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AUSGABE 12 HEFT ZWEI 2012 JAHRGANG 05 ISSN 1866-9816 ISBN 978-3-941570-02-3 DOPLPACK VERLAG 6,90 EUR
FOTOGRAFIE LITERATUR STREETART MALEREI COMICS ZEITGENÖSSISCHE KUNST
LEONIE RITZ, BERLIN
CLAY LIPSKY, LOS ANGELES
SANDRA GUGIC, BERLIN
GEORG MALTZEN, ERFURT
SUZY LELIÈVRE, PARIS
im angesicht
clay lipsky
AUSGABE 12 HEFT ZWEI 2012 JAHRGANG 05 UM[LAUT] JUNGE KUNST. POLITISCHE KUNST. MINDESTENS. 05
atomic overlookFOTOKUNST VON CLAY LIPSKY
»die atomare gefahr ist so
groß wie immer, aber das
schreckgespenst hält sich
versteckt. meine bilder re-
kontextualisieren die
post-atomare realität und
imaginieren atombomben-
tests im heutigen tourimus-
und informationszeitalter.«
Bis morgen!
Feierabend. Endlich. Ab nach Hause.
Hoffentlich sieht uns keiner. Warum? Darüber haben wir uns noch
keine Gedanken gemacht, weil wir echt nicht die Zeit hatten, echt
jetzt, bis jetzt, weil wir immer abgelenkt wurden: von der kaputten
Umwelt, von der Krise, weil wir gebremst werden: von den vielen
Schulden, die wir gar nicht verschuldet haben — entschuldigen wird
sich dafür wohl auch niemand. Oder weil wir uns auch ablenken
lassen, gern, von unserem Tag, der vorüber ist, der gemütlich hinter
uns liegt — dieser Alltag. Grau und austauschbar. Der uns schon
nach dem obligaten »Guten Morgen!« verwirrt und für den Rest des
Tages in eine Art Schockstarre verfallen lässt, aus der wir gar nicht
mehr auftauen.
Wir sollten.
Wir stöckeln durch die Häuserfluchten, gehetzt und immer auf der
Flucht, aber das geben wir nicht zu, damit geben wir uns doch nicht
ab, reden wir uns ein und machen auf dem Absatz kehrt, weil wir
auf der Flucht sind, vor den Blicken, die uns treffen könnten, weil
wir nicht kehren wollen, vor unserer Haustür schon gar nicht, und
deswegen türmt er sich auf, unser Seelenmüllgletscher, der uns nicht
dazu einlädt, einzukehren — bei uns; also lieber kehrt machen, bevor
wir was verkehrt machen.
Wir sollten.
Wir stecken. Fest. In einer dieser Spalten. In einer dieser Klatsch-
spalten, die über uns schreiben, die uns ständig beschreiben.
Wir sollten.
Wir sinken. Stufen uns runter. Unter Durchschnitt. Hinunter. Ins
Prekariat. Graden uns down. Und wir stellen die Linse unscharf,
denn wer will schon erkennen, dass wir den Tränenbach runterstür-
zen, dass wir gar nichts mehr unternehmen können gegen diesen
Aufprall, dass da nur unser Wohlstandsbauch den Gürtel aufspannen
wird, aber doch nie im Leben irgendein Rettungsschirm der ersten
bis dritten Welt uns retten wird?
Wir laufen durch die Menschenmassen, paranoid wie wir sind,
denken wir uns, ob uns wer sieht, ob uns wer beobachtet. Aber wir
werden gar nicht gesehen, wir werden übersehen. Wir schlittern ver-
sehentlich weiter übers eisglatte Gesellschaftsparkett, verkrümmen
dabei nicht nur die Hornhaut, schielen mal mehr nach links, dann
wieder nach rechts, damit wir nicht vom rechten Weg abkommen, am
liebsten aber schauen wir gerade nach vorn. Weil
der am kürzesten ist, weil wir da keine falschen
Schlangenlinien ablaufen müssen bevor wir abge-
laufen sind und aus dem Regal geworfen werden.
Wir sollten.
