Renate Breuninger
DIE •GROSSEN FRAGEN• NACH DER WIRKLICHKEIT IN DEN •AUFZEICHNUNGEN DES MALTE LAURIDS BRIGGE• VON R. M. RILKE
Die Basis von Rilkes dichterischem Programm. die Fragen nach der "Wirklichkeit"
und ihren Zusammenhängen, werden im 14. Abschnitt der "Aufzeichnungen des
Malte Laurids Brigge" deutlich faßbar ausgesprochen; man könnte sie als die
"großen Fragen" Rilkes bezeichnen.
In den ·Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" verstärkt sich die Problematik
des Bezugs zwischen innen und außen mit neuer Dringlichkeit, insofern sie auf
die existentielle Ebene verschoben ist. Es geht um das Problem der Selbstwerdung,
somit um einen der Existenz des Einzelnen angemessenen Lebensentwurf.
Malte ist 28 Jahre alt, befindet sich in Paris und gibt sich Rechenschaft über sein
Leben. Er zieht Bilanz und muß feststellen. daß bis jetzt in seinem Leben eigentlich
nichts Entscheic;l.endes geschehen ist. Er hat ein Drama geschrieben, das er für
nicht gut befindet, weil es "etwas Falsches mit zweideutigen Mitteln beweisen"
CVI. 725 1) will und durch die Einführung einer fiktiven dritten Person vom eigent
lichen Geschehen wegführt. die Darstellung eines "wirklichen Konflikts" einebnet
und normiert. "Und als ich mein Drama schrieb, wie irrte ich da. War ich ein
Nachahmerund Narr, daß ich eines Dritten bedurfte. um von dem Schicksal zweier
Menschen zu erzählen. die es einander schwermachten? Wie leicht ich in die Falle
fiel. Und ich hätte doch wissen müssen, daß dieser Dritte, der durch alle Leben
und Literaturen geht, dieses Gespenst eines Dritten, der nie gewesen ist. keine
Bedeutung hat, daß man ihn leugnen· muß. Er gehört zu den Vorwänden der Natur,
welche immer bemüht ist. von ihren tiefsten Geheimnissen die Aufmerksamkeit
der Menschen abzulenken. Er ist der Wandschirm, hinter dem ein Drama sich ab
spielt. Er ist der Lärm am Eingang zu der stimmlosen Stille eines wirklichen Kon
fliktes. Man möchte meinen, es wäre allen bisher zu schwer gewesen, von den
Zweien zu reden, um die es sich handelt; der Dritte, gerade weil er so unwirklich
ist. ist das Leichte der Aufgabe, ihn konnten sie alle.· CVI. 725)
Das. was die Menschen eigentlich angehen würde: "die Zwei, von denen so un
glaublich viel zu sagen wäre. von denen nie etwas gesagt worden ist, obwohl die
leiden und handeln und sich nicht zu helfen wissen· CVI. 726), kommt im Drama
nicht zum Ausdruck . Von dem Menschen als "Handelndem" und "Leidendem·. dem
Menschen, der wirklich "unter den Menschen" lebt. ist nicht die Rede. Malte be
zeichnet sich als "Nachahmer und Narr". als einen, dem die eigene Kraft zur For-
D ieser Arbeit liegt folgende Textvorlage zugrunde: Ralner Marla Rllke, Sämtliche Werke. Hsg. vom Rilke-Archiv . ln Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn. 6 Bde . Wiesbaden, Frankfurt/M . 1955-1966. Im folgenden werden die Rilkes Text betreffenden Quellenangaben den Zitaten in Klammern beigefUgt (Band, Seitenzahl).
Semlosis 59/60 - 1990 87
11M~
mung des "Wirklichen· gefehlt hat und der den allgemeinen Mustern erlegen ist.
