die zeit 2011 32

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DIE

WOCHENZEITUNG FR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR

ZEIT

4. August 2011 DIE ZEIT No 32

Die Wahrheit ber unsere TrumeLange wurden sie als rtselhafte Geheimbotschaften missverstanden. Aber Trume sind mehr: Sie bereiten uns ber Nacht auf den Alltag vorWISSEN SEITE 2729Titelbild: Mauritius

Gott helfe AMERIKA!Der radikale Sparplan entzweit die USA und gefhrdet die ganze Welt

Politik Seite 3 Wirtschaft Seite 19

Der Schandwall

Vor 50 Jahren baute die DDR die Mauer ein Rckblick Geschichte Seite 15/16

Meese trifft Wagner

Die da, das sind wir Kein Mitleid mehr!Blo nicht so schnell beleidigt sein: In Deutschland drfen Muslime kritisiert werden. Islamkritiker aber auch VON ZLEM TOPUn Deutschland lebt es sich ziemlich gut, das muss man sich zwischendurch immer wieder mal klarmachen. berwiegend freundliche Menschen hier, eine stabile Wirtschaft, ein Leben in Freiheit. Wir sind frei, zu tun und zu sagen, was wir wollen ob es dem Nchsten passt oder nicht. Dieses Prinzip funktioniert bei uns eigentlich ganz gut. Die meisten von uns wollen, dass das so bleibt, auch nach dem Massenmord in Norwegen. Mitten hinein in die Trauer um die Opfer fragten einige, bei wem der Tter Inspiration fr die menschenverachtende Ideologie gefunden haben knnte; ob es auch hierzulande Menschen gebe, die hnlich ber das politische Establishment dchten, ber Multikulturalismus und die schleichende Islamisierung Europas wie der Attentter von Oslo. Schnell waren viele bei den sogenannten Islamkritikern. Haben die nicht immer wieder gegen naive Multikulti-Romantiker gewettert? Haben die nicht wegen der angeblich gescheiterten Integration von Muslimen in Europa Alarm geschlagen und gewarnt, die zweite Belagerung Wiens stehe kurz bevor? Haben diese Leute nicht schlielich auch behauptet, dass die uns mit ihrer Geburtenfreudigkeit und ihren Kopftchern berrennen wrden, dass wir eines Tages nicht mehr wir selbst sein wrden? Diese Stimmen gibt es, ja. Dennoch kann die Antwort nur lauten: Zwischen Worten und Taten besteht immer noch ein Unterschied. Die Taten eines Einzelnen drfen nicht als Argument benutzt werden, um den Diskurs ber Integration oder Islam in die eine oder in die andere Richtung einzuengen. Ein Grundsatz, auf den wir uns einigen sollten: Jeder darf alles gegen Islamkritiker sagen und jeder alles gegen Muslime. Auch wenn es wehtut, ist zum Beispiel Folgendes zu sagen: Trkische Jugendliche in Deutschland machen immer noch nicht so hufig Abitur und brechen doppelt so oft die Schule ab wie deutsche Jugendliche. Auch sind Trken hierzulande hufiger kriminell. Trken schlagen ihre Frauen hufiger als deutsche Mnner (sagen trkische Frauen). Trken beziehen hufiger Hartz IV als Deutsche. Das sind keine Meinungen, das sind Tatsachen. So. Und an dieser Stelle gabelt sich der Weg. Hier knnte etwas beginnen, das wir den konstruktiven Weg nennen: Es hat soziale und konomische Grnde, dass der gesellschaftliche Aufstieg der Nachfahren trkischer Gastarbeiter etwas lnger dauert als bei anderen Einwanderern, bei denen schon die Groeltern Ingenieure und rzte waren und keine Bauern. Ja, und auch dies ist anzumerken: Wahrscheinlich spielen bei den Problemen zu einem bestimmten Teil auch die Mentalitt, mangelnde Bildung, das Patriarchat

Hunger in Somalia: Die Flchtlinge dieser Welt sind keine Bettler. Sie haben einen Anspruch auf Hilfe VON ANDREA BHMedes zweite Kind unter fnf Jahren ist unterernhrt. Klimawandel und hohe Lebensmittelpreise haben die Lage im Krisengebiet dramatisch verschrft. Das Welternhrungsprogramm der UN hat fr 2011 einen Nothilfebedarf in Hhe von zehn Millionen Dollar veranschlagt. Eingetroffen ist bislang nicht mal ein Drittel. Somalia im Sommer 2011? Nein, die Rede ist von Guatemala im Sommer 2011. Nicht noch eine Katastrophe, werden Sie sagen. Sie haben die Bilder der halb verhungerten Kinder in den ostafrikanischen Flchtlingslagern gesehen, haben vielleicht schon gespendet. Und: Ein Desaster reicht. Man kann sich nicht um das Elend der ganzen Welt kmmern. Mitleid hat Grenzen. Stimmt. Mitleid ist ein knappes Gut. Es ist leicht verderblich, schnell erschpft und muss mit immer ausgefeilteren Methoden zum Vorschein gebracht werden. Wissen um die Not anderer reicht nicht aus. ber die Meldung, dass derzeit fast eine Milliarde Menschen, also jeder sechste Bewohner der Erde, an Hunger leidet, lesen wir locker hinweg. Erst wenn wir mit dramatischen Bildern von hohlwangigen (vorzugsweise afrikanischen) Kindern gefttert werden, regen sich Schock, Mitleid und die Bereitschaft zu spenden. Doch wenn uns Somalia und Guatemala eines lehren, dann dieses: Wer wirklich etwas gegen den Hunger in der Welt tun will, der spare sich ab sofort das Mitleid. Es schadet mehr, als es hilft. Hunger ist vermeidbar. Wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert, als solche Nte wie biblische Plagen eine Bevlkerung dezimierten. Wir schreiben auch nicht das Jahr 1984, als der Hunger scheinbar wie eine Naturgewalt ber thiopien hereingebrochen war. Wir leben im 21. Jahrhundert, es gibt ausgefeilte Frhwarnsysteme, die im Fall Somalia schon im November vor einer Katastrophe gewarnt haben. Wir wissen inzwischen sehr gut, wann und wo ein Notstand droht und wie er verhindert werden kann. Trotzdem funktioniert die Hilfe heute kaum anders als vor 25 Jahren, als europische Musikbands unter dem Schlagwort Band Aid eine Kampagne fr die Hungernden in thiopien starteten: Mit Bildern und durch Appelle weier Prominenter Betroffenheit erzeugen, Spenden eintreiben, Hilfsgter mglichst TV-gerecht verteilen bis zum nchsten Megadesaster. So gut und aufrichtig das gemeint ist, so sehr verkommt humanitre Hilfe auf diese Weise zur Heftpflasterpolitik. Und die scheint nun nicht einmal mehr im Fall Somalia zu funktionieren. Schuldenkrise in den USA, Schuldenkrise in Europa, ein Amoklufer in Norwegen, ein Medienskandal in Grobritannien ... Der Hungernotstand am Horn von Afrika kommt einfach nicht richtig in den Fokus der Medien. Die USA geizen mit Geld, Italien gab nach dem ersten UN-Hilfsappell keinen Cent, das Schwellenland Brasilien stellte mehr Hilfe in Aussicht als Deutschland und Frankreich zusammen. Die Afrikanische

Bayreuth als Comic: Der Knstler Jonathan Meese hat fr uns das Festival rezensiert Feuilleton Seite 51

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oder die Religion eine Rolle. Es kann den Kritikern zu langsam gehen aber es wird messbar besser. Langsam, aber stetig. Viele schlagen aber diesen Weg nicht ein. Sie wollen nicht, obwohl sie es knnten. Ihnen steht es auch frei, sich dagegen zu entscheiden. Keiner ist verpflichtet, sich fr den anderen zu interessieren oder den Islam sympathisch zu finden. Viele Integrations- und Islamkritiker polemisieren gegen Menschen und ihre Probleme, das ist einfach und manchmal sogar unterhaltend. Jede Minderheit hat das Recht, auf die Schippe genommen zu werden. Auch knnen wir nicht verhindern, dass jemand wie der Mrder in Norwegen seine terroristischen Schlsse aus der Polemik zieht.

J

Die Muslime werden nicht mehr weggehen sie gehren zu unsMan muss sich nur die Frage stellen: Handelt es sich bei der Polemik um Religionskritik oder um einen ideologischen Antiislamismus? Der Unterschied ist manchmal sehr fein. Erkennen kann man ihn daran, ob der Kritiker implizit auch Lsungen parat hat oder ob er als Lsung suggeriert, dass wir die Muslime irgendwann wieder loswerden. Dass sie irgendwann wieder weggehen werden. So wie sie gekommen sind. Weil sie einfach nichts mit uns zu tun haben, es ihre Probleme sind, nicht unsere. Wie auch immer: jedenfalls keine deutschen Probleme. Menschen machen Probleme. Die Probleme werden irgendwann verschwinden. Die Menschen nicht. Wir werden die Muslime nicht mehr los. Sie werden nicht mehr weggehen, im Gegenteil. Zwar bekommen auch muslimische Migrantinnen, wie andere Europerinnen auch, immer weniger Kinder. Und aus der Trkei kommen auch immer weniger Menschen, der Wanderungsweg hat sich seit 2002 umgekehrt. Es gehen mehr als kommen. Aber deshalb wird Europa in Zukunft nicht weniger Muslime haben. Weil die, die da sind, hier bleiben werden. Ihre Probleme sind unsere Probleme, deutsche Probleme. Ihre Arbeitslosigkeit, unsere Arbeitslosigkeit. Ihre Gewalt und Kriminalitt, unsere Gewalt und Kriminalitt. Ihr Erfolg, unser Erfolg. Und vielleicht wird es in den nchsten Tagen, Wochen, Jahren der eine oder andere Muslim aus Tunesien, gypten oder Libyen ber das Mittelmeer zu uns nach Europa schaffen, ohne zu ertrinken. Unter ihnen der eine oder andere Ingenieur oder Arzt mit Kinderwunsch, wre ja nicht schlecht, da wir immer weniger werden. Vielleicht nehmen auch einige Syrer die Gefahren und Strapazen auf sich und kmpfen sich durch die Trkei bis zu uns, weil sie ein besseres Leben wollen, in Sicherheit und mit Arbeit. Und weil sie endlich auch mal frei sein wollen, alles zu sagen. Wer von uns will ihnen das ernsthaft bel nehmen?www.zeit.de/audio

