Psychosoziale Notfallversorgung nach Suizidunter besonderer Berücksichtigung
von Kindern und Jugendlichen
Suizid in der Familie - Nachsorge als Prävention
Referent: Referent: Dr. Joachim Kepplinger, Dr. Joachim Kepplinger, Leiter der Koordinierungsstelle für Leiter der Koordinierungsstelle für Konflikthandhabung/Krisenmanagement (KOSt-KHH)Konflikthandhabung/Krisenmanagement (KOSt-KHH)
1. Suizidalität – Prävalenz, Risikofaktoren
2. Notfallnachsorge nach Suizid
3. Was tun?
4. Todesvorstellungen und Alter
Gliederung
Suizide in der Normalbevölkerung
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1980: 18.451 (23,6/100.000)
2007: 9.402 (11,4/100.000)
• „ Das Recht betrachtet den Menschen als Herren über sein Dasein und belässt ihm die Freiheit zu sterben.
• .... Daher ist die Vernichtung des eigenen Lebens nicht rechtswidrig.“
Aus dem Leipziger Kommentar zum Strafrecht
Suizid ist ein LösungsversuchABER
der denkbar schlechteste.
Overlap model (five domains) für suizidales Verhalten (nach Blumenthal & Kupfer, 1990)
Familiengeschichte
und Genetik
Biologie
Persönlichkeitszüge
Serotonerges System 5-HT2- Rezeptoren ß-Rezeptoren genetische Disposition,
auch unabhängig von psychischer Krankheit
psychische Erkrankung
Depression Schizophrenie Alkoholabhängigkeit
narzisstisch, leistungsorientiert, perfektionistisch, erhöhte Kränkbarkeit
psychosoziale Lebensereignisse chronische Körperliche Krankheiten
Vorbildfunktion
Prävalenz
Suizid in Abwesenheit einer psychischen Erkrankung
ist ein
seltenes Ereignis !
Psychische Diagnose u. Suizidalität
Depression: 40-70%Alkoholabhängigkeit: 20-30%Schizophrenie: 2-12%
Suizidmortalität
12-18%10-15%5-10%
Risikogruppen
• Suizid: ältere Männer vs. Suizidversuch: junge Frauen
• psychiatrisch Erkrankte (v.a. Depression, Sucht, Psychosen)
• akute krisenhafte Ereignisse (z.B. Arbeitslosigkeit, Schulden, Scheidung, Inhaftierung, Verlusterlebnisse, Traumatisierung)
• soziale Isolierung, Keine Einbindung in feste Strukturen
• Chronische körperliche Erkrankungen
• Frühere Suizidversuche (eigene Vorgeschichte oder in der Familie)
• Hohe narzisstische Kränkbarkeit
• starke Verleugnungstendenz und mangelndes Hilfesuchverhalten („mir geht es gut; ich brauche keine Hilfe..“)
Verlust von Interesse u.
Freude
Depressive Stimmung
Verminderter Antrieb
Suizidgedanken / Suizidale
HandlungenVermindertes
Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
Schlafstörungen
Negative und pessimistische
Zukunfts-perspektiven
Verminderte Konzentration undAufmerksamkeit
Gefühl von Schuld und
Wertlosigkeit
Appetitminderung
Symptome einer Depression
Dauer: Intensität:
> 2 Wochen Fast die ganze Zeit
Suizid ist ansteckend !
Die Problematik des Werther-Effektes
Dr. I. Bermejo UKL Freiburg-Sektion Klinische Epidemiologie
und Versorgungsforschung
Ziegler & Hegerl, Nervenarzt, 2002; 73:41-49
Der Werther-Effekt
• nach Zeitungsberichten über Suizide steigen auch die Suizide in der Allgemeinbevölkerung statistisch messbar an.
• die am längsten und intensivsten berichteten Suizide (z.B. Marilyn Monroe), hatten die höchsten Anstiege der Selbstmordrate zur Folge.
• die dokumentarisch gehaltene Serie „Tod eines Schülers“ führte 1981 zum 175%igen Anstieg der Suizide bei gleichaltrigen Schülern.
Durch Medienwirkungen kommen Menschen zu Tode, die sich normalerweise nicht das Leben nehmen würden.