Die "Ungeheuerlichkeit" seines Erkenntnisanspruches erfährt er, als er die aus der
Reflexion über das Theater gewonnene Einsicht auf die Menschheit überhaupt er
weitert: Haben sich die Menschen möglicherweise schon immer getäuscht. irrege
führt von Verdeckungen und Verhüllungen, die sie für die Wirklichkeit selbst
genommen haben? Siebenmal stellt Malte die Frage nach der Wirklichkeit, Fragen,
die alle mit "Ist es möglich?" beginnen und in ein knappes "Ja, es ist möglich·
münden. Siebenmal stellt Malte diese Frage nach dem Wirklichkeitsbezug des
Menschen und erkennt jedesmaL daß sie sich ihm durch Verdeckung entzogen hat
CVI. 726 f.): "Ist es möglich. denkt es, daß man noch nichts Wirkliches und Wichti
ges gesehen, erkannt und gesagt hat? Ist es möglich, daß man Jahrtausende Zeit
gehabt hat, zu schauen, nachzudenken. und aufzuzeichnen, und daß man die Jahr
tausende hat vergehen lassen wie eine Schulpause, in der man sein Butterbrot ißt
und einen Apfel?"
Die zweite Frage wiederholt den Gedanken, daß der Mensch die Tiefe des Daseins
nie eigentlich begriffen habe: "Ist es möglich, daß man trotz Erfindungen und Fort
schritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens ge
blieben ist? Ist es möglich, daß man sogar d~ese Oberfläche. die doch immerhin
etwas gewesen wäre, mit einem unglaublich langweiligen Stoff überzogen hat. so
daß sie aussieht wie ein Salonmöbel in den Sommerferien?" Trotz fortschreitender
Entwicklung hat der Mensch sogar die Oberfläche, an der er haften geblieben ist,
mit einer zweiten Schicht überzogen, die ihn dem Leben noch mehr entfremdet.
Weiter stellt Malte die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug sub specie Universal
geschichte. die möglicherweise von Anfang an in falscher Richtung verlaufen ist ,
weil sie an dem Einzelnen, auf den es ankommt, vorbeigegangen und sich den
Massen zugewandt hat. "Wirklichkeit" wäre unter diesem Aspekt ·die individuelle
Existenz gegenüber dem bloßen Zuschauen und der Sensationslust der anonymen
Mehrzahl: "Ist es möglich, daß die ganze Weltgeschichte mißverstanden worden
ist? Ist es möglich, daß die Vergangenheit falsch ist, weil man immer von ihren
Massen gesprochen hat, gerade, als ob man einen Zusammenlauf viele_r Menschen
erzählte, statt von dem Einen zu sagen, um den sie herumstanden, weil er fremd
war und starb?" Der Einzelne "handelt und leidet" und nicht die Masse, die nur
durch die Subsumption den Einzelnen verdeckt hat. Pluralbildungen stellen eine
abstrakte Größe dar, die das, was das Einzelne ausmacht, wegsubtrahieren .
Viertens wird gefragt nach der Vergangenheit des Einzelnen als dem ihm allein
gehörenden Stück Authentizität. Es ist die Frage nach der je eigenen Geschichtlich
keit des Menschen. die unverwechselbar die je eige11e "Wirklichkeit" ausmacht:
"Ist es möglich, daß man glaubte, nachholen zu müssen, was sich ereignet hat, ehe
man geboren war? Ist es möglich. daß man jeden einzelnen erinnern müßte, er sei
aus allem Früheren entstanden, wüßte es also und sollte sich nichts einreden las
sen von den anderen, die anderes wüßten? L . .J Ist es möglich, daß alle diese Men-
88
sehen eine Vergangenheit, die nie gewesen ist. ganz genau kennen? Ist es möglich,
daß alle Wirklichkeiten nichts für sie sind; daß ihr Leben abläuft, wie eine Uhr in
einem leeren Zimmer -r Die Wirklichkeit als das authentische Leben, das meint
diese Frage, ist nur für den Einzelnen denkbar, muß von diesem Einzelnen auch
selbst vollzogen werden. Gefahr besteht, daß das Leben abläuft, ohne daß der
Mensch daran beteiligt ist. es als sein persönliches Leben erfahren hat.
