Download - Des Teufels kleines Wörterbuch
Ambrose Bierce ———
Des Teufels kleines
Wörterbuch
Seinen Klauen entrissen und ins Deutsche übertragen
von Hans Petersen
Eulenspiegel Verlag Berlin
Mit einem Nachwort von Hans Petersen
Illustrationen
von Karl-Georg Hirsch
Eine Rationalhymne
Lieb Vaterland, nur dir, Des Unrechts Heim und Zier, Sing ich mein Lied – Briet doch mein Urahn dort Sich Hexen einst, und Sport War Quäkertanz im Ort Zu Peitschenhieb. Mein bübisch Land, mein Lieb, Wo frei der Mensch als Dieb, Ich preis dein Recht; Ich preis das Diebsvolk laut, Das Jack und Jim beklaut, Dich, Mob, dem anvertraut, Was gut, was schlecht.
- 5 -
Der Staat, die Jobber solln Sich nehmen, was sie wolln, Jahraus, jahrein. Beamten gönnt ihr Teil, Und Richtern sei stets feil Dein Geld. Um Christi Heil Laßt alles sein!
1895
A
abnorm nicht normgerecht; auf Denken und Handeln bezogen, bedeutet
abnorm unabhängig; und dies wiederum heißt verachtenswert
Abstimmung
einfaches Verfahren, mit dem die Mehrheit der Minderheit beweist, wie töricht Wider-
stand ist
Abstinenzler schwacher Mensch, der der Versuchung erliegt, sich ein
Vergnügen zu versagen
- 7 -
abwesend den Angriffen von Freunden und Bekannten ausgeliefert;
verleumdet; geschmäht
Adamant Mineral; häufig unter Korsetts
zu finden, löslich in verführerischem Gold
- 8 -
Adamsapfel hervortretender Schildknorpel am Hals des Mannes, von der Natur vorsorglich angebracht, damit der Strick nicht rutscht
Admiral
der Teil eines Kriegsschiffes, der das Reden besorgt – das
Denken übernimmt die Galionsfigur
Affe
Tier, das sich auf Stamm- bäumen zu Hause fühlt
Akkordeon
Musikinstrument, abgestimmt auf die Gefühle eines Mörders
- 9 -
Akrobat jemand, der sich den Hals
bricht, um sich den Bauch zu füllen
Aktiengesellschaft
raffinierte Einrichtung zur persönlichen Bereicherung
ohne persönliche Verantwortung
allein
in schlechter Gesellschaft
Amateur ein öffentliches Ärgernis,
verwechselt Geschmack mit Begabung und Ehrgeiz mit
Können
- 10 -
Amnestie Edelmut des Staates gegenüber Missetätern, die zu bestrafen
zu kostspielig wäre
anders keinesfalls besser
Antagonist
der elende Schurke, der uns etwas verwehrt
- 11 -
apathisch sechs Wochen verheiratet
Apotheker
Komplize des Arztes, Wohltäter des Bestatters und Ernährer der
Würmer
Arbeit Tätigkeit, durch die A. für B.
Vermögen schafft
- 12 -
Armee Schicht von Nicht-Produzenten; verteidigt die Nation, indem sie
alles verschlingt, was einen Feind zum Überfall reizen
könnte
Athlet ein Mann, der mit den Muskeln
denkt
aufgeben einen im Irrtum befangenen
Freund tadeln, einen bedürftigen ermahnen
ausländisch
aus einem anderen, zweitklassigen Land
- 13 -
B
Barometer sinnreiches Instrument, das anzeigt, was für Wetter im
Augenblick ist
Bedauern Bodensatz im Kelch des Lebens
Begeisterung
Nervenleiden bei Jungen und Unerfahrenen; Leiden, das vor
dem Fall kommt
Behagen Gefühl, das sich angesichts des
Unglücks eines Nachbarn einstellt
- 14 -
Beharrlichkeit einfache Tugend, die der
Mittelmäßigkeit zu beschei- denen Erfolgen verhilft
Beichtstuhl
ein Ort, wo der Priester die großen Sünden vergibt,
weil ihm das Anhören der kleinen Vergnügen bereitet
Beifall
Echo einer nichtssagenden Bemerkung
Bekannter
jemand, den man so gut kennt, daß man ihn anpumpt, aber nicht gut genug, ihm was zu
pumpen
- 15 -
Belladonna im Italienischen eine schöne Frau; im Englischen ein töd- liches Gift. Ein verblüffendes
Beispiel für die enge Verwandt- schaft der beiden Sprachen
berühmt
in aller Öffentlichkeit unglücklich
Beschimpfung
unwiderlegbarer Witz
- 16 -
Betrug die Triebkraft des Geschäfts,
die Seele der Religion, der Köder der Liebeswerbung und
die Grundlage politischer Macht
betrügen
Vertrauensselige mit Erfahrung und Belehrungen
ausstatten
Bett Festung, die keinen Schutz vor Gewissensbissen bietet
Bettler
jemand, der sich auf den Beistand seiner Freunde
verlassen hat
- 17 -
Bewunderung höfliche Anerkennung für
diejenigen, die uns ähnlich sind
Blaustrumpf eine Frau, die sich wegen
mangelnder Würdigung ihrer Reize an den Männern rächt,
indem sie Wissenschaft, Kunst, Literatur und Wissen lächerlich
macht
- 18 -
Braut eine Frau, die die schöne Aus- sicht auf Glück begraben hat
Brechmittel
Mixtur, die den Magen veranlaßt, sich plötzlich und
mit Begeisterung für die Außenwelt zu interessieren
Brudermord
Töten eines Esels zwecks Nahrungsbeschaffung
