Martin Bube
Verlagdisserta
Sterben und Tod als Unterrichtsthema
für Schüler mit geistiger Behinderung
Aktueller Forschungsstand und Möglichkeiten
der unterrichtlichen Umsetzung an der Förderschule
Martin Bube Sterben und Tod als Unterrichtsthema für Schüler mit geistiger Behinderung: Aktueller Forschungsstand und Möglichkeiten der unterrichtlichen Umsetzung an der Förderschule ISBN: 978-3-95425-075-2 Herstellung: disserta Verlag, Hamburg, 2013 Covermotiv: © laurine45 – Fotolia.com Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtes.
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© disserta Verlag, ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH http://www.disserta-verlag.de, Hamburg 2013
Inhaltsverzeichnis
1. Vorwort ................................................................................................................................. 7
2. Einleitung .............................................................................................................................. 9
3. Begriffsklärung ................................................................................................................... 13
4. Der Umgang in unserer Gesellschaft mit Tod und Sterben ........................................... 17 4.1 Verdrängung und Unbedeutsamkeit ............................................................................... 17
4.2 Enttabuisierung ............................................................................................................... 24
5. Der Umgang von Kindern und Jugendlichen mit Tod und Sterben ............................ 29 5.1 Die Todesvorstellung von Kindern und Jugendlichen ................................................... 29
5.1.1 Die kognitive Komponente der Todesvorstellung .................................................. 30
5.1.2 Die emotionale Komponente der Todesvorstellung ................................................ 37
5.2 Das Trauerverhalten von Kindern und Jugendlichen ..................................................... 42
6. Der Umgang von geistig behinderten Jugendlichen mit Tod und Sterben .................. 47 6.1 Die Todesvorstellung von geistig behinderten Jugendlichen ......................................... 48
6.2 Das Trauerverhalten von geistig behinderten Jugendlichen .......................................... 59
6.3 Eigene empirische Untersuchung zum Todeserleben geistig behinderter Jugendlicher 65
6.3.1 Forschungskonzeption und -organisation ................................................................ 65
6.3.2 Durchführung der Interviewstudie .......................................................................... 70
6.3.3 Auswertung der Interviews ..................................................................................... 72
6.3.4 Darstellung der Einzelfälle ...................................................................................... 73
6.3.5 Zusammenfassung der Ergebnisse .......................................................................... 89
6.3.6 Kritische Reflexion der Studie ................................................................................ 98
7. Gründe für eine schulische Thematisierung .................................................................. 101 7.1 Anthropologisches Argument ...................................................................................... 101
7.2 Entwicklungspsychologisches Argument .................................................................... 103
7.3 Bildungstheoretisches Argument ................................................................................. 104
7.4 Gesellschaftliches Argument ........................................................................................ 107
7.5 Ethisches Argument ..................................................................................................... 109
8. Bisherige Thematisierung im Unterricht ....................................................................... 111
9. Notwendige Voraussetzungen und mögliche Schwierigkeiten ..................................... 119 9.1 Voraussetzungen des Lehrers ....................................................................................... 119
9.2 Voraussetzungen der Schule ........................................................................................ 124
9.3 Voraussetzungen der Klasse/ Schüler .......................................................................... 125
9.4 Voraussetzungen der Eltern ......................................................................................... 126
10. Möglichkeiten der Behandlung des Themas Tod und Sterben im Unterricht an der Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung ................................ 129
10.1 Sterben und Tod als aktuelles Thema in der Schule .................................................. 132
10.2 Sterben und Tod als Sachthema ................................................................................. 136
11. Unterrichtsentwurf für eine Projektwoche zum Thema „Sterben, Tod und Trauer“ ............................................................................................................................ 137
11.1 Beschreibung der Ausgangslage ................................................................................ 137
11.2 Lernziele ..................................................................................................................... 138
11.3 Aufbau der Unterrichtssequenz .................................................................................. 139
11.4 Reflexion der Projektwoche ....................................................................................... 152
12. Auswirkungen von Unterrichtsprogrammen zu Tod und Sterben .......................... 155
13. Fazit ................................................................................................................................. 159
14. Literaturverzeichnis ....................................................................................................... 165
15. Anhang ............................................................................................................................ 185 15.1 Interviewleitfaden ....................................................................................................... 185
15.2 Transkribierte Interviews ........................................................................................... 189
15.2.1 Interview mit S1 .................................................................................................. 189
15.2.2 Interview mit S2 .................................................................................................. 197
15.2.3 Interview mit S3 .................................................................................................. 208
15.2.4 Interview mit S4 .................................................................................................. 217
15.2.5 Interview mit S5 .................................................................................................. 229
15.2.6 Interview mit S6 .................................................................................................. 236
15.2.7 Interview mit S7 .................................................................................................. 243
15.2.8 Interview mit S8 .................................................................................................. 254
15.2.9 Interview mit S9 .................................................................................................. 263
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1. Vorwort
Zum Gelingen meiner Arbeit haben viele Menschen beigetragen. Ich möchte besonders der
Lehrerin Martina S. und dem Betreuer dieser Arbeit Dr. Volker Daut recht herzlich danken,
die mir mit ihren kompetenten Ratschlägen sehr geholfen haben.
Der sprachlichen Einfachheit halber wird in meinen Ausführungen durchgehend das konven-
tionelle grammatikalische Geschlecht benutzt. Selbstverständlich sind bei allen personalen
Benennungen weibliche als auch männliche Vertreter gemeint, es sei denn eine Einschrän-
kung auf ein Geschlecht wäre explizit erwähnt.
9
2. Einleitung
„Bei jeder Fußball-WM denkst du dir, schon wieder vier Jahre vorbei, das Leben ist nur ein Hu-scher, du kaufst dir ein Radio, dann einen Fernseher, dann einen Video. Und dann bestellst du dir ein Faxgerät, und der Faxmonteur läutet bei dir an der Tür, und du machst auf, und es ist nicht der Faxmonteur, sondern der Knochenmann holt dich ab. Ist es nicht so, wenn wir uns ehrlich sind?“ (Haas 2006, 26).
Es ist so wie Wolf Haas in seinem Kommissar Brenner-Roman „Der Knochenmann“ auf
eigentümliche Art und Weise schildert. Obwohl wir wissen, dass der Tod eines Tages auch
vor unserer Türe steht, denken wir kaum an ihn. Er überrascht uns zumeist mitten im Leben,
obgleich uns doch allen klar sein sollte, dass jeder von uns irgendwann einmal sterben muss.
Selbst wenn der Tod durchaus nahe liegend im hohen Alter an unsere Tür klopft, fällt es uns
schwer ihn als unser Ende zu akzeptieren, geschweige denn über ihn zu kommunizieren. Ich
erinnere mich noch genau, wie meine 85jährige Großmutter immer wieder ihr Alter und ihren
baldigen Tod ansprach. Mir, ihrem Enkel, fiel bis zu ihrem Tod nichts Besseres ein als immer
wieder abzuwiegeln: „Ach Oma, denk doch nicht an so was! Du bist doch noch gesund!“.
Es scheint in unserer westlichen Gesellschaft nicht üblich zu sein sich mit Sterben, Tod und
Trauer zu beschäftigen. Dies merkte ich allein schon an den vielen fragenden Blicken von
Freunden angesichts des Themas meiner Arbeit. Warum gilt es als sonderbar sich mit etwas
zu beschäftigen, das unausweichlich mit unserem Leben verbunden ist? Tod und Sterben
gehören zu unserem Leben unweigerlich dazu. Natürlich weiß das insgeheim jeder. Dennoch
fällt es den meisten Menschen schwer diese Tatsache auszusprechen, geschweige denn sie in
ihre Lebensführung einzubeziehen.
