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Gesundheit, Behinderung und psychische Erkrankung: Herausforderung für Dortmund und andere Städte gefördert durch: DOKUMENTATION [Inklud:Mi] Netzwerkkongress 05.07.2017 Kinder und Jugendliche mit besonderem Unterstützungsbedarf

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Page 1: DOKUMENTATION [Inklud:Mi] Netzwerkkongress 05.07€¦ · Gesundheit, Behinderung und psychische Erkrankung: Herausforderung für Dortmund und andere Städte ... Therapeutin Kaiser-Kauczor

Gesundheit, Behinderung und

psychische Erkrankung:

Herausforderung für Dortmund und andere Städte

gefördert durch:

DOKUMENTATION

[Inklud:Mi]

Netzwerkkongress 05.07.2017 Kinder und Jugendliche mit

besonderem Unterstützungsbedarf

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Programm

Ab 9:00 Uhr Registrierung, Willkommenskaffee

10:00 Uhr Begrüßung: Hildegard Azimi-Boedecker, IBB e.V.

Grußwort: Michael Taranczewski, Integrationsrat Dortmund

Impulse:

1. Behinderte Kinder und Jugendliche – auf der Flucht und

angekommen: Situation, Forderungen, Konsequenzen

Dr. Susanne Schwalgin, Handicap International e.V., Berlin

2. Fehldiagnosen vermeiden, Bedarf erkennen: Kultursensible

Differenzialdiagnostik: Früherkennung/Diagnostik, Krankheits-

/Störungsbilder bei Kindern mit Flucht- oder Wanderungsgeschichte

Dipl.-Pädagogin Cornelia Kaiser-Kauczor, Praxis für Psychotherapie

(ST) und Supervision, Essen

12:30 Uhr Mittagspause

13:30 Uhr Workshops

W1 Und wer hilft jetzt?

Kinder allein oder wenn (traumatisierte) Eltern als Erziehungspartner

ausfallen:

Cornelia Kaiser-Kauczor

W2 Unterstützung.Empowerment.Zusammenarbeit.

Selbsthilfe und kultursensible Angebote für Familien behinderter Kinder:

„Kultursensible Aspekte bei Behinderung“

Dr. Katja Sündermann, IBB

„Die neue „Beratungs- und Kontaktstelle für Menschen mit

Behinderung und Migrationshintergrund“

Melanie Schütte, Resmigül Acil, Nigar Aliyeva, Lebenshilfe für

Menschen mit Behinderung Dortmund e.V.,

„Das ist neu: Sprachworkshops für sehbehinderte Geflüchtete“

Wolfram Buttschardt/Fabiana Kühl, Netzwerk Flüchtlinge mit

Behinderung, Diakonie Michaelshoven Köln

W3 No limits – Inklusion Gehörloser Migrant*innen

Sprachkurse und Vernetzung als Unterstützungsangebote: (Dieser

Workshop mit findet mit Gebärdendolmetschern statt)

„un-erhört: zur Lage in den Herkunftsländern“

Hildegard Azimi-Boedecker, IBB,

„Gebärdensprache(n) und Integrationskurse –

speziell und nötig“

Nadine Möller, Sprachschule Heesch, Hamburg/Düsseldorf,

„deaf refugees welcome“– das Netzwerk für Flüchtlinge und Impulse

für die Arbeit mit gehörlosen Migrant*innen Christine Tschuschner,

Landesverband der Gehörlosen NRW 1899 e.V.,

Flüchtlingsbeauftragte für gehörlose Flüchtlinge und Migranten

Ende

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INHALT

1. Einleitung

Hildegard Azimi-Boedecker

Leiterin des Fachbereichs Beruf international und Migration

im Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk e. V. in

Dortmund

5

2. Grußwort

Michael Taranczewski

Vorstandsmitglied im Integrationsrat Dortmund

7

3. Impulsvortrag

Behinderte Kinder und Jugendliche – auf der Flucht und

angekommen: Situation, Forderungen, Konsequenzen

Dr. Susanne Schwalgin

Handicap International e.V.

8

4. Impulsvortrag

Fehldiagnosen vermeiden, Bedarf erkennen: Kultursensible

Differenzialdiagnostik: Früherkennung/Diagnostik,

Krankheits/Störungsbilder bei Kindern mit Flucht- oder

Wanderungsgeschichte

Cornelia Kaiser-Kauczor

Praxis für Psychotherapie (ST) und Supervision, Essen

15

5. Workshop 1

No limits – Inklusion gehörloser Migrantinnen und

Migranten

Christine Tschuschner, Beauftragte für gehörlose Geflüchtete

und Migranten im Landesverband der Gehörlosen NRW

19

6. Workshop 2+3 (zusammengelegt)

Und wer hilft jetzt? Kinder allein oder wenn (traumatisierte)

Eltern als Erziehungspartner ausfallen

Unterstützung.Empowerment.Zusammenarbeit

Cornelia Kaiser-Kauczor

Praxis für Psychotherapie (ST) und Supervision, Essen

23

7.

Weiterführende Links 33

8. Gedicht: Die Kunst der kleinen Schritte

34

9. Impressum 35

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Netzwerkkongress [Inklud:Mi] 2017

5

EDITORIAL

Schätzungsweise 300 000 Kinder und Jugendliche sind unbegleitet auf der

Flucht. In rund 80 Ländern suchen sie Zuflucht vor Krieg und Verfolgung - nicht

nur, aber auch in Deutschland. Über ihren physischen wie psychischen

Gesundheitszustand ist wenig bekannt. Statistische Erhebungen gibt es nicht.

Manche leiden mehr oder weniger offensichtlich unter körperlichen Gebre-

chen. Bei manchen sind die Beeinträchtigungen jedoch auf den ersten Blick

nicht erkennbar. Mehr oder weniger schwer traumatisiert, teilweise gehörlos,

teilweise stumm verlängert sich ihr Leidensweg unnötig, auch wenn sie schon

in einer Erstaufnahme in Deutschland angekommen sind.

Der dritte Netzwerkkongress [Inklud:Mi]1, zu dem das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk

e. V. in Dortmund für den 5. Juli 2017 im Rahmen der Internationalen Woche 2017 eingeladen hatte,

lenkte den Blick deshalb auf diese besonders schutzbedürftige Gruppe von Geflüchteten.

Welche Hilfsangebote gibt es bereits?

Wo bestehen dringende Bedarfe?

Wo kann die Kooperation im Netzwerk [Inklud:Mi] helfen?

Aber auch die Nöte von erwachsenen Zugewanderten mit Behinderungen und psychischen Beein-

trächtigungen, die vor kurzem als Geflüchtete oder schon vor längerer Zeit angekommen sind, stan-

den beim dritten Netzwerkkongress wieder im Mittelpunkt.

Dr. Susanne Schwalgin von Handicap International e.V. hatte dazu die aktuell noch laufende Bedarfs-

analyse zur Gesundheitsversorgung von Geflüchteten mit Behinderungen vorgestellt. Für diese Stu-

die wird insbesondere die Sicht der Betroffenen erfragt – und zwar sowohl der betroffenen Geflüch-

teten als auch der in den zuständigen Ämtern und Einrichtungen mit dem Thema Befassten. Das Er-

gebnis soll im Dezember 2017 vorliegen und wird mit Spannung erwartet.

Über Fallstricke und Fehldiagnosen in der Arbeit mit jungen Zugewanderten berichtete Familienthe-

rapeutin Cornelia Kaiser-Kauczor aus Essen.

1 [Inklud:Mi] bezeichnete ein B.A.M.F.-gefördertes IBB-Projekt von 2014 -2015 zur Inklusion von Migranten und Migrantin-

nen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung durch Sensibilisierung der sogenannten „Aufnahmegesellschaft“. Es beinhaltete Fachfortbildungen zu ausgewählten Themen mit dem Ziel der interkulturellen Öffnung von Einrichtungen. Ein

weiterer Schwerpunkt war die Vernetzung von Akteuren aus den Bereichen Migration, Selbsthilfe, Migrantenorganisationen

und Einrichtungen/Diensten in der Arbeit mit behinderten bzw. psychisch erkrankten Menschen. Auch nach Ablauf des

Projektzeitraumes wurde die Netzwerkarbeit auf Grund der hohen Bedarfsmeldungen über andere Zuschussgeber ermög-

licht und soll dauerhaft fortgesetzt werden (d. Verf.).

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Netzwerkkongress [Inklud:Mi] 2017

6

Der Landesverband der Gehörlosen NRW 1899 e.V. stellte sein Pro-

jekt „Deaf Refugees welcome“ vor. Dabei geht es darum, hörbehin-

derte und gehörlose Geflüchtete zu identifizieren und mit entspre-

chenden Hilfeeinrichtungen zu vernetzen und ein Bewusstsein zu

schaffen für die besonderen Barrieren, vor denen diese Gruppe

steht. Die Lebenshilfe Dortmund präsentierte ihr neues Angebot für

Zugewanderte mit Behinderungen und psychischen Beeinträchti-

gungen, das einen besonderen Schwerpunkt auf eine kultursensible

Beratung legt. Und in einem Workshop berichtete Trauma-

Therapeutin Kaiser-Kauczor über Strategien zur Arbeit mit Kindern

und Jugendlichen traumatisierter Eltern. Diskutiert wurde zudem über valide Hilfepläne bei Ausfall

der Eltern.

Rund 60 Haupt- und Ehrenamtliche in der Flüchtlingshilfe, Vertreter von Migrant*innenorganisatio-

nen und Behinderteneinrichtungen sowie des Integrationsrates der Stadt Dortmund waren der Einla-

dung zum Netzwerkkongress [Inklud:Mi] gefolgt.

Der Netzwerkkongress [Inklud:Mi] wird gefördert vom Integrationsrat der Stadt Dortmund.

Mit dieser Dokumentation geben wir den Inhalt der Vorträge und Diskussionen und die Ergebnisse

der Arbeitsgruppen wieder und hoffen auf einen weiterhin lebhaften und inspirierenden Austausch

in unserem Netzwerk [Inklud:Mi] .

Schon an dieser Stelle kann bilanziert werden: Nach der Erstversorgung und Verteilung von Geflüch-

teten treten nun Aufgaben zur langfristigen Inklusion behinderter Zugewanderter in den Vorder-

grund. Auch die seit langem hier ansässigen Migrant*innen partizipieren häufig viel zu lange nicht

vom Hilfesystem, weil viele Dienste und Angebote noch immer nicht kultursensibel aufgestellt sind.

Lücken im System werden seit mehreren Jahren im bewährten Netzwerk [Inklud:Mi] von Mig-

rant*innenorganisationen und Einrichtungen der Behindertenhilfe identifiziert.

Wir hoffen daher, im Sinne der Betroffenen auch in den kommenden Jahren wieder Tagungen und

Fortbildungen im Netzwerk [Inklud:Mi] anbieten zu können.

Unsere Dokumentation enthält Zusammenfassungen der Input-Referate und der Workshop-Arbeit.

Zudem haben wir eine Linkliste beigefügt.

Wir freuen uns über Ihr Interesse und wünschen Ihnen eine hilfreiche Lektüre.

Hildegard Azimi-Boedecker

Leiterin des Fachbereichs

Beruf international und Migration

im Internationalen Bildungs- und

Begegnungswerk e.V. in Dortmund

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Netzwerkkongress [Inklud:Mi] 2017

7

GRUSSWORT

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich begrüße Sie im Namen des Integrationsrates Dortmund

heute ganz herzlich zum dritten Netzwerkkongress [Inklud:Mi]

im Dietrich-Keuning-Haus und danke Ihnen besonders für die

Arbeit, die Sie leisten.

Ich bin auch Mitglied der SPD-Fraktion im Stadtrat und Vorsit-

zender des Ausschusses für Soziales und kenne daher die

Schwierigkeiten, die Belange der sozialen Arbeit rund um Pfle-

ge und Betreuung von Hilfebedürftigen in den Fokus der Öf-

fentlichkeit zu bringen. Vor allem, wenn es um das leidige

Thema Geld geht, wird es schwierig, denn Geld ist ja angeblich

nicht vorhanden.