Union hat bislang nur den Termin fr einen Spendengipfel vorzuweisen. Darber kann man jammern. Oder man kann die Politik der Hilfe endlich vom Kopf auf die Fe stellen. Hungernde Menschen sind weder Objekte unseres Mitleids noch Projektionsflche fr Benefizgalas. Sie sind Brger dieser Weltgemeinschaft und damit Trger aller Menschenrechte. Dazu gehrt das Recht auf Ernhrung nach Artikel 25 der Allgemeinen Erklrung der Menschenrechte. Papier ist bekanntlich geduldig. Moralische Appelle ndern daran nichts, wohl aber weitere internationale Abkommen und verbindliche Regeln. Die erste muss lauten: Hilfe im Fall einer drohenden Hungersnot ist vonseiten der Staaten nicht lnger ein freiwilliger Akt, sondern eine vlkerrechtlich verbindliche Pflicht, ber die notfalls der UN-Sicherheitsrat wachen msste. Die zweite lautet: Spekulationen auf Nahrungsmittel, eine der Ursachen fr die akuten Krisen von Somalia bis Guatemala, mssen unterbunden werden. Gleiches gilt fr die wahnwitzige Politik reicher Nationen, in armen Lndern riesige Ackerflchen fr die Produktion von Biotreibstoff mit Beschlag zu belegen. Die dritte Regel ist so banal, dass man sie gar nicht mehr aufschreiben mchte: Eine Katastrophe im Vorfeld zu verhindern ist besser, als sie im Nachhinein zu bekmpfen.

ZEIT ONLINENiemand dreht bessere Dokumentationen als Polens Filmemacher. Warum?Ein Videointerview unter: www.zeit.de/video/konopka

PROMINENT IGNORIERT

Mit 0,14 PS ins FreieDie Deutschen lieben ihre PS: 134 hat jetzt ein Pkw im Durchschnitt. 2009 waren es 117. Citrons Ente hatte 9 PS. VW kommt nun auf 124, BMW auf 192, Porsche auf 340. Am 11. Januar 2010 gab es in Deutschland 1590 Staus auf 6153 Kilometern. Dieser Tage haben Autofahrer bei Hildesheim einen Zaun aufgeschnitten, um dem Autobahnstau seitwrts zu entrinnen. Die 0,14 PS, die ein Mensch leistet, haben dafr gengt. GRN.kleine Abb. v.o.n.u.: Smetek fr DZ; Pelikan/ Keystone; Jonathan Meese fr DZ; Aksoy fr DZ

Vorsorge ist unspektakulr, sie liefert keine Bilder fr groe GefhleEs ist auch deutlich preiswerter. Wir steuern auf eine ra zu, in der Klimawandel, Bevlkerungszuwachs, Urbanisierung, Nahrungsmittelknappheit und bewaffnete Konflikte uns vielleicht nicht immer mehr, aber immer komplexere Krisen bescheren werden. Das ist kein Grund fr Ohnmachtsgefhle, das ist eine Aufforderung zu kluger, effizienter Politik. Bauern in Kenia Anbaumethoden zu zeigen, die weniger vom Regen abhngig sind, ist um ein Hundertfaches billiger, als sie nach der Drre jahrelang mit Notrationen zu versorgen. Das Vieh somalischer Nomaden rechtzeitig in Sicherheit zu bringen ist hundert Mal billiger, als jetzt deren halb verhungerte Kinder vor dem Tod zu bewahren. Genau darin liegt ein teuflisches Detail unserer Heftpflasterpolitik: Fr Prvention gibt es kaum Geld. Denn sie ist unspektakulr, bietet keine Bhne fr dramatische Rettungsaktionen, keine Bilder fr groe Gefhle und damit im globalen Wettbewerb der Helfer kaum Gelegenheit, sich zu profilieren. Auch aus diesem Grund ist die Hilfe fr Ostafrika zu spt gekommen. Nichts an diesen Einsichten ist neu oder revolutionr. Es braucht auch keine Revolution, um eine Politik des Mitleids durch eine Politik der Verantwortung zu ersetzen. Es braucht allein den politischen Willen von Regierungen, auch der unseren. Und den politischen Druck der ffentlichkeit. Auch der unseren.www.zeit.de/audio

ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail: [email protected], [email protected]: Tel. 0180 - 52 52 909*, Fax 0180 - 52 52 908*, E-Mail: [email protected]**) 0,14 /Min. aus dem deutschen Festnetz, max. 0,42 /Min. aus dem deutschen Mobilfunknetz

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AUSGABE:

2 4. August 2011

DIE ZEIT No 32

POLITIK

Worte der Woche

Die Union wird nicht gleichstellen, was nicht gleich ist.

Stefan Mller, Parlamentarischer Geschftsfhrer der CSU-Landesgruppe, zur Homo-Ehe

So? Da wissen Sie mehr als ich.Heiner Geiler, Schlichter im Streit um Stuttgart 21,

auf den Hinweis eines DeutschlandfunkModerators, dass der von Geiler benutzte Ausdruck totaler Krieg auf Joseph Goebbels zurckgeht

Das ist ein Sandwich des Teufels. In diesem Sandwich findet sich nichts, was die Armen, die Witwen oder die Kinder schtzt.Emanuel Cleaver, demokratischer Abgeordneter im US-Kongress, ber die Sozialkrzungen, die die amerikanische Regierung im Rahmen des Schulden-Deals beschlossen hat

Es ist nicht der Deal, den ich gewollt htte. Aber es senkt das Defizit und wird die Zahlungsunfhigkeit vermeiden.Barack Obama, US-Prsident, zum selben Thema

Michael Buback (M.), der Prozess und die Schatten der Vergangenheit: Die Angeklagte Verena Becker (l.) Bubacks ermordeter Vater (hinten)

Hama ist der Friedhof der Nation.Ein Graffito in der syrischen Rebellenstadt Hama, wo das Militr am vergangenen Wochenende ber 100 Zivilisten erschoss

Ich habe nicht deinetwegen verzichtet, sondern meinetwegen.Ameneh Bahrami, iranische Studentin,

zu einem Scharia-Urteil, das sie nicht ausfhren lie: Sie htte dem Mann, der ihr die Augen vertzte, dasselbe antun knnen

Ich lege gleich richtig los.Jrgen Klinsmann, ehemaliger deutscher

Fuballer, freut sich auf seinen neuen Job als amerikanischer Nationaltrainer

Gefangen in der GeschichteWie Michael Buback von der Suche nach dem Mrder seines Vaters zermrbt wirdVON CHRISTIAN DENSO

ZEITSPIEGEL

Hohe Telefongebhren sind ein rgernis, das die meisten eher zhneknirschend akzeptieren. Fr Larry Stone hingegen, Hftling im Lake-County-Gefngnis des sonnigen USStaats Florida, konnten sie nicht hoch genug sein. Nachdem er bei einem Gesprch niemanden erreicht hatte, wollte er sich vergewissern, dass das im Voraus bezahlte Geld vom gefngnisinternen Telefonsystem rckerstattet worden war. Und siehe da: Aufgrund eines Softwarefehlers hatte man ihm den doppelten Betrag berwiesen. Ein Gewinngeschft! Larry zgerte nicht: In vier Stunden whlte er 77-mal dieselben Nummern, um 1250 Dollar anzuhufen. Genug, um auf Kaution freizukommen. Schon lief der 32-Jhrige als freier Mann umher, da erfuhr er, dass ihm die Sheriffs auf die Schliche gekommen waren: Weil 256 Insassen sich des Tricks bedienten, fielen die vielen Anrufe auf. Larry ist wieder im Gefngnis und muss sich nun noch wegen Betruges verantworten. JUL

AusgezeichnetDie ZEIT-Autorin Mareike Aden ist mit dem Peter-Boenisch-Gedchtnispreis des Petersburger Dialogs ausgezeichnet worden. Der Preis frdert junge Journalisten, die zum Austausch zwischen Deutschland und Russland beitragen. Aden wurde fr den ZEIT-Artikel Im Tal des Sibirischen Tigers (Nr. 16/10) gewrdigt. Sie beschreibt darin, wie deutsche Steuergelder den Naturschutz in entlegenen Wldern Ostrusslands mit finanzieren. DZ

