Eine Annäherung – Der Langsamkeit auf der Spur
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Eine Annäherung – Der Langsamkeit auf der Spur
„Ob du eilst oder langsam gehst.
Der Weg vor dir ist immer derselbe.“
Chinesisches Sprichwort
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Viele tun es gern, andere weniger gern und weil es halt dazu gehört, wenn man dazugehören
will. Manche gar nicht: reisen. Für uns so ziemlich das Schönste auf der Welt. Die Urlaube in den
70er-Jahren an den damals schon vollen Adria- und Mittelmeerstränden mit Eltern, Freunden und
dem obligatorischen Sandspielzeug waren „das“ Highlight des Jahres. Jahr für Jahr bis ins
Teenageralter. Wie sich später herausstellen sollte, war das aber nur ein kleiner, mit tollen
Erinnerungen gespickter Vorgeschmack darauf, was die Welt im Erwachsenenalter zu bieten hatte
und vielleicht noch bereithalten wird. Zuerst Europa. Ganz klassisch: Deutschland, Griechenland,
Spanien und Italien. England, Zypern, Ägypten. Dann, gleich nach dem Studium, das Wagnis über
den großen Teich in die USA - Kalifornien, Mexiko, Michigan, New Orleans, Florida, New York.
Ein längerer Trip nach Südamerika – Venezuela - und ein Jahr später ein erstes Eintauchen in die
Faszination Südostasien. Eigentlich zufällig. Den Tipp hat uns ein vielgereister Bekannter
gegeben. Indonesien, Thailand, Singapur. Ganz schnell eine Ahnung, ein Gefühl: Hier ist etwas
anders. Nicht nur sichtbar, sondern auch spürbar.
Die Faszination ist geblieben, über mehr als dreißig Jahre hinweg. Trotz vieler Veränderungen, die
wir beobachten durften. Wir haben mit dem Auto mehrmals Thailand durchquert. Von West nach
Ost, von Norden nach Süden. Abseits der Touristenpfade in der Begegnung mit den Menschen,
die zum Teil noch sehr ursprünglich und für unsere Begriffe extrem einfach und bescheiden leben.
Seit ein paar Jahren besuchen wir dabei auch immer wieder unsere Patenkinder: Duang im SOS-
Kinderdorf in Chiang Rai in Nordthailand und den zehnjährigen Worapong auf Phuket.
Wir haben Sri Lanka und Myanmar erkundet, als noch keiner dorthin wollte und das Mobiltelefon
nach Einreise einfach gekappt wurde. Eine Woche kein Empfang. Die Flugzeuge hoben ab, als sie
voll waren und nicht laut geplanter Flugzeit. War auch kein Problem, da es noch keinen
ausgeprägten internationalen Flugverkehr über weiten Teilen des Landes gab. Die Fahrten von
den Flughäfen in die Städte Mandalay und Bagan - eine Geduldprobe über Stock und Stein,
verstaubte Landstraßen, manchmal im Wettkampf mit mehrgespannigen Ochsenfuhren.
Wir haben den Süden Vietnams entdeckt, per Boot und erst, nachdem die Tante des
Bootsmädchens, das uns durch die Seitenarme des Mekongs über schwimmende Märkte gerudert
hat, lautstark und wild gestikulierend geklärt hatte, dass wir keine Amerikaner sind. Haben mit
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einem uralten Motorrad, das uns ein Mitarbeiter des Hotels „privat“ für ein sattes Trinkgeld
geliehen hatte, die Reisfelder rund um Vinh Long und Chau Doc entdeckt. Unerlaubt, weil die
Gegenden stark vermint sind und es deshalb zu dem Zeitpunkt auch noch keine Mietautos zum
Selbstfahren gab. Nur mit Fahrer. In unserem Fall war es eine Fahrerin. Eine junge Taxifahrerin in
schöner Uniform mit roter Krawatte, der wir uns zwischen Ho Chi Minh und dem Mekongdelta
anvertraut hatten. Sie hat uns etliche Nerven und ein paar graue Haare gekostet mit nicht
nachvollziehbaren Überholmanövern und sechs Stunden Gehupe – einmal vor der Kurve, dann
nach der Kurve, und natürlich bei jedem Gegenverkehr auf auch für europäische Begriffe breiter
Landstraße. Ja - in der sozialistischen Volksrepublik fuhren bereits vor Jahrzehnten Frauen Taxi.