Vor besonderen Schwierigkeiten stehen immer wieder Migran-

tinnen und Migranten mit Behinderungen und psychischen

Beeinträchtigungen - ganz gleich, ob sie schon viele Jahre in

Deutschland leben oder gerade erst angekommen sind. Hier ist wirklich eine Lücke im Unterstüt-

zungssystem, die dringend geschlossen werden muss.

Als langjähriger Kenner dieser Problematik möchte ich Ihnen heute eines mit auf den Weg geben:

Arbeiten Sie nicht nur im Verborgenen!

Sie leisten eine gute Arbeit. Sie leisten eine segensreiche Arbeit. Es macht nur keinen Sinn, wenn man

nicht darüber spricht, weil man auch die Unterstützung der Öffentlichkeit braucht. Ohne Informatio-

nen darüber wird man nicht zur Kenntnis genommen. Dieses Wissen muss auch in den Verwaltungen

ankommen, damit Sie auch die Finanzierungen erhalten für alles, was wirklich notwendig ist.

Die Menschen, um die Sie sich kümmern, haben nicht nur ein Recht auf Hilfe, sondern es ist im Sinne

der Humanität wichtig, dass wir uns um sie kümmern und ihnen helfen.

In diesem Sinne wünsche ich dem Netzwerkkongress [Inklud:Mi] gutes Gelingen.

Michael Taranczewki,

Integrationsrat Dortmund

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Netzwerkkongress [Inklud:Mi] 2017

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IMPULSVORTRAG 1

Behinderte Kinder und Jugendliche – auf der Flucht und angekommen:

Situation, Forderungen, Konsequenzen

Referent: Dr. Susanne Schwalgin, Referentin Flucht und Behinderung bei Handicap International e.V

Handicap International e.V. ist eine unabhängige und unparteiische Organisation für internationale Solidarität,

die in Armuts-, Ausgrenzungs-, Konflikt- und Katastrophensituationen eingreift. Die Organisation setzt sich für

Menschen mit Behinderung und andere besonders schutzbedürftige Menschen ein. Handicap International

Deutschland ist Mitglied des Netzwerkes von Handicap International.

Der deutsche Verein arbeitet seit 1998 mit einem Büro in München und seit 2015 auch in Berlin und wird

deutschlandweit von ehrenamtlichen Aktivistinnen und Aktivisten unterstützt. Schwerpunkte der Arbeit sind

Spendenwerbung und institutionelles Fundraising sowie Lobby- und Sensibilisierungsarbeit zu den Themen

Behinderung in Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfe sowie Kriegsfolgen. In München ist das

Projekt ComIn angesiedelt, das praktische Unterstützung für Migrant*innen, speziell Flüchtlinge mit Behinde-

rung, anbietet.2

Wie geht es Geflüchteten mit

einer Behinderung in Deutsch-

land? Und wo gibt es strukturelle

Lücken? Welche Lücken müssen

dringend geschlossen werden?

Antworten auf diese Fragen sucht

Handicap International e. V. Im

September 2016 begann eine

umfangreiche Bedarfsanalyse. Im

Dezember 2017 soll das Ergebnis

vorliegen. Ein erstes Zwischener-

gebnis stellte Dr. Susanne

Schwalgin den Zuhörenden vor.

Auf dem Netzwerkkongress [Inklud:Mi] erhob die Referentin eine zentrale Forderung: „Wir brauchen eine bundesweite Vernetzung!“

„Wir brauchen eine

bundesweite Vernetzung!“

Geflüchtete mit einer Behinderung oder psychischen Beeinträchtigung sind eine extrem heterogene

Gruppe: Blinde oder Gehörlose, Körperbehinderte, Erwachsene mit psychischen Beeinträchtigungen

oder Kinder mit schweren körperlichen Behinderungen oder einer Lernschwäche gehören zum Kreis

derjenigen, die nach meist langer Flucht in Deutschland ankommen. Doch längst nicht jede psychi-

sche oder physische Beeinträchtigung kann überhaupt schon bei der Erstaufnahme erkannt werden.

Systematisch abgefragt werden Bedarfe auch nicht. „Um es gleich vorwegzunehmen“, sagte Dr. Schwalgin auf dem Netzwerkkongress. „Zahlen habe ich auch nicht.“

2 Selbstdarstellung, https://handicap-international.de/de/uber-uns (zuletzt abgerufen am 26.01.2018)

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Netzwerkkongress [Inklud:Mi] 2017

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Für die Bedarfsanalyse der Organisation Handicap International wählte Dr. Schwalgin einen anderen

Zugang:

1. Schreibtisch-Recherche

2. Online-Umfrage bundesweit

3. vertiefende Feldstudien an ausgewählten Orten in Berlin, Brandenburg und Bayern.

Die Bedarfsanalyse begann am Schreibtisch. Wer mehr erfahren möchte über Zugewanderte mit

Behinderungen, muss die Einrichtungen fragen, die die Betroffenen betreuen. So galt es zunächst

zentrale Akteure im Bund, Ländern und Kommunen zu identifizieren, die gesetzlichen Rahmenbedin-

gungen und schließlich die bisherigen Erfahrungen zu recherchieren.

Bei der Online-Umfrage bundesweit zur Versorgungslage und Lebenssituation von Geflüchteten mit

einer Behinderung oder psychischen Beeinträchtigung wurden schließlich 120 Service-Provider aus

der Flüchtlings- und Behindertenhilfe angefragt. Knapp 40 meldeten sich zurück.

Für die Feldstudie wurden in Berlin und Brandenburg Interviews mit Zugewanderten geführt. Hinzu

kommen Interviews mit Verantwortlichen aus dem „Sozialpolitischen Dreieck“ Politik, Verwaltung und Flüchtlings-/Behindertenhilfe. Weitere Interviews in Bayern sind noch in Vorbereitung.

Haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitende aus unterschiedlichen Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen verfolgen den Vortrag

mit großem Interesse.

Vorläufige Ergebnisse der Schreibtisch-Studie:

„Der Krisenmodus ist vorbei“, bestätigte sich auch für Dr. Schwalgin. Nachdem 2015 Geflüchtete in großer Zahl Deutschland erreicht hatten, sind die Zuwanderungszahlen 2016 rückläufig. Dies führe

auch in allen Aufnahme- und Betreuungseinrichtungen zu einer Konsolidierung. Doch die Flüchtlings-

politik hat sich seit 2015 geändert, stellte Dr. Schwalgin fest: Sie sei geprägt von einer Verschärfung

des Asylrechts und dem Ziel der Abschreckung. Gleichzeitig sei eine Verschiebung der Aufmerksam-

keit auf längerfristige Integrationsangebote zu beobachten.

Dies schaffe zum einen geringfügig mehr Aufmerksamkeit für die Bedarfe von Geflüchteten mit einer

Behinderung oder psychischen Beeinträchtigung. Die Verschärfungen im Asylrecht träfen aber Ge-

flüchtete mit einer Behinderung oder psychischen Beeinträchtigung besonders hart: Die Aussetzung

des Familiennachzugs könne zum Beispiel bedeuten, dass eine wichtige, unterstützende Kraft im

Alltag fehlt. Die Wohnsitzauflage könne Geflüchtete mit einer Behinderung oder psychischen Beein-

trächtigung an einen Ort binden, an dem dringend notwendige Unterstützungsan- gebo

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Netzwerkkongress [Inklud:Mi] 2017

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bote für bestimmte Behinderungen gar nicht vorhanden oder nur schwer zugänglich sind.

Zudem seien viele Integrationsangebote nicht inklusiv angelegt entsprechend der UN- Behinderten-

rechtskonvention. Als Beispiel nannte Dr. Schwalgin Sprachkurse, an denen Mütter nicht teilnehmen

können, weil keine Betreuung für ihre behinderten Kinder angeboten wird.

Ergebnisse der Online-Befragung:

Welchen Unterstützungsbedarf Zugewanderte mitbringen, wird nach den ersten Ergebnissen der

Studie nicht erfasst. Dies sei ein klarer Verstoß gegen die EU-Aufnahmerichtlinie. Besonders nicht

sichtbare Beeinträchtigungen würden dadurch gar nicht oder erst spät erkannt. Schätzungen von

Help Age und Handicap International e.V. zufolge sind etwa 10 bis 15 Prozent der Zugewanderten

von Behinderungen oder Beeinträchtigungen betroffen. Die Gruppe sei extrem heterogen hinsicht-

lich ihres Alters, ihrer Herkunft, ihrer Beeinträchtigung, ihres Schutzstatus und ihrer sozialen Her-

kunft.

Die Versorgung mit Hilfsmitteln, der Zugang zu Dienstleistungen und speziellen Angeboten sei unter-

schiedlich von Ort zu Ort und je nach Art der Beeinträchtigung. Das Bewusstsein der Aufnahmeein-

richtungen sei zwar gestiegen. Nach wie vor gebe es aber wenige spezialisierte Angebote und hohe

Zugangsbarrieren.

Die größten strukturellen Defizite seien:

mangelnde Aufklärung und Empowerment von Flüchtlingen mit Behinderungen,

mangelnde Kooperation zwischen Strukturen der Behinderten- und Flüchtlingshilfe (bei Be-

hindertenhilfe fehlt es an diversity mainstreaming, bei Flüchtlingshilfe an disability main-

streaming)

mangelndes Schnittstellenwissen und

mangelnde Kompetenzen bei Anbieten von Dienstleistungen.

Die Sensiblisierung und Advocacy für Flüchtlinge mit Behinderung habe zwar zugenommen, sei aber

lokal sehr unterschiedlich verteilt. Es gebe nach wie vor nur einzelne Leuchtturm-Projekte.

Advocacy im Sinne einer erfolgreichen Vertretung der Interessen von Geflüchteten bleibe punktuell

(z.B. Anhörung der Monitoring-Stelle für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention am

Deutschen Institut für Menschenrechte) oder wirke nur lokal durch Unterstützungsprojekte wie z.B.

das Projekt ComIn, das Netzwerk für Geflüchtete mit Behinderungen Köln, Mina e.V., Interaktiv e.V.,

BZSL etc.)

Häufig seien vergleichsweise „schwache“ Akteure beteiligt wie z.B. Migrant*innen-Organisationen

und/oder Akteure, die über zeitlich befristete Projekte beteiligt sind. Bis auf wenige Ausnahmen sei

das Thema nicht verankert bei den „Mainstream-Akteuren“ der Behinderten- und Flüchtlingshilfe.

Fazit: Bundesweit wirksame Strukturen seien nach wie vor nicht erkennbar.

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Netzwerkkongress [Inklud:Mi] 2017

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Erste Ergebnisse der Feldstudien in Berlin und Brandenburg

Wesentliche Erkenntnisse erhofft sich Handicap International e. V. aus der Befragung von Betroffe-

nen. Ziel sei es, die Sichtweisen von geflüchteten Personen mit Behinderung besser zu verstehen:

Was empfinden Flüchtlinge mit Behinderungen als positiv, was als negativ? Welche Zugangsbarrieren

erleben sie und welche Verbesserungen wünschen sie sich?

Bei der Durchführung habe sich gezeigt, dass eine deutliche Abgrenzung zu Interviews im Kontext des

Asylverfahrens erforderlich ist. So habe erst vermittelt werden müssen, dass die Kontrolle über das

Gespräch bei den Befragten liegt und dass es sich um ergebnisoffene, anonyme Interviews handelt,

die ohne negative Folgen für die Befragten bleiben.

Eine besondere Herausforderung liege darin, zu vermitteln, dass es kein „Falsch“ und „Richtig“ gibt. Leider habe auch vermittelt werden müssen, dass sich durch die Gespräche kurzfristig keine Verbes-

serungen im Hinblick auf die Beeinträchtigung ergeben werden.