NCHSTE WOCHE IN DER ZEIT

Drogenhandel ist ein lukratives Geschft. Auf 320 Milliarden Dollar im Jahr schtzen die Vereinten Nationen den weltweiten Umsatz. Im Kampf gegen die Kriminalitt erweisen sich Staaten zunehmend als ohnmchtig. Immer lauter wird der Ruf: Legalize it! Was einst die Hippies forderten, erscheint in Mexiko vielen als einziger Ausweg. Auch ein ehemaliger Prsident des Landes stimmt fr die Freigabe aller Drogen. WIRTSCHAFT

r will den Beweis. Jetzt, endlich, nach 34 Jahren. Michael Buback springt auf, als der Zeuge den Gerichtssaal verlsst, er folgt ihm hinaus auf den lichtdurchfluteten Gang und luft schweigend neben ihm her. Fnf Meter gehen sie so nebeneinander, zehn Meter, ohne ein Wort. Buback will nicht reden. Er will nur sehen, wie gro der Mann ist. Eine kleine Person habe am Grndonnerstag 1977 auf seinen Vater, den Generalbundesanwalt Siegfried Buback, geschossen, vom Rcksitz des Motorrads, dem Sozius, aus. So sollen es Zeugen immer wieder ausgesagt haben. Michael Buback ist 1,80 Meter gro. Wer auch immer der Mrder seines Vaters ist, er msste kleiner sein. Jedenfalls wenn die Aussagen stimmen. Der Mann, neben dem Buback herluft, ist Stefan Wisniewski. In der RAF nannten sie ihn Fury, die Furie. Wisniewski war an diesem Morgen als Zeuge vor das Oberlandesgericht Stuttgart geladen. Manche halten ihn fr den wahren Mrder von Bubacks Vater. Auch die Bundesanwaltschaft ermittelt gegen ihn, bislang ergebnislos. Nun sieht Michael Bubacks Ehefrau Elisabeth auf dem Gerichtsgang aus einiger Entfernung, dass Fury etwas grer ist als ihr Mann. Grer als 1,80 Meter. Gewiss keine kleine Person. Seitdem, sagt Michael Buback, ist fr uns klar, dass Wisniewski es nicht gewesen sein kann. Wer hat meinen Vater erschossen? Es gibt verschiedene Wege, wie Angehrige ber den gewaltsamen Tod eines nahen Verwandten hinwegkommen. Jahrelang beschftigte das Attentat die Familie Buback nur noch an den Gedenktagen. Sie versuchte, auf stille Weise den schmerzlichen Verlust des Vaters zu verarbeiten. Wir hatten abgeschlossen mit der Sache. Aber dann, vor vier Jahren, rief der Ex-Terrorist Peter-Jrgen Boock bei Buback an und sagte, keiner der dafr verurteilten RAF-Terroristen habe die Tat begangen. Seitdem treibt Buback diese Frage um. Er nahm den Faden auf und lie ihn nicht mehr los. Die Suche nach dem wahren Mrder wurde zum Lebensinhalt. Lngst geht es um mehr als die Frage: Wer schoss? Seit vergangenem Herbst verhandelt der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart gegen die ehemalige RAF-Terroristin Verena Becker. Die heute 58-Jhrige ist wegen Beihilfe zum Mord an Siegfried Buback angeklagt. 1980 wurde in der Sache schon einmal gegen Becker ermittelt, aber das Verfahren eingestellt, aus Mangel an Beweisen. Nun unternimmt die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, die Behrde, der Siegfried Buback einst vorstand, einen zweiten Anlauf. Die Bundesanwlte sind sich sicher, dass Becker diesmal unter Aktenzeichen 6-2 StE 2/10 verurteilt werden wird. Als Mittterin. Nicht als Todesschtzin. Michael Buback ist der zweite Anklger in diesem Fall. Der juristische Laie ermittelt, als wre er selbst Bundesanwalt, wie einst sein Vater. Er hat die gleiche hohe Stirn, das gleiche runde Gesicht. Der Sohn hat die Zeugen von damals ausfindig gemacht, ist mit ihnen noch einmal alle Orte abgegangen. Er kmpft um sein Recht, zu erfahren, wer den Vater ermordet hat. Und er kmpft fr den Rechtsstaat, in dem ein Mord nicht ungeshnt bleiben darf. Michael Buback glaubt, die Wahrheit in diesem Fall zu kennen. Aber es ist eine vllig andere Wahrheit als die der Bundesanwlte. Buback ist jetzt sicher,

dass eine zierliche Frau seinen Vater ermordet habe. Hchstwahrscheinlich Verena Becker. Mehr noch: Fr ihn, so erklrt er, deute viel darauf hin, dass bis heute eine schtzende Hand ber Becker gehalten werde. Vermutlich weil sie mit dem Verfassungsschutz zusammengearbeitet habe. Und dies schon weit frher als bislang bekannt, vielleicht sogar schon vor der Tat 1977. Wussten die Behrden gar von dem bevorstehenden Anschlag? Es wre ein Staatsskandal ohne Beispiel. Fr Michael Buback ist die ungeheuerliche These lngst denknotwendig, wie er sagt: Die jetzt bekannt gewordenen Zeugenaussagen sprechen eine klare Sprache. Wie aber kommt es, dass die Bundesanwaltschaft diese Aussagen so vllig anders versteht als er? Niemand, dem die RAF den Vater oder den Ehemann genommen hat, ist so weit gegangen wie Buback. Aber er ist lngst nicht mehr der einzige Hinterbliebene, der Jahre nach der Tat zu ergrnden sucht, was damals, im Deutschen Herbst, wirklich geschah. Der an eine andere als die offizielle Wahrheit glaubt. Am deutlichsten formuliert das mittlerweile Corinna Ponto, die Tochter des 1977 ermordeten Commerzbank-Chefs Jrgen Ponto. In ihrem Buch Patentchter schreibt sie von der inneren Gewissheit ihrer Familie, dass die bisherige Deutung der unaufgeklrten Morde der dritten RAF-Generation ein Mythos sei: Die spurenlose Perfektion bestrkt uns in unserem Verdacht, dass die Terroristen von stlichen Geheimdiensten gelenkt wurden. Es ist eine bittere Pointe der RAF-Geschichte: Ausgerechnet die Ehefrauen, Tchter und Shne der Ermordeten verdchtigen den Staat, er halte die Wahrheit ber die Terroristen zurck. Ponto und Buback stehen mittlerweile in regem Kontakt.

ten Monaten ber Fragen, die gar nicht in der Anklage stehen, etwa ber das Geschehen zur Tatzeit am Tatort. Mit immensem Aufwand hat das Gericht Dutzende Zeugen vernommen, die Buback benannt hatte. Ihre Aussagen sollten beweisen, dass Verena Becker auf dem Sozius des Motorrads sa. So will eine Zeugin aus etwa 50 Metern Entfernung an den Oberschenkeln der Person auf dem Sozius erkannt haben, dass es sich um eine Frau gehandelt habe. Buback bedankt sich danach bei der Zeugin: Sie waren groartig! Buback braucht solche Zeugen. Denn wenn er die fragt, die besser wissen knnten, wer seinen Vater ermordet hat, dann bekommt er keine Antworten. Wohin Buback sich auch wendet, an die Ehemaligen der RAF, an die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, an das Innenministerium in Berlin oder an den Verfassungsschutz, berall trifft er auf Schweigen, Skepsis, Ablehnung. Manchmal sogar auf Hohn.

Michael Buback merkt nicht, dass er auf eine Tragdie zusteuertMerkwrdig unbeteiligt lsst Verena Becker das Stuttgarter Verfahren an sich vorberziehen, wie eine Zuschauerin. Sie sagt kein Wort. Sie ist auf freiem Fu, fliegt morgens aus Berlin ein und fhrt im Taxi mit ihren Verteidigern zu Gericht. Sie lchelt ehemaligen Komplizen zu. Ansonsten Schweigen. Wird noch einmal der Moment kommen, an dem sie sich selbst zur Sache uert, wie es ihre Verteidiger zu Beginn angedeutet hatten, an dem sie den Spuk beendet? Es wre ein Akt menschlicher Gre. Er ist nicht zu erwarten. Fnfzehn ehemalige RAF-Mitglieder hat das Gericht als Zeugen geladen. Sie tauchen auf wie blasse Gespenster aus einer vergangenen Zeit. Eindringlich appelliert der Vorsitzende Richter an jeden von ihnen, sie sollten doch bitte aussagen, im Namen der Gesellschaft und der Angehrigen. Aber vergeblich. Der Zeuge Wisniewski trgt bei seiner Vernehmung einen schwarzen Kapuzenpullover. Darauf steht in groen weien Buchstaben der polnische Satz Scigajcie ten slad, zu Deutsch Verfolge die Spur. Dann folgt eine siebenstellige Zahl. Es wirkt wie ein letzter, zynischer Versuch der Rechtfertigung, warum die RAF vor 34 Jahren den Generalbundesanwalt ermordet hat. 8179469, das ist die NSDAP-Mitgliedsnummer von Siegfried Buback. Wisniewski sagt dann nicht einmal, wann er aus der Haft entlassen wurde. Geschweige denn, wie gro er ist. Aber auch in der Bundesanwaltschaft hat Buback keinen Verbndeten, im Gegenteil. Die Karlsruher Ermittlungsbehrde hielt Bubacks Theorie der schtzenden Hand von Beginn an fr abwegig, und sie tut das in Saal 153 deutlich kund. Die Bundesanwlte nennen Bubacks Vorgehen laienhaft. Sie demontieren von ihm benannte Zeugen, als wren die Anklger gewiefte Verteidiger. Ende November eskaliert die Situation, als eine Bundesanwltin die Aussage eines auf Bubacks Drngen geladenen Tatzeugen vllig absurd nennt. Buback reagiert emprt, als die Oberstaatsanwltin erklrt, die Nebenklage trete mit derartigen Zeugen die Wahrheit mit Fen. Auer sich vor Wut, ruft Buback: Wollen Sie behaupten, dass ich lge? Dann strmt er aus dem Saal. Whrend der Jahrespressekonferenz wenige Tage spter er-