Buchwissen
von Dummköpfen benutzte verächtliche Bezeichnung für
jegliches Wissen, das ihre eigene verstockte Ignoranz übersteigt
- 19 -
C
Chaussee ein Streifen Land, der von
einem Ort, wo es langweilig ist, zu einem anderen führt, wo der
Aufenthalt sinnlos ist
Christ jemand, der glaubt, das Neue Testament sei unter göttlicher Eingebung geschrieben und
entspreche genau den religiösen Bedürfnissen seines Nachbarn
- 20 -
Connaisseur Spezialist, der alles über etwas und nichts über alles andere
weiß
- 21 -
D
Dankbarkeit Gefühl, das sich nach einer
empfangenen und vor einer erwarteten Wohltat einstellt
Deist
jemand, der an Gott glaubt, sich aber das Recht vorbehält, den
Teufel zu verehren
Demagoge ein politischer Gegner
Diplomatie
Kunst der Patrioten, fürs Vaterland zu lügen
- 22 -
Diktator Oberhaupt einer Nation, die
scheußliche Tyrannei ver-dammenswerter Anarchie
vorzieht
Dragoner Soldat, der Schneid und Stand- haftigkeit so ausgewogen in sich vereint, daß er zu Fuß vorrückt und zu Pferd das Feld räumt
- 23 -
Diskussion eine Methode, andere in ihren
Irrtümern zu bestärken
Dreck besondere, überall in der Natur
vorkommende Substanz, am häufigsten an den Händen bekannter amerikanischer Politiker; nicht löslich in
Staatsgeldern
Dünkel Selbstachtung bei jemandem,
den wir nicht mögen
- 24 -
E
Egoist Mensch von schlechtem
Geschmack, mehr an sich als an mir interessiert
Ehemann
ein Mann, der sich nach dem Essen als Tellerwäscher
betätigen muß
Einkommen natürlicher und vernünftiger
Maßstab für öffentliches Ansehen, da die geltenden
Kriterien willkürlich und falsch sind
- 25 -
einmal genug
Einwanderer
unzivilisierter Mensch, der ein Land für besser hält als das
andere
Eisenwaren Frauenherzen
- 26 -
Elster Vogel, dessen Hang zum
Stehlen den Gedanken nahe- legte, man könne ihn das
Sprechen lehren
Entführung eine Art Einladung ohne
Überredung
enthaltsam rücksichtsvoll in bezug auf das
eigene überschätzte Leistungsvermögen
Enthusiasmus
Leiden im Jugendalter, heilbar mit kleinen Dosen Reue und äußerlicher Anwendung von
Erfahrung
- 27 -
Epidemie Erkrankung mit geselliger
Neigung und wenigen Vorurteilen
Erfolg
die einzige unverzeihliche Sünde gegen unsere
Mitmenschen
- 28 -
erfreuen den Grundstein für ein Gebäude
aus Betrug legen
Erholung eine besondere Art von Nieder-geschlagenheit, die allgemeine
Erschöpfung behebt
Erinnerung der spezielle Luxus der Unglücklichen
ermutigen
einen Narren in einer Torheit bestärken, die ihm bereits
schadet
Erschöpfung Zustand eines Philosophen nach der Beschäftigung mit mensch-
licher Weisheit und Tugend
- 29 -
Erwartung Geisteszustand, dem auf der
Skala menschlicher Gefühle die Hoffnung vorausgeht und die
Verzweiflung folgt
eßbar wohlschmeckend und
bekömmlich – wie der Wurm für die Kröte, die Kröte für die
Schlange, die Schlange für das Schwein, das Schwein für den Menschen und der Mensch für
den Wurm
Exilierter jemand, der seinem Land durch
Aufenthalt im Ausland dient, aber kein Gesandter ist
- 30 -
Exzentrizität Methode, Anderssein zu
beweisen; sie ist so banal, daß Narren sich ihrer bedienen,
um auf ihr Unvermögen auf- merksam zu machen
- 31-
F
Fabel kurze Lüge zur Veranschau- lichung einer wesentlichen
Wahrheit
Fagott Musikinstrument, in das ein
Narr sein Gehirn bläst
Fähigkeit natürliches Talent, einige
jener gewöhnlichen Gelüste zu befriedigen, die tüchtige Männer von toten unter-
scheiden
- 32 -
Faulheit sträfliche Gelassenheit bei einem Menschen niederen
Standes
Federkiel Folterwerkzeug, von einer Gans
geliefert und im allgemeinen von einem Esel gehandhabt
- 33 -
Fehler eigenes Vergehen, im Unter-
schied zu den Vergehen anderer, den sogenannten
Verbrechen
Festhalten eine bestimmte Reaktion der
menschlichen Hand bei Berührung mit Geld
Frau
Kreatur, die im allgemeinen in der Nähe des Mannes lebt und eine verkümmerte Anlage zur
Domestizierung besitzt
Freiheit ein politischer Zustand, dessen
sich jede Nation allein zu erfreuen glaubt
- 34 -
fressen dinieren
Freundschaft
ein Schiff, bei gutem Wetter groß genug für zwei,
bei schlechtem nur für einen
Friedhof einsamer Ort vor der Stadt, wo Leidtragende einander Lügen
erzählen, Poeten auf Ziel- scheiben dichten und Stein- metze über Rechtschreibung
Wetten abschließen
Frömmler jemand, der hartnäckig und
fanatisch eine Meinung vertritt, die man selber nicht akzeptiert
- 35 -
Frosch ein Lurch mit eßbaren
