sabine habe ich dort zum letzten Mal gesehen. Vielleicht weil sie diese Regeln nicht
annehmen wollte.
83
4.5 DAS NARRATIV
„Das erzählte Reale diktiert unaufhörlich, was geglaubt und gemacht werden muss. Und
was kann man den Fakten schon entgegensetzen? Man kann sich ihnen nur beugen und
dem gehorchen, was sie ‚bedeuten‘, wie das Orakel in Delphi.“
(Michel de Certeau)46
Narrative sind Geschichten. Sie werden von den Medien transportiert oder zwischen
Menschen weitererzählt. Die Sprachdeutungen oben sind in Narrative verpackt. Diese Arbeit
nährt sich aus unterschiedlichen Theorien und Ansätzen. Als ganzes produziert sie ein eigenes
Narrativ.47
Der Begriff verweist auf den Inhalt einer Geschichte, aber auch auf die Form.
Reportagen und Berichte in Zeitung, Radio und Fernsehen sind Narrative. Wissenschaftliche
Arbeiten als Ganzes, aber auch spezifische Textsorten oder Unterkapitel sind Narrative, so
z.B. die Auszüge aus dem Arbeitsjournal, die Interview-Zitate oder die Fotos. Auf inhaltlicher
Ebene sind die verschiedenen kulturwissenschaftlichen Ansätze, die jeder für sich als Narrativ
gelten kann, der anthropologische Ort, der Nicht-Ort, das Heterotop und das Narrativ selbst
als Konzept sind Narrative. So ist auch das Bild des Rhizoms eines, das das Wesen von
Narrativen bezeichnet: sie wuchern und breiten sich entlang von Strömungen in der
Gesellschaft aus.
Das von mir definierte Feld, die urbanen Gärten in Zürich, ist ein konstruierter Ort. Die
Analysen dieses Feldes sind Geschichten. Diese produzieren Sinn und nicht beweisbare
Wahrheit. Wenn uns bestimmte Geschichten ansprechen, machen sie für uns Sinn. Häufig
werden Geschichten als unwiderlegbare Fakten präsentiert. Dann haben sie einen Anspruch
auf Wahrheit und werden nicht hinterfragt, bis die Beweise widerlegt werden. Solche
Narrative haben beeinflussen unsere Sicht der Welt und unser Alltagshandeln. Der Begriff
und das Phänomen Urban Farming ist ein Narrativ, das seine Traditionen amalgamiert und
reproduziert. Die Motivationen, Urban Farming zu betreiben werden aus Narrativen genährt,
so z.B. die Sorge um die Gesundheit, die Klimaerwärmung oder die Wirtschaft, die für
soziale, ökologische und ökonomische Missstände verantwortlich gemacht wird.
Narrative sind also entweder die physische Botschaft („The medium ist the message“), ein
Überthema wie die globale Erwärmung, oder ein Begriffsfeld wie Urban Farming.
46 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns. Politische Glaubwürdigkeit. Die Instituierung des Realen. S. 328. 47 Zum Begriff vgl. Einführung Kapitel 4., S. 36.
84
Narrative reichen um die ganze Welt und wandern entlang der ‚Globalisierungsrouten‘
(historischer Sklavenhandel, moderner Menschenhandel, Landflucht in Städte und Megacities,
Alternativ-Tourismus in Kuba für westdeutsche Globetrotter aus dem Prinzessinnengarten48
).
Eine These von Christa Müller für das Aufkommen von Urban Farming ist die weltweite
Bewegung vom Land in die Stadt49
: die Menschen geben ihre landwirtschaftliche
Lebensweise auf, ziehen in die Städte, behalten aber ihren Habitus bei. Daher die
Verschmelzung vom ländlichem Habitus und urbanem Umfeld und die Verschiebung
unterschiedlicher Narrative.
So wie in den Betrachtungen zum Ort und der Sprache gründet auch das Narrativ auf dem
linguistischen Konzept des Speech Act, das Sprache und Alltagshandeln von Menschen
verbindet. Für jede Äusserung bedient sich der/die Sprechende dem zu Verfügung stehenden
Sprachsystem und formuliert damit Aussagen über die Welt. Diese Aussagen werden
Wahrgenommen, können gespeichert und analysiert werden.50
Äquivalent ist jede Handlung eine Formulierung des zugrunde liegenden kulturellen Systems
und vollzieht sich im Raum. Dadurch entsteht durch das Handeln von Personen ein kultureller
Text im Raum, dessen Spuren Aufschluss über die Faktoren der Motivation und der Art des
Handelns geben. Die Regeln, nach denen solche Spuren gelegt werden, sind diffus. Jeder
Akteur und Produzent von Spuren richtet sich nach verinnerlichten oder auferlegten Normen.
Diese leiten ihn an, lassen ihn so und nicht anders handeln. Diese Regeln legt er sich fest in
Interaktion mit seinem Mitmenschen und durch Interpretation seiner Umwelt.
Äusserungen und interpretierbare Handlungen, die von anderen Akteuren rezipiert, gedeutet
und in irgend einer Form übernommen werden, sind Narrative. Ein Narrativ vollzieht sich in
jeder Kommunikation, verbal und nichtverbal.
Implizite Narrative bezeichne ich Handlungsmuster, die sich nicht als Handlungsanleitungen
zu erkennen geben oder sich bewusst oder unbewusst hinter absichtslosen Äusserungen
verstecken. So z.B. spontanes, alltägliches Sprechen, situative Reaktionen, etc. Explizit
bezeichne ich Narrative, wenn sie durch ihre Realisierung etwas mitteilen. In Mitteilungen
48
These von Christa Müller: Die Macher vom Prinzessinnengarten waren fasziniert von der Alltäglichkeit der
Urban Farmings in Kuba und setzten dieselbe Idee in Berlin um. Der Prinzessinnengarten entstand im Sommer
2009 und ging medial um die ganze Welt. Und löste zumindest in Europa die Urban-Farming-Bewegung aus:
Leute hörten davon, sie lasen davon, es wurde ihnen davon erzählt. Diese Geschichten sind Narrative. 49 Christa Müller: Urban Gardening. Grüne Signaturen neuer urbaner Zivilisation. S. 22. 50 Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Strategien und Taktiken, S. 85.
85
oder Geschichten sind leitende Normen und Weltsicht des Produzenten inhärent. Medien
produzieren und reproduzieren Narrative und multiplizieren deren Aufmerksamkeitsradius.
Die Gesetzgebung produziert Narrative. Werbung produziert Narrative. Sprechende Menschen
produzieren Narrative und Transkrpite reproduzieren diese Narrative. Texte produzieren
Narrative. Und Narrative können als Text gelesen werden. Die Gesamtheit aller Narrative, die
ein Mensch aufnimmt, bilden den Text, der als Hintergrundfolie die Handlungs- und
Entscheidungsmöglichkeiten für den Alltag bereitstellt. Die Texte verschiedener Menschen
unterscheiden sich alle, sind sich aber auch alle ähnlich. Die Gesamtheit der individuellen
Texte bildet einen Meta-Text. Dieser Text ist das „selbstgesponnene Bedeutungsgewebe, in
das der Mensch verstrickt ist“ und könnte das Wesen der ‚Kultur‘ bedeuten.
Narrative werden dann signifikant, wenn sie von mehreren Personen, unabhängig
voneinander, geäussert werden. Die Bedeutung von ‚Wert‘ war ein Thema, das viele
erwähnten.51
Ein anderes war die Bedeutung von ‚Garten‘. Das am häufigsten angesprochene
Thema waren die Kinder. Ich liste hier die Zitate in chronologischer Reihenfolge auf. Es
ergaben sich erst vier Auszüge aus dem Forschertagebuch, dann vier Interview-Zitate, die alle
das ‚Kind‘ zum Thema hatten.