Der Stuttgarter Prozess hat Schieflage, die Anklger verteidigen ihre AnklageIch erhoffe mir zufriedenstellende und nachvollziehbare Antworten. Wenn ich sie nicht erhalte, dann knnte es sein, dass eine Welt fr mich zusammenbricht, schrieb Michael Buback im Frhjahr 2007 in der Sddeutschen Zeitung. Damals stand er am Anfang seiner Suche. Er hatte Respekt, Mitgefhl und Verstndnis auf seiner Seite. Und er hatte Hoffnung. Buback sitzt fast jeden Tag im Gerichtssaal. Er ist Nebenklger, er darf die Akten einsehen, Fragen und Antrge stellen. Er ist stets akribisch vorbereitet, protokolliert genau und fhrt ein eigenes Blog. Seine Frau, auch sie Kind eines Bundesanwalts, sitzt meist neben ihm. Sogar ihren 40. Hochzeitstag hat sie mit ihm dort verbracht. Dass es berhaupt zu diesem neuen Verfahren kam, war wesentlich auf Bubacks Beharrlichkeit zurckzufhren. Fr ihn ist der Prozess vermutlich die letzte Chance, das Verbrechen vor Gericht aufzuklren. Aber das Verfahren in Stuttgart hat schnell eine erstaunliche Schieflage entwickelt. Die Anklger agieren als Verteidiger ihrer Anklage und Buback als Anklger der Anklger. Die zwei Verteidiger von Verena Becker halten sich da meist im Hintergrund. Auch nach gut 50 Verhandlungstagen haben die Richter in Stuttgart so gut wie keine neuen Einsichten zutage gefrdert. Dabei gibt sich der 6. Senat alle Mhe. Er ist dem Nebenklger weit entgegengekommen und verhandelte in den ers-

klrt dazu Generalbundesanwltin Monika Harms, eine von Siegfried Bubacks Nachfolgern, nicht umsonst sei die Strafverfolgung dem Staat und nicht den Betroffenen selbst anheimgestellt. Und sie fgt ungefragt hinzu: Einem wie auch immer gearteten berschieenden Genugtuungsinteresse eines Nebenklgers, der seine Hypothesen unabhngig von der strafrechtlichen Beweisbarkeit postuliert, kann und darf die Bundesanwaltschaft nicht unbesehen nachgeben. Harms wirkt kalt. Der Bundesanwaltschaft war seit Jahrzehnten bekannt, dass Verena Becker mit dem Verfassungsschutz zusammengearbeitet hat, offiziell seit 1980, nachdem sie in Haft zusammengebrochen war. Den Angehrigen der Opfer aber hatten die Karlsruher Ermittler davon nichts angedeutet. Mittlerweile kennt Buback Beckers Aussage beim Verfassungsschutz, in der sie angeblich Wisniewski als Buback-Mrder bezeichnet. Die gerichtliche Verwertung der Verfassungsschutzakten aber hat das Bundesinnenministerium bis heute verweigert. Eine Verffentlichung wrde dem Wohl des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten Quellenschutz vor Aufklrung. Was, fragt Michael Buback, ist so viel bedeutsamer als die Klrung eines Mordes? Buback gibt sich immer pflichtbewusst, nie emotional. Nur selten bricht es aus ihm heraus. Aber er schwankt. Er frage sich manchmal, sagt er, ob er sich all das nicht ersparen solle. Die mhsamen Fahrten zum Gericht frhmorgens von Gttingen nach Stuttgart, die zhen Verhandlungstage. Buback ist 66 Jahre alt, er ist ein angesehener Chemie-Professor. Er braucht keine Nebenttigkeit als Ermittler. Ich habe einen anspruchsvollen und zeitaufwendigen Beruf. Seine Entwicklung vom CDU-nahen Bildungsbrger zu einem, der den Glauben an Gewissheiten verloren hat, bezeichnete er selbst einmal als einen ungeheuer schmerzlichen Prozess. Er habe ihn ber eine Grenze hinweggefhrt. Der Faden, den er aufnahm, hat sich fr ihn zu einem Dickicht von Merkwrdigkeiten versponnen. Dass Buback auf eine Tragdie zusteuert, scheint er nicht wahrzunehmen. Er jagt einem Verdacht hinterher, dem Staatsskandal, den er nicht beweisen kann und den es allem Anschein nach auch nicht gab. Immer mehr verheddert sich der Sohn in dem Versuch, Details zu beweisen, die staatliche Ermittler vermeintlich unterdrcken wollten. Er prsentiert Zeugen, die heute, nach 34 Jahren, sagen, dass neben einem Rettungshubschrauber ein zweiter, mysteriser Hubschrauber nur Minuten nach der Tat am Tatort gelandet sei. Fnf Mnner seien ausgestiegen, htten Fotos gemacht, mit Polizisten gesprochen und seien dann wieder abgeflogen Verfassungsschtzer? Je lnger das Verfahren dauert, desto berzeugter gibt sich Buback. Zu 99 Prozent, sagt der Nebenklger mittlerweile, sei er sicher, wie es gelaufen ist. Der Sohn hat sogar die Ermordung seines Vaters nachgestellt, mit seinem eigenen Kombi und dem Motorrad eines Nachbarn daheim auf einem Parkplatz in Gttingen. Nachher ist er berzeugt, der Tter habe nicht nur von der Seite auf den Dienstwagen gefeuert, sondern habe den Dienst-Mercedes seines Vaters umrundet und dann auch noch von der anderen Seite geschossen. Und das, da ist sich Michael Buback sicher, htte nur eine motorraderfahrene Sozia schaffen knnen. Wie Verena Becker.

Foto: Sam Faulkner/NBPictures/Agentur Focus

Illustration: Uli Knrzer fr DIE ZEIT/www.uliknoerzer.com

Bei Anruf Geld

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POLITIK

4. August 2011 DIE ZEIT No 32

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Wer beim Thema Schulden denkt, es gehe nur um Geld, der ist naiv. Tatschlich geht es um Sinn, um Macht, um Angst und um Ehre. Mit ein wenig Schwung knnte man sogar sagen: Schulden sind der mathematische Ausdruck eines metaphysischen Problems. Die Sache ist, kurzum, ernst. Es ist alles andere als Zufall, dass in diesen Wochen sowohl Europa wie auch die USA mit knapper Not den Schuldenfallen entwischen konnten, die sie sich selbst gestellt haben. Barack Obama mag sich im Schuldenstreit mit dem Kongress ein wenig Zeit erkauft haben. Aber Amerikas Verbindlichkeiten werden weiter steigen trotz des nun vereinbarten, gigantischen Sparpakets. In Europa mgen die Regierungschefs in einem Kraftakt ein zweites Rettungspaket fr Griechenland beschlossen haben. Aber an den Finanzmrkten wettet man bereits auf die nchste Rettungsrunde. Diese ngste haben den Goldpreis auf ein neues Allzeithoch getrieben. Mehr als 39 Billionen Dollar haben die Staaten weltweit an Schulden angehuft. Es ist vor allem die zustzliche Verschuldung, die sie nun in die Enge treibt. Gleichzeitig mssen die Regierungen immer neue Milliarden bereitstellen, um irgendwen zu retten: erst Banken, dann Unternehmen, jetzt sogar ganze Staaten. Der Westen hat ganz offenkundig ein Problem, und dieses Problem ist eine Zahl mit 14 Stellen. Wie sind die immer noch reichsten Lnder der Erde da hineingeraten? Beginnen wir mit dem, woran es nicht liegt: nicht allein an linker oder allein an rechter Politik, denn rechte wie linke Regierungen haben diese Schulden aufgehuft. Auch die Konjunktur ist nicht schuld, die war mal so, mal so, und am Ende waren die Schulden immer hher. Es liegt auch nicht am europischen Sozialstaat, denn sonst htten die USA ja weniger Schulden. Nein, es muss einen Grund geben, der allen westlichen Lndern gemeinsam ist, und der Grund ist schlicht dieser: Seit zwei Jahrzehnten befindet sich der Westen in einem relativen Abstieg, der Automatismus von immer mehr Wohlstand bei immer weniger oder allenfalls gleich viel Arbeit ist zerbrochen. Dafr gibt es viele Ursachen, hier seien nur der Aufstieg der Schwellenlnder, die AntiTerror-Kriege und die von der kologie gezogenen Grenzen genannt. Entscheidend ist, dass der gesamte Westen mit dieser neuen Lage nicht fertigwird, weder politisch noch kulturell, noch individuell. Unseren Kindern, das wissen wir, wird es nur noch dann besser gehen, wenn sie mehr arbeiten als wir. Ob wir ihnen das wirklich wnschen sollen, das wiederum wissen wir nicht. Damit ist der groe Deal des westlichen Modells geplatzt: Auf Wachstum zu setzen war so etwas wie der Minimalkonsens der westlichen Gesellschaft, die Aussicht auf fortwhrendes Wachstum beruhigte uns und erleichterte es ungemein, soziale Grokonflikte wer bekommt wie viel vom