Was denn eigentlich? Sehen nichts — mit unseren
Shades, Hornhaut- oder Pilotenbrillen, eingestellt
auf Autopilot, weil wir nichts mehr hören, weil uns
die Umwelt raushängt, aus den Ohren, mit weißen
Kabeln hängt uns alles raus aus den Ohren. Zuge-
dröhnt, damit wir unser leises Bauchgefühl nicht
hören, geben wir uns die volle Dröhnung. Posten
unser Leben — unser Leben als Soundcheck, weil
wir gehört werden möchten, weil wir ständig damit
leben, dass uns der Saft abgedreht wird, dass der
Akku leer ist, Ladekabel zu Hause vergessen. Und
leider hält es uns jetzt nicht am Leben, unser Ge-
fühl, jetzt, wo wir es brauchen würden, kann es zu
unserem Lebensunterhalt nichts beitragen, obwohl
wir unsere Beiträge geleistet und bezahlt haben.
Hat sich nicht ausgezahlt. Bald sind wir fällig. Zu
verbrauchen bis. Keine Krise ohne Ablaufdatum.
Wir haben unser Leben schon hineingebuttert, mit
Diätmargarine, wir haben auf Kalorien und unser
Leben verzichtet und gespart und jetzt schmilzt
er so lautlos vor sich her im Klimawandel — der
Reservebuttergletscher.
Wir stapfen weiter durch die Straßen. Das erwartet
man. Von uns. Und wir erwarten was vom Leben.
Immer soll was passieren, im Leben, nur uns nicht.
Rundherum geht die Welt zugrunde, das passiert,
aber das hat ja nichts mit uns zu tun. Wir bleiben
vollkommen passiv, in unserem Passivhaus, das
wir noch lange nicht abgezahlt haben werden, ge-
schweige denn den Krisenherd, der in der Küche
vor sich herbrodelt, den können wir uns schon gar
nicht leisten. Wir warten, dass was passiert, das
erwartet man von uns, wie man eben auch Besuch
erwartet — der am Ende doch nicht kommt. Aber
eines Tages klopft es dann doch an der Tür —
ziemlich laut.
Ich bin’s.
Wir machen auf, und vor uns steht trotz Doppel-
verwirrtVON RENATE AICHINGER
sicherheitsschloss die Krise in ihrer ganzen Pracht und sie grüßt
uns sehr freundlich. Die haben wir nicht erwartet. Die trifft uns
jetzt. Wie Amors Pfeil. Alle. Unser Wir-Gefühl. Die Krise. Nur die
Schmetterlinge im Bauch, die fehlen, weil uns überhaupt was fehlt.
Im Bauch.
Was wäre, wenn wir der Krise einfach davonlaufen? Und wir laufen
— sehen weder nach rechts noch nach links. Wir waten durch den
Menschenmassenschlamm, werfen uns in Schale und können uns
zusehen von außen, wie wir verkrusten.
Wir sollten uns endlich organisieren. Wo waren wir? Stehen geblie-
ben. Und wir bemerken nicht, dass wir schon lange im Hamsterrad
unsere Runden drehen, aber auf der Stelle bleiben wir trotzdem, nur
die Stelle, die bleibt uns nicht, die ist bereits gestrichen.
Wir sind Abfall. Der Müll der Gesellschaft. Der Müll, der ganz am
Stadtrand wohnt, der sich an den Rand drängen hat lassen. Nur bis
jetzt hatten wir Glück. Weil wir nicht runtergefallen sind. Vom rech-
ten Rand. Weil wir noch reingepasst haben. In den Kreditrahmen.
Ins Bild, das die Agenten sich von uns gemacht haben. Aber damit
ist nun Schluss. Die haben uns über unser Lebensziel hinausge-
schossen. Jetzt landen wir auf dem Müllplatz. Letzte Ruhestätte.
Mist.
Wir. Wir hätten. Wir könnten. Wir hätten was werden können wenn.
Wenn wir wir wären.
Und ich. Ich sitze. Allein. Drinnen. In der Straßenbahn.
Haben wir ein Ich?
Und wenn ja, wo finde ich das? Außer in der Sonntagsfarbbeilage,
die mein kollektives Leben zum Ausmalen und Sammeln mal
ausnahmsweise nicht in Schwarz-Weiß abbildet? Und wer gibt mir
denn recht, also wer gibt denn mir das Recht, das ich mir frech
herausnehme wie einen 100-Euroschein aus einem verschlossenen
Kuvert, wer gibt denn mir das Recht mich aus dem Wir herauszu-
nehmen, denke ich und hoffe, dass mich niemand sieht.
Warum? Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht, weil
ich echt nicht die Zeit hatte — echt jetzt, bis jetzt.