An der Grenze zu Kambodscha haben wir unsere Koffer vom öffentlichen Fährboot über eine
steile, rutschige Böschung zur Grenzstation hochgeschleppt. Kleine Jungs haben uns für ein paar
Dollar dabei geholfen. Der Sicherheitscheck des Gepäcks in einem Holzverschlag erfolgte dann
durch einen ernsten, fachmännisch prüfenden Blick des Zollbeamten in die geöffneten
Gepäckstücke. Ein Blick auf schmutzige Wäsche und stinkende Turnschuhe. Nach einem
großzügigen „Okay“ durften wir die Koffer wieder runterschleppen zum wartenden Boot. Aber
erst nachdem wir zweimal die 25 US-Dollar für das Visum bezahlt hatten. Die Fahrt auf dem
Mekong nach Phnom Penh war trüb und windig, was der Faszination, auf einem der größten
Flüsse der Welt zu schippern, keinen Abbruch getan hat.
Das Verkehrschaos in der kambodschanischen Hauptstadt hat dann wieder unsere eigenen
Mopedfahrkünste gefordert. Millionen Motorräder. Und alle fahren gleichzeitig. Erstaunlich, aber
es funktioniert. Die Spurensuche nach Zeugnissen der Gräuelherrschaft des Pol-Pot-Regimes hat
uns diese Tage nicht nur einmal mehr als betroffen gemacht. Wer das Tuol Sleng Genocide
Museum in Phnom Penh oder die Killing Fields in Choeung Ek, wo rund 17.000 Menschen
grausam ermordet worden sind, schon einmal besucht und die menschlichen Überreste des
Massenmordes der Roten Khmer zwischen 1975 und 1979 gesehen hat, die in einem Stupa
aufbewahrt sind, weiß, wovon wir sprechen. Vergangenheitsbewältigung auf Kambodschanisch
heißt, auch das haben wir gelernt, sich am besten nicht damit auseinandersetzen. „Was vorbei
ist, ist vorbei, wir leben jetzt und konzentrieren uns auf die Zukunft“, haben wir nicht nur dort,
sondern auch in Vietnam von den jungen Einwohnern immer wieder gehört. Debatten über
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Denkmäler für die im Weltkrieg gefallenen Alliierten und ob diese nun Freunde und Befreier oder
Feinde und Mörder sind, die derzeit in Österreich, konkret im Salzburger Tennengau8, die
Gemüter erhitzen, kennen die Menschen in diesen Ländern kaum. Maximal noch die Älteren, die
die Kriege und Gräueltaten erlebt haben.
Überbleibsel aus der Kriegszeit sind auch die vielen Rotlichtviertel in Phnom Penh und den
ehemaligen Truppenstützpunkten. Sie sind quasi gemeinsam mit den Kasernen entstanden,
ähnlich wie in Pattaya südlich von Bangkok, beziehungsweise immer dort, wo während der
unterschiedlichsten Kriege Truppen stationiert waren. Für viele junge Frauen aus den
Armenvierteln der Großstädte waren und sind sie immer noch die einzige Möglichkeit, ihre
Familien aus dem Alltagselend zu retten. Als die Soldaten abzogen, kamen die Touristen und
Einheimischen. Die Viertel haben Veränderungen überdauert. Die Geschäfte gehen sichtlich gut.
Die Mädchen werden immer jünger und die HIV-Rate ist in Kambodscha eine der höchsten der
Welt. Aber das ist eine andere Geschichte.