Kuchen? gar nicht erst aufkommen zu lassen. Denn Wachstum bedeutete, dass alle immer mehr bekommen konnten. Umso furchterregender ist es, wenn dieses Wachstum ausbleibt. Darum hat der Westen diese Realitt verdrngt, er hat sich selbst einen Wohlstand vorgespielt und genehmigt, den er nicht mehr besa. Daher die Schulden, sie sind das Verdrngte, das nun immer fter und immer heftiger zurckkehrt. Die Schulden stehen ganz zu Recht im Zentrum der Politik, sie werden zu einem der wichtigsten Schlachtfelder der Macht. Darum ist das, was in dieser Woche in den USA geschehen ist, ein Menetekel, auch fr die europische, die deutsche, vor allem fr die linke Politik. Denn der Kompromiss in letzter Minute war ein groer Sieg der Republikaner. Nicht nur wegen der taktischen Vorteile, die sie gegenber Obama erzielen konnten. Es war die Frechheit, die da siegte. Obwohl die Republikaner in ihrer Regierungszeit enorme Schulden angehuft haben durch die Ausgaben fr die von ihnen verantworteten Kriege sowie durch Steuersenkungen fr Reiche , haben sie es geschafft, Barack Obama als Schuldenknig zu brandmarken. Auch wenn der gerade mal zweieinhalb Jahre im Amt ist. Vor allem aber ist es ihnen gelungen, das eigentlich vernnftige Ziel, die Schulden im Zaum zu halten, mit ihrer irrationalen Anti-Staats-Ideologie in eins zu setzen. Dabei besteht zwischen der Gre des Staatsanteils am Bruttoinlandsprodukt, der sogenannten Staatsquote, und den Schulden kein zwingender Zusammenhang. Es ist durchaus mglich, bei einer Staatsquote von 40 Prozent (wie in Deutschland) gar keine neuen Schulden zu machen. Die Linken mssten dagegen einen starken Staat mit wenig Schulden p p g propagieren. g Es gelingt ihr nicht, sie versucht es nicht einmal richtig. Warum hat diese unfassbare Unverschmtheit, warum hat diese neoliberale Ideologie gesiegt? ogie Um das zu verstehen, muss man drei Jahre zurckgehen, in den Herbst 2008, als 008, die Finanzkrise ausbrach und nicht nur ht Banken vor dem Zusammenbruch ruch standen, sondern das Weltwirtschaftsaftssystem wankte. In den USA herrschte hte Wahlkampf, die Nation war fhrungsngslos. Barack Obama versprach Rettung. ng. Und das hie: Geld in die Hand zu nehmen, um Banken zu verstaatlichen chen und dann die Automobilindustrie. Zu e. retten hie, neue Schulden zu machen, um hen, die Wirtschaft zu sttzen und so viele Jobs zu ele erhalten wie irgendwie mglich. Weltweit handelten die Staaten so: Mehr als 15 Billionen Dollar gab illionen man aus, um die Krise zu bekmpfen. Nie zuvor wurde ein pfen. w d wurde hnlich groer Geldbetrag in so kurzer Z i ausgegeben. Ni Zeit b Nie zuvor machte man so schnell so viele neue Schulden. Dabei war die Grundidee des deficit spending in dieser Situation ausnahmsweise richtig. Wenn niemand mehr irgendjemandem vertraut, niemand mehr Geld verleiht und auch niemand mehr Waren kauft, dann muss der Staat eingreifen und die Wirtschaft am Leben erhalten. Sonst luft gar nichts mehr. Das Dilemma war nur: Indem man die eine Krise bekmpfte, bereitete man die nchste, viel grere vor. Ein Staat knne nicht pleitegehen, hie es immer, er knne sich immer wieder durch die Ausgabe neuer Schuldenpapiere frisches Geld beschaffen. Jetzt aber geschieht das Unglaubliche. Aus der Finanzkrise ist eine weltweite Schuldenkrise geworden, sie bedroht die Staaten, die nicht anders knnen, als diese Krise mit immer neuen Schulden zu bekmpfen. Auf einmal stellt sich heraus, dass Staaten eben doch pleitegehen knnen, so wie Griechenland. Auf einmal ringt selbst Amerika darum, zahlungsfhig zu bleiben. Das britische Wirtschaftsblatt Economist zeigt eine Weltkarte der Verschuldung: Staaten mit hoher Verschuldung sind rot eingefrbt, Staaten mit niedriger grn. Der Westen ist ein tiefroter Block. In dieser Situation hat Obama einen strategischen Fehler begangen, als er auf dem Hhepunkt der Finanzkrise verbal zu lssig mit den Schulden umging: Er kritisierte die anderen Staaten, auch Deutschland, dass sie sich zu wenig verschuldeten, und verga, eine globale Allianz fr die Zeit nach der Krise fr das Sparen zu schaffen. Was fr ein Signal wre es gewesen, htte sich Obama, der ja einen fr amerikanische Verhltnisse starken Staat mchte, an die Spitze der Anti-Schulden-

Bewegung gesetzt! Dass ihm das nicht gelang, hat mit einer historischen Sonderbeziehung zwischen linker Politik und Schulden zu tun. Es ist kein politisches Naturgesetz, dass ausgerechnet die Linken fr das Schuldenmachen sind. Es ist vielmehr die Gegenreaktion auf die Wirtschaftspolitik der Konservativen. Denn die brgerlichen und liberalen Parteien sagen in jeder Wirtschaftskrise, der Staat knne sich nun vieles nicht mehr leisten sie verlangen Sozialabbau. Um diese Krzungen zu verhindern, kmpfen linke Politiker dafr, in einer Krise noch mehr Schulden zu machen. Denn nur so lsst sich aus ihrer Sicht der Wohlfahrtsstaat erhalten. Die Sache geht aber noch tiefer. Neoliberale haben ein erotisches Verhltnis zu sozialen Unterschieden. Die sind fr Liberale eine Feier ihrer eigenen Leistung; wenn sie religis sind, auch Vorschein gttlicher (Leistungs-)Gerechtigkeit. Dem Sozialdemokraten hingegen sind soziale Gegenstze peinlich, er mchte sie ausgleichen, freilich ohne dabei die eigene Besserstellung zu gefhrden. Und seit sich die Linken nicht mehr trauen, bei den Reichen etwas zu holen, mssen sie umso mehr in die Schulden gehen, um soziale Benachteiligung zu kompensieren. Das eigentliche Drama der Linken ist dabei, dass Schuldenmachen zwar als linke Politik gilt es dann aber immer wieder konservative Regierungen waren, die noch mehr neue Schulden anhuften. In Deutschland war es die schwarzgelbe Koalition unter Helmut Kohl, die die Schulden rasant steigen lie. In den USA waren es republikanische Prsidenten, die mit immer neuen Steuersenkungen das Problem vergrerten. Deficits dont matter, Defizite sind unwichtig: Dieser Satz stammt nicht von Keynes, sondern von Dick Cheney, US-Vizeprsident unter G George W. Bush. Doch wenn d Rechten Schulden machen, wirkt die es bei denen immer wie ein Zufall, wie ein Versehen. D Denn sie wollten ja nur die Steuern senken senken, um die Brger zu entlasten. Bei den Linken dagegen, die um den Erhalt L des Wohlfahrtsstaates kmpfen, wird das Schuldenmachen als irgendwie da typ typisch empfunden, fast genetisch, auf all alle Flle ideologisch, eben vorstzlich. Zu diesen etwas verdrehten Verhltnissen passt dann auch der Umh gan gang linker wie rechter Politiker mit der kon konomischen Theorie des Schuldenmachens: dem Keynesianismus. Es war der Republikaner Richard Nixon, der 1971 beRepublik kannte: I am now a Keynesian, und dessen a berbordende Schuldenpolitik dann dazu beitrug, berbordende Sc r ebenjenen Keynesianismus fr lange Zeit zu desavouieren. Es Keynesianismu f l die der folgte di ra d neoliberalen Denkschule, des Glaubens an lib die Selbstheilungskrfte des Marktes, der alle Regierungen weltweit dazu brachte, die Steuern immer weiter zu senken und damit den Staat nur weiter zu schwchen. Tatschlich gilt Keynes zu Unrecht als Verfechter hoher Defizite. Er gab den Regierungen nmlich nicht nur den Rat, die Wirtschaft mit hheren Staatsausgaben zu stimulieren, sollte sie tief in die Krise rutschen. Sondern die Staaten sollten vor allem alles dafr tun, dass es erst gar nicht zu solch bedrohlichen Schocks kommt. Den ersten Teil der Theorie das Schuldenmachen in der Krise verinnerlichten vor allem linke Politiker schnell. Die Berufung auf Keynes war die Camouflage ihres eigenen Schuldentriebs. Die Rechten beriefen sich dagegen nicht auf Keynes, sondern auf die Ideologie der Steuersenkungen. Das Ergebnis aber war dasselbe: immer mehr Schulden. Das Versagen fast aller Politiker beim Abbau dieser Schulden und damit beim zweiten Teil der Keynesschen Theorie sparen, reformieren, vorsorgen schob man dagegen erfolgreich den Linken allein in die Schuhe. Mittlerweile haben sich im Westen so viele Schulden aufgehuft, dass fr konjunkturfrdernde Ausgabenprogramme so gut wie kein Spielraum mehr bleibt. Wenn man so will, hat der falsche Keynesianismus die Basis fr den richtigen Keynes unterwandert. Das ist ein historischer Wendepunkt, entweder zu einem neuen Verhltnis der Linken zu Schulden oder zu ihrem strategischen Niedergang. Denn in den vergangenen Jahren sind noch drei wichtige Einwnde gegen das Schuldenmachen hinzugekommen. Da ist das pragmatische Argument: Je hher

der Anteil der Zinsausgaben an einem Staatshaushalt, desto geringer die Spielrume der Politik, etwas zu investieren und zu gestalten. Haushalte mit hohen Fixkosten reduzieren Politik auf Verwaltung. Da ist zweitens das kologische Argument: Schulden belasten genauso wie Ressourcenverbrauch und Umweltzerstrung die knftigen Generationen, sie belasten also jene, die sich dagegen nicht wehren knnen. In der Terminologie der Linken: die Schwachen. Vor allem aber ist durch die Finanzkrise ein weiteres, das fr Linke alles entscheidende Argument hinzugekommen: Der Staat, der heute Schulden macht, geht nicht zu seiner Hausbank, er sitzt keinem serisen und im Zweifel staatstragenden Glubiger gegenber, nein, dieser Schulden machende Staat steckt seine Hand in das Maul eines Lwen, er liefert sich den Rating-Agenturen aus, den Brsen, den Hedgefonds (und den Chinesen, aber das macht es auch nicht besser). Schulden unterwandern den Staat, sie machen die Politiker zu Laufburschen der Banken, zu Nothelfern der Mrkte, sie entwrdigen die Politik und die Demokratie. Wenn die Linken darauf warten, dass die Welt endlich die Ungerechtigkeit erkenne, die darin besteht, dass die Rechten die Schulden (mit) machen, fr die die Linken dann (allein) verantwortlich gemacht werden, so kann sie lange warten. Ihre einzige Chance besteht darin, die eigene Einstellung zum Schuldenmachen zu revolutionieren. Wer einen starken Staat erhalten, wer das Primat der Politik gegenber Wirtschaft und Brsen schaffen will, fr den ist Haushaltsdisziplin kein notwendiges bel, sondern zentrales Ziel, eine Herzenssache. Die Linke muss begreifen: Schulden sind rechts, Schulden sind reaktionr, Schulden zerstren den Staat und fttern die Broker. Selbstverstndlich ist es mit einer neuen Haushaltspolitik nicht getan: Wenn dem Schuldenmachen entsagt wird, dann hat das Auswirkungen auf alle Politikbereiche, weil sich gerade die Linke berall daran gewhnt hat, dass Probleme nur mit immer mehr Geld gelst werden knnen. Weniger Wachstum heit eben auch, dass es weniger zu verteilen gibt und die Gesellschaft entweder mit weniger Geld auskommen muss oder mehr Verteilungskmpfe auszuhalten hat. Eine Bemerkung zum Schluss. In Deutschland ist es zurzeit nicht die SPD, die besonders auf Schulden zielt, sondern die FDP. Sie redet unablssig von Steuersenkungen, die sich von selbst finanzieren. Dieses von selbst ist quasi die Kurzformel fr die Ideologie des Westens: Der Aufstiegsautomatismus geht weiter, soll das heien. Was dahintersteckt, ist klar: Liberalen Staatsverchtern ist es ganz recht, wenn die Schulden noch etwas wachsen. Denn dann kann man hernach umso besser mit den Sparzwngen den Staat verkleinern und die Sozialleistungen krzen. Schuld sind dann ja wieder: die Linken.