Zum Zeitpunkt des Vortrags waren 20 Interviews in Berlin und 18 in Brandenburg geführt und aus-

gewertet worden. Bei der Auswahl der Gesprächspartner*innen sollte ein breites Spektrum abge-

deckt werden mit möglichst diversen Erfahrungen, sowie Differenzierungen nach Herkunftsland,

Alter, Geschlecht, Aufenthaltsstatus, Art der Beeinträchtigung und Familiensituation. Allerdings wur-

den deutlich mehr Interviews mit Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen geführt als mit

psychischen Beeinträchtigungen.

Zusammenfassung der ersten Ergebnisse:

Dr. Susanne Schwalgin stellte erste Ergebnisse vor:

Einige der Befragten erleben ihre Situation demzufolge als vorwiegend positiv: Sie fühlen sich besser

aufgehoben und versorgt als an ihrem Herkunftsort. Diese Erfahrung korreliert allerdings mit struktu-

rellen Faktoren: Die Befragten, die sich so positiv äußerten, haben eine gute Bleibeperspektive und

haben an ihrem Ankunftsort einen hohen Grad an professioneller und ehrenamtlicher Unterstützung

angetroffen. Viele haben auch Solidarität und eine unterstützende Gemeinschaft unter Geflüchteten

erlebt, die zu ihrer positiven Gesamteinschätzung beigetragen haben.

Negative Erfahrungen sind in der Regel drei Kategorien zuzuordnen: Die Geflüchteten haben

1. Probleme mit der Durchsetzung von bestehenden Ansprüchen

2. Probleme, die aus fehlenden Anspruchsgrundlagen erwachsen

3. Probleme mit weiteren Barrieren, die nicht ausschließlich mit dem Asylsystem in

Verbindung stehen.

„In der Regel zeigt sich, das Zugewanderte mit Behinderungen und psychischen Beeinträchtigungen

vor den gleichen Barrieren stehen wie Nicht-Zugewanderte – nur mit dem Unterschied, dass für sie

auch noch zusätzlich Sprachbarrieren und die Vorschriften des Asylrechts hinzukommen“, berichtete Dr. Schwalgin.

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Netzwerkkongress [Inklud:Mi] 2017

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Problembereich Ansprüche.

Zu den asylrechtlichen und sozialrechtlichen Ansprüchen und zu ihrer Durchsetzung berichtete Dr.

Schwalgin aus den Ergebnissen der Literaturauswertung und den Stakeholder-Befragungen:

Es gibt noch immer Unklarheiten von rechtlichen Ansprüchen an der Schnittstelle Asyl- und

Aufenthaltsrecht/Sozialrecht für Menschen mit Behinderungen, bedingt durch die Komplexi-

tät der Materie.

Die Betroffenen verstehen das System nicht und erleben es als extrem bürokratisch.

Menschen mit schlechter Bleibeperspektive erleben Diskriminierung und fühlen sich als

„Flüchtlinge zweiter Klasse“ gegenüber Geflüchteten mit Bleibeperspektive, die nach und nach Zugang zu Hilfen erhalten.

Unklarheiten und mangelndes Wissen setzen sich auf Seiten der unterstützenden Strukturen

fort.

Fazit: Ein gelingender Zugang hängt ausschließlich von Engagement einzelner Unterstützer*innen ab,

insbesondere auch vom guten Zusammenwirken professioneller Strukturen und ehrenamtlich Enga-

gierter. Dies deckt sich mit den Ergebnissen der Online-Befragung von Akteur*innen der sozialen

Arbeit: Viele der Befragten haben auch auf das immense Engagement hingewiesen, das nötig ist, um

eine hinreichende Versorgung zu organisieren. „Uns ist kein Beispiel bekannt, wo man sagen könnte: Die Person hat es alleine geschafft!“

„Uns ist kein Beispiel bekannt,

wo man sagen könnte:

Die Person hat es alleine geschafft!“

Problembereich Sprache.

„Selbst wenn alle Geflüchteten mit Behinderungen ei-

nen optimalen Zugang zu Sprachkursen hätten, würde

dies kurz- und mittelfristig kaum ausreichen, um das

notwendige Niveau für die Bewältigung der Bürokratie

zu erreichen“, schickte Dr. Schwalgin voraus. Alarmie-

rendes Ergebnis der Interviews: „Kaum jemand unserer Gesprächspartner hatte Zugang zu Sprachkursen.“ Die Barrieren seien vielfältig: Entweder fehle der Anspruch

auf einen Sprachkurs aufgrund einer schlechten Bleibe-

perspektive, oder Angebote seien nicht passgerecht für

Menschen mit Beeinträchtigungen oder schlicht nicht zugänglich. Zudem sei als weitere Barriere auf-

gefallen, dass Eltern von Kindern mit einer Beeinträchtigung keine entsprechend geschulte Kinderbe-

treuung für die Zeit des Sprachunterrichts finden.

Auch der Zugang zu Dolmetscherdiensten und Sprachmittlung – wie sie für Behördengänge oder the-

rapeutische Beratungsgespräche notwendig wären - ist häufig erschwert. Zum einen ist das Angebot

begrenzt, zum anderen seien auch hier die bürokratischen Hürden hoch.

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Netzwerkkongress [Inklud:Mi] 2017

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Problembereich Hilfen und Unterstützung.

Weiteres Ergebnis der Studie: Der Zugang zu Hilfsmitteln (vor allem im Bereich der Mobilität) ist in

der Regel erschwert. Der Zugang zu einer adäquaten Unterkunft ist für die meisten ein Problem.

Wenn den Betroffenen eine Wohnung zugewiesen wird, liege der Fokus häufig auf Barrierefreiheit.

Damit sei eine adäquate Versorgung aber nicht in jedem Fall auch wirklich gewährleistet. Dr.

Schwalgin nannte beispielhaft die Schilderung eines Blinden, der seine Wohnung nicht ohne Mobili-

tätstraining verlassen kann und folglich sozial isoliert lebt. Ein Mobilitätstraining wird ihm jedoch

nicht gewährt. Und das Beispiel einer psychisch beeinträchtigten Frau, die sich nicht aus ihrer Woh-

nung traut. „Unter anderen Umständen würde sie möglicherweise in Pflegestufe 1 eingestuft und

systematisch Hilfen erhalten“, verdeutlichte Dr. Schwalgin. Geflüchtete rutschen offenbar leichter durchs Hilfenetz.

Der Zugang zu medizinischer Behandlung und Rehabilitation sei häufig sozialrechtlich problematisch.

Zudem spielten Sprachprobleme eine Rolle. Einige Gesprächspartner schilderten auch positive Erfah-

rungen. So berichtete ein Vater begeistert über die vergleichsweise schnell sichtbaren Erfolge von

Maßnahmen zur Frühförderung bei seinem behinderten Kind: „Er hatte nicht mehr geglaubt, dass sich das Kind noch so positiv entwickeln könnte.“

Ihre zentralen Unterstützungsbedarf beschrieben die Befragten indes so:

Sie wünschen sich Sicherheit und emotionale Unterstützung, und dies sei keine behinderungsspezifi-

sche Problematik, sondern vielmehr ein allgemeines Problem im Kontext Flucht und Asyl.

Traumatisierende Erfahrungen sind weit verbreitet. Ein massives Problem ist die Gefahr einer Re-

Traumatisierung oder Entwicklung von Depressionen durch Perspektivlosigkeit, Unsicherheit, Tren-

nung von der Familie und Isolation.

Der Bedarf an sozialen Kontakten und Kontakten zur Familie ist immens. Der Kontakt zur Familie ist

vielfältig eingeschränkt – z.B. durch Aussetzung des Familiennachzugs bzw. bürokratische Hürden zur

Umsetzung des Familiennachzugs.

Zugang zu geeigneten Kommunikationsmitteln ist vor allem für Menschen problematisch, die in ihrer

Mobilität und Kommunikation eingeschränkt sind.

Die Betroffenen wünschen sich Unterstützung und Pflege. Ihr Bedarf bleibt häufig unentdeckt bzw.

wird nicht artikuliert. Bestehende Angebote sind nicht ausreichend.

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Fazit der Referentin: „Wir brauchen eine bundesweite Vernetzung!“

Ein intensiver Austausch über inklusive Angebote für Zugewanderte mit Behinderungen oder psychi-

schen Beeinträchtigungen, aber auch über Lücken im Hilfenetz könnte die Zusammenarbeit aller

Akteur*innen im Sinne der Betroffenen erleichtern, betonte Dr. Schwalgin in ihrem Fazit. „Wir brau-

chen eine bundesweite Vernetzung!“

Und: Es wäre hilfreich, wenn bei Zugewanderten mit einer Behinderung oder psychischen Beein-

trächtigung der Unterstützungsbedarf erfragt würde. Dr. Schwalgin machte deutlich, dass in den Auf-

nahmeeinrichtungen häufig von der Diagnose her gedacht und daraus ein Versorgungspaket ge-

schnürt werde. Dies könne zu einer Über- oder Falschversorgung führen. Die Frage müsse vielmehr

lauten:

Zentrale Frage: Wo hat dieser Mensch Unterstützungsbedarf?

Der tatsächliche Bedarf von Zugewanderten mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen sei häufig

viel einfacher zu befriedigen als gemeinhin gedacht. Ein Schlüssel zu einer gelingenden Integration

seien Kommunikation und soziale Kontakte. Die gut gelungenen Beispiele seien „Leuchttürme“. Im Gespräch mit Hauptamtlichen der sozialen Arbeit habe sie allerdings mehrfach den Ausdruck des

Bedauerns gehört: „Wir können das nicht für jeden leisten.“

In der anschließenden Diskussion ging es schließlich um erhebliche Abweichungen in der Fallbehand-

lung von Bundesland zu Bundesland und teilweise sogar von Stadt zu Stadt. Hilfreiche Projekte seien

häufig räumlich wie zeitlich eng begrenzt. Die Bedarfe und Fehlentwicklungen, die haupt- und ehren-

amtliche Akteure in der praktischen Arbeit erkennen, müssten als politische Forderungen an die Ent-

scheidungsträger herangetragen werden.

Mehrere Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmer bedauerten, dass teilweise die Zeit, teilweise

das Know-how und die Vernetzung fehlten.

Nach dem Vortrag nutzten die Zuhörer*innen die Gelegenheit zu einem Gedankenaustausch mit Dr.

Schwalgin und ergänzten Erfahrungen aus der eigenen Praxis in Einrichtungen oder als Ehrenamtliche.

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Netzwerkkongress [Inklud:Mi] 2017

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IMPULSVORTRAG 2

Fehldiagnosen vermeiden, Bedarf erkennen

Kultursensible Differenzialdiagnostik: Früherkennung, Diagnostik, Krankheits- und

Störungsbilder bei Kindern mit Flucht- oder Wanderungsgeschichte

Referentin: Cornelia Kaiser-Kauczor

Praxis für Psychotherapie (ST) und Supervision, Essen

In ihrem Impulsvortrag zeigte Trauma-Therapeutin Cornelia Kaiser-Kauczor Möglichkeiten, Chancen

und auch Grenzen in der Betreuung von traumatisierten Zugewanderten auf.

Was passiert eigentlich, wenn ein zugewandertes Kind auffällig wird in seiner Einrichtung? Was ist die

Ursache des Verhaltens? Zeigt sich in diesem Verhalten das Symptom einer Behinderung? Oder ist es

nur ein „anderes Verhalten“, möglicherweise Folge einer anderen Sozialisation? Eine kultursensibel ausgerichtete Differenzialdiagnostik brauche Zeit, verlässliche Strukturen und Erfahrung, schilderte

Cornelia Kaiser-Kauczor, Diplompädagogin mit interkulturellem Schwerpunkt aus Essen, in ihrem

Impulsvortrag. Denn sie machte deutlich: Eine validierte Diagnose hat unmittelbare Auswirkungen

auf den weiteren Lebensweg eines jungen Menschen.

Wo liegen die Tücken und Fallstricke bei einer Diagnose?