Oie sechste Frage zielt auf die Sprache als Mittel der Verdeckung: Die Pluralbil
dungen der Wörter lenken von dem Eigentlichen ab, das nur in der Einzahl faß
bar ist. Jeder Plural subsumiert den Einzelnen unter das Allgemeine und verhüllt,
worauf es ankommt. Unter dem Mantel der Gemeinsamkeit hat der Einzelne längst
aufgehört zu existieren; die Pluralbildungen bleiben zurück als leere Worthülsen,
die etwas nicht Vorhandenes prätendieren: "Ist es möglich, daß man von den
Mädchen nichts weiß, die doch leben? Ist es möglich, daß man die 'Frauen' sagt,
die 'Kinder ' , die 'Knaben' und nicht ahnt Cbei aller Bildung nicht ahnD, daß diese
Worte längst keine Mehrzahl mehr haben, sondern nur unzählige Einzahlen?"
Die letzte Frage richtet sich gegen ein gemeinsames Aussagen von Gott, weil es
verhüllt. daß Gott nur erfaßt werden kann, wenn der Einzelne sich in ein ganz
persönliches Verhältnis zu ihm stellt. Gerade die Beziehung zu Gott muß von je
dem in seiner individuellen Existenz geleistet, kann nicht von einer Gemeinschaft
vollzogen werden, wie der Vergleich mit dem Taschenmesser zeigt: "Ist es mög
lich, daß es Leute gibt, welche 'Gott' sagen und meinen, das wäre etwas Gemein
sames?- Und sieh nur zwei Schulkinder: es kauft sich der eine ein Messer, und
sein Nachbar kauft sich ein ganz gleiches am selben Tag. Und sie zeigen einander
nach einer Woche ~ie beiden Messer, und es ergiebt sich, daß sie sich nur noch
ganz entfernt ähnlich sehen, - so verschieden haben sie sich in verschiedenen
Händen entwickelt. CJa. sagt des einen Mutter dazu: wenn ihr auch gleich immer
alles abnutzen müßt.-) Ach so: Ist es möglich, zu glauben, man könne einen Gott
haben, ohne ihn zu gebrauchen?"
Malt.es Überlegungen zur Wirklichkeit betonen die Wirklichkeit des Einzelnen. die
er selbst vollziehen muß, die nicht ein für alle mal schon vorgegeben ist und
fertig vorliegt. Wirklichkeit meint für ihn die individuell-persönliche von jedem
Individuum zu leistende Aufgabe. Der Mensch kann die ihm gegebene Möglich
keit verfehlen, indem er seine Wirklichkeit nicht ergreift und somit hinter seiner
ihm möglichen Verwirklichung seines Wesens zurückbleibt. Wirklichkeit ist somit
undelegierbar und in jedem Augenblick immer wieder neu als Äquivalenzbildung
von Außen und Innen von jedem Menschen zu leisten.
Sobald Malte die Größe und Tragweite dieser Erkenntnis erfaßt. wird ihm auch die
damit verbundene, seine ihm gestellte Aufgabe bewußt. Mit Schrecken erkennt er,
er ist der erste, der "diesen beunruhigenden Gedanken gehabt hat", daß die Men
schen bis jetzt ihre Wirklichkeit nicht erfaßt haben, und er hat. weil er diesen
89
Gedanken in seiner Notwendigkeit und seinem Ausmaß begreift, Wirklichkeit nun
auch zu leisten: Er muß das "Versäumte" nachholen. Ihm allein obliegt es, Wirk
lichkeit zu leisten, denn nur er hat diesen Gedanken gehabt und "wird sich fünf
Treppen hoch hinsetzen müssen und schreiben, Tag und Nacht: ja er wird schrei
ben müssen, das wird das Ende sein." CVI. 728)
Schreiben wird damit zum Mittel der Wirklichkeitsgewinnung deklariert, zum
Medium der Selbstwerdung. zu einer Aufgabe gleichzeitig, für die Malte weder
Konvention noch Beispiele heranziehen kann. Gesellschaftliche, religiöse Verein
barungen würden ihm nur verhüllende Oberflächen anbieten, seinen eigentlichen
Auftrag verdunkeln. Und die Aufgabe wird dadurch erschwert, daß Malte sich als
ein "Nichts" empfindet, dem auch nichts zusteht. Trotzdem darf er sich ihr nicht
entziehen: "Wenn aber dieses alles möglich ist, auch nur einen Schein von Mög
lichkeit hat, - dann muß ja, um alles in der Welt etwas geschehen. Der Näch~t
beste, der welcher diesen beunruhigenden Gedanken gehabt hat, muß anfangen.