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Fotos [M]: Visum (Tresorrad); ddp images (Nelke) Montage: DZ

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4 4. August 2011

DIE ZEIT No 32

POLITIK

Ein Demonstrant schlft auf dem Tahrir-Platz in Kairo, andere kmpfen weiter (u.)

Die Geschichte sind wir!Ist die arabische Revolution gescheitert? Mitnichten. Es braucht nur viel Geduld, bis die Freiheit sich durchsetztVON JAN ROSS

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er Arabische Frhling ist vorbei. Die arabische Revolution auch? Alles ist auf einmal so mhsam und verwirrend zwischen Libyen-Intervention, deutschen Panzern fr Saudi-Arabien und dem blutigen Stellungskrieg, den das syrische Regime gegen das eigene Volk fhrt. In gypten steht die Opposition gegen die Militrfhrung, die islamistische Opposition gegen die liberale Opposition, die radikale islamistische Opposition gegen die gemigte islamistische Opposition. Man hat den berblick verloren: Sind die Reformvorschlge des marokkanischen Knigs ein Trick oder ein Fortschritt, und welche Art von Chaos herrscht gerade im Chaosland Jemen? Die Revolution wirkt unfertig, ausgebremst, stecken geblieben. Die Bilder der friedlichen Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo haben die Welt fast so bewegt wie die Bilder vom Berliner Mauerfall. War das voreilig? Haben wir die Revolution berschtzt, ist sie eine Enttuschung oder sogar schon gescheitert? Das sind unangenehme Fragen. Man darf sich aber nicht vor ihnen drcken. Nichts steht still. Jeden Tag passieren Dinge, die von einer neuen, unaufhaltsam sich verndernden Wirklichkeit im Mittleren Osten zeugen. Die Revolution ist molekular, so wie sie historisch ist. Sparer ziehen ihr Geld aus syrischen Banken ab und transferieren es nach Beirut oder Istanbul ein konomisches Misstrauensvotum gegen das Regime von Prsident Assad, der seine Herrschaft noch mit Panzern und Scharfschtzen zu retten hofft. Die Brger im reichen Golf-Emirat Qatar lassen sich von den Aufstnden, nun ja: nicht zur Revolution inspirieren, aber doch zu einem Konsumentenprotest, einer Demonstration des zivilen Ungehorsams gegen den Telekommunikationskonzern des Landes: kollektives Abschalten der Mobiltelefone fr eine Stunde, um niedrigere Gebhren und besseren Service zu erzwingen. In Misrata, der libyschen Stadt, die von den Rebellen ber Monate gegen Gadhafis Regierungstruppen verteidigt wurde, kmpfen Medizinstudentinnen um das Recht, wie ihre mnnlichen Kommilitonen am Krankenbett Praxiserfahrung sammeln zu knnen ein Recht, das ihnen in den Tagen der Belagerung, als dauernd Verwundete versorgt werden mussten, geradezu aufgentigt wurde. Die ganze Region ist voll von Geschichten der Neugier und der Unruhe. Auch von Leid und Scheitern dafr stehen die wahrscheinlich bereits mehreren Tausend Toten, die der berlebenskampf des syrischen Regimes bislang gekostet hat. Aber kein Mensch kann bestreiten, dass die arabische Welt des Sommers 2011 von der des Sommers 2010 auf grundstrzende Weise verschieden ist. Nein, wir haben die Revolution nicht berschtzt. Sie wurde allerdings mit einem irrefhrenden geschichtlichen Vergleich bedacht einem Vergleich, der ihrer Gre angemessen ist, ihre Natur jedoch verkennt. Das war der Vergleich mit den Revolutionen von 1989, dem kartenhausmigen Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Europa: heute Warschau, morgen Budapest und Prag, ber-

morgen Ost-Berlin, dann Bukarest, am Ende Moskau. Der arabische Aufbruch, bei dem eine Region von 350 Millionen Menschen ihr historisches Rendezvous mit der Freiheit hat, ist tatschlich die wichtigste gute Nachricht auf unserem Planeten seit dem Untergang des Ostblocks, der Weltmacht Sowjetunion und der marxistisch-leninistischen Ideologie. Aber er folgt nicht dem Muster von 1989. 1989 nmlich liefert berhaupt kein Muster, es war mitnichten eine typische Revolution, es war vielmehr eine krasse Ausnahme. Man bersieht das leicht, denn es war unsere Revolution; die mittleren und lteren Jahrgnge haben sie bewusst miterlebt und messen jede historische Umwlzung automatisch daran. In Wirklichkeit war die Lage der mitteleuropischen Vlker und Regime damals vollkommen einmalig: eine herrschende Weltanschauung, an die niemand mehr glaubte; eine alternative politische Ordnung, die im Westen fertig bereitstand; eine EU, fr die ihre stlichen Nachbarn im Grunde nicht Neuzugnge, sondern Heimkehrer waren. Das erklrt den dramatischen Kollaps der alten Macht und den raschen Neuaufbau. Es erklrt auch die notwendige Enttuschung, wenn man diese Geschwindigkeit und diesen Erfolg von irgendeinem anderen Umsturz erwartet. Den besseren Vergleichspunkt fr den arabischen Umbruch liefern die europischen Revolutionen des spten 18. und des 19. Jahrhunderts, von 1789 in Frankreich bis 1848, als der gesamte Kontinent gegen Unterdrckung und Fremdbestimmung rebellierte: in Frankreich, Deutschland, Polen, sterreich, Ungarn, Italien. Es waren die Revolutionen, in denen das Brgertum, der dritte Stand, die nicht adligen Normalmenschen, sich gegen die berlebte Macht und die Privilegien von Knigtum, Aristokratie und Geistlichkeit erhoben so wie heute in den arabischen Lndern eine gut ausgebildete Mittelschicht und frustrierte Volksmassen sich gegen erstarrte und korrupte Herrschercliquen, gegen einen Feudalismus des 20. Jahrhunderts, erheben. In den europischen Revolutionen wurde um die Durchsetzung der Moderne gekmpft, um Kapitalismus, liberale Gesellschaft, Rechtsstaat und Demokratie so wie heute die arabische Welt um den Anschluss an das 21. Jahrhundert ringt. Entscheidend ist: Diese revolutionre Geschichte des 19. Jahrhunderts war ein zher, langwieriger, von Rckschlgen unterbrochener Prozess. Aufstnde wurden niedergeschlagen, Siege durch Extremismus oder Feigheit verspielt, alte Herrschaftsverhltnisse durch Putsch oder auswrtige Intervention wiederhergestellt. Als Napoleon, der auch als Kaiser und Eroberer noch etwas vom Geist der Franzsischen Revolution verkrperte, nach Jahrzehnten europi-

scher Kriege 1815 endgltig geschlagen und auf die Atlantikinsel St. Helena verbannt worden war, wollten die Siegermchte, die reaktionren Staaten Preuen, sterreich und Russland, die Uhr zurckstellen. Frankreich und der ganze Kontinent sollten zur Zeit vor 1789 zurckkehren. Gestrzte Frsten wurden wieder auf ihre Throne gehoben; eine ra der kleinlichen staatspolizeilichen Kontrolle, Spitzelei und Repression begann. Aber, und das ist der zweite entscheidende Punkt, es funktionierte nicht wirklich. Die Restauration konnte die revolutionren Krfte fr eine Weile unterdrcken, sie konnte sie aber nicht ersticken, und sie vermochte das Alte auch nicht zu restaurieren. Das Frankreich von 1820 war nicht das wiedererstandene Frankreich von 1780, sondern eine antiquierte Staatsfassade aus politischer Pappmaschee, hinter der sich

des finsteren Nachbarn Syrien ber die libanesischen Staatsangelegenheiten brach. Es war ein komplett neugeborenes, befreites Land, das in diesen Tagen zu entstehen schien der Mrtyrerplatz, auf dem sich die Demonstranten von Beirut versammelten, bot einen Vorgeschmack des Kairoer Tahrir-Platzes. Doch dann gewannen Syrien, seine libanesischen Strohmnner und die mit ihnen verbndete Gromacht Iran den verlorenen Boden zurck und stieen den Libanon in die politische Entmndigung zurck. Die Zedernrevolution scheiterte. Es ist ein Schicksal, das auch den Revolutionslndern von 2011 drohen knnte. Interventionen von auen haben Tunesien oder gypten, die Avantgarde-Staaten der Arabellion, zwar kaum zu frchten. Doch die Machtergreifung durch die eigenen Streitkrfte, die Militrdiktatur, bleibt eine Gefahr.

lngst ein anderes, moderneres Sozialgebude erhob. Die Gesellschaft wurde in rasantem Tempo brgerlich, auch wenn noch so viele Grafen und Herzge durch die Salons der Neureichen spazierten und weiterhin ihre Nase hoch trugen. Die Presse wurde zensiert und schikaniert, aber sie war trotzdem eine Macht, und abschaffen konnte man sie nicht mehr sowenig, wie heute irgendein arabischer Diktator das Internet zum Verschwinden bringen kann. Die Vergangenheit wehrte sich, doch es blieben Rckzugsgefechte, und die historische Tiefenstrmung ging unaufhaltsam in die Zukunft. Dieses Ineinander von hundert Krisen und einer groen, trotz allem durchlaufenden Fortschrittstendenz muss man sich vor Augen fhren, um die Chancen der arabischen Revolutionen realistisch einzuschtzen. Kurz- und mittelfristig ist keiner ihrer Erfolge gesichert. Nicht nur knnen Rebellionen unterdrckt werden wie die Unruhen in Bahrain, die mithilfe einer Intervention der benachbarten Golfstaaten niedergeschlagen wurden. Es kann auch bereits siegreichen Revolutionen ihr Sieg wieder entrissen werden. Der Libanon erlebte 2005, nach dem schockierenden Mord an dem frheren Ministerprsidenten Rafik Hariri, eine demokratische Protestbewegung, die den Geist der ngstlichkeit aus der politischen Kultur des Landes vertrieb und die Macht