Wir haben dazwischen mehrmals Abstecher nach Australien unternommen, in die Metropolen des
fünften Kontinents und ins Outback rund um das australische „Herz“, den Ayers Rock. Diesen
haben wir ehrfurchtsvoll umrundet und in Respekt vor den Aborigines nicht bestiegen. Und
natürlich haben wir am Great Barrier Reef Fische beobachtet. Ganz allein in der Nähe des
Wasserflugzeuges, mit dem wir direkt am Riff gelandet sind. Ein Ort, an dem man stundenlang
verweilen und Muße üben kann. Auch wenn die Nähe eines mehrere Meter großen Hais, den wir
kurz vor der Landung entdeckt und der den Piloten zu einer Ehrenrunde motiviert hatte, da diese
Tiere in den tropisch warmen Gewässern ungewöhnlich sind, die Gedanken doch nicht ganz frei
schweifen hatte lassen.
Wir haben die asiatische Weltmetropole Hongkong zigmal besucht, als diese noch zum
Commonwealth of Nation gehörte und später zu China. Haben dort die ersten mit Handy
telefonierenden Menschen auf der Straße fotografiert. Auch daheim haben alle gestaunt, als sie
diese Fotos sahen. Die smartphoneerprobte Jugend von heute hat dafür nur ein mildes Lächeln
übrig. Gute fünfundzwanzig Jahre ist das her. Haben nach der Übergabe der Staatshoheit an die
8 Historiker sagt: Lassen wir die Kirche im Dorf. Salzburger Nachrichten, Samstag 25. April 2015, Regionalbeilage. Seite 10-11.
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Volksrepublik China 1997 Veränderungen bemerkt und erste Anzeichen beobachtet, dass die
Menschen in Hongkong nicht alle glücklich waren und nach wie vor sind über die Rückkehr zu
China, wie aktuelle Studentenproteste in regelmäßigen Abständen verdeutlichen.
Wir sind immer wieder - bis heute - der Faszination Bangkoks mit seinen Prachtbauten erlegen.
Der Stadt der Engel - Krung Thep -, in deren Schatten ein Großteil der Menschen noch sehr
einfach und bescheiden entlang des Chao Phraya und der trockengelegten Klongs lebt. Haben in
Rangun – bis 2005 die Hauptstadt Myanmars – vergeblich das Haus von Aung San Suu Kyi,
Friedensnobelpreisträgerin seit 1991, gesucht und in der Altstadt ganz unerwartet und dafür
umso besseren italienischen Espresso entdeckt und geschlürft. Und wir haben in Singapur vor
einem Vierteljahrhundert mit den Einwohnern das chinesische Neujahrsfest auf den Straßen des
alten Chinatown gefeiert. Laut und chaotisch, aber nachhaltig beeindruckend. Heuer begeht die
Metropole ihren 50. Geburtstag, ohne den Gründervater Lee, der vor kurzem verstorben ist. Auch
das Chinatown, das „echte“, gibt es nicht mehr. Es hat seinen Charme verloren und Sauberkeit
gewonnen.
Wir haben Kuala Lumpur mehrmals als pulsierende, weltoffene und tolerante Stadt erlebt und
den Petronas-Towers vom Hotel gegenüber beim Wachsen zugesehen. Kennen das von
Verkehrschaos geplagte Jakarta, das sich heute genauso präsentiert, nur noch verstopfter und
stickiger, als die Erinnerungen an den ersten Besuch erzählen. Haben das zum Reisezeitpunkt
wegen der Tamilenkämpfe vom Militär besetzte Colombo per Fuß und Motorradtaxi erkundet und
dem Taxifahrer, der uns auf Umwegen ins Kinderdorf Piliyandala fuhr, die Idee von Gründervater
Hermann Gmeiner mitgegeben. Patenkind Pradeepa, das in dem SOS-Kinderdorf unweit der
Millionenstadt lebt und bald großjährig wird, wartet immer noch auf den zweiten Besuch.
Haben dazwischen am Heimweg in schöner Regelmäßigkeit einen Stopp in den Vereinigten
Arabischen Emiraten oder Abu Dhabi eingelegt. Zum langsamen Zurückkommen und damit der
Kulturschock sich in Grenzen hält. Kontrastprogramm, wie es kontrastreicher nicht sein könnte.