Seit einigen Jahren ist jedoch eine Trendwende zu beobachten. Die Masse an Ratgeber-,
Kinder- und Jugendliteratur zu der Thematik, die seit den 1980er Jahren auf den Büchermarkt
drängt, erschlägt einen geradezu. Darin bemühen sich vor allem Journalisten, Psychologen,
Pädagogen und Theologen verstärkt darum, dass Thema Sterben und Tod Kindern und
Jugendlichen zugänglich zu machen (vgl. Everding 2005, 21/ Plieth 2002, 245).
Verfolgt man diese Tendenz der letzten 20 Jahre, so verwundert es, dass die existentielle
Thematik dagegen kaum Eingang in wissenschaftlichen Untersuchungen erhalten hat (vgl.
Wittkowski 1990, 34; 2002, 7). Laut Joachim Wittkowski, dem führenden deutschsprachigen
Forscher auf diesem Gebiet, „ist eine systematische und auf Dauer angelegte wissenschaftli-
che Beschäftigung mit der Todesthematik, welche die Grundlagen für fachlich verantwortba-
10
res Handeln in der Praxis liefern könnte, in Deutschland kaum erkennbar. Um nur einige
Stichworte zu nennen: Es gibt keine einzige universitäre oder außeruniversitäre Forschungs-
einrichtung, kein Graduiertenkolleg, keine Fachzeitschrift und wenig fachwissenschaftliche
Literatur im engeren Sinne“ (Wittkowski 2003a, XIII). Lehrstühle, zu deren Aufgabengebiet
die Auseinandersetzung mit Tod und Sterben zählt, gibt es in Deutschland, Österreich und der
Schweiz nicht.
In den USA sieht die Lage etwas besser aus. Dort werden in den beiden Zeitschriften „Death
Studies“ (früher: „Death Education“) und „Omega – Journal Of Death And Dying“ regelmä-
ßig Studien rund um das Erleben und Verhalten der Menschen gegenüber Tod und Sterben
veröffentlicht. Zudem gibt es in den USA seit Mitte der 1960er Jahre im Rahmen einer
allgemeinen „Death Awareness“ Bewegung, schulische und außerschulische „Death Educati-
on“ Programme zu den Themen Tod und Sterben (vgl. Wittkowski 2002, 20/ Kalish 1989,
76f/ Plieth 2002, 227ff/ Reuter 1994b, 104f). Diese stellen pädagogisch-psychologische
Möglichkeiten dar, die Kursteilnehmer mit dem Tod vertraut zu machen, indem ihre Vorstel-
lungen und Fragen zu Tod und Sterben thematisiert werden, Wissen über Tod und Sterben
vermittelt und somit die Angst davor reduziert wird (vgl. Durlak 2003, 212f/ Warren 1984,
184/ Morgan 2003, 21). Death Education wird mittlerweile auch im schulischen Bereich
eingesetzt und ist in den USA mittlerweile ein mehr oder weniger fester Bestandteil von
Schullehrplänen (vgl. Kalish 1989, 78/ Wass/Neimeyer 1995, 442/ Rosemeier/Minsel 1984,
370).
Für Deutschland liegen hingegen kaum Informationen bezüglich der Verbreitung und Durch-
führung der Todesthematik an Schulen vor. Meistens wird Tod und Sterben an deutschen
Schulen nur behandelt, wenn aktuelle Fälle in der Familie oder der Schule vorliegen. Dies ist
neben der Suizidprävention übrigens auch die gängigste Form der schulischen Death Educati-
on in den USA.
Das gleiche Bild zeigt sich im Bereich der deutschen Förderschulen. Die wenigen dahinge-
henden sonderpädagogischen Veröffentlichungen setzen sich in erster Linie mit dem adäqua-
ten Umgang mit aktuellen Todesfällen oder mit sterbenskranken Kindern auseinander (vgl.
Haupt 1991/ Schweizer/Niedermann 2000/ Daut 2001/ Ortmann 1995/ Leyendecker/Lammers
2001/ Jennessen 2005/ Verband Sonderpädagogik 2004/ Schroeder et al. 2000).
Ich dagegen möchte mich mit meiner Arbeit hauptsächlich der präthanatalen Beschäftigung
mit Sterben und Tod im Unterricht ohne aktuellen Anlass widmen. Diese scheint mir gleich-
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zeitig am hilfreichsten bei der zukünftigen Bewältigung von Tod und Sterben und in der
bisherigen Diskussion am meisten vernachlässigt.
Mir ist jedenfalls bis dato keine Arbeit bekannt, die sich mit der unterrichtlichen Thematisie-
rung von Tod und Sterben bei geistig behinderten Jugendlichen als Sachthema außerhalb des
Religionsunterrichts auseinandersetzt. Die einzige Veröffentlichung dazu von Heinrich
Schurad, handelt das Thema Tod im Sachunterricht auf gerade mal drei Seiten ab – gemein-
sam mit Gesundheit und Krankheit (vgl. Schurad 2002, 112-114). Mit Hilfe dieser Arbeit soll
also versucht werden diese Lücke weiter zu schließen.
Ziel meiner Arbeit ist es dem Tod, als wichtiges Lebensthema, einen angemessenen Stellen-
wert in der Schule einzuräumen und ihn in den Alltag menschlicher Erfahrung zurückzuholen,
so dass Kinder und Jugendliche bereits im Schulalter lernen können, den Tod als Teil des
Lebens zu verstehen, ihren Alltag bewusster zu gestalten und den Tod mit in ihren Lebensall-
tag einzubeziehen.
Ich möchte mit meinen Ausführungen den Lehrern Mut machen, sich der Thematik Tod und
Sterben im Unterricht zu stellen, ihr nicht auszuweichen und sie so nach der Sexualkunde zu
einem weiteren neuen Thema in der Schule zu machen.
Meine Arbeit gliedert sich in drei Teile:
Zuerst werde ich die Begriffe Tod und Sterben klären, da diese die Grundlage der Arbeit
bilden. In einem nächsten Schritt zeige ich den gesellschaftlichen Umgang mit Tod und
Sterben auf, werde die Folgen für die heutige Jugend und deren Todesvorstellungen skizzie-
ren, um daraus die pädagogische Relevanz des Themenkreises Tod-Sterben-Trauer für die
Schule zu begründen.
Im empirischen Teil der Arbeit gebe ich einen Überblick über den Forschungsstand zu den
Todesvorstellungen und dem Todeserleben geistig behinderter Jugendlicher und werde diesen
durch meine eigene explorative Interviewstudie mit neun geistig behinderten Jugendlichen
erweitern.
Ausgehend von diesen Ergebnissen stelle ich im abschließenden Praxisteil mit einer eigens
ausgearbeiteten und im Unterricht erprobten Unterrichtssequenz eine Möglichkeit der
Thematisierung von Tod und Sterben in Form einer Projektwoche vor und fasse die generel-
len Auswirkungen von thanatalen Unterrichtsprogrammen zusammen.
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3. Begriffsklärung
Sterben und Tod werden – sofern sie nicht beschönigend umschrieben werden – in unserer
Alltagssprache häufig gleich verwendet. Wie schwer es tatsächlich ist, beide eindeutig zu
definieren und voneinander abzugrenzen, soll im Folgenden gezeigt werden, um unzulässige
Gleichsetzungen und Missverständnisse zu vermeiden.