Andererseits:
Medienguides reduzieren Suizidalität (z.B. Bündnis gegen Depression, Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention)
Gliederung
1. Suizidalität – Prävalenz, Risikofaktoren
2. Notfallnachsorge nach Suizid
3. Was tun?
4. Todesvorstellungen und Alter
• Suizid als Tabuthema (Suizid ist eine Todesursache, wie jede andere auch!)
• Naive, subjektive Theorien über Suizidalität bei den Hinterbliebenen und im Umfeld, erschweren die Bewältigung
• Mythen über Selbsttötungen
• Trauer widerspricht der Vorstellung von einer glücklichen Kindheit (Kinder werden u. U. von einem heilsamen Trauerprozess ausgeschlossen)
• Familie = Quelle sozialer Unterstützung vs. Familie = Konfliktherd
Rahmenbedingungen
Quelle: Dr. J. Kepplinger
! FEHLER !! FEHLER !
„Wer über Suizid redet,wird es nicht tun.“
„Suizide sind leicht zu erklären.“„Durch Fragen bringe ich den
Menschen evtl. erst auf die Idee.“
! FEHLER !! FEHLER !
Mythen über Selbsttötung
• Angemessener Umgang mit Emotionen
• Erste Einschätzung des psychischen Statuses der Hinterbliebenen
• Normalisieren der psychischen Reaktionen, Akzeptieren der Krise
• Einleitung eines „geregelten“ Verarbeitungsprozesses (erste Bewältigungsassistenz)
• Herstellung eines realistischen und differenzierten Bildes der Suizidalität bzw. des Suizides
• Einschätzung und gfls. Mobilisierung und Kanalisierung verschiedener Unterstützungspotentiale
• Verhinderung sekundärer Viktimisierung
Ziele Ihrer Arbeit
Mögliche Themen Ihrer Arbeit
Trauer? Wut? Aggression?
Schuld? Schmerz? Scham?
Suizidalität der Hinterbliebenen?
Akzeptanz? Ärger? Verzweiflung?
Verwirrung? Verstörung? Traumatisierung?
Problematische Verarbeitungsstrategien?
Gliederung
1. Suizidalität – Prävalenz, Risikofaktoren
2. Notfallnachsorge nach Suizid
3. Was tun?
4. Todesvorstellungen und Alter
Problematische Reaktionen
• Schuldgefühle: Überzeugung, für das Ereignis verantwortlich zu sein
• Ärger: Opfer der Rücksichtslosigkeit oder Aggression eines anderen zu sein
• Scham: Die eigene Ehre verloren zu haben
• Trauer: Mit dem Verlust nicht fertig zu werden
• Furcht: Gefahr könne sich (ständig) wiederholen
Dr. I. Bermejo UKL Freiburg-Sektion Klinische Epidemiologie
und Versorgungsforschung
Akutintervention
• Beruhigen Überregung reduzieren
• Orientieren Hier und Jetzt Information
• Ressourcen aktivieren und fördern
• Zeiterleben strukturieren, zeitlicher Kontext
• Gefühle emotionale Entlastung, auf belastende Gefühle eingehen
• Kontrolle subjektive Kontrolle fördern
• Selbstbild Reaktionen normalisieren, Handlungsfähigkeit erhöhen
Plan für die nächsten Tage !!!
Häufige Fehler im Umgang mit Suizidalität
Akute Psychopathologie und Ängste übersehen
Überforderung durch Zuweisung von zuviel Verantwortung
„Suizidpakte“ innere Zustimmung in suizidale Hoffnungslosigkeit
Tabuisierung von Suizidalität
Suizidopfer „verdammen“
Traumatisierte Angehörige- Was kann ich tun ?
• Verschweigen = dramatisieren Offenes Ansprechen
• Klarheit über die Endgültigkeit des Todes herstellen
• Schuldgefühle ernst nehmen (vorsichtige Realitätsprüfung)
• langsamer Aufbau von Vertrauen, Gesprächsangebot
• Schaffung sicherer Umgebungsbedingungen
• Über Suizid entlastend und realistisch sprechen
• Ressourcenorientierung statt Defizitorientierung
• Mit Beispielen und Bildern arbeiten (v.a. bei Kindern und Jugendlichen)
Aufgabe:
Stelle dir vor, wie es in jemandem aussehen mag, der große Probleme hat, sich ganz schlecht fühlt und nicht mehr weiter weiß. Versuche diese Gefühle in einem Bild auszudrücken. Das können nur Farben sein, Gegenstände, Menschen. Was fällt dir ein? Ohne Anspruch auf künstlerische Leistung. Nimm dir 15 Minuten Zeit.