Das heute pulsierende Dubai, das bei der ersten Einreise vor rund fünfundzwanzig Jahren noch
aus nicht recht viel mehr als einem großen Wartesaal am Flughafen und einer schönen, arabisch
geprägten alten Innenstadt bestand. Dort haben wir zum ersten Mal gespürt, dass wir Fremde
sind. Dieses Gefühl kennen wir aus anderen Ländern nicht. Vor allem Frauen in der Öffentlichkeit
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wurden damals noch als „Exotinnen“ bestaunt, auch wenn sie bis zu den Zehen und langärmelig
bekleidet über den Gold-Souk schlenderten. Manchmal feindselige Blicke. So fühlte es sich
zumindest an. Heute tummeln sich in Bur Dubai und Deira das ganze Jahr über Massen von
manchmal leicht bekleideten Touristen und Touristinnen. Viele kommen aus osteuropäischen
Ländern und Russland. Wenn sie das nötige Kleingeld mitbringen und es auch dort lassen,
scheinen Shorts, Minirock und Träger-T-Shirt keine Rolle mehr zu spielen.
Die Faszination fremder Kulturen ist geblieben. Auch nach den vielen tausenden Flugmeilen,
Schiff-, Auto- und Motorradkilometern, Begegnungen mit unterschiedlichsten Menschen,
unglaublichen Erlebnissen und tiefgehenden Eindrücken von fernen, exotischen Ländern. Wir sind
immer noch fasziniert von der Buntheit der südostasiatischen Kulturen, den beeindruckenden
Lebensweisen der Menschen, die häufig viel stärker noch als im modernen Europa von Werten,
Traditionen, Spiritualität und Dogmen der verschiedensten Glaubensrichtungen geprägt sind, in
denen aber ebenso animistische Traditionen und Rituale überlebt haben. Manchmal weicht die
Faszination der Betroffenheit ob der rasanten Modernisierung und Veränderungen, die unserer
Einschätzung nach nicht immer nur positiv sind. Amitav Ghosh lässt in seinem Roman „Der
Glaspalast“ seine Protagonistin, die politische aktive Inderin Uma, am Weg zu ihrem Bruder in
Kalkutta auf die schäumenden Wellen des Golfes von Bengalen schauen und für sie, die zum
ersten Mal in einem Flugzeug der KLM sitzt, die seit kurzem mit regelmäßigen Passagierflügen
Mingaladon in Birma mit Dum Dum, nahe Kalkutta, verbindet, scheint die „geschrumpfte Welt,
die dieses Flugzeug hervorgebracht hat, eine bessere zu sein als die vorausgegangene“9. Ob all
die Erfindungen, die es seither gegeben hat, deren Fülle nicht mehr überschaubar ist, immer zum
Besseren beigetragen haben, ist die eine Frage. Und die andere, ob man nicht aus negativen
Erfahrungen lernen kann. Aber wahrscheinlich muss jede Kultur ihre eigene Lernerfahrung
machen, um sich weiterentwickeln zu können.
Die Neugierde und Bereitschaft, immer wieder etwas Neues zu lernen, ist nach wie vor da. Auch
wenn wir heute auf der Suche nach Traditionen und alten Überlieferungen immer entlegenere
und exotischere Regionen aufsuchen müssen. Und auf die Frage, warum die Faszination so
mächtig ist, dass sie uns Jahr für Jahr die Koffer packen und gegen Osten fliegen lässt, haben wir
9 Ghosh, Amitav (2002): Der Glaspalast. 15. Auflage. München: Verlagsgruppe Random House. Seite 293.
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heute andere Antworten als noch vor zehn, zwanzig Jahren. Antworten, die sich in den kleinen
Dingen des täglichen Lebens in den von uns besuchten Ländern finden lassen.
Der Fokus verlagerte sich nach ersten Abenteuern weg von den klassischen Sehenswürdigkeiten
und richtet sich heute auf die kleinen Dinge im Alltag der Menschen, die man dabei lernen kann.