Sterben und Tod sind Phänomene, die den Menschen schon immer in jeder Lebensphase und
in allen Kulturen beschäftigt haben. Stellen sie doch neben der Geburt eine der wenigen
universellen Ereignisse dar, die jeden Menschen betreffen. Obwohl sie wesensmäßig zu
unserem Leben dazugehören, sind sie uns aber in Wirklichkeit sehr fremd.
Immerhin sind uns zwei Dinge über Tod und Sterben klar: Sterben geschieht zeitlich vor dem
Tod und stellt im Gegensatz zum Tod, der ein Zustand ist, einen Prozess dar. Der Mensch
stirbt nämlich nicht an einem Zeitpunkt, sondern Sterben bezeichnet einen komplexen und
unterschiedlich langwierigen Prozess, der mit dem Tod endet (vgl. Ramachers 1994, 21/
Samarel 2003, 132ff). Sterben ist der Übergang zwischen Leben und Tod, sozusagen die
Vorstufe des Todes, die „Nahtstelle zwischen Sein und Nicht-Sein“ (Meyer 1982, 15), aber
eben noch Leben. Sterben ist ein Verenden im Leben, während der Tod das Ende des Lebens
markiert.
Ebenso unspezifisch bleiben medizinische Definitionsversuche, die Sterben als „jene Endpha-
se des Lebens […], in der die psychischen und somatischen Funktionen erlöschen“ (Meyer
1982, 16) bezeichnen oder als „irreversiblen Verfall der Lebensqualität definieren, der dem
Tod eines einmaligen Individuums vorausgeht“ (Barnard 1981, 32).
Wann beginnt der Prozess, den wir Sterben nennen? Hierzu gibt es verschiedene Betrach-
tungsweisen (vgl. Özkan 1997, 14/ Meyer 1982, 16/ Wittkowski 1990, 117/ Veatch 1995,
423/ Kastenbaum 1989b, 103). Beginnt der Sterbeprozess, wenn der Arzt erkannt hat, dass
der Tod unabwendbar ist oder erst wenn über diese ärztliche Gewissheit mit dem Patient
geredet wird? Kann man von Sterben reden, wenn der Patient selbst eingesehen und akzeptiert
hat, dass er stirbt oder nur dann, wenn der Arzt nichts mehr tun kann, um das Leben des
Patienten zu retten? Oder ist es vielmehr so, dass der Mensch bereits ab dem Zeitpunkt seiner
Geburt stirbt, wie die Philosophen Seneca und Montaigne behaupten?
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Dies sind schwer zu beantwortende Fragen. Der Zeitpunkt des Sterbens bleibt wohl nicht
exakt bestimmbar, weil er Interpretationssache und abhängig von der jeweiligen Wahrneh-
mung, Informationsverarbeitung und Beurteilung ist (vgl. Howe 1987, 39f/ Samarel 2003,
136).
Nur Eines scheint klar: Sterben endet mit dem Tod. Aber wann tritt dieser ein? Genauso wie
der Beginn ist auch das Ende des Sterbens nur schwer abgrenzbar.
Schon etliche Philosophen wie Merleau-Ponty, Scheler, Kierkegaard, Jaspers, Simmel,
Heidegger, Sartre und Schopenhauer haben sich den Kopf über den Tod zerbrochen. Sie
haben erkannt, dass es äußerst schwierig ist, über etwas eine Aussage zu treffen, das man
selbst noch nicht erfahren hat und über das man, wenn man es selbst erfährt, nicht mehr
Kunde geben kann. Die Sprache der Lebenden kann den Sachverhalt des Todes einfach nicht
fassen. Wir können unseren eigenen Tod in der Zukunft nicht in der Gegenwart denken.
Schon Epikur machte diesen Sachverhalt bereits 300 Jahre vor Christus deutlich: „Solange
wir sind, ist der Tod nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht da“ (Epikur zit. nach Neys-
ters/Schmitt 1993, 65). Wir können den Tod nur bei anderen miterleben, aber erfahren werden
wir von den Toten nichts. Der Tod bleibt ein Rätsel für die Wissenschaft. Selbst Theologen
sind sich lediglich sicher, dass es den Tod gibt (vgl. Jüngel 1980, 12/ Lotz 1980, 79). Somit
ist der Tod in seiner Gesamtheit wissenschaftlich nicht klar und eindeutig zu definieren (vgl.
Habermas/Rosemeier 1990, 268/ Karusseit 1994, 71/ Mischke 1996, 14).
„Der Tod ist das Unbekannte, von dem sich nur sagen läßt, daß er die Negation des Lebens
oder das Nicht-Sein ist“ (Meyer 1982, 15). Er ist ein Beziehungsbegriff und ohne seinem
Gegenteil, dem Leben, nicht denkbar.
Selbst Definitionsversuche aus der Medizin, die sich nur auf die somatischen Symptome des
Todes beschränken, sind umstritten. So gilt zwar seit der Harvard-Kommission von 1968 das
irreversible Erlöschen der Hirnfunktionen als Kriterium für den Eintritt des Todes beim
Menschen, doch über die Gleichsetzung von Hirntod mit dem Tod der Person lässt sich
streiten (vgl. Veatch 1995, 409/ Körtner 1996, 34/ Möller 2006, 44/ Zucker 2003, 248).
Kritiker behaupten, dass der Verlust aller Hirnfunktionen empirisch überhaupt nicht nachge-
wiesen werden kann. Die gesamten Hirnfunktionen seien weder bekannt noch messbar. Es ist
also nicht mit Sicherheit auszuschließen, dass trotz diagnostiziertem Hirntod noch Hirnfunk-
tionen vorhanden sein könnten (vgl. Häusler/Fuchs 1999, 71). Der Zeitpunkt des Gehirntods
lässt sich zeitlich nicht exakt definieren.
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Käthe Meyer-Drawe prangert von einem anderen Standpunkt aus die utilitaristische Redukti-
on des Menschen auf sein Gehirn an und plädiert für eine Beachtung der ganzen Leiblichkeit
des Menschen, wobei das Hirn nur einen Teil des Leibes darstellt und potentiell ersetzbar und
entbehrlich ist (vgl. Meyer-Drawe 2007). Der Mensch ist ganzheitlich zu sehen: Erst wenn
der ganze Organismus gestorben ist, sei der Mensch eine Leiche und damit tot. Die Gehirnfi-
xierung des Menschenbildes berge laut Franco Rest sogar die Gefahr kognitiv beeinträchtigte
Gruppen wie geistig behinderte Menschen zu Vorstufen von Leichen umzudefinieren (vgl.
Rest 2001, 108f).
Weitere Kritiker wie Hans Jonas fordern eine maximale Definition des Todes, die sich nicht
nur auf Herz-Kreislauf-Versagen und Hirntod beschränkt, sondern alle zur Verfügung
stehenden Kriterien wie Leichenstarre und Leichenflecken beachtet (vgl. Jonas 1985, 222).
Die Hirntod-Debatten und die damit verbundene verschärfte Diskussion über Organtransplan-
tation, Sterbehilfe, Koma-Zustände und Embryonalforschung werfen einige anthropologische
Fragen erneut auf: Welche Bedeutung hat das Gehirn für das Dasein des Menschen? Woran
ist die Identität eines Menschen festzumachen? Was macht den Menschen als Individuum
aus? Ändert sich dieses Innerste durch eine Organtransplantation?