Ziele:
Verständnis wecken. Sehr direkter und wenig Angst auslösender Zugang.
Arbeit mit Bildern
Im NebelSeltsam, im Nebel zu wandern!Einsam ist jeder Busch und Stein,Kein Baum sieht den anderen, Ziele: Sehr direkter und wenig Angst auslösender Zugang. Jeder ist allein. Verständnis wecken.
Voll von Freunden war mir die Welt,Als noch mein Leben licht war,Nun da der Nebel fällt,Ist keiner mehr sichtbar.
Wahrlich keiner ist weise,Der nicht das Dunkle kennt,Das unentrinnbar und leise, Von allen ihn trennt.
Seltsam im Nebel zu wandern!Leben ist Einsam sein.Kein Mensch kennt den anderen,Jeder ist allein.
Hermann Hesse
Arbeit mit Gedichten
Gliederung
1. Suizidalität – Prävalenz, Risikofaktoren
2. Notfallnachsorge nach Suizid
3. Was tun?
4. Todesvorstellungen und Alter
Todesvorstellungen in verschiedenen AltersgruppenAltersgruppe Todesvorstellung Hilfestellung
Kleinkinder bis 3 Jahre • Keine Todesvorstellungen, aber Trauer bei Trennungen.
• Kein sprachlicher Ausdruck von Trauer, des Gefühls des Alleingelassenseins. Ausdruck über Verhalten. Interessenlosigkeit, Weinen, Spielunlust, Zerstörungswut.
• Vertraute Bezugsperson, geregelter Tagesablauf. Rituale geben Sicherheit und Orientierung.
Vorschulkinder 3 bis 6Jahre
• Totsein heißt weniger lebendig sein• Der Tod ist nicht endgültig• Totsein heißt Fortsein• Tod trifft nur die anderen• Magische Vorstellungen,
Wissenslücken werden mit fantastischen Erklärungen gefüllt, alles wird auf die eigene Person bezogen. Kann positiv oder negativ ausgeprägt sein.
• Unrealistische positive Vorstellungen unterstützen, nicht ausreden.
• Negative Vorstellungen genau erfragen, zuhören und korrigieren.
Todesvorstellungen in verschiedenen Altersgruppen
Angelehnt an: National Center for Post-Traumatic Stress Disorder (http://www.ncptsd.org)
Altersgruppe Todesvorstellung Hilfestellung
Grundschulkinder 6 bis 9 Jahre
• Sachliches Interesse am Tod (Interesse gilt mehr Äußerlichkeiten)
• Ängste vor unverstandenen Dingen• Das eigene Sterben wird teilweise
gesehen, teilweise ausgeklammert
• Gelegenheit zur sachlichen Auseinandersetzung nutzen, Ängste und noch vorhandenes magisches Denken beachten, Ängste aussprechen lassen und auf sie eingehen.
Schulkinder 9 – 12 Jahre • Sachliche Einstellung, andere Themen sind wichtiger
• Sachliche Fragen über die Folgen des Todes
• Gruselgeschichten und Witze über den Tod im Sinne der Distanzierung
• Versuch der Distanzierung durch Bewusstwerden des eigenen Todes, akzeptieren, auf Ängste eingehen
Todesvorstellungen in verschiedenen Altersgruppen
Angelehnt an: National Center for Post-Traumatic Stress Disorder (http://www.ncptsd.org)
Todesvorstellungen in verschiedenen Altersgruppen
Altersgruppe Todesvorstellung Hilfestellung
Jugendliche • Einstellung zum Tod zwischen Angst und „nichts“,
• Angst und Hilflosigkeit, Trauer das Gegenteil von „Coolness“ und „gut drauf sein“
• Orientierungslosigkeit: Verlassen des Alten, Bewährten, Einlassen auf Neues. Suizid zeithäufigste Todesursache bei Jugendlichen; Selbstunsicherheit, Gefühl Anforderungen nicht gewachsen zu sein.