etwas von dem Versäumten zu tun; wenn es auch nur irgend einer ist, durchaus
nicht der Geeignetste: es ist eben kein anderer da." CVI. 726)
Wenn Malte durch sein Schreiben auch den Gang der Weltgeschichte weder än
dern will noch kann, so steht für ihn doch fest. daß Dichtung ~ür die notwendige
Korrektur einer irrigen Entwicklung eine unentbehrliche Rolle spielt. Malte er
kennt die Notwendigkeit einer solchen Änderung; er mißversteht sie aber als per
sönliches Problem, während es sich um das spezifische Problem der Moderne ins
gesamt handelt.
Rilke kommt mit Dichtern auch noch unserer Moderne: Paul Celan, Günter Eich,
Ingeborg Bachmann in dieser Intention des Schreibens überein: Sie alle wollen
durch Dichtung Wirklichkeit entwerfen und gründen. Wirklichkeit ist nicht mehr
nur etwas selbstverständlich Gegebenes; sie gilt als Wert. als Ideal. denen anzu
nähern sich die Dichtung zur Aufgabe macht. Wenn Celan sagt: "Wirklichkeit ist
nicht. sie muß gesucht und gefunden werden" 2 , so kann man dies stellvertretend
für eine ganze Generation verstehen, der Rilke als Vorläufer angehört aufgrund
seiner Suche nach Wirklichkeit. Und wenn Günter Eich meint: "Ich schreibe Ge
dichte. um mir Wirklichkeit zu entwerfen" 3 . so kann man in diesem Credo die
Malte zugewiesene Aufgabe wiederfinden.
Gleich zu Beginn des Romans, im Rahmen der "großen Fragen". hat Malte über
seine früheren literarischen Versuche reflektiert. Die Kritik an seinen bisherigen
Versen führt ihn zur Prämisse: "(. . .J mit Versen ist es so wenig getan, wenn man
sie früh schreibt. Man sollte warten damit und Sinn und Süßigkeit sammeln ein
ganzes Leben lang und ein langes womöglich, und dann. ganz zum Schluß. viel-
2 Paul Celan, Gesammelte Werke in fünf Bänden . Dritter Band. Frankfurt 1983, 167. 3 Günter Eich, Der Schriftsteller vor der Realität . ln : Günter Eich, Gesammelte Werke.
Bd . IV . Frankfurt/M. 1973, 441.
90
leicht könnte man dann zehn Zeilen schreiben, die gut sind. Denn Verse sind
nicht. wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug), - es sind Erfahrun
gen. Um eines Verses willen muß man viele Städte sehen, Menschen und Dinge
[. . .J und es ist noch nicht genug, wenn man an alles das denken darf. Man muß
Erinnerungen haben an viele Liebesnächte... Und es genügt auch noch nicht.
daß man Erinnerungen hat. Man muß sie vergessen können, wenn es viele sind,
und man muß die große Geduld haben, zu warten, daß sie wiederkommen. Denn
die Erinnerungen selbst sind es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns,
Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst. erst
dann kann es geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines
Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.· CVI. 723 f.)