Wir wissen nicht genau, wo die Grenze zwischen Tod und Sterben liegt. Sie ist offen und
diskussionswürdig. Die Schwierigkeiten Sterben und Tod wissenschaftlich eindeutig festzule-
gen zeigen, dass es „einen Bereich der Ungewißheit gibt, in dem die Grenze zwischen Leben
und Tod verwischt“ (Ramachers 1994, 21). „Der Tod, so sehr er inzwischen biologisch,
medizinisch und psychologisch erforscht sein mag, bleibt trotzdem etwas prinzipiell Unbe-
kanntes für die Lebenden“ (Gebhard 1994, 189).
Da eine klare Position in Bezug auf Sterben und Tod dennoch vonnöten ist, um sich wissen-
schaftlich mit der Thematik auseinanderzusetzen, schließe ich mich der Meinung von Franco
Rest an.
„Die Hirntoddefinition besagt nichts zur Frage nach dem Tod des Menschen, da sie sich nicht mit dem Menschen, sondern mit dem Gehirn befaßt, und dies auf der Grundlage nur kurzzeitig (heute) geltender Methoden, Meßverfahren, Vorannahmen, Hypothesen“ (Rest 2001, 107).
Die folgenden Ausführungen stützen sich daher auf eine sehr allgemeine Definition von
Sterben und Tod. Sterben meint in meinem Verständnis einen körperlichen Verfallsprozess,
der zu dem Zeitpunkt, an dem der Mensch wahrnimmt, dass sein Leben in naher Zukunft zu
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Ende geht, beginnt und mit dem Todeszustand, dem Verlöschen jeglicher Lebensfunktionen,
endet.
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4. Der Umgang in unserer Gesellschaft mit Tod und Sterben
Auch wenn die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit sehr individuell geschieht und die
jeweilige Lebenssituation sowie der spezifische biographische Hintergrund jeder Person eine
wichtige Ausgangslage für die Einstellung zu Tod und Sterben und die Beschäftigung damit
bilden, sind Sterben, Tod und Trauer immer eingebettet in die jeweilige Gesellschaft und
deshalb auch immer von ihr beeinflusst (vgl. Möller 2006, 40/ Morgan 2003, 14/ Mischke
1996, 26). Diese Gesellschaft beeinflusst nun durch Kultur und Tradierung auch die Entwick-
lung der Todesvorstellung von Kindern und Jugendlichen (vgl. Gebhard 1994, 185/ Böcker
1987, 553/ Wass 2003, 92).
„So hat am Anfang einer Beschäftigung mit dem Themenkomplex ´Sterben-Tod-Trauer´ die Re-flexion über die jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu stehen, ohne die man Ge-fahr liefe, die eigene Verflochtenheit in die jeweils gängigen Denkstrukturen und Erfahrungsmus-ter zu übersehen und ihnen dadurch in gewisser Weise auch ausgeliefert zu bleiben“ (Bodarwé 1989, 23).
Bezogen auf unsere heutige Gesellschaft kann man von einer „gewissen Ambivalenz im
Umgang mit Tod und Sterben“ sprechen (Jennessen 2005, 193). Einerseits werden Tod und
Sterben aus dem öffentlichen Leben verdrängt und tabuisiert, andererseits zeigt sich in den
letzten Jahren eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Thematik als Gegenbewegung. Diese
Widersprüchlichkeit macht einen differenzierten Diskurs über gesellschaftliche Tendenzen im
Umgang mit Tod und Sterben notwendig.
4.1 Verdrängung und Unbedeutsamkeit
Nach übereinstimmender Auffassung zahlreicher Autoren wird der Tod in der modernen
Gesellschaft „ignoriert, verdrängt, tabuisiert, verschleiert, beschönigt, verharmlost, maskiert,
bagatellisiert, verobjektiviert, privatisiert, entöffentlicht und entexistentialisiert“ (Arens 1994,
25); alles Schlagworte, die im Zusammenhang mit der Verdrängungsthese fallen (vgl.
Nassehi/Weber 1989, 12/ Fuchs 2004, 83/ Wagner 1989, 10/ Pöhlmann 1990, 45/ Joachim-
Meyer 2004, 11).
Tod und Sterben haben laut dieser These keine Bedeutung mehr für die Lebensplanung und
Weltdeutung des Einzelnen in der Gesellschaft, da die Problematik der eigenen Sterblichkeit,
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das Wissen um den eigenen Tod aus dem persönlichen, familiären und gesellschaftlichen
Leben weitgehend ausgegrenzt, institutionalisiert und anonymisiert wird.
Laut Wittkowski wäre es allerdings sinnvoller anstatt von Verdrängung von einer Unterdrü-
ckung der Todesproblematik zu sprechen. Verdrängung als psychologischer Abwehrmecha-
nismus meint, dass ein Ereignis nicht bewusstseinsfähig wird. Unterdrückung dagegen „das
dem Betroffenen durchaus bewußte Beiseitescheiben unlustbetonter Gedanken“ (Wittkowski
1990, 105). Der Gedanke an den Tod und die Auseinandersetzung mit ihm ist bewusstseins-
fähig, nur extrem mit Unlust besetzt (vgl. Wittkowski 1990, 105/ Neimeyer/Van Brunt 1995,
53).
Kritiker der Verdrängungsthese behaupten dagegen anderes. Wenn uns Menschen der Tod
kaum betrifft und wir nur wenige Erfahrungen damit haben, „dann ist er für uns kein Tabu,
sondern zunächst einmal nicht unmittelbar bedeutsam, was ein Unterschied sein dürfte“
(Tews 1979, 320). Die seltene Auseinandersetzung mit dem Tod resultiert also nicht aus einer
Verdrängung oder Tabuisierung des Todes, sondern hat sich aus den gesellschaftlichen
Veränderungen ergeben. Er wird demnach nicht verdrängt, sondern durch die neuen Gesell-
schaftsformen sowie die medizinischen Fortschritte bewältigt und ist für den heutigen
Menschen so einfach nicht mehr relevant (vgl. Hahn 1968, 25/ Fuchs 1969, 7/ Schmied 1985,
36/ Fischer 1997, 6/ Böcker 1987, 556).
Meiner Meinung nach treffen sowohl die eher psychologisch orientierte These der Verdrän-
gung als auch die mehr soziologisch argumentierende Behauptung der Unbedeutsamkeit des
Todes zu. Der Tod ist aufgrund der hohen Lebenserwartung sowie der vermehrten Institutio-
nalisierung und Professionalisierung in der heutigen Gesellschaft für die meisten Menschen
kaum bedeutsam. Wenn wir ihm allerdings – in welcher Form auch immer – begegnen,
schieben wir dieses unschöne Ereignis lieber schnell beiseite, bevor wir uns mit ihm ausei-
nandersetzen müssen. Das Resultat der Unbedeutsamkeit und der Verdrängung des Todes ist
beides Mal das gleiche: Erfahrungen mit sterbenden und toten Menschen bleiben in unserer
heutigen Gesellschaft weitestgehend aus. Der Tod ist aus der Öffentlichkeit verschwunden.
„Er wird in den meisten Fällen nicht wahrgenommen, geleugnet. Wir leben so, als gebe es ihn
nicht“ (Winau 1984, 15).
Das war allerdings nicht immer so. Vor allem im Mittelalter war der Tod durch Epidemien,
Kriege, öffentliche Hinrichtungen, die hohe Krankheitsanfälligkeit und Kindersterblichkeit
allgegenwärtig und schlug blindlings zu, so dass unsere Vorfahren in ihrem Leben massenhaft
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Erfahrungen mit ihm sammeln konnten. Da keiner wusste, wie lange ihm noch ein Aufenthalt
auf Erden vergönnt war, setzen sich die Menschen oft früh und dauerhaft mit Sterben und Tod
auseinander. Bis ins 19. Jahrhundert hinein lebten die Menschen in dieser bewussten Erwar-
tung des Todes und bereiteten sich in unterschiedlicher Weise auf den Tod vor. Den Men-
schen war der Tod nah und vertraut. Er gehörte zum Leben seit jeher dazu und war fester
Bestandteil des öffentlichen Lebens von frühester Jugend an (vgl. Ariès 1976, 25/ Imhof
1996, 2/ Morgan 2003, 22/ Möller 2006, 41).