Mittwoch, 28. November 2011
Besuche Katja auf der Kronenwiese. Wir schauten, ob es auf
der Brache [Kronenwiese] genügend Platz gäbe. Es gibt zwar
noch lehrstehende Ecken, aber die sind verplant für
Kompost und Asthaufen im einen Ecken und für ein
Weidenhaus im anderen. Ein Bienenhaus hätte nur noch
gedrängt Platz und Katja rät davon ab: bei all den
Kindern.
Sonntag, 25. März 2012
Mit Claude am Diskutieren wegen dem Kletterwürfel. Er
wendet ein, dass es aufwändig wäre, einen Boulderwürfel zu
bauen, und dass der Stadionverein möglichst viel Fläche
Brach lassen will. Für die Kinder, wie Esther vom
Kraftwerk und Verein betont.
Apropos Kinder, auch Martina in ihrem Antwortmail von
heute zu meiner Frage wegen einer frei zugänglichen
Fotoseite auf der Homepage befürchtete, dass dann zu viele
Fotos mit erkennbaren Gesichter veröffentlicht würde, das
sei problematisch („Ich finde ein öffentlicher Upload von
Fotos problematisch, weil Fotos mit gut erkennbaren
Personen (und Kindern!) grundsätzlich eher nicht auf's Web
51 Vgl. Kaptiel 4.4.1. Umdeutungen, S. 67.
86
gehören.“) Lustig fand ich das Kinder! mit Ausrufezeichen.
Fotos im Netz können problematisch sein, aber warum sollen
Kinder eher geschützt werden als Nicht-Kinder?
Freitag, 27. April 2012
Gestern auf der Brache. Diskussion mit Esther über die
Ordnung auf der Brache. Die Scherben seien gefährlich für
die Kinder. Ich erwidere, auch die Kinder müssen lernen,
die Welt ist kein Sicherheitstrakt. Und Unordnung darf
doch auch mal sein, (gerade in diesem sonst so proper
aufgeräumten Zürich. Das sagte ich nicht, aber das meinte
ich.) Sie: Unordnung lädt ein zu noch mehr Unordnung und
die Kinder hätten doch einen Anspruch auf Ordnung.
Donnerstag, 10. Mai 2012
Gespräch mit Andrea im Stadiongarten. Ich frage, wie sie
den Garten fände: Am Anfang war sie skeptisch, weil alles
zu chaotisch. Es hat sich aber gut entwickelt, mag die
verschiedenen Projekte und alles blüht, die Brache ist wie
eine Oase, ein kleines Paradies im Erholungsraum bis zum
Kloster Fahr, erlebte meditative Momente, schätzt das
Glück vom Ort. Mag die Mischung halbwild und kultiviert,
es wird nicht randaliert oder geklaut, stampfte Lehm,
erlebte vieles, es ist wie in ihrer Kindheit. Fühlt sich
als Teil des Ganzen neben all den anderen Wesen, Leuten,
Pflanzen.
Aus den obigen Tagebuch-Einträgen lässt sich der Topos Kind so zusammenfassen: Die
Kindheit als heile Welt. Die Kinder mit Recht auf Ordnung. Kinder müssen geschützt werden
vor Scherben, Bienen und frei im Internet zirkulierenden Fotos. Der Garten soll ein Refugium
für die Kinder sein, wo alles eins ist, wo es keine Bienenstiche gibt, keine herumliegenden
Scherben, wo alles in Ordnung ist.
In den Zitaten erzählt Claude den ‚Gründungsmythos‘ der Stadionbrache: die Kinder sind der
eigentliche Grund, warum die Stadionbrache geöffnet wurde, d.h. sie stehen am Anfang von
all den Projekten auf der Brache. Joana begründet den Zweck vom Gärtnern im Stadiongarten
mit der Wahrnehmung der Natur und des Lebens („zu sehen wie etwas wächst“) und dies
Kindern zu zeigen. Christoph Widmer assoziiert mit der Kindheit Natur und heile Welt. Im
letzten Zitat wartet Silvia vom Laborgarten bis ihre Kinder weg sind, bevor sie einen Seufzer
ausstösst und ihre hoffnungslose Prognose stellt: die Kinder sollen von der Wahrheit
verschont werden.
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Sie ist mit ihren Kindern hier vorbeigelaufen, die Securitas bewachte das Gelände blablabla, "kein Zutritt" papipapo, und die Kinder haben immer gefragt, "warum dörfet mir nöd da ie?", völlig bescheuert, ich meine da isch en uhuere ruum […] Und sie hat nach dem fünften Mal Fragen ihrer Kinder sich auch gefragt: ja, eigentlich, warum dürfen wir hier nicht rein? Ist ja völlig bescheuert und hat dann bei der Stadt gefragt, warum dürfen wir hier nicht rein. Und die hat dann gesagt, ja, was, gut, ihr dürft hier schon rein, oder. So hat das angefangen. (Claude im Stadiongarten, 17.05.2012, 00:11:04)
Der Fokus ist darauf gerichtet, zu sehen, wie etwas wächst, dies zu erfahren und den Kindern zu zeigen. Und Garten als Erholungsraum. Um Produktion gehe es überhaupt nicht. Es verkehrt sich im Vergleich zu Ortoloco. (Joana im Stadiongarten, 30.05.2012, 00:20:57)
…dass wir das unterstützen wollen, weil wir das Gefühl haben, es ist ja genau wieder das, dass Leute einen Zugang haben, um in der Natur etwas zu tun und sicher auch etwas erleben. Und zwar nicht irgendwo in der Natur im Bündnerland, wie ich das als Kind hatte. […] Schön ist es, wenn das auch in den Alltag integrieren kannst. Gerade mit den Kindern, am Mittwochnachmittag fünf Minuten laufen und dann das machen. (Christoph Widmer, Beatenplatz 2, 13.06.2012, 00:10:50)
Also ehrlich gesagt, also gut, die Teenies sind jetzt gegangen, ich sage das nicht vor den Jugendlichen. Aber, [seufzt], es ist eigentlich so, es gibt wenig Hoffnung. (Silvia im Pflanzlabor, 29.04.2012, 00:16:59)
In den Gesprächen gab es neben der Erwähnung vom selben Thema oder von der Umdeutung
bestimmter Begriffe auch eine parallele Erzählweise in der Motivation bzw. zu den
persönlichen Anfängen bei Ortoloco oder in der Fabritzke. Auffallend dabei ist, dass es oft
äussere Kräfte waren, die die Protagonisten zum Handeln bewegte, und nicht innere
Überzeugung. Die kam erst später. Joana sieht viermal das Ortoloco-Inserat, bis es kein Zufall
mehr sein kann, und bewirbt sich dann als Gemüsegärtnerin:
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Ich habe das Inserat gesehen im Bio-Aktuell und ich dachte schön, aber dort müsste man länger bleiben als ein Jahr, sonst würde es sich gar nicht lohnen. Und dann sah ich das Inserat im A-Bulletin das Inserat und dann sah ich es nochmals im Bio-Terra. Die haben ganz breit Inserate gemacht und dann habe ich es zum vierten Mal gelesen und gefunden: jetzt ist es langsam kein Zufall mehr, jetzt muss ich mich melden. Und es hat dann wirklich mein Profil und ihr Profil ziemlich perfekt zusammengepasst. Liebe auf den ersten Blick. (Joana, 30. Mai 2012, 00:05:10)
Nick wird drei Mal angefragt, ob er nicht in die Fabritzke ziehen würde, bis er zusagte, mit
der Option wieder zu gehen, wenn es nicht passen würde.