Cornelia Kaiser-Kauczor warb für einen offenen Blick

auf neu zugewanderte Familien: Jede Fachkraft müsse

sich bewusst machen, dass sie selbst ihre Persönlichkeit,

ihr individuelles Mindset und ihren kulturellen Hinter-

grund mit einbringt. Das Apparate- orientierte und indi-

vidualisierte Gesundheits- und Hilfesystem sei hoch

routiniert ausgelegt auf die Erstellung von Diagnosen

nach ICD-10-Code und pädagogischen Hilfeplänen. Zu

hinterfragen sei, ob in den vorgegebenen kurzen Zeitab-

ständen die Lebenswirklichkeit von Neu-Zugewanderten

wirklich umfassend und systemisch erfasst werden kön-

ne. Wichtig sei es, offen zu schauen, was die Betroffe-

nen mitbringen und was sie überhaupt als Problem an-

sehen. Konzepte seien im Zusammenhang einer trans-

kulturellen und heterogenitätssensitiven Versorgung

durch alle Beteiligten gemeinsam zu entwickeln.

Aus ihrer Erfahrung mit Klient*innen und Hauptamtlichen berichtete sie, es lohne genauer hinzu-

schauen auf Erhebungsparameter und Methoden. Die Frage laute: Wer gewinnt welche Daten in

welcher Sprache und wie werden die Erkenntnisse bewertet und geteilt?

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Im Kontext der Kommunikation spiele Vertrauen eine große Rolle, insbesondere für (minderjährige)

Geflüchtete, die auf ihrer Flucht schwierige Situation bewältigen mussten. Können sie ihrem Gegen-

über vertrauen? Erschweren Sprachbarrieren den Gedankenaustausch?

Auf Seiten des Hilfesystems sei es häufig eine Frage, wie die gewonnenen Erkenntnisse überprüft und

unter Fachkräften geteilt werden (dürfen) vor dem Hintergrund der Schweigepflichten. „Kein Thera-

peut/keine Therapeutin kann eine gute Trauma-Therapie anbieten, wenn es keine Kontakte zum/zur

Sozialarbeiter/in gibt und nicht bekannt ist, welche Atteste das Ausländeramt braucht und nicht min-

destens eine Ehrenamtlerin oder ein Ehrenamtler im Hintergrund unterstützend vermittelt.“

Eine wichtige Frage sei vor diesem Hintergrund, wie viel Zeit auf Seiten des Hilfesystems investiert

werden dürfe. Zum einen sei die Konzentrationsfähigkeit der Neu-Zugewanderten möglicherweise

durch belastende (Flucht-) Erfahrungen deutlich verringert. Zum anderen erfordere die Vernetzung

mit anderen Fachkräften auch viel Zeit, die im frühen Stadium aber in aller Regel sinnvoll investiert

sei: Eine Fehldiagnose am Anfang könne weitreichende Folgen haben und viel höhere Kosten verur-

sachen.

Balanceakte im Kontakt mit Klient*innen

Unbegleitete junge Zugewanderte hörten unterwegs häufig den Rat: „Macht Euch jünger als Ihr seid!“ Häufig werde dieser Tipp gar nicht näher begründet. Angekommen in Deutschland habe ein

Teil der jungen Leute, die den Tipp befolgen, dann gleich beim ersten Kontakt ein schlechtes Gewis-

sen. Denn gleich die erste Begegnung beginne mit einer Lüge. In nicht wenigen Fällen sei jungen Zu-

gewanderten ihr Alter sogar faktisch nicht bekannt. Weder in der Familie, noch im Dorf sei der Ge-

burtstag eines Kindes gefeiert worden. In den deutschen Amtsstuben allerdings ist das Alter wichtig

für erste Weichenstellungen: Wer ist zuständig? Welche Hilfen können gewährt werden?

Im Kontakt mit dem Hilfesystem sei es immer wieder eine Frage, wer die Verantwortung trägt, wel-

chen Rollen Macht und Ohnmacht zugeordnet sind, wie Mut und Zuversicht nach belastenden Erfah-

rungen auf einer häufig mehrere Monate dauernden Flucht überhaupt wieder entwickelt werden

Mit Fallbeispielen aus ihrer Beratungserfahrung gab die Trauma-Therapeutin ihren Zuhörer*innen wertvolle Impulse. Auf-

fälliges Verhalten habe zuweilen andere Ursachen, als auf den ersten Blick vermutet. Tipp der Referentin: Genau hinschau-

en mit großer Sorgfalt und viel Zeit.

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können. Aus ihrer Erfahrung berichtete Cornelia Kaiser-Kauczor, dass ein enger kommunikativer Aus-

tausch mit den Klient*innen über die nächsten Schritte und Ziele hilfreich ist: „Es hilft nicht, wenn ich dem Klienten oder der Klientin drei Schritte voraus bin.“

Fallbeispiel: Diagnose „geistige Behinderung“ trotz Zweifeln nicht validiert

Zur Veranschaulichung schilderte Cornelia Kaiser-Kauczor das Fallbeispiel eines angeblich 17 Jahre

alten Geflüchteten aus Afghanistan, der laut Gutachten eines kommunalen Instituts als geistig behin-

dert eingestuft worden war mit schwerwiegenden depressiven Episoden und einer unspezifischen

Persönlichkeitsabspaltung. Der junge Mann war zwei Jahre zuvor als unbegleiteter Geflüchteter in

Deutschland angekommen. Tatsächlich war sein Verhalten auffällig, weil er zum Beispiel auf ernst-

hafte Fragen mit einem unangemessenen Lachen reagierte und weitere Symptome einer dissoziati-

ven Störung zeigte. Doch bereits im Erstgespräch hatte die Therapeutin den Verdacht, dass ihr Klient

eher ein posttraumatisches Belastungssyndrom verarbeite. „Vor mir saß ein hocheloquenter, sprach-

lich sehr sensibler junger Mann.“

In seiner umfangreichen Akte gab es sogar zwei weitere Gutachten, die die Erstdiagnose „geistig be-

hindert“ in Zweifel zogen. Diese Hinweise hatten jedoch keinerlei Folgen – obwohl der junge Mann in

der Regelschule vergleichsweise gut zurechtkam und eine Berufsausbildung anstrebt. Die geäußerten

Zweifel hatten keinerlei Folge. Die Diagnose stand weiter im Raum.

Zwar sei die Diagnose von zwei weiteren Gutachtern in Zweifel gezogen worden, doch diesen Gedan-

ken habe niemand weiter verfolgt. Der gesetzliche Betreuer und auch der Anwalt hatten an der Vor-

diagnose festgehalten. „Es wurde dem Klienten nicht wirklich geholfen.“ Das auffällige Verhalten

hatte nach Einschätzung der Trauma-Therapeutin seine Ursache in einer individuell entwickelten

Bewältigungsstrategie: Probleme habe er „weggelacht“, in der sicheren Erwartung, dass er die belas-

tenden Erfahrungen seiner Kindheit und Flucht zu einem späteren Zeitpunkt in seinem Leben verar-

beiten muss und kann.

Fallbeispiel: 4-jähriges Kind aus Syrien, das mit Aggressionen Signale setzt

Im zweiten Fallbeispiel, das Cornelia Kaiser-Kauczor schilderte, hatte der integrative Kindergarten für

ein vierjähriges Kind aus Syrien den Wechsel in eine heilpädagogische Einrichtung vorgeschlagen. Die

Vordiagnose lautete: Massive Entwicklungsstörung, systemsprengendes Verhalten einschließlich

Aggressivität gegen Dritte und Verdacht auf eine autistische Störung.

Die Eltern widersetzten sich jedoch gegen die Empfehlung, die Kindertageseinrichtung zu wechseln.

Cornelia Kaiser-Kauczor, in diesem Fall als Supervisorin angefragt, lenkte den Blick kultursensibel auf

den familiären Hintergrund der Familie, die erst Ende 2015 nach Deutschland gekommen war. Der

Kindergarten habe große Mühen investiert in die Suche nach einem geeigneten neuen Kindergarten,

aber wenig gewusst über die Familie. Bei einer Begegnung mit der Therapeutin vom städtischen psy-

chologischen Dienst habe sich schließlich gezeigt, dass der Junge mit seinem auffälligen Verhalten

Hilfe holen wollte für die schwer traumatisierte Mutter, die jede Nacht aus Alpträumen aufwachte.

Das aggressive Verhalten war ein Ausdruck der Überforderung des Jungen.

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Sorgfältige Diagnose führt auf die richtige Spur

In zwei weiteren Fallbeispielen riss

Cornelia Kaiser-Kauczor an, wie unter-

schiedlich sich posttraumatische Belas-

tungsstörungen äußern können: Sie

schilderte den Fall eines jungen Nigeri-

aners, der als unbegleiteter Minder-

jähriger mal im Kinderheim, mal in der

Obdachlosenunterkunft gelebt hatte

und nun in einer eigenen Wohnung

untergebracht ist. Auffällig: Der junge

Mann kann sich schlecht ausdrücken,

wenig konzentrieren, ist möglicherweise sogar Opfer von Organhandel geworden. Für die Trauma-

Therapeutin war keine Dokumentation einsehbar. Hilfe gestaltet sich in diesem Fall äußert schwierig.

In einem weiteren Fall konnten eine Putzfrau im Krankenhaus und eine engagierte Ärztin die

Inobhutnahme von vier Kindern verhindern. Nach der Geburt ihres vierten Kindes hatte die aus Af-

ghanistan geflüchtete Mutter ihren Säugling barsch von sich geschleudert – offenbar überwältigt von

einer Erinnerung an ein grausames Gemetzel in ihrer Heimat. Nachdem die Ursache identifiziert wor-

den war, konnte die Familie erfolgreich stabilisiert werden.

Tipps für die Arbeit im Netzwerk

Cornelia Kaiser-Kauczor ermutigte ihre Zuhörer*innen, mit langem Atem Vertrauen aufzubauen und

eigene Erkenntnisse zu gewinnen. Diese Arbeit brauche viel Sorgfalt und Zeit. Sie rief in Erinnerung,

dass gerade Geflüchtete teilweise sehr schlechte Erfahrungen gemacht haben mit angeblich Wohl-

meinenden - auch aus der eigenen Community. Häufig sei eine offen gehaltene, beschreibende Diag-

nose hilfreich, denn sie erlaube ein Umdenken und Umlenken. Dies sei zuweilen besser, als zu lange

auf dem falschen Pfad zu bleiben.

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WORKSHOP 1

No limits – Inklusion gehörloser und sehbehinderter Migrant*innen

Referenten: Christine Tschuschner,

Landesverband der Gehörlosen NRW 1899 e.V.,

Katharina Volkmann, Nadine Möller und Rainer Witgens

Sprachschule Heesch

Fabiana Kühl und Wolfram Buttschardt

Diakonie Michaelshoven Köln

Resmigul Acil und Melanie Schütte

Lebenshilfe für Menschen mit Behinderung e.V. Dortmund

Moderation Hildegard Azimi-Boedecker

Auf die kaum beachtete Gruppe der gehörlo-

sen Geflüchteten lenkte schließlich Christine

Tschuschner (Foto links), Flüchtlingsbeauftrag-

te des Landesverbandes der Gehörlosen NRW

1899 e.V., den Blick: In den Erstaufnahmeein-

richtungen und Sammelunterkünften seien die

gehörlosen Zugewanderten häufig lange Zeit

unauffällig und regelrecht unsichtbar. Dass sie

still sind, fällt kaum auf.

Weil sie gelernt haben, sich still zu orientieren

in der ihnen vertrauten Umgebung, fällt ihre

Einschränkung kaum auf. In einer fremden

Umgebung jedoch sind sie zusätzlich belastet

und stehen sie vor zusätzlichen Herausforde-

rungen.

Bürokratische Hürden nehmen sie häufig,

indem sie sich zum Beispiel bei der Erstauf-

nahme von Familienmitgliedern oder anderen

Geflüchteten begleiten und helfen lassen. Die Behörden seien in der Regel auf die besonderen Be-

dürfnisse dieser besonders schutzwürdigen Asylsuchenden nicht vorbereitet.