Diese Umgangsformen mit und die Einstellung zu Tod und Sterben veränderten sich von
zirka 1850 ab so drastisch, dass sie in unserer heutigen Zeit kein öffentlicher Bestandteil
unserer westlichen Gesellschaft mehr sind und weitestgehend ausgegrenzt werden (vgl.
Hofmeier 1974, 235/ Ariès 1976, 57).
Welche genauen Ursachen dieser Erfahrungsmangel in unserer heutigen Gesellschaft hat und
in welchen Formen er sich zeigt, möchte ich im Folgenden darstellen.
Ein zentraler Grund für die geringe Konfrontation mit dem Tod heutzutage ist die hohe
Lebenserwartung (vgl. Hahn 1968, 21/ Weidmann 1999, 58/ Imhof 1991, 163). Die Verbesse-
rung der Hygiene und der Ernährung sowie die Entwicklungen in der Medizin zur Eindäm-
mung von Krankheit und Säuglingssterblichkeit verhalfen uns Menschen innerhalb des letzten
Jahrhunderts zu einem doppelt so langen Leben wie bisher. Lag die durchschnittliche Lebens-
erwartung in Deutschland 1855 noch bei 37 Jahren, ist sie heute auf gute 74 Jahre angewach-
sen (vgl. Imhof 1996, 2). Weniger als ein Prozent der Bevölkerung hatte früher eine so hohe
Lebenserwartung wie sie heute schon die Hälfte aller Deutschen genießt.
„Man schätzt, dass etwa 40-50% aller Menschen das 10. Lebensjahr nicht erreichten. Noch bis ins 19. Jahrhundert hinein erreichte nur etwa die Hälfte aller Neugeborenen das 15. Lebensjahr“ (Freese 2001, 37).
Die hohe Kindersterblichkeit verdeutlicht, welch zentrales Thema der Tod in früheren Zeiten
war. Im Mittelalter war es beispielsweise üblich, dass viele Eltern ihren Kindern erst einige
Zeit nach der Geburt einen Namen gaben, weil sie anfangs nicht sicher sein konnten, ob die
Kleinen die ersten Wochen überhaupt überleben würden. Erst nach dieser heiklen Lebenspha-
se entstand ein größerer emotionaler Bezug der Eltern zu ihren Nachkommen.
Da der Tod in den Familien heute wesentlich seltener vorkommt, liegt er gerade für die
jungen Leute vermeintlich in weiter Ferne. Kein Wunder also, dass sie keine direkten To-
deserfahrungen mit älteren Menschen haben. Durchschnittlich dauert es heute 10 bis 15 Jahre
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bis aus einer Familie ein Angehöriger stirbt, so dass ein 50-Jähriger erst die Anzahl von
Todesfällen miterlebt, die um 1820 schon ein 20-Jähriger erlebt hatte (vgl. Hahn 1968, 23/
Fischer 1997, 14).
Im Mittelalter war der Anblick einer Leiche für viele Kinder und Jugendliche dagegen etwas
völlig Normales, da sie von Geburt an „selbstverständliche Zeugen des Sterbezeremoniells
eines Angehörigen“ waren (Reuter 1994b, 36).
Außerdem treten in der heutigen Zeit Todesfälle zunehmend in älteren Altersgruppen auf, zu
denen die jüngere Generation in ihrer Kleinfamilie kaum noch Kontakt hat. Da die wenigsten
Kinder und Jugendlichen einen toten Menschen zu Gesicht bekommen, ist es nicht verwun-
derlich, dass Sprachlosigkeit bzw. Kommunikationshemmung gerade in der jüngeren Genera-
tion in Bezug auf Sterben und Tod vorherrschen. Wer redet schon gern über etwas, das er
kaum kennt.
Doch nicht nur die Häufigkeit des unmittelbaren Kontaktes mit dem Tod hat sich verringert,
sondern auch die Intensität des Todes hat sich abgeschwächt. Durch die Institutionalisierung
und Professionalisierung in unserer arbeitsteiligen Gesellschaft werden Kranke und Sterbende
nicht mehr so häufig wie früher von der Familiengemeinschaft gepflegt. Die Institutionen
Krankenhaus und Altersheim sowie professionelle Beerdigungsinstitute haben die ursprüngli-
chen Aufgaben der Familie übernommen. Ungefähr jeder zweite Mensch stirbt mittlerweile in
Krankenhäusern oder Altersheimen (vgl. Pompey 1989, 34/ Nassehi/Weber 1989, 232/
Fischer 1997, 15/ Schmied 1985, 42). Beerdigungsinstitute übernehmen alle Aufgaben die im
Zusammenhang mit dem Tod eines Angehörigen anfallen: von der Gestaltung der Todesan-
zeige über das Wachen und Ankleiden der Leiche bis hin zur Organisation der Beerdigung
und der Trauerfeier. Diese Verantwortungsabgabe entlastet einerseits die Hinterbliebenen,
aber sie erspart ihnen gleichzeitig die emotionale Auseinandersetzung mit dem Tod. „Die
heutigen Angehörigen eines Toten „kaufen“ die Verdrängung mit“ (Zingrosch 2000, 65).
Der Tod wird aus unserem Blickfeld geschoben, hinaus aus dem Kreis der Familie und
Freunde, hinein in Krankenhäuser, Altenheime, in professionelle Organisationen. Er wird in
die unauffälligen Randzonen der Gesellschaft zurückgedrängt, mit denen gerade junge Leute
nur minimalen Kontakt haben. Daraus resultiert der unsicherer Umgang mit toten Menschen
und die geringe Auseinandersetzung mit Sterben und Tod.
„Durch diese Rollenverschiebung gehen in unserer Gesellschaft quantitativ Todeskontakte und qualitativ Todeserlebnisse verloren, weil die Erfahrung des Sterbens weniger intensiv ist. Das ver-hindert nicht, daß der Verlust eines geliebten Menschen schmerzlich empfunden wird, aber es ver-
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hindert für viele, daß sie vom Sterben eines anderen Menschen so betroffen werden, daß sie sich selbst in ihrer Sterblichkeit erfahren“ (Hofmeier 1974, 236).
Die Menschen werden zwar älter, aber sie sind deshalb keineswegs gereifter, sondern nur viel
unvorbereiteter, sterbe- und todesunerprobter (vgl. Imhof 1991, 153). Während sich unsere
dahinscheidenden Vorfahren als Mitglieder einer helfenden Gemeinschaft der beruhigenden
Nähe ihrer Familie, Freunde und Nachbarn am Sterbebett gewiss sein konnten, macht sich in
unseren Tagen Hilflosigkeit und Überforderung im Umgang mit Toten und Sterbenden breit.
Unser heutiger Umgang mit Schwerkranken und Sterbenden spiegelt unser Verhältnis zum
Tod: es ist von Ausschluss, Vermeidung und Geringschätzung geprägt.