Nick: Ich kannte Leute die da wohnten, und die haben mich dreimal angefragt <lacht> ob ich kommen wollte. Das war nicht, weil sie mich unbedingt wollten, sondern einfach immer wenn es einen Platz gab, bin ich angefragt worden, und ich sagte zweimal nein. Aber mein Nein war relativ knapp, weil ich fand die Fabritzke immer irgendwie interessant und attraktiv. Beim dritten Mal war es ein Ja, auch relativ knapp. Also verändert hat sich nicht viel beim dritten Entscheid, ausser die Konsequenzen, die waren natürlich relativ stark <lacht>. (Nick im Atelier Fabritzke, 04.05.2012, 00:06:09)
Auch Pia fand sie diese Wohnform eher kurios, aber sagte dann zu, dort zu wohnen, mit der
Option wieder zu gehen.
Thomas ging auf reisen und sein Zimmer wurde frei. Und ich musste raus und fand, ich war ja mal an einer Party dort und dachte, die spinnen völlig, ich könnte dort nie wohnen und so, aber mich hat es irgendwie noch fasziniert, und ich habe wie gedacht, hey easy, ich probiere es mal aus, sonst kann ich ja wieder gehen. Und jetzt bin ich hängen geblieben. (Pia im Alten Botanischen Garten, 8.05.2012, 00:30:39)
Claude betont, dass es sich einfach so ergeben hat, dass er und seine Frau auf Ortoloco
aufmerksam wurden:
Das war ein totaler Zufall. Meine Frau, Jeanine, und ich haben schon länger von einem Schrebergarten gesprochen, ist halt das, was man so im Kopf hat. Im Zeitpunkt [eine Zeitschrift] war die Annonce für die Gründung des Vereins Neustart Schweiz. Jeanine ging dahin. Im Zug lernte sie Nick kennen, der auch bei der Neustart-Schweiz-Gründung dabei war. Sie sprachen über Gemüse und am nächsten Tag meldeten sie sich bei Ortoloco an, obwohl das vorhin gar nicht seine Ecke war. (Claude im Stadiongarten, 17.05.2012, 00:04:09)
89
Auf einer weiteren Ebene kann neben den Geschichten zu den Anfängen auch eine ähnliche
Haltung oder eine Klassifizierung der Projekte und der Gärten festgestellt werden. Und zwar
vereinigen sie verschiedene Lebensaspekte in einem. Pia tut verschiedene Dinge in ihrem
Leben, Studium, Bergwaldprojekte, Gärten. Es verbindet sich alles recht gut, Arbeit, Freunde,
und Natur.
Ich mache recht viel verschiedenes. Einerseits studiere ich in Wädenswil Umweltingenieurwesen und ich arbeite im Bergwaldprojekt, aber nur saisonal, also von April bis Oktober verteilt. Und das letzte, wahrscheinlich das wichtigste zeitlich und auch emotional, das sind meine Gartenprojekte. Das eine ist Ortoloco und das neue ist der Stadiongarten. Es ist so das, was ich als meine Tätigkeiten bezeichnen würde. Und es ist auch nicht nur Arbeit. Ich habe bei diesen Tätigkeiten auch meine Freunde und ich bin draussen und alles. Es ist alles ein bisschen eins. (Pia im Alten Botanischen Garten, 08.05.2012, 00:26:45)
Andrea, eine der aktivsten Gärteninnen im Stadiongarten spürt den Garten ganz intensiv. Die
Verbundenheit der Pflanzen und Vögel und der Projekte. Darin geht sie auf und wird ein Teil
vom Ganzen, was auch immer das genau heissen mag.
Als ich das Projekt aufbauen half war ich skeptisch, weil alles so chaotisch war. Es hat sich aber alles besser entwickelt. Gestern bin ich hier auf der Bank gesessen und hatte das Gefühl, jetzt wo alles rundherum grünt und blüht, wie in einer kleinen Oase. Es duftete, die Vögel zwitscherten, wirklich schön. Ich habe einfach die Augen geschlossen und gedacht, so muss in etwa das Paradies sein. Es war eine halbe Meditation. Und ich finde das auch jetzt. Wir sagten es vorhin beim Ofen: wir haben schon ein riesen Glück, was wir hier haben. Es ist so eine Oase, die halb wild ist und halb kultiviert und diese Projekte. Ich habe zum ersten Mal Lehm gestampft für den Ofen, vieles hat mich an meine Kindheit erinnert, an diese Bauernhof-Ferien, habe wieder vieles draussen erlebt und vieles wieder gespürt. Das ist einfach ein Gefühl, das unbeschreiblich ist. Du bist ein Teil vom Ganzen. (Andrea im Stadiongarten, 10.05.2012, 00:31:42)
Es spielt ein Element mit, das nicht erklärt werden kann und dieses wird auch
wahrgenommen. So sagte Pia über das Labitzke-Areal und die Sitzungen von Ortoloco:
90
Ja das ist lustig, wie so alles zusammenspielt. Und obwohl wir nicht so genau begreifen, wissen wir doch, um was es geht und was es ausmacht, und das muss man gut pflegen, diese Kultur, dass diese nicht verloren geht. Ein kleines Ding ist, dass wir kochen und essen vor der Sitzung. Und dann hat man gegessen und ist gemütlich angekommen und dann gibts es schon auch mal eine fünf-sechs stündige Sitzung je nach dem. (...) Das haben wir nicht so geplant, sondern das hat sich einfach so ergeben. Weil eh alle essen müssen am Abend hat jemand gekocht und wir dachten gut, das müssen wir beibehalten. (Pia im Alten Botanischen Garten, 08.05.2012, 00:41:5)
Und Claude bringt es auf den Punkt:
Das Geile an Ortoloco finde ich wirklich, dass alles so zusammenkommt. Das Soziale, du hast gute Leute. Du hast geiles Gemüse, gute Büetz. Musst nicht, kannst aber immer. Was willst du noch mehr. (Claude im Stadiongarten, 17.05.2012, 00:30:55)
Obige Zitate können unter folgenden Narrativen zusammengefasst werden: Kinder, Zufall und
Alles ist eins. Diesen drei gemeinsam ist, dass sie über sich selbst hinausweisen. Der Sinn
produziert sich selbst und liegt nicht in der Verantwortung der Protagonisten.
4.5.1 NARRATIVE IN DER PRESSE
Urban Farming ist für die Presse ein interessantes Thema. Es ist ein Grundbedürfnis des
Menschen, Kontakt mit der Natur zu haben. Die Etablierung des Gärtnerns in städtischem
Umfeld bildet eine Alternative zum Herkömmlichen. Es ist eine Akkumulation von Krisen auf
allen Ebenen feststellbar: Wirtschaft, Klima und Manifestation sozialer Ungleichheiten. Auf
all diese Probleme scheint Urban Farming eine Lösung zu bieten
Als Beispiel hier eine Zusammenfassung eines Artikels über Urban Farming in Detroit, der
vom Niedergang der Auto-Industrie gezeichneten Grossstadt:52
Der Niedergang der amerikanischen Autoindustrie liess in den letzten Jahrzenten die
Bevölkerung von Detroit, dem Herzen der fordistischen Produktion, 900‘000 Einwohner
abwandern, das ist mehr als die Hälfte. Dem entsprechend stehen ganze Stadtgebiete brach,
Industrieruine reiht sich an Industrieruine, die Lebensmittelversorgung ist auf ein Minimum
reduziert, Arbeitslosigkeit und Kriminalität erreichen Höchstwerte. Ein fruchtbarer Boden für
Experimente mit alternativer Lebensmittelversorgung. Hier entsteht ein Mekka des Urban
Farming. Allerdings ist dieses aus der schieren Hungersnot entstanden. Prozentual gesehen
52 Vgl. „Es grünt im amerikanischen Rust-Belt“, NZZ 06.01.2012.
91
sind es nur wenige, die vom selbstorganisierten Gemüseanbau leben könnten. Immerhin
könnten laut einer Schätzung 20 Prozent der notwendigen Lebensmittel in der Stadt selbst
produziert werden, was an die 4700 Arbeitsplätze schaffen würde.