Schenkeln
frühreif Bezeichnung für einen Vier-
jährigen, der sich mit der Puppe seiner Schwester davonmacht
- 36 -
G
gackern die Geburt eines Eis feiern
Gastfreundschaft Tugend, die uns dazu bewegt,
gewisse Personen zu verköstigen und unterzubringen, obwohl sie weder Speise noch Unterkunft
benötigen
Geburt die erste und traurigste aller
Katastrophen - 37 -
Geburtshelfer Hoflieferant des Teufels
Geduld
eine Abart der Verzweiflung, als Tugend getarnt
gefällig sein
eine Grundlage für künftige übermäßige Forderungen
schaffen
Gefolgsmann Anhänger ohne Verstand
Gegenwart
jener Abschnitt der Ewigkeit, der das Reich der Enttäuschung vom Reich der Hoffnung trennt
- 38 -
Gehirn Organ, mit dem wir zu denken
glauben
Geige Musikinstrument, kitzelt das
menschliche Ohr durch Reibung eines Pferdeschwanzes
auf Katzendärmen
Gelegenheit günstiger Augenblick, nach
einer Enttäuschung zu greifen
Gelehrsamkeit aus einem Buch in einen leeren
Schädel geschüttelter Staub
Genauigkeit läppische Eigenschaft, auf die
die Menschen bei ihren Worten konsequent verzichten
- 39 -
Gerechtigkeit Ware, die in mehr oder weniger verwässerter Form vom Staat an den Bürger verkauft wird,
als Belohnung für Treue, Steuern und persönliche
Dienste
- 40 -
Gerücht Lieblingswaffe des Rufmörders
Geschichte
eine meist falsche Aufzeichnung über meist unwichtige
Ereignisse, die von meist schurkischen Herrschern und meist beschränkten Söldnern
ausgelöst werden
gesetzlich mit den Vorstellungen des
zuständigen Richters vereinbar
Gewohnheit Fessel der Freien
gleichgültig
stark genug, das anderen Menschen aufgebürdete Los
ertragen zu können - 41 -
Glückwunsch Artigkeit der Mißgunst
Grammophon
lästiges Spielzeug, das tote Geräusche zu neuem Leben
erweckt
Grenze in der Politik die imaginäre
Linie zwischen zwei Staaten; die die imaginären Rechte des
einen von den imaginären Rechten des anderen trennt
Güte
kurze Einleitung zu massiver Erpressung
- 42 -
Guillotine Maschine, bei deren Anblick
ein Franzose aus gutem Grund den Kopf einzieht
- 43 -
H
Hafen ein Ort, wo Schiffe vor Stürmen
Schutz suchen und sich der Willkür des Zolls ausliefern
Hammer
Werkzeug zum Zerquetschen von Daumen
Haß
Gefühl, das sich angesichts der Überlegenheit eines anderen
einstellt
Häßlichkeit Geschenk der Götter an manche Frauen, das engherzige Tugend
zur Folge hat
- 44 -
Hauptstadt Sitz der schlechten Verwaltung
Heiliger
ein toter Sünder, überarbeitet und neu herausgegeben
Heim
letzte Zuflucht – die ganze Nacht geöffnet
- 45 -
heimwehkrank im Ausland und völlig pleite
Hellseherin
eine Frau, die die Fähigkeit hat zu sehen, was der Kunde nicht
sieht – nämlich, daß er ein Dummkopf ist
Hochstapler
Rivale bei der Bewerbung um öffentliche Ehren
Hoffnung
Fusion von Verlangen und Erwartung
Höflichkeit
die angenehmste Form der Heuchelei
- 46 -
Homöopath Witzbold der Ärztezunft
Hoppereiter machen
ein hilfloses Kind auf den Schoß nehmen und es in einem Anfall von Zärtlichkeit rütteln, daß die
Zähne klappern
- 47 -
I
Idiot Angehöriger einer unüberseh- baren und mächtigen Schar,
deren Einfluß auf die Geschicke der Menschheit von jeher
groß war
Igel der Kaktus des Tierreichs
Intelligenz
Gehirnsekretion, die dazu befähigt, ein Haus von einem
Pferd anhand des Daches zu unterscheiden
- 48 -
Interview im Zeitungswesen eine Beichte,
bei der abgefeimte Unver- schämtheit törichter Eitelkeit und Ruhmsucht das Ohr leiht
- 49 -
Intimität Beziehung, in die Narren sich
glücklicherweise zu ihrer gegen- seitigen Zerstörung verstricken
Intrige
vom Gegner benutzte Methode, unsere redlichen Bemühungen
um das Rechte zu vereiteln
Irrweg jede Abweichung anderer
von den eigenen Denkgewohn- heiten; alleingenommen kein ausreichender Grund, von geistiger Umnachtung zu
sprechen
- 50 -
J
Jahr eine Folge von dreihundertfünf-
undsechzig Enttäuschungen
Joch präzise und unwiderlegbare
Definition der Ehe
jugendlich vom Knabenalter genesend
Junggeselle
ein Mann, den die Frauen noch ausprobieren
- 51 -
Jury mehrere von einem Gericht benannte Personen, die den Rechtsanwälten helfen, das Recht nicht in Gerechtigkeit
ausarten zu lassen
- 52 -
K
Kabinett Politiker, auf die sich die Kritik wegen schlechter Staatsführung
konzentriert, im allgemeinen völlig zu Recht
Kadett
junger Krieger, der in zehn Jahren vielleicht die Welt erschüttert und Völker
zugrunde richtet
kahl haarlos, auf Erbfaktoren oder