Überhaupt ist in unserer Gesundheitsgesellschaft kein Platz für den Tod. Das Hauptziel, nicht
nur der Medizin, sondern unserer ganzen Gesellschaft ist die Erhaltung der Gesundheit und
die Bewahrung des Lebens. Der Tod stört hier nur. Er muss bekämpft werden. Der Medizin
ist es gelungen, den Zeitpunkt des Todes für viele Menschen hinauszuzögern und den
Vorgang des Sterbens zu verändern. Auch wenn durch medizinische Fortschritte momentan
keine weitere bedeutsame Verlängerung der biologischen Lebenserwartung in Aussicht steht,
versuchen zahlreiche Hormon-, Zell- und Genforscher Alterungsgene zu entschlüsseln und
Klonierungstechniken zu entwickeln, um die Todesgrenze um jeden Preis immer weiter zu
manipulieren (vgl. Baeriswyl 1999, 294/ Straumann 1999, 102ff).
Da Krankheit und Tod nicht in unser leistungsorientiertes Gesellschaftsbild passen und dem
„Jugendlichkeits- und Gesundheitswahn“ (Zingrosch 2000, 67) der heutigen Zeit mit den
gesellschaftlichen Idealen von Stärke, Gesundheit, Tüchtigkeit, Erfolg, Fitness, Aktivität und
Fortschritt widersprechen, wird der Tod pathologisiert und kriminalisiert. Der Tod ist nicht
gesellschaftsfähig (vgl. Tews 1979, 321/ Böcker 1993, 649).
„Der sprunghafte Aufstieg der kosmetisch-chirurgischen Industrie, der hypochondrische Körper-kult der Lifestyle- und Health-Magazine, die Selbstmodellierung durch Training, Diäten oder Hormone sind Ausdruck der Flucht vor dem Schatten, den Alter und Tod über das Leben werfen“ (Fuchs 2004, 94).
Deshalb ist unser Leben auf eine gesunde Ernährung und Lebensführung angelegt. Wer nicht
gesund und vernünftig lebt, wird krank und stirbt. Er ist selbst daran schuld. Der natürliche
Tod wird versucht zu beschönigen. Man stirbt an einer Krankheit, an einer Verletzung, an
ärztlichen Kunstfehlern, aber nicht weil man zu alt ist. Kranke und Sterbende sind in unserer
Gesellschaft wenig wert, da sie scheinbar keine besonderen gesellschaftlichen Leistungen
erbringen, sondern nur Kosten verursachen.
22
„Es scheint bisweilen so, als ob Sterbende in einer leistungsorientierten Gesellschaft Störfaktoren sind, die zu unerträglichen Belastungen und Störungen der Organisation der Lebens- und Arbeits-welt führen“ (Gudjons 1996b, 9).
Genauso ergeht es Trauernden. Ihnen werden in unserer Gesellschaft nur ein paar Tage
Trauerzeit gewährt, bevor sie wieder ihre Aufgaben pflichtgemäß erfüllen müssen. Viele
Trauerrituale sind uns heute verloren gegangen. Zeichen für unsere Unfähigkeit Trauernde zu
trösten und zu unterstützen, zeigen sich in unseren mit hilflosen Worthülsen geschriebenen
Beileidsbekundungen.
Trauer besitzt heute eine negative Bewertung, da sie sich nicht mit den Idealen Heiterkeit und
Erfolg verbinden lässt. Der Tod erweist sich überhaupt als hinderlich für unser Entwicklungs-
denken, für unsere von Multitasking und Fastfood geprägte „Kultur der Zeit“ (Schmid 1998,
348), die ständig in Bewegung ist. Er zerstört diese fortschreitende Bewegung, vernichtet
unsere Zeit und ist uns daher ein Dorn im Auge (vgl. Schmid 1998, 349/ Fuchs 2004, 88).
Eine andere Entwicklungslinie hat allerdings ebenfalls Auswirkungen auf unser Todesbild:
Der Einfluss des christlichen Glaubens, der das abendländische Denken bis ins 19. Jahrhun-
dert bestimmt hat, schwindet seit der Säkularisierung der Gesellschaft im Zeitalter der
Aufklärung immer mehr. Mit dem Verlust der religiösen Weltvorstellung und der gleichzeiti-
gen Zunahme eines naturwissenschaftlich geprägten Weltverständnisses zeichnet sich auch
ein Wandel der Einstellung des Menschen zu Tod und Sterben ab (vgl. Hofmeier 1974, 235/
Reuter 1994b, 28f). Während die zumeist tiefgläubigen Menschen im Mittelalter sich Trost im
Jenseits versprachen und so der Todesangst weniger ausgeliefert waren, wird heute der Tod
unter rationalen Gesichtspunkten betrachtet, ohne Sinn und ohne jegliche Hoffnung auf ein
Jenseits. Nachdem auch philosophische Deutungsmuster in unserer Zeit keine große Rolle
spielen, besteht momentan kein kollektives Sinnangebot, das Sterben und Tod ins Leben
integriert (vgl. Gross 2001, 27/ Böcker 1993, 645). Diese fehlende gemeinsame Sterbekultur
zwingt den Einzelnen sich mit den existentiellen Sinnproblemen allein auseinanderzusetzen.
„Das Todesverständnis gibt es heute nicht mehr. Tod wird individuell und situativ gedeutet“
(Zingrosch 2000, 68).
Der Tod wird als individuelles Schicksal erlebt und ist durch die Institutionalisierung und
Säkularisierung aus unserem öffentlichen Leben verschwunden und Privatsache geworden. Er
wird in den privaten Bereich zurückgedrängt und ist somit ein Problem, dass jeder Einzelne
für sich selbst lösen – oder beiseite schieben muss (vgl. Gross 2001, 29/ Daum/Johannsen
1993, 10).
23
Während Tod und Sterben in der alltäglichen Kommunikation fast nicht zu finden sind, zeigt
sich in den Medien ein ganz anderes Bild. „Inflationär bricht der Tod ins Kinderzimmer ein“
(Zingrosch 2000, 76). Tod und Sterben verbunden mit Gewalt sind auf dem Bildschirm
präsenter denn je. Diese Bilder haben einen mächtigen Einfluss auf die Erziehung von
Kindern und Jugendlichen, zumal Fernseher, Computer und Spielekonsolen hauptsächlich
von ihnen genutzt werden (vgl. Wass 2003, 93).
Steht diese Todesfaszination, diese „Schaulust, die Tod und Gewalt zur populären Unterhal-
tungsware werden läßt“ (Ramachers 1994, 72) nicht im krassen Widerspruch zur Tabuisie-
rungs- oder Verdrängungsthese? Findet hier nicht eine intensive Auseinandersetzung mit der
Thematik statt?
Die Antwort lautet: Nein! „Die sog. Verdrängung des Todes und seine alltägliche mediale
Wirklichkeit stellen keinen Widerspruch dar, obwohl es auf den ersten Blick so aussieht“
(Becker 1998, 31). Da wir den Tod hier nur oberflächlich als fasziniertes Schaudern wahr-
nehmen, schrecken uns die Bilder und Schlagzeilen vom Tod in den Medien kaum noch und
„sind nichts, was uns den Appetit für länger als zwanzig Sekunden nehmen könnte“ (Peter
Paul Kaspar zit. nach Neysters/Schmitt 1993, 56). Wir haben uns an sie gewöhnt und sie sind
uns gleichgültig. Der häufige Kontakt mit dem gespielten oder gewaltsamen Tod in den
audiovisuellen Medien berührt uns persönlich kaum, weil wir hier keine direkten Erfahrungen
vom Sterben, sondern nur Erfahrungen aus zweiter Hand vermittelt bekommen (vgl. Hofmei-
er 1974, 239/ Möller 2006, 43). Gerade weil der Tod uns in so vielen Bildern gezeigt wird,
gleitet er folgenlos an uns vorüber. Der dargestellte Tod in den Medien erlaubt eine Distanzie-
rung, während nur der natürliche Tod in unserem direkten Umfeld uns an unsere eigene
Sterblichkeit erinnert. Nur wenn wir Tod und Sterben hautnah, unerwartet, ungeschminkt und
unsensationell begegnen, bekommen wir eine Gänsehaut, bedenkend, dass jeder andere
genauso gut betroffen sein könnte – auch du und ich.