Sowjetunion, dann die Krise der Vereinigten Staaten und schlielich den fortschrittlichen Umbruch der islamischen Welt vorhergesagt hat, stellt fest: Bei aller Rckstndigkeit stecken die arabisch-muslimischen Gesellschaften lngst im Prozess der Modernisierung, mit steigendem Bildungsniveau und fallenden Geburtenraten. Die Bevlkerungen werden anspruchsvoller, die Beziehungen zwischen Mnnern und Frauen wandeln sich; die Kinder, die Schulabschlsse haben, erkennen nicht mehr selbstverstndlich die berlegenheit ihrer Eltern an, die Analphabeten sind. Alles sieht noch konservativ und patriarchalisch aus, aber die Autoritt des Vaters und damit der Inbegriff aller Autoritt ist bereits brchig geworden. Das bleibt nicht ohne Folgen fr Gesellschaft und Staat. Wenn man lesen und schreiben kann, bemerkt Todd, kann man ein Flugblatt lesen und sogar eines verfassen. Politische Teilnahme wird dadurch zum natrlichen Vorgang. Auch er stellt den Vergleich mit der europischen Geschichte an: Die FranzsiTRKEI Mittelmeer sche Revolution brach aus, als 50 Prozent der Menschen im SYRIEN TUNESIEN IRAN LIBANON Pariser Becken schreiben konnMAROKKO ten. Und er findet im Blick auf damals die heutigen VernALGERIEN QATAR LIBYEN derungen keineswegs enttuSAUDIschend langsam, im Gegenteil. GYPTEN ARABIEN Frankreich, das fortgeschrittenste Land des Kontinents, MALI brauchte rund ein Jahrhundert NIGER TSCHAD SUDAN und furchtbare politische KonZEIT-Grak JEMEN 1000 km vulsionen, bis es jene brgerliche Republik einigermaen Und dennoch: Eine echte Rckkehr in die Ver- stabil errichtet hatte, die schon das Ziel der Revolugangenheit, eine wirkliche Restauration wird es so- tion von 1789 gewesen war. Im Verhltnis dazu wirkt wenig geben wie im 19. Jahrhundert. Man stelle sich der gegenwrtige Umbruchprozess bisher ungeheuer vor, nach einer scharfen reaktionren Wende in der komprimiert und in seiner Richtung erstaunlich gyptischen Regierungspolitik, nach einer Konter- sicher. Denn so abgeschottet und kontrolliert ist kein revolution, wrden die Massen noch einmal, wie arabisches Land, dass seine Bewohner nicht wssten, gegen Mubarak, auf den Tahrir-Platz strmen. Auch wie man im 21. Jahrhundert leben kann und wie ein das wre keine Rckkehr zum Nullpunkt, es wre anstndiger Staat seine Brger behandelt. Es gibt, von nicht mehr dieselbe Situation wie unter dem alten der wirtschaftlichen Effizienz bis zu den MenschenRegime, denn das Volk wre nicht mehr dasselbe: Es rechten, inzwischen globale Standards, die nicht unhat inzwischen die Erfahrung seiner Kraft gemacht, widersprochen verletzt werden und die dem Protest es hat die Herrschenden einmal in die Knie gezwun- seine Orientierung geben. In Revolutionen, knnte man denken, wird gen und wrde wissen, dass ihm das wieder gelingen kann. Diese Revolution hat nicht einfach mit der vor allem Mut gebraucht, und natrlich ist er sehr Vernderung der Machtverhltnisse zu tun, sondern wichtig. Aber noch wichtiger ist die Geduld vom mit der Vernderung von Menschen mit ihrem Auf- langem Atem beim Kampf mit dem Regime bis bruch aus jahrzehntelanger Passivitt, mit ihrem Sieg zur Gelassenheit, mit der das Volk nach einem ber die eigene Angst, mit der Wiedergewinnung siegreichen Umsturz die tausenderlei berreste jener schwer greifbaren und zugleich fundamentalen der Vergangenheit und die Drftigkeit des LeGre, die das Schlsselwort der gesamten Bewegung bensstandards ertragen muss, der zunchst nicht dieses Jahres 2011 liefert: Wrde. Sie kann niemand besser, sondern schlechter wird. Die arabischen Vlker mssen in diesen Monaten alle ihre Zhigwieder wegputschen. Zumal auch diesmal, wie beim Aufstieg des Br- keit und Ausdauer mobilisieren. Wir, die wir nur gertums und dem Siegeszug der Moderne in Europa, manchmal am Rande etwas helfen und meist blo die Basisdaten fr die Revolutionre sprechen. Der zuschauen knnen, sollten wenigstens als Publifranzsische Soziologe Emmanuel Todd, der mit ge- kum unseren kleinen Beitrag zur revolutionren radezu unheimlicher Hellsicht erst den Untergang der Geduld leisten.

Fotos: Khalil Hamra/AP (gr.); Panos Pictures/VISUM (kl.)

POLITIK

4. August 2011 DIE ZEIT No 32

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Alles nur wegen der MieteSie dachten, sie seien eine Minderheit doch pltzlich waren Hunderttausende auf den Straen Tel Avivs. Aus spontanem Protest knnte ein groer Aufbruch werden VON ETGAR KERET

Rebellische Botschaft

Wie wre es mit einem Vertreter in Deutschland?

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m symbolischen 14. Juli, dem Tag des wei was noch alles. Aber die Mittelschicht steckt Sturms auf die Bastille, schlug eine zwischen beiden fest: Ohne die wirtschaftliche Gruppe junger Israelis ihre Zelte auf Macht, um das System zu schmieren, aber mit dem Rothschild Boulevard mitten in gerade genug Wohlstand, um Angst zu haben, es Tel Aviv auf. Eigentlich sollte es ein spontaner, zu verlieren. Deswegen hat man uns jahrelang geetwas hippiemiger Protest gegen die hochschie- molken. Aber das ist jetzt vorbei. Alon spricht von der Mietpreiskrise und vom enden Mietpreise werden, die heute fr arbeitende junge Menschen kaum mehr bezahlbar Geld; trotzdem ist sprbar, dass es hier noch um sind. Ohne klar abgesteckte politische Agenda, etwas anderes geht. Es gibt ein Gefhl der Entfremaber mit viel positiver Energie ausgestattet, ver- dung vom israelischen Parlament, der Knesset, die grerte sich der Protest innerdoch eigentlich fr uns sprechen halb weniger Stunden und breitesollte. Man fhlt sich unverstanden te sich schnell auch auf andere E T G A R K E R E T von den Politikern, die Tag fr Tag Stdte aus. Ein allgemeines GeGesetze verabschieden, die nur fhl der Emprung und FrustraSiedler, Ultra-Orthodoxe und antion lockte immer mehr Mendere Lobby-Gruppen begnstigen. schen an. Bald war klar, dass sie Fr all jene, die sich nun entschloskeiner kleinen Minderheit angesen haben, die bestehenden Verhlthrten, sondern wesentlich mehr nisse nicht lnger zu dulden und auf Macht hatten, als sie von sich die Strae zu gehen, hat die Regieselbst vermutet hatten. Sptestens rung sich bisher nicht interessiert. jetzt ist allen israelischen Politi- ist israelischer Regisseur Es ist kein Zufall, dass die Dekern klar, dass sie diese Bewegung und Verfasser mehrerer monstrationen an dem Tag beganBestseller, darunter auch nen, an dem im Fernsehen das Finicht lnger ignorieren knnen. Meine Frau und ich waren Alles Gaza (mit dem nale von A Star is Born, der israeliTeil dieser Demonstration. An- Palstinenser El-Youssef ) schen Version von DSDS, lief. Die ders als bei anderen DemonstraBotschaft, die ein Protest, der gegen tionen wirkten die Menschen um das beliebteste Fernsehprogramm uns herum optimistisch. Die vielen Kinder ga- des Landes ins Rennen geht, sendet, ist klar: Neben ben dem Ganzen die Atmosphre eines Picknicks dem aufgeregt herumfuchtelnden Israel, das einer oder Rockkonzerts. dauernden Gehirnwsche unterzogen scheint, gibt Den harten Kern dieser Bewegung machen laut es noch ein anderes, ein intellektuelles Israel, das Medienberichten vor allem Studenten und Ange- seine gewhlten Vertreter und sich selbst heute hrige der Mittelklasse aus. Die Mittelschicht ist daran erinnern mchte, dass es existiert. Auf den die gesellschaftliche Klasse, die du am einfachsten ersten Blick wirkt es seltsam, dass sich ausgerechnet ber den Tisch ziehen kannst, erklrt mir Alon, diese Gruppe von modisch gekleideten Israelis nicht ein Demonstrant, der einen Babywagen vor sich reprsentiert fhlt: Unter den Demonstrierenden herschiebt. Die Armen knnen sich alles erlauben sind Knstler, Juristen, Wissenschaftler und rzte die haben ohnehin nichts zu verlieren. Die Rei- nicht gerade der klassische Typus des entrechteten chen knnen die besten Anwlte bezahlen und wer Brgers, der sich seinen Vertretern nicht verstndlich

Aus dem Englischen von JULIA LEY Der Text erscheint auch in dem jdischen Online-Magazin Tablet