Zufall zurückzuführen, niemals aufs Alter
- 53 -
Kandidat ein bescheidener Herr, der den Ruhm des Privatlebens scheut
und emsig nach der ehrenvollen Anonymität öffentlicher
Ämter strebt
Kannibale Feinschmecker alter Schule;
hat sich einfachen Geschmack bewahrt und folgt der natür- lichen Ernährungsweise der
vor-schweinernen Zeit
kanonisieren tote Sünder heiligsprechen
- 54 -
Katze weicher, unzerstörbarer Automat, von der Natur
erschaffen, damit wir danach treten können, wenn in der
Familie etwas schiefgeht
Kindheit Zeitabschnitt im menschlichen
Leben; liegt zwischen der Idiotie des Säuglingsalters und der Torheit der Jugend, zwei Schritte von den Sünden der reifen Jahre und drei von der
Reue des Alters entfernt
Kirche Gebäude, wo der Pfarrer Gott
verehrt und die Frauen den Pfarrer
- 55 -
Kläger ehemaliger Freund; meist jemand, dem man einen Gefallen erwiesen hat
Kochen
die Kunst, bereits Unverdau- liches ungenießbar zu machen
- 56 -
Köder Lockmittel, das den Haken schmackhafter macht; am wirksamsten ist Schönheit
Kohlkopf
bekannte Gemüsesorte, dem menschlichen Schädel an
Größe und Klugheit ähnlich
Kompliment zinsbringendes Darlehen
- 57 -
Komplize ein Geschäftspartner –
auch deiner
kondolieren zeigen, daß der Trauerfall ein
kleineres Übel ist als Mitgefühl
konsultieren die Zustimmung eines anderen zu etwas einholen, was bereits
entschieden ist
Krankenhaus ein Gebäude, wo Kranken im allgemeinen zwei Arten von Behandlung zuteil werden – medizinische vom Arzt und
unmenschliche vom Personal
- 58 -
Krieg Nebenprodukt der Friedens-
kunst
Kuvert Nachtgewand eines Liebesbriefs
- 59 -
L
Lage, unangenehme Lohn für Beständigkeit
Langeweiler
jemand, der redet, wenn er zuhören soll
Langlebigkeit
ungewöhnliche Verlängerung der Todesfurcht
Lärm
Gestank für das Ohr
Leidenschaft Eigenschaft, die Liebe ohne
Erfahrung auszeichnet - 60 -
Leistung das Ende jeglichen Strebens, verbunden mit einsetzendem
Ekel
Liebe die Torheit, einen anderen zu
schätzen, bevor man sich selber kennt
Lob der Tribut, den wir Leistungen
zollen, die unseren eigenen zwar ähneln, aber nicht gleich-
kommen
- 61 -
Luft nahrhafte Substanz, die von einer mildtätigen Vorsehung
zum Füttern der Armen geliefert wird
Lüge
eine Wahrheit, der die Tat- sachen locker und in unzuläng-
licher Übereinstimmung angepaßt sind
- 62 -
M
Magensaft Flüssigkeit, die Ochsen zersetzt
und aus diesem Brei Männer macht
Malerei
die Kunst, ebene Flächen vor Wettereinflüssen zu schützen und sie der Kritik auszuliefern
Mann
Angehöriger des unbeachteten oder unbedeutenden
Geschlechts; die Gattung hat zwei Abarten: gute Ernährer
und schlechte Ernährer
- 63 -
Maus ein Tier, das auf seinen Wegen ohnmächtige Frauen zurückläßt
Mausoleum
letzte und lächerlichste Torheit der Reichen
Mensch
ein Lebewesen, so angetan von Illusionen über sich, daß es
völlig vergißt, was es eigentlich sein sollte
- 64 -
Metropole Bollwerk des Provinzialismus
Mund
beim Mann: Tor zur Seele; bei der Frau: Ventil des Herzens
Mutlosigkeit
anständige und weit verbreitete Reaktion auf Wohlstand und
Macht
- 65 -
N
Nachbar jemand, den wir lieben sollen
wie uns selber und der alles tut, uns ungehorsam werden zu
lassen
Nachsicht sympathische Eigenschaft des Herzens, die uns dazu bewegt,
anderen jene Sünden und Laster zu verzeihen, denen wir selber
verfallen sind
Nihilist ein Russe, der alles negiert, ausgenommen die Existenz Tolstois; Hauptvertreter der
Schule ist Tolstoi
- 66 -
Nörgler jemand, der unsere Arbeit
kritisiert
- 67 -
O
Offenbarung die späte Entdeckung,
ein Narr zu sein
Öffentlichkeit Nebensache bei Fragen der
Gesetzgebung
Omen Zeichen eines bevorstehenden
Ereignisses, falls sich nichts ereignet
- 68 -
Optimismus die Lehrmeinung oder der
Glaube, wonach alles schön ist (das Häßliche eingeschlossen),
alles gut (vor allem das Schlechte) und alles richtig (insbesondere das Falsche)
Orden
kleine Metallscheibe, wird als Auszeichnung für mehr oder
minder authentische Tugenden, Taten und Dienste verliehen
- 69 -
P
Paß Dokument, das einem ins Ausland reisenden Bürger
hinterhältigerweise aufgezwungen wird; stellt ihn
als Fremden bloß und setzt ihn gezielter Mißbilligung und
Schmach aus
Pfarrer ein Mann, der die Verwaltung unserer geistlichen Angelegen- heiten übernimmt, um seine
weltlichen zu fördern
Pflicht Zwang zum Profit, gesteuert
von der Gier
- 70 -
Pflug ein Gerät, das nach Händen schreit, die die Feder führen