Heute erzählen wir von den kleinen bunten Haustempeln - oder besser Geisterhäuschen - in
Thailand, die dem aufmerksamen Beobachter landauf, landab begegnen und so viel Beachtung
der Menschen und liebevolle und fürsorgliche Pflege erfahren. Sie gehören für die Thais zum
Leben wie die Luft zum Atmen. Wenn wir an Bali denken, denken wir an die Unzahl an
Opferkörbchen und gleichzeitig etwas sorgenvoll an die rasant wachsende Zahl an Menschen in
den städtischen und touristischen Zentren, die etwas verkaufen wollen. Und gleichzeitig an
brachliegende Reisfelder, die nicht mehr bewirtschaftet werden.
Unsere Gedanken gehören heute den in hellblaue Arbeitskleidung gehüllten
Strandverkäuferinnen, die sich für ein paar Euro Monatslohn den ganzen Tag abmühen, nur um
ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Und das ohne Klagen und Hadern mit dem
eigenen Schicksal. Wir denken an Millionen in Schuluniform gekleidete Kinder aller
Altersgruppen, denen wir entlang der Straßen durch die Länder Südostasiens in den letzten
zwanzig Jahren begegnet sind. Oft zu Fuß unterwegs, weil es keine Schulbusse gibt. In
entwickelteren Ländern ,wie beispielsweise auf Bali, auf Fahr- und Motorrädern. Oder in den
Autos der Mamas und Papas, die vor den Schulen wartend die Straßen verstopfen, ähnlich wie in
Europa. Uns fallen die Unmengen an gebratenem Reis ein, die wir seither verspeist haben und vor
Jahrzehnten noch nicht zu den bevorzugten Gerichten zählten, aber auch die aromatischen, scharf
gewürzten, immer frischen, in den unglaublich kleinen und einfachen Garküchen zubereiteten
Speisen. In Singapur gelten seit den 60-er-Jahren strenge Hygienevorschriften für die Hawker
Stalls, die fahrenden Küchen, die aus den Straßen verschwunden sind und in modernen Food
Stalls integriert wurden. Hygienestandards wie in dem südostasiatischen Stadtstaat sucht man in
anderen Ländern meist vergeblich. Was nicht heißt, dass man sich dort auf die Straßenküchen
nicht einlassen kann. Gesunder Hausverstand reicht in der Regel. Auch wenn es manchmal etwas
riskant ist – laut Warnungen der Reiseführer -, ist es bisher immer gut gegangen. Auch beim
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allerbesten Fisch-Carpaccio der Welt am Hafen von Kota Kinabalu oder in Labuan Bajo am Balkon
der sizilianischen Osteria.
Wenn wir an Südostasien denken, fallen uns auch die Orang-Utans – die Waldmenschen Borneos
- in der Nähe von Sandakan ein, denen man tagelang einfach nur zuschauen kann und die durch
ihr Sozialverhalten an viele bekannte Verhaltensweisen des zwischenmenschlichen
Zusammenlebens erinnern. Recht schnell erkennt man, wer der Boss ist und wer der Außenseiter.
Und natürlich sind auch die Reisbauern auf Sulawesi präsent, die auf 1.400 Metern Seehöhe mit
althergebrachten Methoden unermüdlich ihren Reis anbauen und ihren Kindern ein modernes und
- wie sie meinen - besseres Leben mit Satellitenempfang, Toyota vor der Haustüre der für die
Region typischen und einzigartigen Toraja-Häuser und der eigenen Schule in jedem Ort
ermöglichen wollen. Das alles ist für uns Inbegriff asiatischer Lebensweise. Für einen Teil der
Wirklichkeit zumindest.
Wir denken natürlich an die traumhaften Unterwasserwelten rund um Sipadan Island, die Gilis,
die als die Malediven Indonesiens vermarktet werden, in den Marine-Nationalparks in
Nordsulawesi und im Komodo-Nationalpark. Und es tauchen auch unzählige Gesichter auf.