Ich?
Ich bin. Zuhause.
Endlich. Im Sicherheitsschloss. Ich ziehe aus, ziehe mich und
mir die Socken aus, weil ich schon Blasen habe, an den Füßen,
Wunden vom vielen Davonlaufen. Ich liege in
der Badewanne und denke nach. Wieder ein Tag.
Vorbei. Und ich. Ich war einfach nicht dabei. Und
plötzlich wird ein Gefühl in mir ganz riesengroß,
wächst heran wie ein Baby und will raus, ein
Gefühl, das ich schon lange nicht mehr gespürt
habe, weil ich es so perfekt unterdrückt habe:
dass ich Angst habe. Eine Scheiß-Angst habe ich.
Wovor? Keine Ahnung, aber ich kann noch so viel
laufen, ich entkomme ihr nicht, weil die überall
auf mich wartet und mich anstarrt. Diese Angst hat
sich reingefressen in mich und meine Generation,
die hat zuerst lautlos ein Praktikum gemacht
und dann klammheimlich beschlossen, es sich
gemütlich zu machen, in mir. Ich liege immer noch
in der Badewanne — frierend — und sehe, wie
der Schaum langsam und fast lautlos vom Wasser
verschluckt wird. Plötzlich sehe ich ganz klar, für
einen Moment, und mir wird klar, wie hässlich
diese Haut darunter, wie leer alles ist, wenn der
bunte Seifenschaum einfach stinknormales Wasser
wird.
Und ich beschließe, rauszusteigen aus der Wanne
und auszusteigen und mich aus dem Wir-Kokon zu
entwirren.
Morgen.
AUSGABE 12 HEFT ZWEI 2012 JAHRGANG 05 UM[LAUT] JUNGE KUNST. POLITISCHE KUNST. MINDESTENS. 11
RENATE AICHINGER, *1976 IN SALZBURG, LEBT UND ARBEI-
TET IN WIEN ALS AUTORIN, REGISSEURIN UND DRAMATUR-
GIN. INSZENIERUNGEN UND TExTE U.A. FÜR JUNGE BURG
WIEN, JUNGES SCHAUSPIELHAUS ZÜRICH, STADTTHEATER GIE-
SSEN, ARGEKULTUR SALZBURG UND VORARLBEGER LANDES-
THEATER BREGENZ. AB NäCHSTER SPIELZEIT LEITUNG DES
BÜRGERTHEATERS AM LANDESTHEATER NIEDERÖSTERREICH.
VERÖFFENTLICHUNGEN IN DIVERSEN ANTHOLOGIEN UND
ZEITSCHRIFTEN, DEBÜTERZäHLBAND WELT.ALL.TAG, EDITION
LAURIN, 2012.
→ RENATEAICHINGER.AT
ACHIM RIETHMANN, *1979 IN LONDON, LEBT UND ARBEITET IN BERLIN. GRUNDSTUDIUM KUNST UND DESIGN AM FAL-
MOUTH COLLEGE OF ART IN CORNWALL/ENGLAND IN 2000 UND 2001, STUDENT DER UNIVERSITÄT DER KÜNSTE BERLIN
(UDK/LEIKO IKEMURA) BIS 2007. FÖRDERPREIS FÜR JUNGE NACHWUCHSKÜNSTLER VON ART+PRISON E.V. 2010, DIVERSE
GRUPPEN- UND EINZELAUSSTELLUNGEN, U.A. IN DER DEZERSCHAUHALLE IN MIAMI, 2011, SWAB BARCELONA, KUNST-
MESSE MIT JUNGEKUNSTBERLIN, BARCELONA 2012.