Philanthrop
reicher (und meist kahler) alter Herr, der zu lächeln versteht, während sein Gewissen ihm
in die Tasche greift - 71 -
Philosophie Richtung vieler Straßen, die von
nirgendwo ins Nichts führen
planen sich den Kopfzerbrechen, wie man am besten ein zufälliges
Ergebnis erzielt
Plebiszit Volksentscheid zur Ermittlung
des Herrscherwillens
- 72 -
Polizei bewaffnete Einheit für Schutz
und Gewinnbeteiligung
Preis Wert zuzüglich einer
angemessenen Summe für das bei der Forderung strapazierte
Gewissen
Preußen ein Land, das Würste, Bier und
Kanonenfutter produziert
Privileg das Recht zu atmen, ohne
vorher jemanden zu bestechen
Prozession Ansammlung von Vollidioten,
die keinen Sinn für das Komische entwickelt haben
- 73 -
Q
Qual vom Wohlstand eines Freundes
ausgelöste Krankheit
- 74 -
R
rächen im modernen Sprachgebrauch: eine Beleidigung heimzahlen, indem man deren Urheber
betrügt
Rat, guter kleinste in Umlauf befindliche
Münze
Räuber jemand, der einem gewaltsam
nimmt, worum man einen anderen betrogen hat
- 75 -
Rechtsanwalt gesetzlich bestellte Person zur ungeschickten Verwaltung von
Geschäften, die man selber nicht gehörig vermasseln kann
Redseligkeit
ein Leiden, das den Kranken hindert, seine Zunge zu zügeln, wenn man selber reden möchte
- 76 -
Regierung sinnreiche Abstraktion in der Politik, dazu erdacht, die für
Premier und Präsident bestimmten Tritte und Knüffe
entgegenzunehmen
Rekrut ein Mann, der sich von einem Zivilisten durch die Uniform, von einem Soldaten durch die
Haltung unterscheidet
Reporter ein Schriftsteller, der den Weg zur Wahrheit errät und sie mit einem Wortschwall verbreitet
Republik
Staatsform, die all denen gleiche Rechte zuteil werden läßt, die
dafür zahlen können - 77 -
Reue ein Gefühl, das die Menschen erst dann empfinden, wenn sie
zu leiden beginnen
reuemütig gerade bestraft oder Strafe
erwartend
- 78 -
Rezept eine Vermutung des Arztes, wie der Zustand eines Patienten mit
dem geringsten Schaden aufrechtzuerhalten ist
Rhetorik
Verschwörung von Wort und Tat zum Betrug am Verstand
Rohling —» Ehemann
- 79 -
S
Sanftmut ungewöhnliche Geduld bei der
Vorbereitung einer süßen Rache
Scheidung
Hornsignal, das die Streitenden trennt und den Kampf
par distance einleitet
Schicksal Vollmacht des Tyrannen für
seine Verbrechen, Entschuldi- gung des Toren für sein
Versagen
- 80 -
Schloß und Riegel charakteristischer Mechanis-
mus der zivilisierten und aufgeklärten Gesellschaft
Schönheit
die Macht, mit der eine Frau ihren Liebhaber bezaubert,
ihren Mann aber das Fürchten lehrt
Schoß
einer der wichtigsten Teile des weiblichen Körpers; eine
bewundernswerte Einrichtung der Natur für den Schlaf der
Kindheit; erweist sich vor allem bei Festlichkeiten auf dem
Lande als nützliche Ablage für Teller mit kaltem Hühnchen oder die Köpfe erwachsener
Männer - 81 -
Schulden ausgeklügelter Ersatz für Kette
und Peitsche des Sklaven- aufsehers
Schürze
ein Stück Stoff, an der Vorder- seite des Körpers zu tragen, damit die Kleidung nicht die
Hände beschmutzt - 82 -
schutzlos unfähig zum Angriff
Selbstachtung Fehlurteil
selbstsüchtig
ohne Rücksicht auf die Ichsucht anderer
Selbsttäuschung
Stammvater einer respektablen Familie, zu der Begeisterung, Zuneigung, Selbstlosigkeit,
Glaube, Hoffnung und Nächstenliebe gehören
Sintflut
bemerkenswerter erster Versuch der Taufe; spülte die Sünden (und Sünder) der Welt
hinweg - 83 -
Sorglosigkeit das Laster, heute zu genießen,
was man morgen vielleicht nicht hat
Speck
in Salzlake einbalsamierte Schweinemumie
Speichellecker brauchbarer Beamter, nicht
selten Herausgeber einer Zeitung
- 84 -
Sprache Musik zur Verzauberung der Schlangen, die einen fremden
Schatz hüten
Staat Verwaltungseinheit; in Gang
gehalten von einer unüberseh- baren Zahl politischer
Parasiten, die zwangsläufig aktiv, aber nur per Zufall
tüchtig sind
Sterblichkeit der uns bekannte Teil der
Unsterblichkeit
Straffreiheit Reichtum
- 85 -
Stein häufig für Herzen verwendetes
Material
- 86 -
T
Tagebuch tägliche Aufzeichnung über jenen Ausschnitt aus dem
eigenen Leben, den man sich selber ohne Erröten mitteilen
kann
Tapferkeit kämpferische Mischung von Eitelkeit, Pflichtbewußtsein
und Verwegenheit
Täter der andere
- 87 -
töten eine freie Stelle schaffen, ohne für einen Nachfolger zu sorgen
Trauung
Zeremonie, bei der zwei Menschen geloben, eins zu