„Gehörlose fühlen sich nicht als Behinderte“

„Gehörlose fühlen sich nicht als Behinderte“, erklärte Christine Tschuschner in Gebärdensprache. „Von Geburt an Gehörlose leben aus ihrer eigenen Sicht in einer sehr reichen Welt und sie sind stolz auf das, was sie erreicht haben.“ Etwas anders sehe es aus bei später Ertaubten. Bei-

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de Gruppen stehen jedoch immer auch vor besonderen Barrieren, wenn sie als Geflüchtete in Europa

ankommen. Ihre Beeinträchtigung allein stellt keinen Bleibegrund dar.

Sie selbst sei erst durch einen Kommilitonen auf das Problem aufmerksam geworden, erzählte Chris-

tine Tschuschner. Als sie begann, genauer hinzuschauen, sei sie selbst überrascht worden. Der Lan-

desverband NRW hat das Projekt „Deaf Refugees Welcome“ aufgelegt und betreut zurzeit (Stand Juli

2017) rund 100 gehörlose Geflüchtete. Bundesweit seien sogar rund 950 gehörlose Geflüchtete be-

kannt.

Ein besonders gravierendes Problem: Sprachkurse sind in aller Regel für Hörende ausgelegt. Dabei

sind auch Gehörlose dringend auf einen Zugang zur deutschen Sprache angewiesen. Denn auch die

Gebärdensprache kennt unterschiedliche Sprachen und sogar Dialekte. Christine Tschuschner führte

es im Workshop deutlich vor Augen: Die gleiche Geste, die in Deutschland eine freundliche Kontakt-

aufnahme einleitet, kann im arabischen Sprachraum als Beleidigung verstanden werden. Und noch

ein weiteres Problem hat die Flüchtlingsbeauftragte des NRW-Landesverbandes ausgemacht: Längst

nicht alle gehörlosen Zugewanderten haben in ihren Herkunftsländern überhaupt die offizielle Ge-

bärdensprache gelernt. Stattdessen haben sich einige in ihren Familien mit „Hausgebärden“ verstän-

digt – die jedoch weder der landestypischen, noch der internationalen Gebärdensprache („internati-

onal signs“) entsprechen. Ein kleinerer Teil von ihnen hat bisher auch nicht Lesen und Schreiben ge-

lernt. „Für diesen Personenkreis ist es besonders schwer, Hilfen anzubieten.“

Dabei gibt es vereinzelt auch spezielle Sprachkurse für Gehörlöse. Die Sprachschule Heesch aus Düs-

seldorf zum Beispiel bietet sie an mehreren Standorten an und stellte diese besondere Dienstleistung

vor. In Deutschland gebe es 17 Kurse speziell für Gehörlose. Besonders problematisch sei es jedoch

für Analphabeten unter den Gehörlosen, die auch keine Gebärdensprache sprechen. „Ich kenne aus

meiner Arbeit in den vergangenen drei Jahren etwa 20 bis 30 Anfragen, die Gehörlose betrafen, die

nicht die Gebärdensprache beherrschen“, berichtete Katharina Volkmann von der Sprachschule. „Diese Menschen sind besonders schwer zu erreichen. Da können wir dann auch nicht helfen.“

Katharina Volkmann von der Sprachschule Heesch stellte die speziellen Sprach- und Integrationskurse vor.

Erschwerend kommt hinzu: Im Asylverfahren werden Schutzsuchende zu einem frühen Zeitpunkt an

Orte verwiesen, die möglicherweise gar keinen Zugang zu Sprachkursen bieten können. Die Wohn-

sitzauflage verwehrt ihnen jedoch eine weite Anreise zu einem speziellen Sprachkurs für Gehörlose.

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Zudem sei eine weitere Anreise zum Integrationskurs für Gehörlose kostspielig und schwierig.

Wer wenigstens einen Schwerbehindertenausweis besitze, könne eventuell wenigstens auf eine Kos-

tenübernahme hoffen und müsse nicht auch noch die Fahrtkosten selbst aufbringen.

Der Landesverband Gehörlose NRW 1899 e.V. schärft gemeinsam mit dem Deutschen Gehörlosen-

Bund das Bewusstsein für den besonderen Unterstützungsbedarf – auch gegenüber dem Bundesamt

für Migration und örtlichen Behörden. Ein Problembewusstsein müsse in vielen Fällen aber erst ge-

schaffen werden. Denn schon die Diagnose und Einstufung sei schwierig. Häufig heiße es dann in der

Praxis: „Bringen Sie jemanden aus der Familie mit zum Termin!“ Wenn schon die Vermittlung von kultursensiblen Dolmetscher*innen schwierig sei, sei es die Vermittlung von einfühlsamen Gebär-

dendolmetscher*innen erst recht, ergänzte auch Ümit Cucu vom Landesverband NRW.

Sechs Mitarbeitende bieten allein im Landesverband NRW ihre Hilfen an im Rahmen der Aktion „Deaf refugees welcome“. Das Angebot der Ehrenamtlichen wird stark nachgefragt und ist zeitaufwändig. Die Kontaktaufnahme erfolgt bestenfalls per E-Mail zum Beispiel über Familienangehörige oder an-

dere Unterstützende, häufiger aber per Video-Anruf.. Bestenfalls gelingt eine Vermittlung an eine

Sprachschule, die die deutsche Gebärdensprache lehrt.

Einen Eindruck vom Sprachunterricht für Gehörlose vermittelte ein kurzer Filmausschnitt. Ein bis zwei

Jahre dauert der Unterricht in Kleingruppen von fünf bis elf Teilnehmenden, die im Sichtkontakt mit-

einander lernen und speziell auf ihre Bedürfnisse ausgelegte Unterrichtsmaterialien benötigen. „Wir haben ständig Anfragen“, berichtete Katharina Volkmann von der Sprachschule Heesch. Zurzeit biete die Sprachschule 17 Kurse deutschlandweit an. Anfragen werden jeweils gesammelt, bis eine Min-

destkursstärke von acht Teilnehmenden für einen Lernort erreicht ist. Der Unterricht erfolgt an drei

bis fünf Tagen pro Woche jeweils vier bis fünf Stunden lang über eine Dauer von elf bis 18 Monaten.

„Wir sind auf die Hilfe der Behörden, der Familien und auch von Ehrenamtlichen angewiesen“, ver-

deutlichte Rainer Witgens von der Sprachschule Heesch. Erst wenn die Grundvoraussetzungen ge-

schaffen seien, könne der Unterricht beginnen.

Um Teilnehmende überhaupt auf die Teilnahme an einem Integrationskurs vorzubereiten, sei

manchmal auch ein Vorbereitungskurs hilfreich für Gehörlose, ergänzte Christine Tschuschner. Sie

selbst gebe auch unterstützenden Unterricht für Kinder und Jugendliche. Auf eine Unterstützung

durch das BAMF könne sie aber nicht hoffen, da ihr eine vom BAMF anerkannte Qualifikation fehle.

Ihr Fazit: „Uns fehlt eine Anlaufstelle und eine Interessenvertretung.“

Hildegard Azimi-Boedecker moderierte den Gedankenaustausch mit Referent*innen aus verschiedenen Einrichtungen.

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Weitere Best-Practice-Beispiele stellten die Lebenshilfe e.V. in Dortmund und die Diakonie Michaels-

hoven aus Köln vor.

Seit April 2017 stehen mit Resmigul Acil

und Nigary Aliyeva zwei Mitarbeiterinnen

in der neuen kultursensiblen Beratungs-

stelle der Lebenshilfe für Menschen mit

Behinderung Dortmund e.V. speziell für

Fragen von Zugewanderten mit Behinde-

rung oder psychischer Beeinträchtigung

zur Verfügung. Melanie Schütte, Leiterin

der Beratungsstelle, stellte die Idee und

Mitarbeiterin Resmigul Acil vor.

Die Diakonie Michaelshoven bietet einmal wöchentlich so genannte Workshops für Sehbehinderte,

Blinde und geistig behinderte Zugewanderte an. „Wir stehen dort einfach nur für Fragen bereit unter dem Motto: Was möchtet Ihr wissen?“, schilderte Projektleiter Wolfram Buttschardt. Ziel sei es, Be-

darfe zu ermitteln, um dann in einem nächsten Schritt Angebote zu entwickeln. Die wöchentlichen

Workshops werden regelmäßig von zehn bis zwölf Personen besucht.

Viele Anlaufstellen für Ge-

flüchtete mit Behinderungen

und Beeinträchtigungen

richten ihre Beratungsange-

bote inzwischen kultursensi-

bel aus. Die Lebenshilfe

Dortmund und die Diakonie

Michaelshoven in Köln stell-

ten ihre Angebote vor.

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WORKSHOP 2:

Und wer hilft jetzt? Kinder allein oder wenn (traumatisierte) Eltern als Erzie-

hungspartner ausfallen / Unterstützung. Empowerment. Zusammenarbeit

Im vertiefenden Workshop am Nachmittag brachten Teilnehmende, die als Haupt- und Ehrenamtli-

che tätig sind, aktuelle Fragen ein aus ihrer Arbeit in Flüchtlingsunterkünften, in einem Familien- und

einem Kinderförderzentrum sowie in Regel- Berufs- und Förderschulen.

Wie kann ich Eltern für Erziehungsaufgaben sensibilisieren?

Wie finde ich gute Dolmetscher*innen, mit denen ich auch Tabu-Themen ansprechen

kann?

Und was können Ehrenamtliche tun, wenn sie Diagnosen anzweifeln wollen?

Nach der Vorstellungsrunde sammelte Cornelia Kaiser-Kauczor die Fragen und ging auf die unter-

schiedlichen Problemlagen ein.

Hier die Zusammenfassung ihrer Ausführungen und Einschätzungen: Diagnosestellung

Beim Thema Diagnosestellung informierte

die Referentin, dass nicht alle gebräuchli-

chen Testinstrumente (u.a. Intelligenztests)

für die Zielgruppe der geflüchteten Kinder

und Jugendlichen geeignet sind, denn viele

Tests sind auf die westliche Kultur ausge-

richtet und nicht ausreichend kultursensi-

bel. Kinder verstehen die Testfragen nicht,

oder sie bilden nicht deren Sozialisationser-

fahrungen ab. Somit kommt es regelmäßig

zu einem schlechteren Abschneiden, ohne dass dies tatsächlich eine Frage der Intelligenzminderung

der Kinder sei. Als Alternative informierte die Referentinkurz über aktuelle Hoffnungen hinsichtlich

des Tests „Leiter 3“. Der Test, ursprünglich u.a. für spanisch-sprachige Klient*Innen in den USA ent-

wickelt, ist geeignet für Personen ab 3 Jahren sowie für Erwachsene. Frau Kaiser-Kauczor verwiest

z.B. an Diana Ramos-Dehn vom PSZ Düsseldorf (www.psz-duesseldorf.de), die auch Fortbildungen

zum Leiter 3 anbietet. Aber: Testergebnisse seien eine Orientierungshilfe zur Installierung von pas-

senden Förderungsinstrumenten und nicht „in Stein gemeißelte Fakten“. Geflüchtete benötigten

aber Personen, die bei überraschenden Testergebnissen die Validität in Frage stellen, wenn z.B. ein

sonst gut selbstorganisierter junger Mann plötzlich als geistig behindert eingestuft wird. Die Referen-

tin verwies auch auf Schwierigkeiten in der Testsituation, wenn z.B. Traumatisierungsfolgen zu Kon-

zentrationseinbußen führen und so die Testung stören. Nach dem TZI-Setting hätten auch hier Stö-

rungen Vorrang.

Referenten: Cornelia Kaiser-Kauczor

Trauma-Therapeutin und Supervisorin

Moderation: Dr. Katja Sündermann (IBB)

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Wie erwirbt man Vertrauen bei Familien, in denen Traumatisierung ein Thema ist?