Der Tod wird uns durch die Medien also nicht näher gebracht. Im Gegenteil: Kinder und
Jugendliche entwickeln ein verzerrtes Bild vom Tod, und damit auch von dem Wissen um
ihn. Gerade „Die kontraphobische Flucht nach vorn“ gilt als „eine der wirksamsten und heute
häufigsten Formen der Todesabwehr“ (Fuchs 2004, 95).
Auch wenn in diesem Bereich nur wenige empirische Untersuchungen vorliegen, klingen die
Einschätzungen von Experten sehr einleuchtend. Eine rationale und sinnvolle Auseinander-
setzung mit Sterben und Tod wird ebenso wie eine emotionale Verarbeitung der eigenen
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Endlichkeit und der der Mitmenschen über Medien wie Fernseher und elektronische Spiele
nicht ermöglicht oder sogar verhindert (vgl. Zingrosch 2000, 76/ Plieth 2002, 39).
Die Berieselung durch Gewalt im Fernsehen hat „negative Auswirkungen auf Kinder“ (Wass
2003, 94) und bewirkt ein Verharren in primitiven, unrealistischen Todesvorstellungen.
Gerade Kinder und Jugendliche als Hauptmediennutzer übernehmen die Unsterblichkeitsvor-
stellungen ihrer medialen Helden und deren Methode „Gewalt ohne Rücksicht auf die Opfer“
als erfolgreiche Möglichkeit Konflikte zu lösen (vgl. Ramachers 1994, 90ff/ Everding 2005,
22f).
Die Medien liefern in Wirklichkeit also einen Beitrag zur Verdrängung von Tod und Sterben.
4.2 Enttabuisierung
Mittlerweile äußern zahlreiche Autoren Kritik an der Undifferenziertheit und inhaltlichen
Pauschalisierung der Tabuisierungsthese (vgl. Ramachers 1994, 71/ Meyer-Drawe 2004, 158/
Körtner 1996, 11/ Rolfes 1989, 42/ Möller 2006, 40/ Mischke 1996, 5).
Ihnen zufolge ist das Gerede vom verdrängten oder tabuisierten Tod in unserer Gesellschaft
nur eine Seite. Nimmt man neuere Entwicklungen in den Blick, so sind gerade in jüngster Zeit
auch zunehmend Tendenzen einer Enttabuisierung erkennbar. Die meisten Menschen beschäf-
tigen sich nämlich sehr wohl mit dem Tod, indem sie Lebensversicherungen abschließen,
Grabstellen erwerben, Testamente hinterlegen und sich durch Zeitungen und Zeitschriften
informieren. Tod und Sterben begegnen uns im Alltag zwar nicht mehr so konkret wie früher,
dafür sind sie in anderen Bereichen wie noch nie zuvor präsent (vgl. Pompey 1989, 33/
Möller 2006, 42). Das Thema boomt geradezu. Da zeigt sich seit zirka 20 Jahren an dem
Aufkommen von individuellen Bestattungsformen, Hospizgruppen, AIDS-Initiativen,
Sterbebegleitungs- und Trauerseminaren, Death-Awareness-Bewegungen, Museen über Tod,
Trauer und Sterben und die öffentlichen Debatten um Sterbehilfe, Patientenverfügung,
Sterbebegleitung und menschenwürdigeres Leben.
Eine verstärkte Beschäftigung mit dem Tod erscheint durch die gestiegene Zahl von sehr
alten, kranken und pflegebedürftigen Menschen sowie von krebskranken Kindern und
Erwachsenen, aufgrund der Aidsproblematik und wegen der Diskussion über den angemesse-
nen Umgang mit Sterbenden sogar dringend nötig (vgl. Wittkowski 1990, 1f).
25
Zudem ist es ja nicht so, dass heutzutage niemand mehr stirbt. Im Laufe unseres Lebens
werden wir durchschnittlich alle sechs Jahre mit dem Tod eines uns nahe stehenden Men-
schen konfrontiert (vgl. Fachverlag des deutschen Bestattungsgewerbes GmbH 2006). In
Deutschland gab es laut dem Statistischen Bundesamt in Wiesbaden im Jahr 2006 5094
Verkehrstote. Das sind 14 Unfallopfer pro Tag, die jeder von uns im Alltag miterleben muss
und mit denen sich nicht nur die direkten Angehörigen, sondern eine breite Öffentlichkeit
auseinandersetzt. Genauso verhält es sich mit den vielen Selbstmordversuchen und den
170000 Krebstoten in Deutschland jährlich (vgl. Neysters/Schmitt 1993, 46).
„Die Rede vom verdrängten Tod greift auch für Kinder und Jugendliche zu kurz“ (Baum-
gartner 1999b, 256). Der Tod ist für die Jüngeren trotz der gesellschaftlichen Hemmnisse
nichts Unbekanntes. Die allermeisten haben den Tod einer ihnen nahe stehenden Person
bereits miterlebt und besitzen ein wachsendes Interesse an der Thematik. Viele wissen um die
tödlichen Bedrohungen in unserer Welt und setzen sich mit Aids, Krebs, atomaren Unfällen,
Katastrophen, Kriegen, nuklearen Bedrohungen, Kernwaffen, Terroranschlägen, Drogen und
Suizid bewusst auseinander (vgl. Neimeyer et al. 2003b, 110/ Becker 1998, 32/ Reuter 1994b,
92f). Die steigenden Kinder- und Jugendbücherzahlen sowie die Ratgeberliteratur zur
Thematik, die Hinweise auf Zigarettenpackungen, der wieder aufkommende Gottesglaube
und virtuelle Grabstätten und Erinnerungsseiten im Internet belegen dies (vgl. Geser 1999).
Nach dem Uni-Massaker im US-amerikanischen Blacksburg am 16.04.2007 tauschten
beispielsweise jugendliche Trauergruppen ihre ernsten Empfindungen und sensiblen Gedan-
ken auf www.facebook.com, www.myspace.com und Kondolenzbüchern im Internet aus (vgl.
von Randow 2007, 2).
„Es kann zusammenfassend festgestellt werden, dass trotz der Todesverdrängung aus dem kol-lektiven Bewusstsein die individuell zu beantwortenden Fragen nach dem persönlichen Tod, dem Sterben und der Endlichkeit des Lebens für den einzelnen Menschen bestehen bleiben“ (Jennessen et al. 2006, 323).
Es bleibt jedoch die Frage, ob die seit den letzten Jahren währenden Tendenzen etwas an der
grundsätzlichen Einstellung des heutigen Menschen zu Tod und Sterben ändern. Sind dies
alles Anzeichen für einen besseren und stärker bewussten Umgang mit Sterben, Tod und
Trauer in unserer Gesellschaft?