werden: einer gelobt, eine Null zu werden, die Null gelobt, sich
unterstützen zu lassen
Treue charakteristische Tugend derer,
die alsbald betrogen werden
- 88 -
U
Übeltäter Haupttäter beim Fortschritt der
Menschheit
Überdosis tödliche Arzneimenge (außer wenn vom Arzt
verabreicht)
Überfluß Instrument göttlicher Fügung, um den Bedürftigen Almosen
vorzuenthalten
übertreffen sich Feinde machen
- 89 -
überzeugt aus vollem Hals im Irrtum sein
Ultimatum
in der Diplomatie: letzte Forderung, bevor man Konzessionen macht
Unabhängigkeit
eines der wertvollsten Besitz- tümer der Phantasie
unamerikanisch
sündhaft, unausstehlich, unzivilisiert
unbefleckt
bislang noch nicht von der Polizei entdeckt
- 90 -
Undank eine Form der Selbstachtung, steht nicht im Widerspruch
zur Entgegennahme von Gefälligkeiten
Ungehorsam
Hoffnungsstrahl an der Wolke der Knechtschaft
Unglück
die Art Glück, die niemals fehlgeht
Unmenschlichkeit
eine bemerkenswerte charakte- ristische Eigenschaft der
Menschen
- 91 -
Unterhaltung Jahrmarkt minderer geistiger
Erzeugnisse, wobei jeder Aus- steller so auf die Anordnung
seiner eigenen bedacht ist, daß er die des Nachbarn nicht zur
Kenntnis nimmt
- 92 -
Unterleib Schrein, der den Gegenstand unserer tiefsten Verehrung
umschließt
unversöhnlich nur mit einem Batzen Geld zu
besänftigen
Ureinwohner minderwertige Lebewesen, in neuentdeckten Ländern eine
Last; sind bald nicht mehr lästig und werden zu Dünger
- 93 -
V
Vater Quartiermeister und Ernährer,
von der Natur für unseren Unterhalt bereitgestellt, bevor
wir uns durch Raub zu ernähren verstehen
Vati
ein von seinen unerzogenen Kindern nicht respektierter
Vater
Verachtung Gefühl eines klugen Mannes
für einen Feind, der so mächtig ist, daß man ihm nicht ohne Gefahr entgegentreten kann
- 94 -
Verantwortung Last, die sich leicht auf die
Schultern Gottes, des Schick- sals, des Zufalls, des Glücks
oder des Nachbarn abwälzen läßt
verboten
mit einer bisher unbekannten, unwiderstehlichen Anziehungs-
kraft behaftet
- 95 -
Verehrung die innere Einstellung eines
Menschen zu Gott und die eines Hundes zum Menschen
Vergebung
Kriegslist, wiegt einen Misse- täter in Sicherheit, um ihn bei
seinem nächsten Vergehen in flagranti ertappen zu können
Vergessenheit
Kühlraumlagerung für ver- stiegene Hoffnungen
Vergnügen
die angenehmste Form der Niedergeschlagenheit
verlobt
ausgestattet mit einer Schelle für Eisenkugel und Fußkette
- 96 -
vermachen einem anderen großzügig über- lassen, was ihm sowieso nicht
mehr vorenthalten werden kann
vernünftig für Überredung, Warnung und
Ausrede zugänglich
verrückt im Widerspruch zur Mehrheit
Vertrauen
unbegründeter Glauben an Aussagen eines Unwissenden
über beispiellose Dinge
Verwandte Menschen, die wir besuchen,
sofern sie reich sind, und die uns besuchen, sofern sie arm sind
- 97 -
Vorahnung das Vorgefühl von etwas
Unangenehmem, wenn man um drei Uhr morgens nach Hause kommt und im Schlafzimmer
der Ehefrau Licht sieht
Vorhaltung eine von vielen Methoden,
durch die vornehmlich Narren ihre Freunde verlieren
- 98 -
W
Wächter ein Mann, der vor anderen
schützt, was er sich selber nicht beschaffen will
Waffenstillstand Freundschaft
- 99 -
Wagemut eine der auffälligsten Eigen- schaften eines in Sicherheit
befindlichen Mannes
wahnsinnig davon überzeugt, daß andere
verrückt sind
Wahrheit gelungene Mischung von
Erwünschtem und äußerer Erscheinung
Weihnachten
Festtag, der Völlerei, der Trunksucht, klebrigen
Gefühlen, der Entgegennahme von Geschenken, öffentlicher Langeweile und häuslichem
Frieden geweiht
- 100 -
Weihrauch auf dem Gebiet der Religion ein
für die Nase bestimmtes Argument
weiß
schwarz
widerrufen den ersten Schritt auf dem Weg
zur Rückfälligkeit tun
Widersinn Erklärung oder Auffassung, die offensichtlich unvereinbar mit
der eigenen Meinung ist
Wiege Trog zum Rütteln von
Menschenkindern, damit sie brav sind
- 101 -
Wissen eine besondere Art von
Unwissenheit, die von zivili- sierten Völkern zur Schau
gestellt wird; zu unterscheiden von Ignoranz, der Gelehrtheit,
die Wilde auszeichnet
Wörterbuch bösartige literarische
Erfindung; hemmt die Entwick- lung der Sprache, macht sie
steif und spröde
Wortverdreher Lügner im Raupenstadium
- 102 -
Wüstling ein Mann, der seinen Leiden-
schaften unterliegt
- 103 -
X
Mit X beginnende Wörter kommen aus dem Griechischen
und werden in diesem Standardwörterbuch
nicht definiert.