Manchmal ängstliche, meist aber lachende Kindergesichter, die dem Reisenden Schritt für Schritt
begegnen, auch in abgelegenen Gegenden. In unseren „Landkarten“ abgespeichert sind die
ungezählten Hallos, die man hört, wenn man durch die Gegend fährt. Egal wo. Oft gibt es nur
eine erfreute Stimme, ein lautes „Hello“ aus dem Nichts und kein Gesicht dazu. Dann wieder
neugierige oder strahlende Kindergesichter. Und daneben gibt es Bilder der Betroffenheit,
sorgenvolle Gesichter, wenn Erwachsene über Entwicklungen im eigenen Land erzählen, und
leere Blicke. Diese immer wieder nach Katastrophen wie dem Tsunami oder den jährlichen
Überschwemmungen während der Monsune, die alle Arbeit und Mühe auf den Feldern
zunichtemachen, ganze Stadtteile vernichten, die anschließend gemeinsam immer wieder be- und
aufgebaut werden. Krisenbewältigung auf Südostasiatisch.
Gerade diese Haltung, die Zufriedenheit und gelebte - manchmal möchte man fast sagen
„praktizierte“ - Achtsamkeit und das Grundvertrauen, dass alles so kommt, wie es kommen
muss, und man bestenfalls mit Opfern noch etwas nachhelfen kann, ist es wohl, was uns, aber
auch Millionen Touristen neben der Sehnsucht nach Sonne, Strand und Meer Jahr für Jahr immer
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wieder nach Südostasien zieht. Die Sehnsucht nach Leichtigkeit. Trotz zunehmender Hektik und
Schnelllebigkeit findet man diese Haltung auch heute noch weit verbreitet: im Alltag der
Menschen integriert als festen Bestandteil des täglichen Lebens, der Halt und Orientierung gibt.
Und auch Zufriedenheit. Diese scheint in Asien noch weit verbreitet zu sein. Vor allem bei
Menschen, die für westliche Begriffe nicht viel haben. Ich weiß nicht, wie oft uns das in
unzähligen Gesprächen in den letzten 30 Jahren immer wieder aufgefallen ist oder auch bestätigt
wurde. Besonders von jenen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen und sich täglich
abmühen müssen, um ein einigermaßen menschliches Leben führen zu können. Der Satz „Ja, ich
bin zufrieden“ scheint ein Leitsatz im Leben vieler Menschen zu sein.
Wir haben ein bisschen davon gelernt. Durch Hinschauen, Zuschauen und Tun. Sehr oft freiwillig,
manchmal aus der Not heraus, die eine bestimmte Situation erfordert hat und uns keine Wahl
ließ, außer langsam, aufmerksam, achtsam und wachsam zu sein. Und dabei haben wir etwas
gewonnen: eine Idee, was die alten Griechen unter Muße verstanden haben könnten. Viktor
Frankl, der große österreichische Neurologe10 und Psychiater, Begründer der Logotherapie und
Existenzanalyse, meinte einmal vor vielen Jahrzehnten, dass das Sinnstreben des Menschen in der
Tradition begründet sei, wo es seine ganzheitliche, spirituelle Erfüllung erlangen könne. Nun, da
im Materiellen die Grenzen des Fortschritts immer schmerzlicher verspürt werden, und die
Aufforderung zur Selbstverwirklichung mehr und mehr innere Leere zutage treten lasse, sehne
man sich wieder nach der spirituellen Geborgenheit aus früheren Epochen. Trifft unseres
Erachtens genau das, was sich gerade in unserer am Konsum orientierten Welt abspielt.
Nicht umsonst boomen auch in der sogenannten westlichen Welt seit mehr als 30 Jahren
Yogakurse, Ayurveda-Angebote, fernöstliche Entspannungsmassage und Kampfsportarten. Sie
haben sich vielerorts zu sehr verlässlichen und nachgefragten Verkaufsschlagern entwickelt.