→ ACHIMRIETHMANN.NET
AUSGABE 12 HEFT ZWEI 2012 JAHRGANG 05 UM[LAUT] JUNGE KUNST. POLITISCHE KUNST. MINDESTENS. 17
götterclique, geschlossen
stilleben mit streuobst
VON LUTZ STEINBRÜCK
Du traumhaftes Mikrofaserland
wo die Beatmung der Reisebusse stagniert
wird der mit dem längsten Steuerknüppel
Klassensprecher dieser Autobahn
macht noch immer in Trikot-Etagen
macht billig macht das sein Garten ein Turm wird
sein Schwager hat die Elbe neu designt
und leuchtet davon ohne anzuhalten
die Ausweisung der Wettkampfzonen
stimmen sie ab im Club eine Art von Heim
hier
hier bleibt die Kälte im Dorf
der stete Wurstkau der Provinz
das eine Massentier für Alle das
Beste ist das Weiße im Auge das
nichts verrät
an dies Klischee von Bahnhofsvorplatz
sein Plastiktüten-Rascheln windbewegt
leiser kleiner angewinkelt dieser Schatten
dazwischen platzen wir mit Kaugeräuschen
hinein in die frische Buslandung hinein
in die Plakatwand die Senioren-WG steht
gerne stramm kau kau wiederkau
ein Stilleben mit Streuobst fürs Foto
eine eigene Landschaft gründen
mit Glückskeks-Versprechen in der Faust
schieb ab, Kulisse, dreh‘ dich weiter, weiter weg
so abgekaut wie ausgeschlichen
LUTZ STEINBRÜCK, *1972 IN BREMEN, LEBT ALS AUTOR UND
MUSIKER DER BAND MEGAMAU IN BERLIN. VERÖFFENTLICHT
GEDICHTE (AKTUELLER BAND: BLICKDICHT, VERLAGSHAUS
J.FRANK, 2011) UND ARTIKEL IN PRINT- UND ONLINEMEDIEN.
AUSGABE 12 HEFT ZWEI 2012 JAHRGANG 05 UM[LAUT] JUNGE KUNST. POLITISCHE KUNST. MINDESTENS. 49
»die tugenden, wappentiere
und laggen über den häuser-
schluchten der satellitenstädte.
sie scheinen sich schützend
über sie zu stellen oder schauen
zwischen ihnen als neonreklame
hervor ― wie die träume von
einem besseren leben ihrer be-
wohner.«
michael grudziecki
AUSGABE 12 HEFT ZWEI 2012 JAHRGANG 05 UM[LAUT] JUNGE KUNST. POLITISCHE KUNST. MINDESTENS. 59
an die helden der verpassten chancenVON SANDRA GUGIC
Existenzielle Nervosität
macht uns an und ab und auf und
alles ist Rede ohne Antwort im
abstrakten Raum alles wieder neu
denken alles wieder nie immer jetzt
Vergänglichkeiten immer schon hier
gewesen loop nichts wird so verbissen
verteidigt wie Parkplätze Ende neu
Bakterien für die Balance die richtige Balance
zwischen den Rechten des Einzelnen und
Zwängen der Sicherheit finden gelernt
ist gelernt am Rand ist der Druck am Stärksten
besser ist es in der Mitte in der Masse
zu bleiben
SANDRA GUGIC, *1976, GEBOREN IN WIEN, LEBT IN BERLIN UND SCHREIBT LYRIK,
PROSA UND THEATERTExTE. STUDIUM AN DER UNIVERSITÄT FÜR ANGEWANDTE
KUNST IN WIEN SOWIE AM DEUTSCHEN LITERATURINSTITUT LEIPZIG. VERÖFFENT-
LICHUNGEN IN ZEITSCHRIFTEN UND ANTHOLOGIEN, U. A. KOLIK, WORTWUCHS,
LAUTSCHRIFT, TIPPGEMEINSCHAFT. DIVERSE PREISE UND STIPENDIEN, U.A. EDITION
EXIL LITERATURPREIS 2008, ÖSTERREICHISCHES STAATSSTIPENDIUM FÜR LITERA-
TUR 2010/11, HOHENEMSER LITERATURPREIS 2011.
homesweet
Alles aufessen der Familientisch der
Geschichte wird in Kürze abgeräumt
Bündnisse bröckeln auf das Ideal
der Großfamilie wir schreiben
neue Familiengeschichten
ohne Familie
touristen
Immer ein Integrationshintergrund
wie wir und was wir uns vor und ent
halten setzen uns aus und ab wenn das
Boot voll ist ist es eben bitte alle aussteigen
hier ist tanzen und rauchen verboten
sie erreichen uns ausserhalb unserer
Bürozeiten bitte nichts hinausstrecken
Frauen und Kinder zuerst alle Kraft
und willkommen in der Blase
AUSGABE 12 HEFT ZWEI 2012 JAHRGANG 05 UM[LAUT] JUNGE KUNST. POLITISCHE KUNST. MINDESTENS. 63
keine einzeltitel
SUSANNAH
MARTINPRIMORDIAL TOURISTS
19 OKTOBER - 01 DEZEMBER 2012
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