- 104 -
Y
vgl. X
- 105 -
Z
Zahnarzt Zauberkünstler, der dir Metall in den Mund stopft und Geld
aus der Tasche zieht
zechen mit angemessenem Aufwand
die Geburt eines kapitalen Katers feiern
- 106 -
Zeitvertreib leichte Übung bei Schwachsinn
Zenit
der Punkt am Himmel, der sich unmittelbar über dem Haupt
eines aufrecht stehenden Menschen oder eines dort
wachsenden Kohlkopfs befindet
Zentaur Angehöriger einer Spezies, die den primitiven ökonomischen Grundsatz vertrat: „Jedermann
sein eigenes Pferd!“
Ziel die Aufgabe, auf die man seine
Wünsche richtet
- 107 -
Zirkus ein Zelt, wo Pferde, Ponys und Elefanten zusehen dürfen, wie Männer, Frauen und Kinder
sich albern benehmen
Zukunft die Zeit, in der unser Wohlstand
blüht, unsere Freunde redlich sind und unser Glück
gesichert ist
zurückhaltend ernst und bescheiden, wie zum Beispiel ein besonders skrupel-
loses Weib
Zwang Beredsamkeit der Macht
zweimal
einmal zu oft - 108 -
Zwerchfell Scheidewand aus Muskel-
gewebe, die Erkrankungen des Brustkorbs von Erkrankungen
des Bauches trennt
Zyniker ein Lump, dessen unzuläng-
liches Sehvermögen die Dinge sieht, wie sie sind, und nicht,
wie sie sein sollten - 109 -
Nachwort
Wer zum Lexikon greift, möchte be-raten und nicht zum Narren gehalten oder zurechtgewiesen werden. Dieser Wunschvorstellung kommt das vor-liegende Diktionär nicht entgegen, denn es ist ein möglicher Anfang vom Ende jeglicher wissenschaftlicher – sprich: seriöser – Lexikographie. Der Benutzer wird also gut daran tun, es gegen den Strich zu lesen. Bierce ordnet seine Worteinheiten zwar in alphabetischer Reihenfolge, doch ansonsten verstößt er gegen sprach-wissenschaftliche Konventio-nen und elementare Regeln, auch der Logik, nach denen eben weiß nicht schwarz heißt. Über dreihun-dert meist bittere Pillen wurden aus der Bierceschen Sammlung „The Devil's Dictionary" (1911) ausge-wählt, die in der ersten, weniger
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umfangreichen Ausgabe des Jahres 1906 noch den Titel „The Cynic's Word Book“ trug. Die geschliffenen Sentenzen, an denen Bierce seit 1869 arbeitete und deren erste Folge 1875 als Zeitungsabdruck erschien, sind nicht selten in erläuternde Passagen eingebettet, erweitert durch fingierte Zitate und Gedichte nicht existieren-der Poeten. Es erschien daher reiz-voll, den Spötter einfach beim Wort zu nehmen und auf seine Kernsätze festzunageln, wobei das, was zu stark an seine Zeit oder den Ort San Francisco gebunden war, unberück-sichtigt bleiben durfte. Als sachliche Information sind die Worterklärun-gen allerdings auch in ihrer knappen Form unbrauchbar, mit der Semantik ist eben kein Schindluder zu treiben. Der Autor entscheidet sich für die Unsachlichkeit, verkleidet in Ge-wänder wie Paradoxon, Antithese oder Untertreibung, und kommt damit zur eigentlichen Sache. Er
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versucht, durch ironische und zyni-sche Definitionen zu überraschen, zu schockieren und das, was institutio-nalisiert ist, in Bewegung zu bringen. Das gelingt nur, weil er mit geradezu teuflischer Raffinesse den Erwar-tungshorizont des Benutzers unter-läuft. Die Provokation ist sein Metier, die Vertreibung heiliger Kühe sein Anliegen. Das horrende Mißverhältnis zwischen Schein und Sein, zwischen Anspruch und Wirk-lichkeit im Amerika seiner Zeit verführt ihn, überzeugende, seit Generationen akzeptierte Erklärun-gen zu verwerfen, weil er mit Recht argwöhnt, da müsse etwas anderes dahinterstecken, zum Beispiel Selbstzufriedenheit, Scheinheilig-keit, eine schlichte Ungereimtheit, eine Lüge gar oder, zur Genugtuung des advocatus diaboli, eine Gemeinheit, eine hinterhältige Artigkeit –Menschliches, Allzumenschliches. „Dieses Werk wendet sich an auf-
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geklärte Leute, die trockenen Wein süßem vorziehen, Verstand dem Gefühl, Witz dem Humor.“ So die Widmung des Verfassers in der Aus-gabe des „Devil's Dictionary“ aus dem Jahre 1911, die auch unserem Bändchen vorangestellt worden wäre, hätte sich nicht seine böse Lobeshymne auf die USA angebo-ten. Wer war dieser Widerspruchsgeist, der überall ein Haar in der Suppe entdecken wollte und folglich auch entdeckte? Heute, fast siebzig Jahre, nachdem er auf mysteriöse Weise im Nachbarland Mexiko verschwand, wo gerade eine Revolution stattfand, haftet Bierce noch etwas Rätselhaftes an. Dabei sind die wichtigsten Lebensdaten bekannt und von mehreren Biographen sorgfältig auf-gearbeitet worden. Ambrose Gwinett Bierce, das zehnte von insgesamt dreizehn Kindern, wurde 1842 in einem Krähwinkel im
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Meigs County, Ohio, als Sohn aus Neuengland zugewanderter, streng religiöser Farmer geboren. Mit fünf-zehn Jahren entfloh er der Armut und Enge des Elternhauses und begann eine Druckerlehre. Bei Aus-bruch des Bürgerkrieges (1861–1865) schloß er sich den Unionstruppen an, zeichnete sich in einigen großen Schlachten aus und nahm 1866 ent-täuscht seinen Abschied von der Armee, weil die erwartete Beförde-rung ausblieb. Nun begann seine journalistische Laufbahn in San Francisco. Bereits 1868 fand er feste Anstellung beim „News Letter and Commercial Advertiser“, wo er sich rasch etablierte und die unter dem Titel „The Town Crier“ (Der Aus-rufer) erscheinende Spalte übernahm. Von 1872 bis 1875 hielt er sich in England auf und verfaßte bissige Epigramme und Skizzen, die er unter dem Pseudonym Dod Grile in den Bänden „Nuggets and Dust Panned