Das Fressen kommt nicht vor der Moral, sondern das Fressen schafft die Moral. Die sonst
neben der „fairen, sauberen und guten“ Produktion hochgehaltenen positiven Nebeneffekte
von Gemeinschaftsgärten, die Subsistenz, ist nicht Ziel, sondern geht mit ihr einher. So
geschah es auch in Kuba.53
Von solchen Modellen unterscheiden sich die Zürcher Gärten klar.
Hier sind die Effekte der Subsistenz oder die politische Botschaft im Zentrum. Hier ist Urban
Farming ein Hobby oder Lifestyle, dort ist es Lebensnotwenigkeit. Dies stelle ich im
Gespräch mit Nick fest. Er relativiert oder hinterfragt aber auch diesen Begriff.
Es ist eine Mode ja, wir können es uns leisten, Gemüse zu günstigen Preisen zu kaufen, für welches andere zu billigem Lohn arbeiten. Dies ist ein Luxus in Form von Machtverhältnissen, die wir ausnutzen. Es würde uns gut anstehen, wir würden auf diesen Luxus verzichten. Also ist es zwar keine materielle Notwendigkeit, aber eine ethische Notwendigkeit, besonders auch weil die Schweiz einen ökologischen Fussabdruck von zweieinhalb Erden hat. Da müssen wir runterkommen, das ist keine Frage. Um so schöner, wenn dann so ein Bewusstsein und ein entsprechendes Handeln zu einem Lifestyle wird. (Nick im Atelier Fabritzke, 04.05.2012, 00:37:19)
Es sind nicht nur solche Grossnarrative ohne Alltagsbezug, die dank ihrem Unterhaltungswert
ihren Platz in den Medien finden. Gerade in den Wellen der Unsicherheit, ausgelöst durch die
Wirtschaftskrise, erschien 2009 ein Artikel in der WoZ zum 30-Jahr Jubiläum von Les
Jardins de Cocagne, einem Westschweizer Projekt für urbane Vertragslandwirtschaft.54
Dieser inspirierte Leute, die gerade über Alternativen zur gängigen Wirtschaftsform
nachdachten.55
So wurde Ortoloco gegründet. Das Narrativ der Vertragslandwirtschaft wurde
über die Medien transportiert und fand eine direkte Fortsetzung. Das Rhizom breitete sich aus.
4.5.2 NARRATIVE IN DER POPULÄREN LITERATUR
Wie eben gezeigt, profitieren die Medien von dieser Bewegung, die Stoff für Berichte liefert.
Diese Themen werden dadurch popularisiert und die Öffentlichkeit wird auf solche Themen,
die je nach Darstellung als Probleme oder einfach als Geschichten dargestellt werden,
sensibilisiert.In kürzester Zeit fand die Ökobewegung den Weg fort vom Bio-Hof und einigen
53 Vgl. Kap. 5.2. Die Herkunft von Urban Farming, S. 90. 54 Vgl. „Vertragslandwirtschaft. Ein kleines Stück Antwort auf die grossen Fragen“, WoZ, 14.05.2009. 55 Vgl. Beiträge von Nick und Pia, S. 17.
92
grünen Freaks hin auf die öffentlichen Plätze der Stadt, in die Lebensmittelregale von
Grossverteilern, in Anlagestrategien von Banken, in die Politik, etc.
Auch die populäre Literatur bedient sich dieses Trends und vermarktet Bücher zum Thema als
Ratgeber. Diese Narrative verhalten sich nach einem gängigen Muster: es sind eigentliche
Glaubensbücher. „Das Unheil braut sich jetzt zusammen, die Eskalation ist in nächster Zeit zu
erwarten.“ Verantwortlich dafür sind die Menschen und ihr Fehlverhalten. Diese Literatur
deckt die Fakten und deren Zustandekommen auf und weist den Weg für eine
lebensfreundlichere Welt. Die Natur, die Mitmenschen, und die Zukunft sollen respektiert
werden, so kommt es „wieder“ zu einem Gleichgewicht. Paradiesische Zustände auf Erden
wären möglich. Ähnlich sind die Narrative der ProtagonistInnen in den Gärten aufgebaut.56
GärtnerInnen erwähnten in letzter Zeit erschienene Bücher über den ‚Ausstieg aus dem
System‘, die ‚Klimaerwärmung‘ oder die schädlichen Auswirkungen der
Lebensmittelindustrie.57
Diese zielen auf einen Ausstieg aus dem gegebenen System und eine
Veränderung unserer Lebensweise, da diese die Erde und damit die Menschheit bedrohe. Es
sägt den Ast ab, auf welchem wir alle sitzen. Wer ‚wir‘ alle sind: System-Treue und
Alternative, Konservative und Progressive, Wirtschaftsliberale und Libertäre, Grüne und
Patrioten. ‚Wir‘ leben in ‚hochentwickelten‘ Ländern oder in ‚unterentwickelte‘ Ländern im
Süden oder im Westen. ‚Wir‘ sind Halsabschneider und Samariter, Unruhestifter und
Heilsversprecher, Sozialisten, Terroristen, Kapitalisten, Fundamentalisten,
Durchschnittsbürger, Ureinwohner und Intellektuelle. Staatsoberhäupter und Staatsdiener,
Strassenwischer und Rolls-Royce-Besitzer. ‚Wir‘ sind Kanalratten, Pekinesen,
Grossmaulfrösche und Leguane, Kolibris, Ameisenbären, Stangenbohnen, Rosenstöcke,
Urwaldriesen und Finnlandbirken. FeministInnen und Männerbeauftragte. Pommes-Frites-
Esser und Stallburschen. Verlagsleiter, Sozialarbeiter, Alkoholiker und Body-Builder. Der
Ast, auf dem ‚wir‘ sitzen, ist das „Raumschiff Erde“, wo wir uns grösstenteils egal sind und
uns aneinander vorbei arrangieren, wo es aber auch grosse Zusammenstösse gibt und Kriege
uns bedrohen, Hunger und Armut herrschen aber auch Reichtum, Übergewicht, Dekadenz und
Innovation, Vorurteile und Akzeptanz.
Diese Liste ist noch zu erweitern.
56 Vgl. Norbert Bolz: Das Wissen der Religion. 57 Vgl. Literaturverzeichnis, S. 104.
93
5 TRADITIONSLINIEN
Urban Farming ist ein globales Phänomen. Stadtgärten gibt es, seit es Städte gibt. Zu den um
1900 konstruierten Arbeitssiedlungen gehörte zu jeder Wohneinheit ein kleiner Vorgarten, die
den Anbau von frischem Gemüse ermöglichte.58
Zu den ideologischen Absichten der
Kleingärten Anfangs des 20. Jahrhunderts mehr in Kapitel 5.1.
Während des Zweitens Weltkrieges wurde in der Schweiz mit dem Plan Wahlen die
Anbaufläche für Gemüse und Kartoffeln von 183‘000 auf 352‘000 Hektaren fast verdoppelt.
