Download - Österreichische Gebärdensprache und Gehörlosenkultur - Über das Fehlen kultureller Ermächtigung
ÖSTERREICHISCHE GEBÄRDENSPRACHE UND GEHÖRLOSENKULTUR
Über das Fehlen kultureller Ermächtigung
Siegfried BachmayerRingLVA
Gehörlose Personen• Gebärdensprache• Gehörlosenkultur• Gehörlosengeschichte
Gebärdensprach-gemeinschaft• Eltern, Sozialarbeiter,
Lehrer, Gebärdensprachdolmetscher, Interessierte, Unterstützer
Inklusive Gehörlosenbildung
Rechtlicher Rahmen
Deaf Studies
Gebärdensprache aus rechtlicher Sicht
Das Verfassungsgesetz besagt über die Gebärdensprache im Art. 8 Abs. 3 B-VG, dass sie eigenständige Sprache ist [...].
ABER: Ein Schreiben vom Unterrichtsministerium (Lukas Huber, Feb./März 2015):
Gebärdensprache als Unterrichtssprache kommt nicht zustande bzw. infrage.
UNESCO
UNESCO schützt die Österreichische Gebärdensprache als immaterielles Kulturerbgut und fördert identitätsstiftenden Wert
Symbolische Anerkennung
Historische Wende im Gehörlosenbildungs-wesen
2010 Aufhebung der diskriminierenden Grundsätze des Mailänder Kongresses (1880)
Entschuldigung für die Resolutionen von Mailand (1880) Eingeständnis, dass die Mailänder Resolutionen negative
Folgen für gl/sh Menschen brachten Anerkennung und Unterstützung der UN-Konvention über
die Rechte von Menschen mit Behinderungen, insbesondere Artikel 21 (e) und Artikel 24 Abs. 3 (b)
Anerkennung und Unterstützung der Resolution, die der WFD 2007 auf seinem Weltkongress in Madrid verabschiedet hatte
Aktive Unterstützung von Pädagogen und Forschern mit dem Ziel der chancengleichen Partizipation gl/sh Bürger an politischen Entscheidungen in allen Ländern
UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
Art. 2 besagt, dass „Sprache“ Gebärdensprachen als auch andere nicht gesprochene Sprachen miteinschließt.
Art. 9 (Zugänglichkeit und Teilhabe) fordert, dass Hilfsmittel wie Gebärdensprachdolmetscher zur Verfügung gestellt werden Art. 21 (Sicherung der freien Meinungsäußerung und Information) besagt, dass die Gebärdensprache zB. im Umgang mit den Behörden verwendbar sein soll
Art. 24 Abs. 3 (Bildung) besagt, dass das Erlernen der Gebärdensprache zur Sicherung der sprachlichen und kulturellen Identität gefördert werden muss
Art. 30 Abs. 4 (Teilhabe am kulturellen Leben und in der Freizeit) sieht die gleichberechtigte Anerkennung und Unterstützung der sprachlichen und kulturellen Identität der Gehörlosen vor
Österreichische Gesetzeslage
Ratifizierung von UN-Konvention der Menschen mit Behinderung 2008
Umsetzungsprobleme Bildungsministerium/
Landesschulrat (Bescheid NÖ/K) 2015: Gebärdensprache ist nicht Bildungs-/UnterrichtsspracheAktuelle parlamentarische Verfahren:
20.04.2015: Stellungnahme der ÖAR zur Dienstrecht-Novelle 2015 mit Verweis auf die Gebärdensprache05.05.2015: Unterrichtsausschuss im Nationalrat > vertagt!20.05.2015: Unterrichtsausschuss im Nationalrat > ergebnislos!
Gehörlosenkultur
„Der Begriff der Gehörlosenkultur wurde in den 1970er Jahren entwickelt, um zu unterstreichen, dass die Gehörlosen und deren Gemeinschaft ganz eigene Lebensweisen haben und wobei die Gebärdensprache einen zentralen Aspekt darstellt.“ (Lane 1994: 37)
„Die gehörlosen Gebärdenden haben ihre ‚Gehörlosenkultur‘ mit eigenen Verhaltensmustern und eigenen kulturellem Werden. Es ist ihre Sprache, die Gebärdensprache, die dies alles erst durchdringt, zusammenhält und Ausdruck verleiht.“ (Boyes Bream 1990: 136)
„Die Gebärdensprache stellt innerhalb der Gehörlosengemeinschaft nicht nur das wichtigste Kommunikationsmittel dar, sondern dient auch der Identifikation mit der Gehörlosenkultur.“ (Boyes Bream 1990: 137)
Gehörlosenkulturen – volle Kultur oder Subkultur? Ladd (2003) betont, dass Subkulturen
immer noch die Hauptsprache ihrer Gemeinschaft als ihre erste Sprache haben.
Oder Menschen sind Träger einer Minderheitenkultur, wenn mit einer anderen Muttersprache (wegen Migrationshintergrund oder Gehörlosigkeit) ausgestattet sind.
Somit ist die Gehörlosenkultur eine Minderheitskultur aufgrund der Gebärdensprache.