Frau Kaiser-Kauczor beobachtet, dass viele Familien nicht offen mit ihren Erlebnissen umgehen (kön-

nen) und hieraus resultierende Probleme eher verstecken. Um den Workshop-Teilnehmer*innen

Beispiele eines erleichterten Zugangs zu den Betroffenen zu geben, nannte sie im Workshop viele

Beispiele. Eines ist z.B. Familien zunächst zu informieren, was Fachkräfte auch in vernetzten Hilfen

leisten können. „Wenn ich schildere, dass und wie ich einer anderen Familie in ähnlicher Situation

helfen konnte und wie sich hierdurch für diese Familie Probleme verkleinert haben oder gelöst wur-

den, wächst ein Interesse an meinem Angebot“, so Kaiser-Kauczor. Die Betroffenen wüssten oft

nicht, dass ihre Symptome heilbar sind. Wenn sie darüber aufgeklärt werden, öffne das Zugänge zur

Therapie. Hinzu komme, dass sie große Angst davor haben, als „verrückt“ abgestempelt zu werden –

zumal psychische Erkrankung in vielen Kulturen immer noch mit Tabus belegt seen. Der Gang zum

Psychiater oder Psychologen sei vielen sehr peinlich. Umso wichtiger sei es, diesen Menschen nahe-

zubringen, dass ihre Symptome normale menschliche Reaktionen auf eine Traumatisierung sind und

sie nicht „verrückt“ sind.

Eine gute Aufklärung schaffe die Möglichkeit, die eigenen Symptome besser einzuordnen und mit

ihnen umgehen zu lernen. So spiele Psychoedukation bei dieser Klientel eine besonders wichtige

Rolle.

Relevant sei es in der Stabilisierungsphase den Betroffenen neue Handlungsmöglichkeiten zu eröff-

nen. Mini-Interventionen auch in Schule oder Sozialarbeit könnten z.B. stabilisierende Sätze oder

Fragen sein. Als ein aus der Hypnotherapie als wirksam bekannter Satz gelte z.B.: „Es ist gut zu wis-

sen, dass … (es z.B. dieses und jenes Angebot gibt).“ Aus der systemischen Therapie das gezielte

Nachfragen: „Was muss konkret passieren, damit…(das Problem kleiner werden kann?)“ So könnten Klient*innen erfahren, dass es wirklich um sie und ihre Bedürfnisse gehe, dass bei einer guten Zu-

sammenarbeit und nötiger Offenheit im Umgang miteinander konkretere Unterstützung und Hilfe

möglich werden können. Wichtig sei ein gemeinsamer Schulterschluss zwischen Therapeut*in (Leh-

rer*in, Pädagog*in etc.) und Klient*in. Fachkräfte könnten nicht alle Probleme lösen, aber die Klien-

tin/der Klient spüre sie an seiner Seite. Aktiv werden müssten dann beide, Klient*in und Fachkraft,

denn nur so funktioniere ein Team. Dies gehe bei Frau Kaiser-Kauczor auch schon einmal so weit,

dass sie in absoluten Krisen eine Notfallnummer für die Nacht mitgebe. Anrufen würde jedoch annä-

hernd nie jemand. Bereits das Gefühl, anrufen zu dürfen, helfe. Bei beiderseitigem Respekt und einer

klaren Absprache zu Möglichkeiten der Hilfe, aber auch zu Grenzen des Leistbaren, komme es in der

überwiegenden Zahl der Fälle zu einer neuen Motivation bei belasteten Menschen, Neues auszupro-

bieren und selbst aktiv an einer Verbesserung mitzuwirken. Der Schulterschluss zwischen Thera-

peut*in und Klient*in ermögliche auch, dass gleichzeitig eine Außensicht gespiegelt werden kann:

„Ich nehme Sie so wahr: …. Ist das Ihre Absicht? Was wäre möglicherweise geeigneter und wie kann uns das gelingen? Was können Sie konkret dafür tun? Und was ist zu schwer für Sie? Gibt es Stellver-

treter*innen?“

Die Referentin machte auch deutlich, dass sie nicht erwartet, dass ein traumatisierter Mensch schnell

Vertrauen aufbauen kann. Sie zeige den Klient*innen auf, warum dies tatsächlich nicht schnell mög-

lich ist, und fordere sie auf, auf einer Skala von 1-10 den Grad des Vertrauens in die Therapeutin an-

zugeben. Eine 5 von 10 könne dabei bereits ein sehr großer Vertrauensbeweis sein, der unbedingt

wertgeschätzt werden sollte, auch wenn die Klient*innen noch nicht zufrieden sind.

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Trauma-Erfahrungen zerstörten das Urvertrauen in die Welt oder in die Menschen. Dieses könne nur

vorsichtig und Stück für Stück zurückgewonnen werden über Ausprobieren und gesunde Erfahrun-

gen. Eine „5“ sei hier bereits ein voller Erfolg!

Allerdings sei zu vermeiden, dass sich Nebenschauplätze in der Therapie auftun. Manchmal drohe die

Gefahr, dass Klient*in und Therapeut*in um weniger relevante Themen kreisen, die die eigentliche

Therapie eher behindern. Hier riet Frau Kaiser-Kauczor zur konkreten Überprüfung der Ziele: Was ist

das Ziel und was ist wirklich wichtig? Gehört der Nebenschauplatz wirklich dazu?

Umgang mit Traumata

Viele Menschen scheuen sich oder haben sogar Angst davor, ihre Traumata zu berühren. Sie denken,

in einer Therapie müsse all dies wieder hervorgeholt und berichtet werden. Frau Kaiser-Kauczor wei-

se ihre Klient*innen darauf hin, dass dies überwiegend nicht im Detail nötig ist. Moderne Trauma-

Therapiemethoden seien deutlich schonender. Es gelte Techniken zu vermitteln, mit traumatischen

Erlebnissen/Erinnerungen zu Traumata und den damit verbundenen Symptomen besser umgehen zu

lernen. Schon gar nicht müssten Klient*innen im Erstgespräch über ihre Erlebnisse sprechen. Es gelte

in der Therapie, wie in der Sozialarbeit oder Schule, dass das fachliche Angebot und die Fachkraft erst

einmal kennengelernt werden sollten. Das benötige Zeit. Trauma-Patienten müssten zunächst erst

stabilisiert werden, bevor das Trauma selbst behandelt werden könne. Um mögliche Re-

Traumatisierungen zu vermeiden, riet sie auch Nicht-Professionellen, bei Gesprächen mit Traumati-

sierten nicht detailliert über die Erlebnisse zu sprechen, wenn sich dies vermeiden ließe. Das Spre-

chen über das Erlittene gehöre vielleicht in ein Asyl- oder Gerichtsverfahren, nicht jedoch zwangsläu-

fig in eine Trauma-Therapie. Vielmehr solle man sein Wissen um die Schwere des Erlebten in der

Stabilisierungsphase durch Mitgefühl ausdrücken: „Ich spüre, dass Sie viel Trauriges erlebt haben.“ „Ich bewundere, was Sie bereits geschafft haben unter derart schwierigen Umständen. Sie müssen ein starker Mensch sein!“ etc. Der Stabilisierungsphase mit diversen Techniken, die es für die Kli-

ent*innen zu erlernen gelte, schlössen sich dann konkrete trauma-therapeutische Interventionen an.

Hierfür müsse jedoch zunächst ein Therapieplatz gefunden werden. Zum Schutz der Klient*innen und

auch zum eigenen Schutz sei es nicht ratsam, in Schule oder Sozialarbeit traumatische Erfahren im

Detail zu erfragen oder sich diese berichten zu lassen. Allein der Vortrag von Gräueln könne nicht

helfen.

In der Therapie gehe es darum Kenntnis in Einschätzungen zu erhalten: „Wo stehen Sie heute auf einer Skala von 1 bis 10, wenn 10 stabil ist?“ Relevant sei die Fähigkeit zur Distanzierung von Trauma-

Druck z.B. nach Alpträumen. Auch Lehrer*innen oder Sozialarbeiter*innen könnten bei ausreichend

Vertrauen und Nähe (vgl. oben) versuchen, hier einzuführen z.B. durch Sätze, die Halt anbieten: „Wir suchen ja bereits einen Therapieplatz für Sie! In der Therapie werden Sie lernen, wie Sie die Erinne-

rungen beruhigen können.“ Das Symbol eines Sacks, in den schlimme Erinnerungen zunächst ohne

genaue Ordnung und nähere Betrachtung einfach hineingeworfen und im Büro der Sozialarbeit ima-

ginativ stehen gelassen werden können, sei eine Technik zur Distanzierung von Trauma-Material. Die

Referentin verwies darauf, dass gerade therapeutisch unerfahrene Fachkräfte und Privatpersonen

jene sind, die Zugänge zu Therapieangeboten schaffen, weil sie zuweisen zu den Behandler*innen.

Mit der Einführung der Metapher der „Kiste“ oder des „Sacks“, in dem alles ruhen könne, bis eine

Therapeutin oder ein Therapeut mit besseren Ideen zum Helferteam gehöre, könnten auch Vertrau-

enslehrer*innen oder Sozialpädagog*innen vorsichtig Betroffene unterstützen,

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wenn sie sich dies zutrauen. Dies sei oftmals besser, als sich schlimme Kriegserlebnisse oder Folter

schildern zu lassen und für die Betroffenen die Gefahr einer Re-Traumatisierung oder für sich selbst

die Gefahr einer sekundären Traumatisierung in Kauf zu nehmen.

Eine Hürde, die es zu nehmen gelte, seien in Schule, Sozialarbeit und Therapie belastete Kli-

ent*innen, die wenig „mitarbeiten“, selten „ihre Hausaufgaben“ machen usw. Hier riet Frau Kaiser-

Kauczor, Geduld zu üben und die Menschen nicht zu überfordern. Sie selbst erwarte nicht unbedingt,

dass Hausaufgaben auch wirklich immer gut erledigt werden können, wenn der Symptomdruck die

Klient*innen lahm legt. Aber sie versuche, die Menschen immer wieder zu motivieren. Eine Muschel

oder ein schöner Stein im Zimmer oder in der Tasche könnten eine gute Hilfe sein, die Betroffenen an

bestimme Aufgaben zu erinnern, wenn z.B. die Konzentration sie traumatypisch oft im Stich lässt. An

dieser Stelle erfolgte eine kurze Einführung in die Zusammenhänge von giftigem Stresserleben, Ab-

spaltung als Schutz (Dissoziation) und dem dann verständlichen Ausbleiben von Konzentration im

Alltag bei bereits kleinsten Anforderungen.

Die Teilnehmer*innen brachten viele Fragen und Erfahrungen aus ihrer praktischen Arbeit als Haupt- oder Ehrenamtliche in

den Workshop 2 mit ein.

Wertschätzung in der gemeinsamen Arbeit

Die Trauma-Therapeutin betonte, man helfe Einzelnen besser, indem man positive Dinge verstärke:

Wie viel sie in ihrem Leben schon erreicht haben, dass sie ihr Kind schon so lange bestmöglich beglei-

tet haben, dass sie den Weg nach Deutschland geschafft haben, dass sie hier schon gut angekommen

sind usw. Die Kompetenzen und Ressourcen sollten im Fokus stehen, damit die Menschen wieder an

ihre Souveranität anknüpfen können, ohne dabei das faktisch Schwere oder auch Falsche und Dys-

funktionale unberücksichtigt oder geschönt zu lassen. Nicht immer waren sie hilfebedürftige Geflüch-

tete. In ihren Heimatländern hatten sie häufig wichtige Positionen inne und waren in der Lage, ihr

Leben gut selbst zu meistern. Auch die Helfer*innen sollten sich dies immer wieder vor Augen halten,

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um die Menschen nicht in eine Opfer-Rolle zu stecken. „Radebrechen“ erwecke schnell den Eindruck, jemand „könne nicht besser“. In der souveränen Muttersprache präsentierten sich Menschen gänz-

lich anders, was nie vergessen werden dürfe. Die Therapie als solche sollte auch positiv besetzt sein,

sonst fehle die Motivation, sich den schweren Aufgaben innerhalb einer Trauma-Therapie zu stellen:

Der Weg geht nach vorn! Die Therapeut/der Therapeut helfe, Ressourcen auszumachen und an diese

anzuknüpfen. Statt defizitär zu arbeiten (was z.B. Klient*innen in ihren depressiven Gedanken in

stundenlangen Grübeleien oft tun), sollte der Blick auf die positiven Leistungen gelenkt werden, z.B.:

„Sie schlafen schon seit Monaten nicht mehr? Wie schaffen Sie das nur, dass Sie trotzdem Ihr Leben

hinbekommen? Okay, es ist nicht super, aber sie sitzen hier heute vor mir trotz allem. Respekt!“ Auch wenn die Klient*innen oft viele Probleme haben, sollte der Fokus nicht auf der Fülle liegen, sonst

drohe die „Problemtrance“. Hier gelte es, Schritt für Schritt voranzukommen und Fortschritte auch

bewusst zu machen und anzuerkennen. „Ich weiß, wir haben noch einen ganzen Packen an Aufga-

ben. Aber warten sie ab. Wir machen das zusammen sehr gut. Schritt für Schritt!“

Wie entlastet man Familien, die offensichtlich überfordert sind?