Viele Brachen und selbst prominente städtische Orte wie die Züricher Sechseläutenwiese
wurden zu Äcker umfunktioniert.59
Im Wirtschaftsboom der Folgejahre und der Etablierung
der Massenproduktion wurde kaum mehr selber angebaut. Im Supermarkt gab es neben
Konserven und Haushaltsartikel auch Frischgemüse zu kaufen. Begonien und Geranien
ersetzten Karotten und Kohlrabi im Vorgarten. Die liberale Marktwirtschaft des Westens
musste sich gegen die sozialistische Ideologie behaupten, es ging um die Erhaltung der
Freiheit. Arbeitsteilung, technische Entwicklung und stetiges Wachstum galten als
nichthinterfragbare Grundkonstanten der Marktwirtschaft. Das Ende der Sowjetunion bildete
der Anfang vom Ende diese Konstanten. Denn eine direkte Folge war die Ernährungskrise in
Kuba, ein Satellitenstaat der UDSSR, welcher massiv mit Geld und Rohöl unterstützt wurde.
Dies ist ein Beispiel, das in Kapitel 5.2. beschrieben wird.
Im Gespräch über Urban Farming bemerken Leute oft, dass es sich dabei ja nicht um ein
neues Phänomen handle. Schrebergärten gebe es doch schon immer, Leute die ihren Balkon
bepflanzen auch. Dass in der Stadt Esswaren produziert werden können, wisse man seit der
Anbauschlacht in Zürich während dem Zweiten Weltkrieg. Was also ist das spezifisch neue
am Urban Farming, das sei doch nur ein Medienhype, etc. Sie erzählen dann, was sie vom
Phänomen kennen: die Gärten auf den Dächern von New York, ja genau, das Roof-Top-
Farming. Oder das Vertical Gardening, mit dessen Konstruktionen Tomaten in der Wohnung
gezogen werden könnten. Dann sind sie meistens mit ihrem Latein an ihrem Ende.
Mit Christa Müller versuche ich dann zu erklären, dass die Kulturen von Urban Farming sich
in verschiedenen Punkten vom herkömmlichen Stadtgärtnern unterscheiden. Punkte, die
58 Daniel Kurz: Die Disziplinierung der Stadt. Moderner Städtebau in Zürich. S. 200 ff. 59 Vgl. „Pflüge statt Panzer auf der Allmend“, Berner Zeitung, 04.08.2009.
94
unerheblich erscheinen, aber doch den Unterschied machen: im Gegensatz zu den Klein- oder
Familiengärten keine strickte Parzellierung und keine Gartenzäune.60
Das bewusste Umgehen
von der Lebensmittelindustrie, weil diese in ökologischer, ökonomischer und sozialer
Hinsicht nicht Nachhaltig ist. Die Freude an der Gemeinschaft statt der Konkurrenz, die
Einsicht, dass Graben in der Erde eine kostbare Tätigkeit ist, die zwar kein Geld einbringt,
dafür einen Bezug schafft zur eigenen Lebensgrundlage, zum Boden und zur Nahrung, und
das Jäten einen schon mal in meditative Zustände versetzen kann. In diesem Sinne werde ich
die Tradition der Schrebergärten kurz skizieren, und damit die Begrifflichkeiten und
Bedeutungen relativieren.
60 Christa Müller: Urban Gardening.
95
5.1 GARTENVEREINE IN ZÜRICH
Gärten haben eine lange Geschichte. Ihre Verknüpfung mit ideologischen und erzieherischen
Absichten lässt sich bis in die frühe Neuzeit zurückverfolgen. Diese Betrachtungen öffnen den
Blickwinkel zur Beurteilung von Urban Gardening. Sie unterstützen die Prognose, dass mit
der Etablierung von neuartigen Gärten sich auch die Werte der Gesellschaft ändern.
5.1.1 VEREIN FÜR SCHÜLERGÄRTEN
In den Volksschulgärten wurde das Gemüseproblem angegangen, indem die Schüler nicht nur
während der Unterrichts- sondern auch in der Freizeit diese bebauten. Nach Geschlechter
getrennt: die Mädchen waren für den Gemüsebau zuständig, die männliche Jugend für den
Obstbau. 61
Die Einsicht des pädagogischen Nutzens von Gärten reicht jedoch noch viel weiter zurück.
Johannes Amos Comenius (1592-1670) sprach schon davon in seinen didaktischen Schriften.
Auch Pestalozzi erkannte den erzieherischen Wert von Gartenarbeit. Friedrich Fröbel
schliesslich vereinigten 1837 die beiden Sphären, Erziehung und Natur, im Begriff
„Kindergarten“:
„Der Kindergarten, die vollständig ausgebildete Idee eines Kindergartens, der
klargelegte Gedanke desselben, fordert also notwendig einen Garten und in diesem
notwendig Gärten für die Kinder.“62
Erst in den Klosterschulen wurden die Gärten auf Produktion von Gemüse, Obst und Kräutern
angelegt. Die Volksschulgärten dienten als Anschauungsmaterial für den Naturkunde-
Unterricht. Diese Gärten, auch „Kustodengärten“ genannt, waren wie die pentrant
ordnungsbeflissenen Kustoden oder Abwarte, aufs kleinlichste aufgeräumt und unnatürlich in
Ordnung. So empfiehlt schon 1905 der Naturkundelehrer Samuel Döbeli:
„Gewiss sollen die Pflanzen nicht in kunstvollen Beeten in geordneten Reihen sich
befinden, sondern sie müssen in möglichst naturwahren Gruppen zusammengepflanzt
sein. Der Garten soll in höherem oder geringerem Grade eben ein Vegetationsbild der
Umgebung abgeben können, dann erst können wir die Schüler mit den natürlichen
Lebensbedingungen der Pflanzen vertraut machen (…).“63
Das Zusammengehen vom Bezug zum Boden und sittlichen und bürgerlichen Sitten war ein
Grundzug der gesellschaftserzieherischen Ambitionen des 20. Jahrhunderts, des Jahrhunderts
der Ideologien. 1920 schrieb Johannes Hepp:
61 Andreas Bellasi: Giftfreie Freizeit. Zürichs Schülergärten. 62 Ebd. 63 Ebd.
96
„Wer ein eigen Stück Land bebauen darf, der kann den Glauben an das Vaterland
nicht verlieren. Es ist um ein Volk, einen Staat schlimm bestellt, wenn die Mehrzahl
seiner Glieder wurzellocker geworden sind.“64
Dieser Johannes Hepp wird später Obergartenleiter und Verwalter der Gesellschaft Verein für
Schülergärten. Gegründet wird der Verein für Schülergärten vom Pfarrer der Predigerkirche,
Gottfried Bosshard.
„Die Gartenarbeit ist wie keine andere Arbeit imstande, dem Menschen die Augen zu
öffnen für das Leben, für das Wirken und Walten der Natur. Was für eine grössere
Freude kann es für Kinder geben, als aus dem eigenen Gärtchen Blumen mit nach
hause zu bringen oder selbstgezogenes Gemüse in die Küche zu liefern. Und wer in
seiner Jugend die Erde hat bauen lernen und dafür den mannigfachen Segen erfahren
hat, den diese Arbeit mit sich bringt, der wird sein Leben lang ein Heimatgefühl in der
Brust tragen. Die bösen Geister können keine Macht über ihn gewinnen, weil er sich
gar nicht mit ihnen einlässt.“65
In einer Elternversammlung wurde die Gründung der Vereins Schülergärten beschlossen am
16. Januar 1911. Ziel war es, die Kinder, also die Knaben von ihrem ausschweifenden
Herumziehen in den Gassen, das mit etlichen Gefahren verbunden war, zu holen. Da die
Mädchen selbstverständlich zu Hause an Küche und Herd gewöhnt wurden, standen die ersten
Schülergärten nur den Knaben zu. Erst schwebte Bosshard autonome Schülergärten vor, wo
sich die Kinder selbst entwickeln, organisieren und entfalten könnten.