Insgesamt ist festzustellen, dass die Tabuisierung des Todes in den meisten Gesellschaftsbe-
reichen noch überwiegt (vgl. Mischke 1996, 8/ Müller/Leimkühler 1984, 247). Zu selten wird
über Tod und Sterben auf ernsthafte Art und Weise gesprochen, zu oft werden die möglichen
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Erfahrungen mit Tod und Sterben im direkten Umfeld umgangen, um zu einem bewussten
Umgang mit dem Tod zu gelangen. Unsere heutige Gesellschaft hat nach wie vor keine den
neuzeitlichen Umständen angepasste Sterbekultur entwickelt, wie sie beispielsweise als „ars
moriendi“ im Mittelalter üblich war. Eine lebenslange Einübung ins Sterben und die daraus
resultierende Vertrautheit mit dem Tod sind in unserer modernen Welt abhanden gekommen.
Was bedeutet dies aber für Kinder und Jugendliche heute? Es zeigt sich deutlich, wie ver-
hängnisvoll die gesellschaftliche Verdrängung des Todes gerade für Heranwachsende ist. Sie
lernen nicht oder zu spät mit ihm zu leben, da sie kaum hilfreiche Unterstützung von den
Eltern, den Medien oder der Schule erhalten um mit Tod und Sterben vertraut zu werden (vgl.
Gudjons 1996b, 10/ Löbsack 1982, 73/ Reuter 1994a, 147). Im Gegenteil: Ihnen wird die
Möglichkeit genommen, sich mit der Wirklichkeit des Todes auseinanderzusetzen und ihre
Gefühle, Einstellungen und Fragen zu klären. Sie lernen durch das vorgelebte Verhalten der
Erwachsenen, „dass es erforderlich ist, Gefühle und Ängste, die den Tod betreffen, zu
unterdrücken, zu verschweigen und allenfalls mit sich selbst zu klären“ (Jennessen et al. 2006,
323/ vgl. auch Tausch-Flammer/Bickel 1994, 68/ Freese 2001, 219/ Reuter 1994b, 37/ Wass
2003, 104).
Den Heranwachsenden wird dieses Thema erspart, da „die gedankliche Verbindung von
Kindern und Tod für Erwachsene äußerst unangenehm ist und unadäquat zu sein scheint“
(Jennessen 2005, 15). Kinder symbolisieren mit ihrer Lebensfreude Wachstum und Zukunft,
den Gegensatz zum Tod. Wir Erwachsene wollen sie vor allem Bedrückenden verschonen
und spielen deshalb die Wirklichkeit herunter, verblümen, verheimlichen und erfinden
barmherzige Lügen. Mit der fadenscheinigen Begründung die kindliche Unschuld vor
Schmerz und Leid zu beschützen, wird der Todeswirklichkeit ausgewichen. Das dies nicht
zum Nutzen der Kinder, sondern aus Gründen des Selbstschutzes der Erwachsenen geschieht,
liegt auf der Hand. Es ist deshalb so schwer für die meisten mit Kindern und Jugendlichen
über den Tod zu sprechen, weil das Thema auch bei der älteren Generation Befangenheit und
Unsicherheit auslöst und diese selbst angstvoll an den eigenen Tod erinnert. Kein Wunder,
wenn wir erst einmal zusammenzucken, wenn uns Kinder mit dem Thema überraschen und
wir erklärungsreiche Worte finden sollen, die ihnen weiterhelfen. Wie sollen wir das, was wir
selbst nicht verstehen, Kindern erklären? Wie sollen Kinder das verstehen, was selbst Er-
wachsene nicht begreifen?
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Der Mensch hat ein Problem mit dem Tod. Er kann nun versuchen ihn mehr schlecht als recht
zu verdrängen und zu verschweigen oder sich dem Problem zu stellen und versuchen mit ihm
zu leben. Durch ersteres Verhalten wird zwischen den Menschen und dem Tod eine Mauer
des Schweigens errichtet und so getan, als gäbe es den Tod nicht. Da wir aber die leidvolle
Begegnung mit Sterben und Tod nun einmal weder von uns, noch von unseren Kindern
fernhalten können, stellt das „Totschweigen“ keine adäquate Lösung dar. Der Heranwachsen-
de bleibt mit seinen Fragen und Ängsten allein und lernt nicht mit solchen Grenzsituationen,
denen er zweifellos im Leben begegnen wird, umzugehen. Wegschauen ist keine gute
Vorbereitung oder Stärkung für spätere belastende Situationen und hilft nur kurzfristig.
Früher oder später wird es jeder von uns selbst oder in seinem Bekanntenkreis mit dem Tod
zu tun bekommen. Was wenn morgen eine von uns geliebte Person stirbt? Dann werden wir
vom Tod überrascht, ohne für ihn reif zu sein.
Deshalb halte ich es für besser, von Kindesbeinen an zu lernen mit dem Tod zu leben. Dies
funktioniert nur, wenn wir den Tod zur Sprache bringen. Auf diesem Wege verliert er seine
Bedrohlichkeit und wird begreifbar. Wir begegnen unseren Ängsten, können sie thematisie-
ren, an ihnen arbeiten und so gelassener mit Tod und Sterben umgehen (vgl. Holzbeck 2003,
87/ Maier/Terno 2003, 3/ Schmid 1998, 351). Wollen wir mit dem Tod vertraut werden,
müssen wir uns dieser Herausforderung stellen.
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5. Der Umgang von Kindern und Jugendlichen mit Tod und Sterben
5.1 Die Todesvorstellung von Kindern und Jugendlichen
Wie im vorherigen Kapitel aufgezeigt wurde, lassen die gesellschaftlichen Bedingungen und
die damit verbundenen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche kaum mehr eine natürliche
Begegnung und einen natürlichen Umgang mit Tod und Sterben zu und machen es ihnen
heute zunehmend schwerer eigene Todesvorstellungen zu entwickeln.
Was aber weiß ein Kind überhaupt vom Tod? Und woher hat es dieses Wissen? Diese Fragen
wurden lange Zeit nicht untersucht. Obwohl Sylvia Anthony (1937) und Maria Nagy (1948)
schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Untersuchungen zum kindlichen Todeskon-
zept anstellten, wurde die Todesvorstellung von Kindern und Jugendlichen erst ab den späten
1950er Jahren zu einem festen Gegenstand psychologischen Interesses. Seit den 1980er
Jahren wird die Entwicklung des Todeskonzepts bei Kindern durch empirische Untersuchun-
gen der Thanatopsychologie, die sich mit dem Erleben und Verhalten gegenüber Sterben und
Tod befasst, intensiv und wissenschaftlich erforscht (vgl. Neimeyer et al. 2003b, 110/
Kastenbaum 1989c, 267). Auch wenn die Thanatopsychologie trotz alledem in den USA
bisher nur einen geringen und in Europa kaum einen Stellenwert hat, „kann man heute auf
eine vergleichsweise differenzierte Befundlage mit einer erfreulich breiten Datenbasis
zurückgreifen“ (Wittkowski 1990, 43/ vgl. auch Ochsmann 1993, 176).
Die Thanatopsychologie erforscht das Erleben und Verhalten gegenüber Tod und Sterben mit
empirischen Methoden. „Dabei handelt es sich um den Versuch, den Tod ganz pragmatisch
unter rein rationalen und wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten“ (Zingrosch 2000,
70). Ich werde im Folgenden die aktuellen Ergebnisse der Thanatopsychologie ausführlich
vorstellen, um dem Leser das Ziel, den Inhalt und die methodische Vorgehensweise meiner
eigenen empirischen Untersuchung verständlich und theoretisch gut begründet vor Augen zu
führen.
Bevor wir uns aber den Forschungsergebnissen zuwenden, sollte geklärt werden, was über-
haupt „Todesvorstellungen“ oder gleichbedeutende Begriffe wie „Todeskonzepte“, „Todeser-
leben“ und „Todesbilder“ meinen.