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Out in California” (1872), „The Fiend's Delight” (1872) und „Cobwebs from an Empty Skull” (1874) veröffentlichte. Nach San Francisco zurückgekehrt, war er zunächst als Mitherausgeber der Zeitschrift „The Argonaut“ tätig, verdingte sich wenig später als Manager einer Goldmine, bis ihm schließlich der Posten eines Chef-redakteurs an der Zeitschrift „Wasp“ angeboten wurde (1881), die sein „Devil's Dictionary“ bis 1886 in Fortsetzungen abdruckte. Der Be-gründer der skrupellosen Sensations-presse William Randolph Hearst, von dem es heißt, er habe einst an einen seiner Reporter telegraphiert: „Liefern Sie Artikel, ich liefere Krieg!“, holte ihn 1887 an die Tages-zeitung „The Examiner“. Ein Mann vom Schlag eines Hearst konnte sich einen Hofnarren wie Bierce leisten, der wild nach allen Seiten focht und weder vor der Kirche noch vor der
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Bourgeoisie Respekt zeigte. In sei-nem Auftrag begab sich Bierce als Korrespondent nach Washington (1896); dort quittierte er 1909 den Dienst und widmete sich der Heraus-gabe seiner „Collected Works“ in zwölf Bänden (1909–1912). Von einer im Dezember 1913 angetrete-nen Reise nach Mexiko kehrte er nicht zurück; man vermutet, daß er Anfang 1914 starb. Zu seinen Lebzeiten war „der lachende Teufel“, wie ein Pastor aus San Francisco ihn nannte, Kritikern und Lesern in Kalifornien, England und im Osten der USA ein Begriff, doch bald nach seinem Verschwin-den wurde es still um ihn. Erst nach dem zweiten Weltkrieg erlebte er zunächst mit seinen Short Stories, später auch mit dem „Teufelswörter-buch“ eine Renaissance. Heute ist sein Rang in der amerikanischen Literatur unbestritten; er gilt als bedeutender Nachfolger Edgar Allan
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Poes, als Vollender der von diesem gepflegten Form der Short Story. Die Prägnanz war seine Leidenschaft, alles, was den Umfang einer Short Story überstieg, war ihm suspekt. „Dem Humor wie dem Tod stehen alle Jahreszeiten offen.“ Dieses scheinbar nebenbei hingeschriebene, aber zentrale Bonmot aus einer seiner Stories ist ein typisches Beispiel dafür, wie wichtig der epigram-matisch zugespitzte Satz auch für seine erzählende Kurzprosa ist. Die Bände „Tales of Soldiers and Civil-ians” (1891; 1892 unter dem Titel „In the Midst of Life” neu herausge-geben) und „Can Such Things Be?” (1893) enthalten meisterhafte Texte –Schreckens- und Gruselgeschichten aus dem bürgerlichen Alltag, Kriegs-geschichten und Mordgeschichten, die sich durch makabre Phantasie, technische Brillanz und stilistische Bravour auszeichnen. Was den Krieg betrifft, so hatte Bierce keiner-
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lei Illusionen. Er hat ihn kritisch beschrieben und die Taten von Sol-daten und Offizieren ihres Glorien-scheins beraubt. Allerdings ging ihm das Verständnis für die historische Bedeutung des amerikanischen Bürgerkriegs ab, wie ihm ja auch ein tieferes Eindringen in die ge-sellschaftliche Problematik seiner Epoche fernlag. Als „vergoldetes Zeitalter“ haben Mark Twain und Charles Dudley Warner die amerikanischen Grün-derjahre bezeichnet, die unmittelbar nach dem Bürgerkrieg mit einem beispiellosen ökonomischen Boom einsetzten und mit dem Börsenkrach von 1873 und der folgenden Krise ein Ende fanden. Diese Zeit des Spekulantentums, der unsauberen Geschäftspraktiken und des allgemei-nen Sittenverfalls lehrte Bierce die Verachtung. Sein tödlicher Witz wurde von der Realität seines Landes provoziert, wo die moralische Praxis
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mit der praktischen Moral in Wider-streit lag. Er besaß nicht den Ehrgeiz, das Gewissen Amerikas zu spielen, er versuchte nicht, die sozialen Strukturen und Mechanismen zu ändern, sondern er begnügte sich damit, Illusionen über die Ehe, die Liebe und die Freundschaft, über Religion, Gott und die Welt zu zer-stören und sich mit höhnischem Gelächter zurückzuziehen. Pädago-gisches Einfühlungsvermögen besaß Bierce nicht, ätzende Schärfe schien ihm wirkungsvoller als geduldige Überzeugung. Er war ein Moralist, Swift und La Rochefoucauld ver-gleichbar. Die Gefahr, über das Ziel hinauszuschießen und zum Men-schenverächter zu werden, lag bei ihm nahe, denn zu den Quellen seiner Kunst gehörte außer der europäischen Tradition des Aperçus das Erbe des grotesken Humors aus dem amerikanischen Westen. Gewiß, herbe Enttäuschungen in
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seinem Privatleben haben ihn sen-sibilisiert und wahrscheinlich seine Unduldsamkeit gefordert. Doch sollte man nicht vergessen, daß Bierce ein Professional, ein mit allen Wassern des amerikanischen Jour-nalismus gewaschener Schriftsteller war mit dem Auftrag, die Leser zu unterhalten. In der Rolle des Geistes, der stets verneint, als Entertainer wußte er: Witz, Invektive oder Zynismus waren die Devise für sein Publikum in San Francisco. Niemand vermag mit Bestimmtheit zu sagen, wo die Pose aufhörte, niemand kann die Masken eindeutig von den wahren Gesichtern des Ambrose Bierce trennen. In der amerikanischen Literatur hatte er einen Geistesverwandten: den respektlosen Journalisten, Essayisten und Lexikographen Henry Louis Mencken (1880–1956), der stets voller Hochachtung von ihm sprach. Eine von Menckens Essaysamm-
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lungen schließt mit einem erfun-denen Kurzinterview. „Frage: ,Wenn Sie in den Vereinigten Staaten so wenig Bewundernswertes entdecken, warum leben Sie dann hier?’ Ant-wort: ,Warum laufen die Leute in den Zoo?’“ So – oder so ähnlich – hätte wohl auch der Publikumsbeschimp-fer Ambrose Bierce geantwortet.
Berlin, im Oktober 1983
Hans Petersen
Die Nachdichtung der
„Rationalhymne“ von Ambrose Bierce
besorgte Klaus-Dieter Sommer
Gescannt von c0y0te.
1. Auflage © Eulenspiegel Verlag, Berlin • 1984 Lizenz-Nr.: 540/22/84 • LSV 7331
Einband und Vorsatz: Karl-Georg Hirsch
Printed in the German Democratic Republic
Satz und Reproduktion: Sachsendruck Plauen
Druck und buchbinderische Verarbeitung:
LVZ-Druckerei „Hermann Duncker“, Leipzig-III/18/138
620 744 5
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