Weltweit finden sich Menschen zusammen, um gemeinsam an Sinnfragen zu arbeiten und in der
Gemeinschaft mit Gleichgesinnten Orientierung und Spiritualität zu erfahren. In Asien wird noch
10 Vgl. dazu: Frankl, Viktor (1972): Der Wille zum Sinn. Bern: Verlag Hans Huber. Seine Eindrücke und Erfahrungen in den Konzentrationslagern verarbeitete er in dem Buch „… trotzdem Ja zum Leben sagen.“ Schon kurz nach Ende des Krieges vertrat er die Ansicht, dass vor allem Versöhnung einen sinnvollen Ausweg aus den Katastrophen des Weltkrieges und des Holocausts weisen könne. Ein ähnlicher Ansatz, den die Jugend in Vietnam und Kambodscha heute lebt. Mehr Infos unter: www.viktorfrankl.org
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im Lebensalltag der Menschen ein Stück der Sehnsucht nach Langsamkeit, Stille, Gelassenheit,
Orientierung an gemeinsamen Werten und Spiritualität gestillt. Wie lange noch, wird sich weisen.
BILDER, die Geschichten erzählen
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BILDER, die Geschichten erzählen
FOTOS © feichti
„Genau dort, wo die Bilder aufhören,
fängt die Philosophie an.“
Hermann Hesse, Narziß und Goldmund67
67 Hesse, Hermann (1975), Narziß und Goldmund. Berlin: Suhrkamp. (ISBN 978-3518367742)
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Vorab
Opferkörbchen am Strand von Bali. Jeden Tag werden den Wassergöttern an allen Stränden der Insel mehrmals Opfergaben dargebracht. Auf Schritt und Tritt begegnet man den wunderschönen, mit viel Liebe und Ehrfurcht handgemachten Bananen-blattkörbchen mit unter-schiedlichsten Füllungen. Erstaunlich dabei ist immer wieder, dass keiner, auch
nicht ungeübte und manchmal etwas schwerfällige Touristen, darauf herumtrampeln, sondern alle die Wege dazwischen finden. In Thailand sind es die kleinen Tempel und Geisterhäuschen, die an allen möglichen, aber auch unvermuteten Orten zu finden sind, in den Reisfeldern am Tobasee kleine Kirchen und Gruften, in muslimischen Ländern Moscheen, mitten in den Sand gebaut, die den Menschen zum Innehalten, Beten und als Orte der Zusammenkunft dienen. In den Lebensalltag integrierte Spiritualität, Achtsamkeit, Leichtigkeit und das Leben im Hier und Jetzt – das macht Südostasien so anziehend. Von den Einheimischen, egal in welchem Land und welcher Religion sie angehören, kann man als aufmerksamer Reisender vieles lernen. Eine der wesentlichen Erkenntnisse für Menschen der sogenannten Industrie-gesellschaften ist es aber, immer wieder zu erkennen, dass man auch mit weniger auskommen und dass man vor allem mit dem Wenigen zufrieden sein kann. Immer wieder faszinierend auch die für westliche Begriffe unvorstellbare Geduld, stoische Herangehensweise und der pragmatische Umgang mit der Gegenwart im Gleichklang mit der Natur.
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Eine Annäherung
Das ehemalige Saigon – heute Ho-Chi-Minh-Stadt - zur Zeit des wirtschaftlichen Auf-bruchs. Neben dem touristischen Zentrum, dem District 1, ist nur Cholon, das chinesische Viertel von Saigon, touristisch bedeutsam. Zu Stoßzeiten wälzen sich zigtausende Motor-räder, Mopedtaxis, Autos und Radfahrer durch die meist ver-
stopften Straßen der Metropole. Und obwohl immer alle gleichzeitig fahren und gehen, funktioniert der Verkehr wie durch Zauberhand gemacht relativ reibungslos. Für Westler etwas gewöhnungsbedürftig, wenn man über eine mehrspurige Straße muss oder sich mitten in einem großen Kreisverkehr an der Hauptdurchzugsstraße befindet.