Genau wie in deutschen Familien. Wenn das Elternwohl oder Kindeswohl zu sehr leidet und andere

flankierende Maßnahmen nicht greifen, müsse darüber nachgedacht werden, Hilfen zur Erziehung

(und auch flexible Familienhilfen) oder eine gesetzliche Betreuung zu installieren. Diese Idee könnte

natürlich zunächst auf Ablehnung stoßen (bei den Familien, bei den Kostenträgern). In diesem Fall sei

es sinnvoll nach einer anonymisierten Erörterung des Falles mit dem Jugendamt etc. die Eltern eben-

falls zur Mitarbeit zu gewinnen: „Nur einmal angenommen, ihre Kinder könnten spüren, dass sie durch die neue Hilfe in ihrem Alltag entlastet würden und sich langsam und in ihrem Tempo beruhi-

gen und gut und konstruktiv hier in der Migration verändern können: Was würde das mit Ihrer Fami-

lie machen? Und mit Ihnen? Und was mit ihrem Sorgenkind?“ Auch die Rolle des Jugendamts und anderer Instanzen sollte deutlich gemacht werden, denn oft kursierten Gerüchte über die Befugnisse

dieser Einrichtungen, die unnötiges Misstrauen erzeugen. Man solle versuchen, den kleinsten ge-

meinsamen Nenner zu finden, wie unterschiedliche Vorstellungen von Hilfe aussehen können.

Eingehen auf Bedürfnisse der Familien

Frau Kaiser-Kauczor berichtet, dass ALLE Familien ihre eigenen Bedürfnisse haben. Nicht immer

stimmen diese mit den Annahmen und Zielen des professionellen Hilfesystems und der Helfer über-

ein. Manchmal seien es auch nur unterschiedliche Prioritäten, die den Dingen eingeräumt werden.

Daher dürfe man nicht vergessen, die Familien ganz konkret nach IHREN Vorstellungen zu Problemen

und auch von Hilfe zu befragen. In der Therapie benutze sie oft ein Seil, das als Zeitlinie über dem

Fußboden liegt: An welcher Stelle möchten Sie wann stehen? Oder: „Glauben Sie, Ihr Fahrplan führt sie zum Ziel? Geradeaus oder über Umwege? Fliegt man aus dieser Kurve gegebenenfalls heraus?

Und dann? Was konkret wäre dann Ihrer Meinung nach meine Aufgabe? Und wenn ich das nicht

kann oder will, soll ich dann heute sagen, dass ich vielleicht eine bessere Idee habe? Wollen sie diese

hören?“ Dies helfe, Ziele zu erkennen, zu verändern, Wege zu meiden oder zu verkürzen, manchmal

aber auch nur deutlich zu machen.

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Integration, Anpassung der Erziehung

Frau Kaiser-Kauczor fand es ratsam, die Eltern zu erinnern, dass sie ihre Kinder nach Deutschland

verbracht haben und daher auch eine besondere Verantwortung tragen. Nicht die Kinder haben das

Flucht- oder Migrationsland gewählt. Eltern dürften in der Migration also nicht so tun, als seien sie

noch in der Heimat und ihre Lebensweise eins zu eins von dort auf das Leben hier übertragen. Damit

seien die Kinder, die oft schnell Kontakt zu anderen Kindern haben, mehr beobachten und in Bildern

denken, überfordert. Es helfe über die Erziehungsthemen deutscher und migrierter Eltern ins Ge-

spräch zu kommen: Was gibt es für Probleme und was daran könnte bei den eigenen Kindern mögli-

cherweise schon deutsch sein? Wie geht man in Deutschland mit bestimmten Themen als Gesell-

schaft, als Familie um? Gleichzeitig müssen sich der Therapeut/die Therapeutin oder der Helfer/die

Helferin bewusst machen, dass sie eventuell auf ganz andere Vorstellungen stoßen und die Eltern

auch schnell überfordert sind. Frau Kaiser-Kauczor arbeitet kultursensibel und frage nach, ob ihre

Lösungsansätze für ihre Klient*innen „zu deutsch“ oder „zu emanzipiert“ oder zu „konservativ“ oder zu „streng“ seien. Damit signalisiere sie, dass sie sich der Unterschiedlichkeit bewusst ist und keine

unrealistischen Forderungen stellen möchte. Aber sie betone auch: „Sie wünschen sich, dass ihre

Kinder in der Migration Bildungserfolge präsentieren. Das macht ihr Sohn gerade sehr gut, weil er...!

Und Sie? Wenn er sich auch für Sie anstrengt und bereits jetzt eine drei in Mathe mit nach Hause

bringt, wo strengen Sie als Eltern sich an, auch ihre Aufgaben in der Migration zu erledigen? Welche

Aufgaben würde ihr Sohn mir denn nennen, wenn ich ihn frage, was Papa und Mama noch an Migra-

tionshausaufgaben haben?“ Bei Konflikten gelte es oft, nicht Schiedsrichter, sondern „Augenöffner“ zu sein: „Migrationseltern sollten sich davor hüten, den Kindern die Rosinen der Herkunftskultur vorzuenthalten. Genauso sollte sie es aber zulassen, dass ihre Kinder die Rosinen der deutschen Kul-

tur picken dürfen. Rosinenpicken ist erst einmal schlau und schlau sein schadet nicht. Die Regulierung

kommt sowieso.“

Umgang mit Begrifflichkeiten beim Thema Behinderung

In vielen Kulturen weichen Vorstellungen über Gesundheit und Behinderung von den hiesigen ab.

Manche Eltern hoffen nach einer Migration und Anbindung an das hiesige, international anerkannte

Gesundheitswesen, dass die Beeinträchtigung ihrer Kinder bestenfalls geheilt werden kann. Dies

seien leider oftmals unrealistische Erwartungen. Es gelte dann, Eltern vorsichtig aufzuklären und ih-

nen realistisch die Chancen aufzeigen, die das Gesundheits- und Sozialsystem bieten. Viele deutsche

und migrierte Eltern wüssten wenig über Fördermöglichkeiten bei Behinderungen. Bei solchen sen-

siblen Gesprächen sei unbedingt auf die Wortwahl zu achten: „In manchen Ländern werden abwer-

tende Begriffe für das Themenfeld benutzt, die unbedingt vermieden werden sollten.“

Mittel der Kommunikation

Bei schwieriger Kommunikation könne ees helfen, nach Sprichwörtern zu fragen oder Bilder zu nut-

zen. Oft gebe es Überschneidungen, die Kommunikation (wieder) gangbar machen. Bei Blockaden in

der Kommunikation gelte es zunächst neue Anknüpfungspunkte zu schaffen, um Gefühle von Fremd-

heit zu überwinden. Bei wichtigen Themen sei immer auf Zeit und ggf. Sprachmittlung (in der Mutter-

oder Landessprache) zu achten, wenn dies möglich ist.

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Indirekte Kommunikation

Im Umgang mit belasteten Geflüchteten könne es angebracht sein, Nähe anders als bisher bekannt

zuzulassen. „Oft vergessen Fachkräfte bei der Fülle an Aufgaben, wie wichtig es ist, Klienten auch

einmal zu umarmen oder wenigstens tröstend zu berühren.“ Frau Kaiser-Kauczor wies darauf hin,

dass manche Geflüchtete schon jahrelang keinen nährenden, warmen Körperkontakt mehr hatten.

Natürlich sei es dabei wichtig, Grenzen nicht zu überschreiten. Einige traumatisierte Menschen könn-

ten zum Beispiel überhaupt keinen Körperkontakt aushalten. Dann könne man ersatzweise auch ein

Bild malen, auf dem sich zwei Hände berühren. „Schauen Sie einmal, das wünsche ich Ihnen: Immer

eine Hand, die für Sie da ist.“ Auch könne man verbal nachfragen: „Sie sind gerade so traurig…., Sie wirken so belastet. Möchten Sie eine Umarmung? Darf ich das?“ Authentizität sei hier jedoch höchs-

tes Gebot.

Vorsicht bei Gutachten

Frau Kaiser-Kauczor berichtete, dass sie öfter gebeten wird, ihre therapeutischen Stellungnahmen für

Geflüchtete weiterzugeben – an die Geflüchteten selbst, ihre Kirchengemeinde und andere Hel-

fer*innen. Schwer Traumatisierte seien im Rahmen ihrer Verfahren oft auf ärztliche oder therapeuti-

sche Stellungnahmen/Gutachten angewiesen. Frau Kaiser-Kauczor lehne solche generellen Anfragen

zur Weitergabe allerdings ab und riet, mit diesem Thema möglichst sensibel umzugehen. „Die Aussa-

gen und Intimitäten in den psychologischen Attesten gehen nicht alle Helfer*innen etwas an.“ Zu viel

Offenheit werde die Menschen weiter auf ihrem Lebensweg begleiten – was nicht immer zu ihrem

Besten sei! Auch Geflüchtete haben ein Recht auf Datenschutz, was laut der Referentin leider immer

wieder betont werden müsse. „Meine Klient*innen verstehen oft nicht im Detail, was ich in der Fach-

sprache über sie schreibe. Da fällt es ihnen schwer einzuschätzen, ob Ehrenamtliche Stellungnahmen

lesen dürfen. Fragen Sie zweimal nach, ob Daten wirklich weitergegeben werden sollen, die die Kli-

ent*innen selber oft kaum verstehen.“

Umgang mit Dolmetschern

Häufig bringen Klienten eigene Dolmetscher mit. Diesen sollte mit Wertschätzung begegnet werden:

dem Kind, das bereits so gut Deutsch spricht, dem Nachbarn, der sich so für die Familie einsetzt.

Dann sollte allerdings klar gemacht werden, dass es sinnvoller ist, mit professionellen Dolmet-

scher*innen zu arbeiten, da es Probleme mit der Schweigepflicht geben könnte und die Helfer*innen

schnell überfordert sind.

Frau Kaiser-Kauczor berichtete über vielfältige Kontakte zu professionellen Dolmetscher*innen, mit

denen sie im Sinne der Klient*innen zusammen arbeite. Meist handele es sich dabei um Sprach- und

Kulturmittler+innen, die auf eine kultursensible Arbeitsweise spezialisiert sind. Die Referentin berich-

tete, dass Klient*innen, die in den Genuss qualifizierter Sprachmittlung kommen, regelmäßig sehr

erleichtert sind und die Qualität der Zusammenarbeit signifikant steigt. Die Dolmetscher*innen er-

füllten eine weitere wichtige Aufgabe. So werde jeder Einsatz gut mit ihnen vor- und nachbereitet.

Dieser Aspekt sei nicht zu unterschätzen. Denn das spare in vielen Fällen zusätzlichen Arbeisaufwand

und somit Folgekosten.