„Die jungen Gärtner sollen unter sich ein Genossenschaft, eine Republik im kleinen
bilden.“
Im Sitzungsprotokoll vom 23. Februar 1911 heisst es:
„Disziplin in jeder Hinsicht muss streng aufrechterhalten werden. Es wird von
unschätzbarem Wert sein, wenn die junge Kraft an eine geregelte Arbeit gewöhnt und
in ihr mit der Zeit die Erkenntnis wachgerufen wird, dass ein Staat, eine noch so
kleine Republik nur gedeihen kann, wenn eine Kraft der andern sich unterordnet und
angliedert.“
Es wurde also strenge Disziplin gefordert, Ordnung und Hierarchie. Eine selbstorganisierte
Gemeinschaft war weit entfernt. 1915 äusserte sich Hepp zum Erfolgsprinzip: „Freies
Schaffen, verbunden mit straffer Führung.“
Der Garten galt also als eine Art Erziehungsexperiment. Bosshard hatte die Idee einer selbst
wachsender Gesellschaft oder Organisation mit natürlicher Hierarchie, die den Eltern die
Erziehungsarbeit abnehmen würde. Diese Hoffnungen wurden jedoch enttäuscht. Zum Glück
64 Ebd. 65 Ebd.
97
muss man sagen. Ähnliche Versuche wurden ja zur Genüge in all den totalitären Gefügen in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa nicht nur erprobt, sondern bis ins Extreme
verwirklicht.
5.1.2 VEREIN FÜR FAMILIENGÄRTEN
Dieses Kapitel basieren auf den Recherchen von Walther Mathis zum 100-Jahr-Jubiläum des
Vereins für Familiengärten Zürich. Dieser trug alles Material, das in direktem Zusammenhang
mit dem Verein stand in einer Akte zusammen. Darunter sind Statuten, Reglemente,
Mitgliederlisten und Karten der verschiedenen Sektionen. Mathis hat einen technischen
Zugang. Der Verein sei nur zur wirtschaftlichen Verbesserung der Zürcher Bürger gegründet
worden. Heute sei die wirtschaftliche Not nicht mehr so gross, aber die Gärten immenoch sehr
wichtig, weil sie die guten Sitten aufrechterhielten.
In Zürich gebe es Familiengärten schon seit 300 Jahren. 1692 haben sich die
Lebensmittelpreise verdoppelt. Deshalb verpachtete die Stadt zwischen der Limmat und den
heutigen Geleisen, zwischen Hardstrasse und Hardturm 130 Gärten zu etwa 8 Aren für die
Selbstversorgung. Diese Gärten hatten bis 1816 Bestand. Auf dem Platzspitz gab es zwischen
1790 und 1856 bis zu 71 Parzellen zu vier Aren.
Die eigentliche Gründung des Vereins für Familiengärten in seiner heutigen Form datiert
Mathis auf den 12. Juli 1916, der Tag der ersten Vereins-Statuten. Nach einigen Jahren des
Ausprobierens auf die Anregung des Stadtrats Paul Pflüger, dass mit eigenen Gärten Familien
wirtschaftlich und sozial besser gedient wäre als in offeneren Gartenprojekten.
Mathis illustriert Organisation und Aufbau des Vereins. Die Finanzen. Reglemente. Am
Schluss der Einleitung schreibt Mathis:
„Die Entwicklung der letzten 75 Jahre hat der vorausschauenden Initiative der
Gründer unserer Familiengarten-Bewegung Recht gegeben. Zwei Krisenperioden
haben gezeigt, wie nützlich und wohltuend sich die Gärten in wirtschaftlicher und
sozialer Hinsicht auf die Pächter und ihre Familien auszuwirken vermögen. Heute, wo
wirtschaftliche Probleme eine geringere Rolle spielen, hat sich der Familiengarten
bewahrt, was andere im Zuge der Arbeitszeit-Verkürzung erst lernen mussten und
noch lernen müssen: Freizeit selbst zu gestalten, statt sich unterhalten zu lassen und
zum Funktionieren der Gemeinschaft beizutragen, statt auf die Dienstleistungen dieser
Gemeinschaft zu warten.“66
66 Walter Mathis: Zur Geschichte des Vereins für Familiengärten Zürich.
98
Auch Mathis schreibt den Gärten eine erzieherische Funktion zu. In polemischen Ton
schwärmt er von der wirtschaftlichen Absicherung in der Vergangenheit. Heute würden sie
gegen den Verfall der Sitten und gegen das Desengagement wirken. „Wir brauchen in den
kommenden Jahren weiteres Land, auch wenn es zum Teil weiter von unseren Wohnstätten
entfernt zu liegen kommt.“ Das Ziel von 10000 Parzellen bleibt bestehen, das Bedürfnis nach
langfristig gesichertem Land.
„Eine neue, zusätzliche Aufgabe erwartet uns in den kommenden Jahren: Wir werden
uns intensiv mit dem naturgerechten Gartenbau zu befassen haben. Es gilt, die
Umweltbelastung im Boden, im Wasser und in der Luft auch bei unserer Tätigkeit auf
ein Minimum zu reduzieren.“
99
5.2 DIE HERKUNFT VON URBAN FARMING
Als erster Urbaner Garten in Europa gilt gemäss Christa Müller der Prinzessinnengarten in
Berlin. Deren Gründer kamen gerade von einer Reise aus Havanna, Kuba, zurück und waren
fasziniert von den dortigen Pflanzkulturen in der Stadt. Etwas Ähnliches wollten sie in Berlin
versuchen und lancierten den Prinzessinnengarten. Dieser erhielt eine derartige mediale
Aufmerksamkeit, dass in vielen Städten Europas Urbane Gärten nach dem selben Prinzip
entstanden. Daher werde ich im Folgenden die Geschichte des Urban Gardenings in Kuba
erläutern.67
Seit dem Zusammenbruch des sozialistischen Handelsblocks RGW („Rat für gegenseitige
Wirtschaftshilfe“) 1991 und der daraus folgenden schweren (nationalen) Wirtschaftskrise,
fördert Kuba die Selbstversorgung auf engem Raum: Obst- und Gemüseanbau und
Kleintierhaltung statt grossflächigen und industrielle Nahrungsmittelproduktion.
Das Betreiben von Gärten zur Selbstversorgung hat in Kuba eine lange Tradition. Seit Ende
des 18. Jh. wurden eingeschiffte Sklaven dazu angehalten, auf Parzellen neben ihren
Unterkünften, selbst ihre Lebensmittel anzubauen. Dabei pflegten sie traditionelle
Anbaumethoden und integrierten Südamerikanische Gewächse, die sie auf ihren Conucos
(Bezeichnung für ‚Hügelbeet‘, allg. auch ‚Subsistenzgarten‘) kultivierten. Die Gärten waren
ein Rückzugsort und dienten dabei auch der Pflege von Familie und sozialen Netzen.
So wurde zum Beispiel der spektakuläre Erfolg der spanischen Kolonisation durch den
Gebrauch, den die indianische Bevölkerung davon machte, ins Gegenteil verdreht:
unterwürfig und sogar bereitwillig gebrauchen die Indianer die Gesetze, Praktiken oder
Vorstellungen, die ihnen mit Gewalt oder durch die Verführung aufgezwungen worden waren,
oft zu anderen Zwecken als denen der Eroberer; sie machten daraus etwas anderes; sie
unterwanderten sie von innen her – und zwar nicht, indem sie sie ablehnten oder veränderten
(was allerdings auch vorkam), sondern durch hunderterlei verschiedene Weisen, sie in den
Dienst von Regeln, Gebräuchen und Überzeugungen zu stellen, die der Kolonisation, der sie
nicht entfliehen konnten, fremd waren.