Malte, also Rilke, versteht die Genese des Gedichts als dialektischen Prozeß von
Vergessen und Erinnern. Erfahrungen allein reichen nicht aus. Mit dem Erfahrenen
muß sich ein inneres Ferment vermischen. das aber nur dann entstehen kann,
wenn das Innere dem Zugriff des bewußten Ich entzogen ist. Es handelt sich um
den Zustand des Unbeobachtetseins, den Rilke für das Anschauen als konstitutiv
erwähnt. Erst wenn das Erinnerte dem Inneren anverwandelt worden. wenn es
dem Vergessen anheim gefallen ist . wird Dichtung möglich. Die Erinnerungen
sinken in eine Tiefe des Ichs hinab, die nicht mehr subjektiv beherrschbar ist,
sondern. über das Subjektive hinausgehend, einen Zuwachs an Allgemeinem be
kommt. Daher ist das Aufsteigen der Erinnerung aus dem Vergessen nur ohne je
den willensmäßigen Akt möglich. Malte betont das "Geduld haben· und das War
ten-können: "Man muß sie vergessen können, wenn es viele sind, und man muß die
große Geduld haben, zu warten, daß sie wiederkommen." CVI. 724)
Das Absinken der Erinnerung in den Bereich des Vergessens, des Unbewußten.
dem Subjekt Entzogenen hat aber nicht nur die Funktion der Aufbewahrung (da
durch unterscheidet sich die Erinnerung von der Leistung des Gedächtnisses), viel
mehr hat ein erneutes Sicherinnern eine Anverwandlung des Erfahrungsstoffes ans
Innere zur Folge: "Denn die Erinnerungen selbst sind es noch nicht. Erst wenn sie
Blut werden in uns. Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterschei
den von uns selbst, erst dann kann es geschehen. daß in einer sehr seltenen Stun
de das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht."
CVI. 724)
Das ästhetische "Aufstehen eines Verses" faßt Rilke unpersönlich C"kann es gesche
hen "), denn es ist nicht ein produktiver Akt, der vom bewußten Willen initiiert
werden könnte. Subjektives Gefühl leistet dem so definierten Anspruch von Dich
tung nicht Genüge. Erst die Anverwandlung der Erfahrungen mit tief-innerer. aus
"der gemeinsamen Tiefe" CV. 365) entsprungenen Substanz öffnet das Gedicht auf
den Bereich des Nicht-Subjektiven hin. Die bewußte Hinwendung zum Außen. zu
dem Anderen bildet hierfür ebenso eine Voraussetzung wie die Aufnahme von
Eindrücken an sich. Der Bezug Ich und Welt muß hergestellt, das Ich mit eigenen
91
Eindrücken und Erlebnissen ausgestattet sein, die dann ihrerseits in eine tiefere
Schicht der Aufnahmefähigkeit absinken können. 4
Der dichterische Prozeß bezieht sich auf Erfahrungen, die durch genaue Zuwen
dung zu den Dingen, ein genaues Betrachten und Erleben zustande gekommen
sind. Doch finden diese Erfahrungen erst dann Eingang in Dichtung, wenn sie
durch das Vergessen transformiert worden sind. Rilke stimmt hier mit Celan über
ein, der Dichtung ebenfalls in einem dialektischen Bezug von Vergessen und Er
innern, von ~Mohn~ und ~Gedächtnis~. wie seine Chiffren hierfür heißen, beheima
tet sieht. 5 Die Dichtung vereinigt im Außen Gegebenes und innere Vision. Sie ist
nicht Ausgeburt eines genialen Einfalles; dichterische Formung bearbeitet Erfah
rungsstoff. durch den schon eine Verbindung mit dem Außen hergestellt worden
ist. Wirklichkeit ist die Durchdringung des Gegebenen in individuell-geistiger
Weise . Im Prozeß des Schreibens schließt sich somit die Kluft zwischen Innen und
Außen.