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Gefahr des „Ausbrennens“ bei Professionellen wie auch Freiwilligen

Auch Frau Kaiser-Kauczor hält die Arbeit mit traumatisierten Geflüchteten für sehr anstrengend, zu-

mal die Rahmenbedingungen zumeist nicht gut seien. Sie riet Beteiligten, sich nicht als Einzelhelfer

oder Einzelhelferin alle Probleme „aufzuladen“, sondern „den Weg der kleinen Schritte“* zu gehen,

und jeden einzelnen gemeisterten Schritt auch wertzuschätzen. Man müsse die eigenen Ressourcen

kennen und einschätzen können, die Geflüchteten jedoch beteiligen und nicht mehr als nötig zuar-

beiten. Am wichtigsten sei es, den Betroffenen zu signalisieren, dass man für sie da ist – auch wenn

man nicht alle ihre Probleme lösen kann. Und dass man sie darin unterstützt, für sich selbst (wieder)

souverän zu werden.

Supervision sei eine gute Hilfe, bei Therapeut*innen ein Muss, in anderen Berufsfeldern mit hohen

Belastungen sei es sehr ratsam, sie einzuführen. Auch für Ehrenamtliche sei ein entsprechendes An-

gebot sinnvoll.

Auch sollte man sich Hilfen von

außen suchen im Umgang mit

den Klient*innen, z.B. auch in

der Sozialarbeit das Kol-

leg*innennetzwerk oder Ehren-

amtliche einspannen, die die

Klient*innen in Alltagsfragen

unterstützen. Eine gute Zusam-

menarbeit mit den Ehrenamtli-

chen sei wünschenswert („The-

rapie-Tandem“). Sie selbst lade

Ehrenamtliche ihrer Kli-

ent*innen bei Bedarf auch ein-

mal mit ein, um die Zusammen-

arbeit zu stabilisieren und „Aufgabenteilungen“ abzusprechen. Denn nicht selten kämen die Kli-

ent*innen auch mit Problemen und Anliegen, die normalerweise nicht in den Aufgabenbereich der

Therapeutin fallen und delegiert werden können.

Frau Kaiser-Kauczor bemühe sich auch um gute Kontakte zu wichtigen Ämtern und anderen Vertre-

tern des Hilfesystems, z.B. zu Ärzt*innen. Allerdings müssten hier natürlich die Regeln der Schweige-

pflicht eingehalten werden bzw. die Entbindung erfragt werden. Viele Teilnehmer*innen bestätigen,

dass gerade die Schweigepflicht, die natürlich an sich sinnvoll ist, eine gute Zusammenarbeit zwi-

schen den verschiedenen Helfersystemen sehr erschwert.

Umgang mit der Politik

In der Arbeitsgruppe wurden viele strukturelle Probleme aufgezeigt, die die einzelnen Fachkräfte

nicht alleine lösen können. Allerdings berichteten die Teilnehmer*innen, dass sie sich dabei oft allein

gelassen fühlen – von ihren Vorgesetzten, von der Politik, von undurchlässigen und scheinbar unve-

ränderbaren Strukturen.

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Frau Kaiser-Kauczor beobachtet ebenso, dass die Schnittstelle Migration und psychische Erkrankung /

Behinderung (auch in Verbindung mit Traumafolgestörungen) immer noch zu zurückhaltend behan-

delt wird. Wenn der Themenbereich z.B. innerhalb der Politik oder auf Kostenträgerebene aufgegrif-

fen werde, geschehe dies meist eher auf eine wenig in die Tiefe gehende Art und Weise, weil bei den

Beteiligten die Expertise fehle. Sie rief daher auf, immer wieder auf Missstände und Unterversor-

gung, aber auch auf Gutes und Erfolge durch die Basis aufmerksam zu machen und weiter für die

Thematik zu sensibilisieren. Die Helfer*innen an der Basis seien regelmäßig die Expert*innen, welche

Hilfen (in)effektiv seien, wie mit geringen finanziellen Mitteln und leicht veränderten Abläufen pro-

duktivere Wege gangbar sind. „Die betroffenen Menschen selbst haben oft nicht die Kapazität, auch

noch auf politischer Ebene zu kämpfen, und sie hätten auch keine Lobby – außer uns!“ Die Referentin

schätzte, dass durch fehlgeleitete, zu spät oder gar nicht einsetzende passgenaue Hilfen ein gesamt-

gesellschaftlicher Schaden in hohem Maße entstehe, der Integration und eine erfolgreiche Migrati-

onsbiographie regelmäßig erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen würde. Sie wies auf die

individuellen und gesamtgesellschaftlichen Folgen und Kosten einer Falschetikettierung hin. Hierüber

müssten die Kostenträger jedoch informiert werden, um strukturelle Gegenmaßnahmen zu überprü-

fen.

Rollenspiel „Traumagedächtnis“

Zum Abschluss bot Frau Kaiser-Kauczor ein kurzes Rollenspiel an: Um sich besser in die Situation ei-

nes traumatisierten Menschen einfühlen zu können, stellten die Teilnehmer*innen ein „Trauma-

Gedächtnis“ nach. Sie kreiierten eine typische Situation, in der eine traumatisierte Frau vor einer

Fachkraft und einer Dolmetscherin sitzt. Eine Teilnehmerin spielte das Trauma-Gedächtnis der Frau,

und die übrigen jeweils einzelne Areale des Trauma-Gedächtnisses, wie Angst, Selbstwertgefühl,

Körpergefühl, Gerechtigkeitssinn usw. Wann immer sich diese Elemente im Rahmen des fiktiv durch

die Referentin beschriebenen Gesprächablaufs angesprochen fühlten, sollten sie der Trauma-

Gedächtnis-Rollenspielerin kurz auf die Schulter tippen. Frau Kaiser-Kauczor führte mit einigen weni-

gen Sätzen in eine typische Situation der traumatisierten Frau ein, so dass alle Teilnehmenden sich in

dem Beispiel und in ihrem „Hirnareal“ bzw. ihrer Rolle als Fachkraft, Traumatisierte, Dolmetscherin etc. einfinden konnten. Dieser kurze Input in die Übung genügte, um durch die Rollenspieler*innen

ein endloses Tippen auf der Schulter des „Trauma-Gedächtnisses“ auszulösen, was wiederum die traumatisierte Frau ablenkte: Die meisten „Hirnareal“-Rollenspieler fühlten sich bereits mehrmals

angesprochen und aktivierten das Trauma-Gedächtnis – ohne dass das eigentliche Gespräch im Rol-

lenspiel überhaupt begonnen hatte!

Die Teilnehmer*innen lernten, wie sehr eine traumatisierte Person von ihrem Trauma-Gedächtnis in

Anspruch genommen wird – bis hin zur Dissoziation aus Überflutung und/oder Überforderung. Für

die Konzentration auf das eigentliche Gespräch mit der Fachkraft bleibe – trotz des guten Angebots

der Sprachmittlung in der Muttersprache - wenig Aufmerksamkeit/Konzentration übrig. Bei Trauma-

tisierten bedeute dies, dass sie je nach Schweregrad der Symptome nur noch wenig Ressourcen

nutzbar machen können, um die vielfältigen Aufgaben in der Nachfluchtphase zu lösen, die ihnen der

Alltag abverlangt: sich versorgen, sich einleben, Deutsch lernen, Dokumente ausfüllen und Ämter-

gänge erledigen, Kinder erziehen usw. Besonders in Situationen mit hohen Stressoren, wie z.B. beim

„Interview“ beim BAMF, könnten traumatisierte Menschen so von ihrem Trauma-Gedächtnis absor-

biert oder gestört werden, dass sie sich komplett als „Versager“ empfinden und fakti

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tisch ihren Mitwirkungspflichten im Asylverfahren nicht nachkommen können, obwohl sie dies wol-

len. Die Fähigkeit zur Konzentration sei für sie hirnphysiologisch blockiert. Hier bedürfe es der Aufklä-

rung über traumatypische Symptome und Techniken einer Selbsthilfe in kritischen Situationen, wie

dies zum Beispiel im Rahmen einer Trauma-Therapie erfolgt.

Die Übung leitete gut zu den zuvor besprochenen Themen oben zurück und verdeutlichte nochmals

eindringlich, was die Referentin den Teilnehmenden mit ihrem Hinweis aus „die Kunst der kleinen Schritte“ und dem wichtigen Ziel des Empowerments der Betroffenen zu vermitteln bemüht war. Ziel eit der (Neu-)Erwerb einer spürbaren Eigenwirksamkeit, die es gilt zurück zu erlangen.

Gelegenheit zum persönlichen Gedankenaustausch und zum Netzwerken boten auch immer die kur-

zen Kaffeepausen.

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Weiterführende Links:

Handicap International e.V.

www.handicap-international.de/

ComIn – Hilfe für Flüchtlinge und Migranten mit Behinderung in München:

www.handicap-international.de/comin-hilfe-fuer-fluechtlinge-und-migrantinnen-mit-behinderung-

in-muenchen

Cornelia Kaiser-Kauczor

www.praxis-kaiser-kauczor.de

Netzwerk für Flüchtlinge mit Behinderungen Köln

www.diakonie-michaelshoven.de/angebote/menschen-mit-behinderung/hilfen-fuer-gefluechtete-

mit-behinderung/

Lebenshilfe für Menschen mit Behinderung e. V. in Dortmund

www.lebenshilfe-dortmund.de/de/

Landesverband der Gehörlosen NRW e.V.

www.glhaus.de/

Mina e.V.

mina-duisburg.de/

Psychosoziales Zentrum für Flüchtlinge Düsseldorf

www.psz-duesseldorf.de

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Wenn Sie sich an unserer Arbeit im Netzwerk [[Inklud:Mi] ] beteiligen möchten oder Interesse an hausinternen Fortbildungen zum Thema haben, nehmen wir Sie gern in unsere Mailingliste auf. Bitte

wenden Sie sich per E-Mail an [email protected] oder telefonisch unter der Rufnummer 0231-952096-0

an das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk e.V. in Dortmund.

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Die Kunst der kleinen Schritte

Antoine de Saint-Exupéry

Ich bitte nicht um Wunder und Visionen, Herr,

sondern um die Kraft für den Alltag.

Lehre mich die Kunst der kleinen Schritte.

Mach mich sicher in der rechten Zeiteinteilung.

Schenk’ mir das Fingerspitzengefühl, um herauszufinden, was erstrangig und was zweitrangig ist.

Schenk’ mir die nüchterne Erkenntnis, dass Schwierigkeiten, Niederlagen, Misserfolge, Rückschläge

eine selbstverständliche Zugabe zum Leben sind,

durch die wir wachsen und reifen.

Erinn’re mich daran, dass das Herz oft gegen den Verstand streikt.

Schick’ mir im rechten Augenblick jemanden, der den Mut hat,

die Wahrheit in Liebe zu sagen.

Du weißt,

wie sehr wir der Freundschaft bedürfen.

Gib dass ich diesem schönsten, schwierigsten, riskantesten und zartesten Geschenk des Lebens gewachsen bin.

Verleihe mir die nötige Phantasie,

im rechten Augenblick ein Päckchen Güte

mit oder ohne Worte an der richtigen Stelle abzugeben.

Bewahre mich vor der Angst,

Ich könnte das Leben versäumen.

Gib mir nicht,

was ich mir wünsche,

sondern das,

was ich brauche.

Lehre mich die Kunst der kleinen Schritte

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Impressum

Herausgeber:

Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund e. V.

Bornstraße 66

D-44145 Dortmund

Fon: 0231-952096-0

Fax: 0231-521233

E-Mail: [email protected]

Internet: www.ibb-d.de

Verantwortlich: Hildegard Azimi-Boedecker, IBB e.V.

Autoren: Hildegard Azimi-Boedecker, Mechthild vom Büchel, Cornelia Kaiser-Kauczor

Fotos: IBB - Stephan Schütze (Titelseite ), IBB - Mechthild vom Büchel

Copyright: IBB e.V. – Nachdruck nur mit ausdrücklicher Genehmigung durch das IBB e.V. bzw. die

jeweiligen Referent*innen

1. Auflage, Januar 2018