Im Verlaufe der Abolition wurden nach Gewohnheitsrecht viele Hütten und Parzellen an die
Nachfahren der Sklaven vererbt, welche die Kultivierung der Stadtgärten weiterführten. Nach
67 Vgl. Daniela Kälber: Urbane Landwirtschaft als postfossile Strategie. Agricultura in Kuba.
100
der Kubanischen Revolution 1959 führte man eine industrielle Gemüse- und
Lebensmittelproduktion ein und baute im grossen Stil Zuckerrohr an, der für den Export
bestimmt war. Conucos galten dann als ärmlich und unterentwickelt. Die intensive
Nahrungsmittelproduktion benötigte Unmengen an Dünger und Pestiziden sowie Treibstoff
für Maschinen und Fahrzeuge, was grösstenteils von der Sowjetunion zu Preisen weit unter
dem Marktwert geliefert wurde. (Die sowjetische Unterstützung erreichte in den Jahren 1986
bis 1990 einen Anteil am kubanischen BIP von 16%). Nach Auflösung der UdSSR viel auch
diese Subvention dahin und Kuba stürzte in eine Versorgungskrise: Ohne Treibstoff konnten
die Lebensmittel nicht mehr in die Städte transportiert werden und verrottete tonnenweise auf
den Feldern. Ohne Treibstoff funktionieren keine Feldmaschinen: die Ernte kann nicht
eingefahren, die Saat nicht gedüngt, die Äcker nicht gepflügt werden.
Not macht erfinderisch. In dieser Krisensituation begannen die Kubaner in den Städten jeden
Platz, jedes Fleckchen Erde, jeden bestellbaren Freiraum (Balkone, Dachterrassen,
Hinterhöfe), zu nutzen und füllten jedes erdenkbare Gefäss mit Erde, um darin essbares
Grünzeugs anzupflanzen. Knoblauch wurde in mit Sand gefüllten Joghurt bechern gezogen,
Schweine in der Badewanne gefüttert und Hühner im Verschlag auf dem Balkon gehalten.
Auch dies ist eine Umwandlung der vorgegebenen Funktionen der Infrastruktur, eine List der
Bevölkerung, die jedoch nicht gegen die Absichten des Staates sein konnte. Im Gegenteil
musste dieser es begrüssen, dass sich die Kubaner selbst um ihr Überleben kümmerten,
während er dieses nicht mehr sicherstellen konnte.
Zu Beginn noch mit wenig Gemüsebauerfahrung, wurden Joghurtbecher mit Sand gefüllt, um
darin Knoblauch zu ziehen, die effektivste aller Gemüsearten: Knoblauch schützt ja
bekanntlich nicht nur vor bösen Geistern und dient nicht nur als Abwehrwaffe gegen
aufdringliche Anmachsprüche, sondern er fördert auch die Durchlüftung der Darmflora und
stärkt das Immunsystem nachhaltig.
Die auf Export und Import angelegte Wirtschaft sollte aufrechterhalten werden, obwohl nur
noch 20% der Landwirtschaftsmaschinen in Betrieb waren. Grosse Teile der Bevölkerung
wurde als Handarbeitskräfte eingesetzt. Um für deren Unterhalt zu sorgen, wurden einzelne
Haushalte dazu angehalten, Lebensmittel für sich und die engere Nachbarschaft anzubauen.
Der Staat bestimmte und finanzierte zwar die Saat, die Experten waren jedoch die Stadt- und
101
Gemüsebauern: „dies führte zu einer engen Kohäsion von staatlichen und privaten
Interessen“.
Rund ein Drittel dieser staatlich geförderten Gärten werden nicht direkt auf dem Boden
gepflanzt, sondern in Hochbeeten, sogenannten Organoponicos, weil viel Land überdüngt
oder sonst wie kontaminiert ist. Nach einigen Jahren soll sich die Bodenqualität wieder
normalisiert haben, dann werden die Hochbeete in den Erdboden verlegt und zu sogenannten
Huertos Intensivos umgewandelt. Nach offiziellen Zahlen existieren 3´500 Organoponicos
und 7´189 Huertos Intensivos. Auf Eigeninitiative pflegen viele Kubaner rund 412´012
Parcelas, die den nötigen Zustupf an Gemüse für den Eigengebrauch liefern und Orte für
soziale Zusammenhänge und kulturelles Leben sind.
Diese Funktionen sind auch vom Staat erkannt worden. Der zunehmenden Landflucht und
wachsenden Vierteln mit prekärer Infrastruktur, Hygiene und Sicherheit, wird mit solchen
Gärten begegnet, die einerseits für einen gewissen Grundbestand an Nahrung sorgt, der
Vermüllung entgegenwirkt und soziale Integration fördert. Eine ähnliche Entwicklung lässt
sich in amerikanischen Städten beobachten, wo wirtschaftlicher Strukturwandel und die Krise
der letzten Jahre zu Umstürzen im Arbeitsmarkt und zu einer Erosion des
Versorgungssystems führten.68
So wanderte das Narrativ aus der Karibik in die Hauptstadt Deutschlands, wurde hier von
einem Medienwirbel erfasst und in die ganze westliche Welt geschleudert, so auch nach
Zürich mit seinen Projekten. Urban Farming kann so in seinem globalen Kontext verortet
werden. Die Gärten in Zürich sind regionale Realisierungen einer um den Globusgewanderten
Idee.
68 Vgl. Kap. 4.5.1. Narrative in der Presse, S. 89.
102
6 FAZIT UND AUSBLICK
Der erste Gang auf die Stadionbrache erwies sich als Sprungbrett in ein vielfältiges Netzwerk
von Orten, Projekten und Personen, das die Zürcher Urbanen Gärten umspannt. Allen
Akteuren gemeinsam ist der Wunsch nach gestaltbarem Raum und eine ähnliche Haltung im
Umgang mit der Ressource Boden. Es handelt sich um ein informelles Netzwerk, daher kann
nicht von einer traditionellen, sozialen Bewegung gesprochen werden. Trotzdem ist Urban
Farming als eine Bewegung zu verstehen, die auch politische Botschaften transportiert. Es ist
die gemeinsame Handlungsweise und eine ähnliche Sinnkonstruktion, die Urban Farming zu
einer eigentlichen Kultur werden lässt. Ziel war es, die Mechanismen zu Bildung dieser
Bewegung oder Kultur aufzuspüren. Ich bin einigen Verästelungen gefolgt, habe mich in das
Netzwerk des Rhizoms gewagt und versuchte mit der literarischen Form des Essays die
Darstellung dieser unübersichtlichen Zusammenhänge zu legitimieren. Die Bilder und die
Kurzbeschreibungen stecken einen Rahmen dieser Bewegung in Zürich ab. Die näher
betrachteten Gärten belegen die These von Christa Müller, dass Urban Farming das Bedürfnis
vieler Menschen nach Absicherung gegen Probleme auf verschiedenen Ebenen deckt: sozial,
ökonomisch, ökologisch, ganzheitlich. Als Ursache dieser Probleme werden Auswüchse des
Neoliberalismus und der Globalisierung verantwortlich gemacht. Projekte von Urban Farming
inszenieren sich als Alternativen und bieten Lösungsvorschläge auf regionaler Ebene. Mit der
Kultivierung von Industriebrachen und der Sensibilisierung auf die Produktionsweisen von
Nahrungsmitteln entsteht ein neuer Zugang zu Konsum und Ressourcen, zu Boden und
Pflege, zu Stadt und Land, Mensch und Natur. Diese Dialektik geht mit einer Relativierung
von überkommenen Begriffen einher und damit mit einem neuen Sinnangebot. Um dieses zu
etablieren, muss eine neue Sprache gefunden werden. Ansätze zu deren Bildung konnte ich
mitverfolgen.