Angkor Wat ist die größte und bekannteste Tempelanlage in der Region Angkor in Kambodscha. Der Tempel befindet sich zirka 240 km nordwestlich der Haupt-stadt Phnom Penh in der Nähe von Siem Reap und etwa 20 km nördlich des Sees Tonle Sap. Er ist heraus-ragendes nationales Symbol Kambodschas, das repräsentativ für die Khmer-Kultur und das heutige kambodschanische Volk steht. Die gewaltigen Bauten weisen zahlreiche Schäden auf. Witterungseinflüsse, die tropische Vegetation und menschliche Zerstörungskraft, wie etwa die Plünderungen durch die Siamesen im 15. Jahrhundert, haben den Tempeln zugesetzt. In den letzten Jahren kümmern sich auch internationale Organisationen um die Restaurierung dieser einzigartigen historischen Bauten.
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Blick vom Hotel in der Sukhumvit Road auf Bangkok. Krung Thep, wie die Stadt offiziell heißt, ist seit 1782 Hauptstadt des Königreichs Thailand. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts leben in Bangkok über sechs Millionen Menschen. In der Metropolregion waren es weit über zehn Millionen. Genau weiß das niemand, da täglich
Menschen aus den ärmeren landwirtschaftlichen Regionen des Landes, aber auch Wanderarbeiter aus den umliegenden Ländern in die Metropole kommen. Wirtschaftlich erholt sich die Stadt zusehends vom Zusammenbruch am Ende des Booms der Neunzigerjahre, was nicht zuletzt auch in neuen Bauvorhaben seinen Ausdruck findet. Eines der größten Probleme stellt der Straßenverkehr dar, auch wenn man heute im Vergleich zu ersten Besuchen vor 25 Jahren einigermaßen durchatmen kann. Der Austausch ganzer Autoflotten – bei Taxis beispielsweise –, aber auch der Ausbau des öffentlichen Verkehrsnetzes mit Bangkok Metro und Bangkok Skytrain konnte die Situation bislang etwas entspannen.
Essen rund um die Uhr, das gibt es in Bangkok an jeder Ecke. Besonders lecker auch immer wieder in Chinatown. Die Thai-Küche hat mittlerweile Eingang in internationale Küchen rund um die Welt gefunden und zählt zu den bekömmlichsten Küchen der Welt – vor allem für die, die es scharf mögen.
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Das moderne Zentrum von Dubai am Jumairah Beach besticht durch Glas und Stahl. Die City, etwa 25 Kilometer von der Altstadt entfernt, ist in den vergangenen zehn Jahren wie ein Pilz aus dem Boden ge-wachsen und die Bau-wut der Menschen am Arabischen Golf scheint kein Ende zu kennen. Unweit von Marina
befinden sich gigantische Shoppingcenter und die berühmte Emirates Mall mit der Eishalle mitten in der Wüste, in der das ganze Jahr über Schi gefahren werden kann. Etwas eigenartig, wenn man in Shorts und T-Shirt den in dicke, wattierte Schianzüge und Mützen eingehüllten Einheimischen bei ihren Fahrversuchen über die Kunstpiste zuschaut. Die Fragen nach Verhältnismäßigkeit, nachhaltigem Umgang mit Natur und Ressourcen auf unserer Erde und warum man in der Wüste Schi fahren muss drängen sich hier zwangsläufig auf.
Das historische Zentrum von Dubai vermittelt abseits der Glaspaläste auch heute noch ein Tausendundeine-Nacht-Feeling. Die Souks in Deira und Bur Dubai lassen noch erahnen, wie es hier vor zwanzig Jahren gewesen sein mag. In jedem Fall ruhiger und authentischer. Heute ist so ziemlich alles erlaubt, was nicht - so wie Alkohol in der Öffentlichkeit - ausdrücklich verboten ist. Und so wälzen sich Ströme von knapp bekleideten Touristinnen und Touristen durch die Innenstadt der Metropole und keinen scheint es zu kümmern. „Kleidervorschriften“, die Palma de Mallorca gerade für innerstädtische Bereiche einführt, sind hier noch kein Thema.