Wesentliche Motivationsquelle der ~Aufzeichnungen n ist das Sehenlernen. Es han
delt sich hierbei um die Rezeptivität. die Aufnahme der äußeren Eindrücke in
Maltes Innerm. Der Gesamtzusammenhang muß in den Blick genommen und von
Malte aufgenommen werden. An Paris als Großstadt par excell~nce des 19. Jahrhun
derts mit einer Vielfalt chaotischer und widerwärtiger Eindrücke muß sich Malte
erproben. Die Forderung des Sehenlernans postuliert für den Dichter die Hinwen
dung zur nganzen Wirklichkeit~; denn nur insofern es gelingt, auch von dem
Schrecklichen sich nicht abzuwenden. legitimiert sich die Aufgabe der Kunst als
"eigenrealer" 6 Wirklichkeitsentwurf. Maltes Aussage: nEr war ein Dichter und
haßte das Ungefähre~ CVI. 863) erstreckt sich auch auf das Sehen-Lernen, das als
genaue Wahrnehmung der äußeren Gegebenheiten den ersten Schritt in der Gene
se der Dichtung bildet.
Zweite wesentliche Motivationsquelle des Romans ist die Intention des Sicherin
nerns. Die Dimension der Geschichtlichkeit findet Eingang in den Roman. Erst
nach dem nochmaligen Leisten des Erlebten, was einer Wiederholung, einem Be
wußtwerden in einem höheren Sinne gleichkommt. ist die volle und ganze Wirk
lichkeit präsent. Das Moment der Wiederholung macht das Gesehene erst in einem
tieferen Grad wirklich. indem es nun bis in seinen Grund aufgenommen und aner
kannt ist. Hier rückt besonders die Erinnerung der Kindheit in den Blickpunkt und
Maltes spezielle Situation, am Ausgang einer Epoche zu stehen. wo er über das
Tradierte nicht mehr in der gewohnten Weise verfügen kann, sondern einen neuen
Zugang zur Geschichte erwerben muß. Die ~großen Fragenn weisen sich als spe
zielles Problem der Moderne aus.
4 Vgl. Ralner Marla Rllke, a.a .O ., VI, 724. 5 Paul Celan, Gedichte in zwei Bänden . Frankfurt/M. 1975. Bd. 1: Mohn und Gedächtnis, 11-37. 6 Vgl. Max Sense, Die Eigenrealität des Zeichens. ln: Semiosis 42 (1986) 5-13.
Charles Baudelaire, Une Charogne, in: Les Fleurs du Mal . Stuttgart 1980, 60-64.
92
SUMMARY
Reality is no more given; reality becomes a task, according to the thesis, which is corroborated in the different stages of Rilke 's poetic works and here, particularly, in the ·Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" . Malte, Rilke's autobiographic hero, puts the question of reality seven times C"Is it possible, that . .. ), and seven times he must learn that modern reality has become ostensible and delusive. In lhe face of a diminishing relation of reality to the modern world, Malte - who is here vicariously for the modern poets - gains the insight that reality may only be performed by every individual singly. Poetry gets to be the place in which true and integral reality can be gained.
93
59 IiD
Internationale Zeitschrift für 1 5 ·•
INHALT
Max Sense:
Georg Nees:
Joelle Rethore:
Hiroshi Kawano:
Matthias Götz:
Barbara Wörwag:
Semiotik Jahrgang,
und Ästhetik Heft 3/4, 1990
Computergrafik 3
Ästhetische Erfahrung im Medium T
La description de ces signes qui fondent notre rapport au reel 2 3
A New Method in Scientific Aesthetics 3 1
Die Legende vom ästhetischen UrteiL Eine Spekulation 6 3
Concept Art und Semiotik . Semiotische Untersuchung des Modells der "Protoinvestigation • von Joseph Kosuth T 2
Renate Breuninger: Die "Großen Fragen" nach der Wirklichkeit in den ·Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" von RM. Rilke 8 T
Kar 1 Herrmann: Zur Replica-Bildung im System der zehn Zeichenklassen 9 5
fnes Riemer, Konzeption und Begründung der Induktion. Eine Untersuchung zur Methodologie von Charles S. Peirce CKarl Gfesser) 103
Gerard Deledalle, Semiotics and Pragmatics. Proceedings of the Perpignan Symposium CUdo Bayer) 107
The Semiotic Review of Books. A Publication of the Toronto Semiotic Circle CAlfred Toth) 109
fnhalt v on Jahrgang 15 111