Minderheits-Kulturen
Sind unterdrückte (gefährdete?) Kulturen Viele Minderheiten-Kulturen sind bereits lange
in der Gesellschaft verankert (Einwandererkulturen) oder einheimische Kulturen
Ladd (2003) erklärt auf Basis von Lane (1993) und Wrigley (1996), dass Gehörlosenkulturen ebenfalls unterdrückte
Kulturen sind. dass die M-Kulturen und M-Sprachen
entwicklungsgehemmt und unterdrückt sind. Hörende Sprachen und Kulturen dominieren diese.
dass die Kolonisation durch medizinische Eingriffe, in den Gehörlosenbildungssystemen und in der Gehörlosen-Community stattfindet (siehe Sprachenkampf).
Das Gehörlosenkultur ist wichtig, weil …
sie Möglichkeiten für die Gehörlosen und ihre Gemeinschaft bietet sich zu reflektieren. Das funktionierte gut: Die Gemeinschaften bestehen seit über 250 Jahren.
die internen Reflexionen und der wertschätzende Umgang der Betroffenen und der hörenden Gemeinschaft mit der G-Kultur unterstützen an Veränderungen teilzunehmen und zu bewältigen
fehlende Wahrnehmung und Wertschätzung der G-Kultur, mangelnde Bildungschancen, Ausgrenzung …. verringern HEUTE die Chancen: einerseits sich stolz zu dieser Sprachminderheit
zugehörig zu fühlen; andererseits fühlen sie sich nirgends richtig zugehörig.
Wird die Meinung der Gehörlosen gehört? Nein! Die Diskurse Gehörloser werden nicht gesammelt
und in der Gesellschaft verbreitet, also bleiben sie unbekannt.
Gehörlose wollen auch die Möglichkeit haben, ihre Geschichte, ihre Meinungen und ihre Werke festzuhalten und weiterzugeben.
Forschung über die Gehörlosenkultur und ihre Finanzierung ist erforderlich.
Unterschiede
Können über das Geld diskutieren
Können über die Körperfunktionen diskutieren
Persönliche Frage = OK Einführung = Name nicht
wichtig, Beschreiben Wenn spät, erkläre den
Grund Sei klar und deutlich, wenn
du kritisierst Fürsorgliche Haltung –
gegenseitiges HELFEN
Geld = eine private Angelegenheit
Körperfunktionen = Tabu Gerüchte = unhöflich Persönliche Fragen =
„Belästigung“ Einführung = was du tust Wenn zu spät, errege keine
Aufmerksamkeit Konstruktives, vorsichtiges,
undeutliches Feedback Irritiert, wenn von
Kommunikation ausgeschlossen
Gehörlose Hörende
Herausforderungen
Mangel an kollektiver Identität Mangelbegriff der Gehörlosigkeit als Behinderung
vs. Minderheit Mangelbegriff der Gehörlosenkultur Niedriger Bildungswert (=Charakterbildung und
Selbstkontrolle) Eher Einzelkämpferstatus beliebt Keine klare Zielformulierung innerhalb der
Gruppe Mehr Fremdkontrolle (> Hörende) als
Selbstkontrolle der Community Mangel an Humankapitalressourcen in der
Community (Bildung, Bereitschaft, etc.) Unbewusst angelernte Anpassung (Assimilation)
Politische Lage in Österreich
Gehörlosenpolitische Sachlage ist verworren, „weil die Regierung die Verantwortung für die Gehörlosengemeinschaft auf unterschiedliche Ministerien und Ämtern aufteilen“ (Ladd 2008: 67)
Gebärdensprachpolitische Entwicklung ist blockiert. Gebärdensprache ist vollwertig, aber ist keine Bildungssprache, weil... die Machtverteilung (Medizin vs. Kultur) ungleich ist. die kulturelle Ermächtigung der Gebärdensprache und
die Verbreitung und Sammlung der subkulturellen Produktionen fehlen.
Interessante Antwort von Jürgen Habermas (2012)
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Wissenschaftlicher Aspekt – soll sich der Mensch verbessern dürfen? (Habermas)
„[...] Biotechnologische Entwicklungen können, wie etwa Neuroimplantate bei Gehörlosen zeigen, zu begrüßenswerten Fortschritten führen. Die ganze Branche rechtfertigt sich einstweilen mit therapeutischen Zwecken. Deshalb stellt sich die Vorfrage, ob wir überhaupt trennscharf die „Verbesserung“ des menschlichen Organismus von der „Wiederherstellung“ eines gesunden Ausgangszustands unterscheiden können.
Aber die regulative Idee, dass jeder Eingriff eugenischer Natur ist, wenn er den Organismus leistungsfähiger macht, „als üblicherweise unter optimalen Bedingungen zu erwarten ist“, genügt am Ende doch für die Markierung einer roten Linie. Haben wir gute normative Argumente dafür, diese Linie nicht zu überschreiten? Wenn ich recht sehe, schwankt
(Die Presse, Printausgabe am 26.05.2012, http://diepresse.com/home/meinung/debatte/761145/Soll-sich-der-Mensch-verbessern-duerfen?from=suche.intern.portal, dl: 30.05.2012)
Chargraff selbst zwischen Zweifeln an der Machbarkeit weit-reichender eugenischer Eingriffe überhaupt und, auf der anderen Seite, dem emotional stark besetzten Imperativ, die Unantastbarkeit des organischen, sich selbst reproduzierenden Lebens zu respektieren. [...]“