Ausgegangen bin ich vom anthropologischen Ort nach Marc Augé. Dieses Konzept versteht
den Ort als eine Gestaltung des Raums durch den Menschen. Durch die ‚Möblierung‘ verleiht
er dem Ort eine Identität. Rückwirkend bildet der Ort ein wichtiger Faktor zur
Identitätsbildung von Individuen und Gruppen. Mit dem Heterotop etablierte Michel Foucault
ein Konzept zur Beschreibung von Orten als sinnlich wahrnehmbare Räume und als
Projektionsflächen für Wünsche und Vorstellungen, die im Alltag keinen Platz finden. Auf
diesen Ortstheorien aufbauend fokussierte ich auf sprachliche Spuren, die im Raum als
Schriftstücke hinterlassen wurden, oder die mündlich geäussert wurden. Die Texte sind
103
Stellvertreter für eine Gruppe gegenüber Menschen ausserhalb der Gruppe und regeln das
Funktionieren innerhalb der Gruppe. Verortete Namen markieren Präsenz und einen
Machtanspruch über den Ort. Die Sprache ist auch ein Schmiermittel für soziale Abläufe und
Interaktionen. Deren Interpretation ermöglichte Rückschlüsse auf die ideelle Verortung einer
Gruppe.
Die Sprache ist nicht nur gegeben, sondern sie wird auch hergestellt oder ihr Sinn verändert.
Dadurch können ganze Weltsichten und Handlungsweisen beeinflusst und gestaltet werden.
Aufgefallen ist beispielsweise die Umdeutung von ‚Lohn‘ mit ‚Ermöglichungspauschale‘ oder
die Benennung des Feldes oder Ackers als Garten. Dadurch verändert sich die Bedeutung von
Lohn- und Arbeitsverhältnissen. Arbeitszeit und Freizeit verlieren ihre Trennschärfe.
Die Gestaltung von Sprache geschieht auf spielerische Weise und ähnelt der Herstellung von
Redensarten: ähnlich klingende Namen und sich reimende Ausdrücke markieren die
Verwandtschaft von Konzepten, Gruppen und Orten. Damit wird auch eine Mentalität
transportiert, die eine nachhaltige Alternative zum überkommenen Wirtschaftssystem und
miteinhergehenden Lebenshaltung bietet. Dieser Transfer geschieht jedoch nicht mit
erhobenem Zeigefinger, sondern erfolgt auf ständigem Verhandeln von Regeln. Zentral dabei
sind die Pflege des Ortes sowie die freie Zugänglichkeit für alle.
Zur Etablierung der Projekte und Kultivierung der Gärten waren Gruppen mit einem festeren
Kern und offenen Rändern notwendig. Gleichzeitig bildete sich die Identität dieser Gruppen
aus der Absicht, gemeinsam zu gärtnern. Nach den Überlegungen von Michel de Certeau sind
es Narrative, die uns zu Denk- und Handlungsweisen verleiten. Zur Erklärung der Motivation
fürs Gärtnern wurden ‚Gross-Narrative‘ genannt wie der Terroranschlag auf das World Trade
Center im September 2001 und die Wirtschaftskrise ab 2008, die weltweit und auch in der
Schweiz für Unsicherheiten im Alltag sorgten. Vorläufer von Urban Farming finden sich
jedoch schon in Kuba nach dem Ender der Sowjet Union und in amerikanischen Städten nach
dem Niedergang der dortigen Autoindustrie. Die Etablierung von Gemüsebau in der Stadt
kann auch mit der globalen Migration ländlicher Bevölkerung in die Städte erklärt werden.
Seit 2007 leben mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Diese Geschichten bilden
Erklärungsversuche. Die Motivation vieler StadtgärtnerInnen ist jedoch viel praktischer: sie
verspürten einfach die Lust zu Gärtnern oder machten mit, weil Freunde mitmachten.
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Die Etablierung des auf Konsum zentrierten Gerolds Gartens verleitet zu der These, dass es
sich bei Urban Farming nicht um eine einheitliche Bewegung handelt. Im Gegenteil:
öffentlichkeitswirksame Elemente des Urban Farming, z.B. die Hochbeete, werden hier in ein
Gastrokonzept integriert und der Charme der alternativen Bewegung als Verkaufsargument
genutzt. Dadurch grenzt er sich gegen das Bestehende ab, inszeniert privaten Raum als
öffentlichen Raum. Es ist die Finte einer Finte, die Vermarktung der Alternative zur
Kommerzialisierung. Trotzdem blühen die anderen Gärten weiter. Michel de Certeaus These
der wuselnden Massen, sich der herrschenden Ordnung zu entziehen, um ihrem Alltag einen
persönlichen Sinn zu geben und sich auf ihre Art zu verwirklichen. So lange es Machtgefüge
gibt, solange wird dieses mit Finten und Listen ausgetrickst und umgangen. So werden auch
die Gärten als Alternative zu Massenproduktion und –konsum weiterbestehen. Insbesondere
scheinen Prognosen und Erzählungen über die Bedrohungen der Welt: Peak Oil, allgemeiner
Ressourcenschwund, Wirtschaftskrisen, Klimawandel, zunehmende Wasserknappheit bei
vermehrten Überschwemmungen etc., das etablierte System von Arbeit, Konsum und
ständigem Wachstum zu hinterfragen und Gegenkonzepten wie dem Urban Farming zu
grösserer Popularität verhelfen.
Der Untertitel dieser Arbeit implizierte eine umfängliche Beschreibung: Verortung,
Vernetzung, Verhandlung. Eine kulturwissenschaftliche Betrachtung urbaner
Garteninitiativen in Zürich. Ansprüche auf Vollständigkeit sind jedoch gefährlich, denn sie
werden selten erfüllt. Immerhin wurden hier mit Bezug auf kulturwissenschaftliche Theorien
die Gärten nicht nur geographisch, sondern auch historisch und ideell verortet. Die
Vernetzung einiger Protagonisten wurde aufgezeigt und die Verhandlung, d.h. die Bedeutung
der Gärten für Stadtbewohner resp. die Aneignung der Orte und die Transformation von
Gärten dargestellt.
105
Zur Einordnung des Forschungsfeldes und der neuen Gartenbewegung wären historische
Vergleiche mit ähnlichen Narrativen zu Sorge um die Erde in anderen Epochen und deren
Lösungsangebote interessant, so z.B. die Lebensreform-Bewegung oder das Konzept der
Gartenstadt in der frühen Moderne. Vor hundert Jahren sagte Max Weber einen langen
Bandwurmsatz, an dessen Ende wir einen neuen Satz anknüpfen könnten, der vielleicht mit
den Worten Die Rückkehr der Gärten in die Stadt beginnt:
„Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, – wir müssen es sein. Denn indem die
Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die
innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie an ihrem Teil mit daran,
jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen
Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundenen,
Wirtschaftsordnung erbauen, der [die] heute den Lebensstil aller Einzelnen, die in
dieses Triebwerk hineingeboren werden – nicht nur der direkt ökonomisch
Erwerbstätigen –, mit überwältigendem Zwang bestimmt und vielleicht bestimmen
wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist.“69
69
Max Weber: Asketischer Protestantismus und kapitalistischer Geist.
106
107
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http://diyreuse.com/ Do-It-Yourself-Re-Use
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