• Konkrete Gesprächsangebote, Eingeständnis von Unsicherheiten durch Erwachsene erleichtert Kontakt
Angelehnt an: National Center for Post-Traumatic Stress Disorder (http://www.ncptsd.org)
Probleme nach traumatischen Ereignissen
Probleme nach traumatischen Ereignissen in verschiedenen Altersstufen
Vorschulkinder Schulkinder Jugendliche
Hilflosigkeit und Passivität Unsicherheit darüber, was passiert ist Distanziertheit, Scham- und Schuldgefühle
Generelle Ängstlichkeit Gefühle von Verantwortlichkeit und Schuld Befangenheit (Angst als unnormal abgestempelt zu werden)
Unklarheit, ob Gefahr vorüber ist Angst davor, dass sich das Ereignis wiederholt
Ausleben von risikoreichem Verhalten
Schweigen Ereignis immer wieder nacherzählen, nachspielen
Ängste davor, dass Ereignis sich wiederholt
Schlafstörungen Angst davor, von Gefühlen überwältigt zu werden
Plötzlicher Wandel in zwischenmenschlichen Beziehungen
Rückkehr zu früherem Verhalten(Regression)
Schlafstörungen, Albträume, nicht alleine schlafen wollen
Radikale Veränderungen in den Einstellungen
Unverständnis für den Begriff Tod Sorge um Sicherheit (eigene und die anderer) Wunsch nach vorzeitigem Eintritt ins Erwachsenenalter
Verändertes Verhalten (aggressiv, unruhig) Sorge um andere Familienmitglieder
Körperliche Beschwerden
Genaue Beobachtung der elterlichen Reaktion auf das Geschehen
Sorge um andere Familienmitglieder
Angelehnt an: National Center for Post-Traumatic Stress Disorder (http://www.ncptsd.org)
www.allesistanders.de Projekt für trauernde Jugendliche und junge Erwachsene.www.leben-ohne-dich.de eine Seite für Eltern und Kinder, die um ein verstorbenes Kind
oder Geschwister trauern.www.carola-otterstedt.de hier finden sie Trauerhefte für Kinder und Jugendliche.
(als pdf herunterladbar)www.u25-freiburg.de Homepage des Arbeitskreis Leben in Freiburg mit Foren für
trauernde Jugendliche und Erwachsene, die jemanden durch Suizid verloren haben.
Kinder trauern anders. Wie wir sie einfühlsam und richtig begleiten (von G. Ennulat)Konkrete Anregungen und hilfreiche Hinweise um Kinder richtig zu begleiten.
Wenn Kinder nach dem Sterben fragen. Ein Begleitbuch für Kinder, Eltern und Erzieher (von D. Tausch-Flammer, L. Bickel)Der Verlust eines nahen oder geliebten Menschen ist für Kinder schockierend und unbegreiflich. Zwei erfahrene Autorinnen helfen einfühlsam, Tod und Sterben als natürlichen Teil des Lebens anzunehmen und zeigen, wie wir Kinder in ihrem Schmerz und ihrer Trauer behutsam begleiten können.
Kinder in Trauer. Kinder beim Abschiednehmen begleiten (von B. Voß)Was passiert, wenn Kinder mit dem Tod von Angehörigen oder Freunden konfrontiert werden? Wie erleben Kinder den Tod eines geliebten Menschen? Woran erkenne ich die kindliche Trauer? Wie kann ich einem Kind helfen, mit seiner Trauer umzugehen? Mit zahlreichen Fallbeispiele
Literatur
Internetadressen
Quelle: Dr. J. Kepplinger
Herzlichen Dankfür Ihre Aufmerksamkeit
Dr. Joachim KepplingerLeiter der Koordinierungsstelle für Leiter der Koordinierungsstelle für Konflikthandhabung/Krisenmanagement (KOSt-KHH)Konflikthandhabung/Krisenmanagement (KOSt-KHH)Akademie der Polizei Baden-WürttembergAkademie der Polizei Baden-WürttembergMüllheimer Straße 7Müllheimer Straße 779115 Freiburg79115 FreiburgTelefon: 0761/4906-2313Telefon: 0761/4906-2313Telefax: 0761/4906-2309Telefax: 0761/4906-2309
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