Vorsicht, ihr Berufspazifisten!Der Mord am Militrchef der libyschen Rebellen kann kein Anlass sein, die Bewegung zu diskreditieren VON BERNARD-HENRI LVYer Mord an General Abdel Fatah Junis, weil er aber keineswegs die einzige Schlsselfigur Militrchef der libyschen Rebellen, hat war. Es gibt Berufsoffiziere und zivile Kommanschlimme Auswirkungen auf die Koaliti- danten, die ebenso tapfer und fhig sind wie Juon. Mit Junis hat sie einen Offizier verloren, den nis. Und schlielich hat sein Tod keine der drei beispielsweise Nicolas Sarkozy noch am 14. April Fronten (Brega, Goualich und die Umgebung in Paris empfangen hatte. Dennoch kann man von Misrata) einbrechen lassen im Gegenteil. Drittens: Eine vom bergangsrat eingesetzte nicht von einer militrischen und politischen Katastrophe sprechen, wie es diejenigen tun, die in Untersuchungskommission soll die Umstnde des den USA und in Europa jede Gelegenheit wahr- Mordes erhellen. Eins jedoch ist jetzt schon klar.: nehmen, die Aufstndischen zu diskreditieren. Ihr Die Art, wie man sich seit einigen Tagen der Tat wichtigstes Argument diesmal: Die Tatsache, dass bedient, um den bergangsrat als eine bunt zudie Identitt der Tter und die Umstnde des Mor- sammengewrfelte und aus untereinander zerdes ebenso unklar seien wie der Anschlag selbst, strittenen Elementen bestehende Koalition darwerde die strukturelle Schwche des Nationalen zustellen, ist absurd und beweist einen besorgnisbergangsrates und den zunehmenden Dissens in erregenden Mangel an Geschichtsbewusstsein. seinem Inneren deutlich zeigen. Dieser Darstel- Besser als jeder andere wei ich, dass es im Rat Unlung setze ich die folgenden berlegungen und zeitgeme und Moderne gibt, Stammesvertreter Erwiderungen entgegen. und Reprsentanten der urbanen Mittelschicht, Ex-Gadhafisten, Erstens: Alle WiderstandsbeweERN ehemalige Islamisten, langjhrige gungen, alle bewaffneten Aufstnde B V Y A R D H E N R I L Oppositionelle, berzeugte Versahen sich in derartige Dramen verwickelt. Die franzsische Rsistance treter der Menschenrechte. Daraus etwa wurde durch Verrat einiger kann man aber nicht ableiten, dass ihrer wichtigsten Vertreter beraubt, dieser bergangsrat zerbrechlich oder gar illegitim wre. Damit allen voran der groe Jean Moulin. In Afghanistan wurde Achmed wrde man auer Acht lassen, dass Schah Massud, Chef der Nordallidie demokratische Strmung die berwltigende Mehrheit bildet anz, ermordet, nachdem er in seinem eigenen Machtbereich durch Der Philosoph ist einer und jeden Tag neue Erfolge zu vereinen seiner scheinbar zuverlssigs- der einflussreichsten zeichnen hat. Man wrde auch hier ten Gefolgsmnner verkauft wor- Publizisten Frankreichs wieder vergessen, dass Widerstandsbewegungen in der Geden war. Vergleichbares spielte sich und ein Befrworter der schichte immer, fast per definitioin der algerischen FLN ab: Einge- Libyen-Intervention nem, aus derartigen Koalitionen schleuste Agenten und vom franzbestanden. Wenn man diese Tatsischen Geheimdienst umgedrehte Widerstandskmpfer dezimierten ihre Reihen. sache leugnet und wie im Algerien der FLN nur Revolutionen werden von Schlferkommandos, einen einzigen Kopf sehen will entwickeln sich Fnften Kolonnen, fr fremde Zwecke missbrauch- die Dinge nicht gerade dann zum Schlechten? Und ten Gangs bedroht. Und wie jeder wei, der ber msste man dann nicht auch der franzsischen ein Minimum an Geschichtsbewusstsein verfgt, Widerstandsbewegung von 1940 im Nachhinein war ihre politisch-militrische Fhrung schon immer vorwerfen, dass sie in London Vertreter der Linken eine beliebte Zielscheibe von Doppelagenten, von und der Rechten zusammenbrachte, Republikaner, Ttern, die aus dem Dunkel kommen. Insofern war die ihre verlorenen Werte betrauerten, und Mnner der Tod von Junis leider keine Ausnahme. Und es der Action franaise, die die Republik fr die Niebraucht die ganze Unaufrichtigkeit der Berufspazi- derlage verantwortlich machten, Freimaurer und fisten, also der indirekten Untersttzer von Gadha- Nationalisten, Kommunisten und Sozialisten, Gaulfi, um die Tat als Beweis fr das Chaos zu werten, listen und sogar Antigaullisten? Die Gerchte ber Brche innerhalb der libydas in der Provinz Cyrenaika angeblich herrscht und das wir uns vor unserer Entscheidung zur Interven- schen Opposition sind bedeutungslos. Nach der Ermordung eines der Ihren sind sie mehr denn je tion nicht klargemacht htten. Zweitens: Natrlich ist der Mord ein schwerer dazu verdammt, ihre Krfte zu sammeln und zu Schlag fr die Rebellen in Bengasi. Umso mehr, siegen. Die westliche Koalition ihrerseits hat keials der bergangsrat mit Junis einen seiner Kom- nerlei Grund, schwach zu werden, zu zweifeln oder mandanten verliert, der als frhere Nummer gar darber nachzudenken, ob sie einen der blutzwei hinter Gadhafi dessen Psychologie am bes- rnstigsten Tyrannen der arabischen Welt wieder ten kannte, die Geheimnisse und das Rderwerk in den Sattel heben sollte: In der Stunde, in der ein der Macht, die Bunker, die sie gemeinsam ent- anderer Diktator, in Syrien, sein Volk in jenen worfen hatten, seine Taktik und Strategie. Es ist Strmen von Blut ertrnkt, die Gadhafi Libyen ein schwerer, aber kein tdlicher Schlag. Vor al- versprochen hatte, ist es wichtiger denn je, dass das lem, weil Junis zwar das feindliche System von Unternehmen zu Ende gebracht wird. innen kannte und darber hinaus das Vertrauen der Alliierten und besonders Frankreichs genoss, Aus dem Franzsischen von ELISABETH THIELICKE

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Fotos (Ausschnitte): Ulf Andersen/Gamma/laif (r.); Soubeir Souissi/Reuters (l.); Imago (m.; u.);

machen kann. Doch im Israel des Jahres 2011 sind es diese Menschen, die keine genuine politische Reprsentanz finden und sich angesichts der Schwemme neuer Gesetze, die ihre fundamentalen Grundrechte einschrnken, nicht wohlfhlen. In der Ibn-Gevirol-Strae steht eine junge Frau mit roten Haaren, sie hlt ein Plakat hoch, auf dem zu lesen ist: Was ich zu sagen habe, ist zu kompliziert fr dieses Plakat. Fr mich trifft dies direkt ins Herz des Protestes. Es ist schwer vorauszusagen, ob sich dieser spontane Protest in eine lngerfristige Bewegung verwandeln wird. Alles hngt davon ab, was das rothaarige Mdchen bei der nchsten Demonstration auf sein Plakat schreiben wird; es hngt davon ab, ob es den Demonstranten gelingt, ihren Protest in klare Forderungen zu bersetzen, die von den Mchtigen nicht lnger ignoriert werden knnen. Wenn es am Ende nur um unzufriedene Verbraucher geht, die sich ber den Preis von Wohnungen und Httenkse mokieren, dann wird bald alles vergessen sein. Aber ich will daran glauben, dass mehr daraus werden kann. Kurz bevor er in dem Gedrnge wieder verschwindet, sagt Alon noch: Die Armen kmpfen fr Brot. Wir sind auch hungrig, aber nicht auf Brot. Wonach hungert ihr?, frage ich. Auf ein Land, das etwas weniger herzlos ist, sagt er und gibt dem Baby ein Flschchen. Ein Land, das nicht nur eine Kultur von Gewalt und Macht frdert, sondern auch eine des Mitgefhls schtzt. Jdisch zu sein heit nicht nur, Siedler zu sein, wissen Sie; jdisch zu sein bedeutet auch, mit anderen mitzufhlen. Ich kann das bezeugen. Sie glauben mir nicht? Dann gehen Sie nach Hause und googeln es.

Die libysche Revolution erfasst auch Gadhafis der Bundesregierung zur unerwnschten Person Gesandte. Grobritannien und Frankreich ver- erklrt worden ist, wegen Bedenken der Sicherweisen Diplomaten, die noch immer dem Dik- heitsbehrden. Der Vorgang zeigt, wie schwierig tator von Tripolis anhngen, des Landes. In es ist, aus der teilweise blitzartig gewendeten Brssel und Den Haag haben die Oppositio- Gadhafi-Diplomatenschar Ansprechpartner henellen schleichend und friedlich die nationalen rauszufiltern, die politisch akzeptabel sind. Ein Vertretungen bernommen, in Sofia warfen lupenreiner Rebell drfte auch Noch-Botschafter Rebellen den Botschafter kurzerhand aus dem al-Baraq nicht sein. Aus einer anderen libyschen Haus. Und in Deutschland? Aus dem Liby- Botschaft in Europa ist zu erfahren, dass al-Baraq schen Volksbro in Berlin-Dahlem ist nichts sich zwar zur Opposition bekenne deren volles Genaues bekannt. Hchste Zeit, zu fragen: Vertrauen geniee er aber nicht. Wer arbeitet eigentlich hier? Na und?, knnte man sagen, die BundesregieSalem aleikum, sagt der rung hat doch den Nationalen Mann am Telefon. bergangsrat in Bengasi als leGuten Tag. Wer bitte fhrt gitimen Vertreter des libyschen bei Ihnen die diplomatischen Volkes anerkannt. Richtig. Aber Geschfte, die Opposition oder diplomatisch hilft das wenig. Das Gadhafi-Vertreter? Vlkerrecht kennt keine AnerTut mir leid, das ist nicht kennung von Regierungen, es mein Zustndigkeitsbereich. kennt nur die Anerkennung von Sprechen Sie bitte mit Frau XY. Staaten. Und das StaatsoberFrau XY: Dazu kann ich Ih- Wer spricht da? Libyens haupt von Libyen ist immer noch Botschaft in Dahlem nen keine Ausknfte geben. Muammar al-Gadhafi, obwohl Warum nicht? Es ist doch er, wie die Bundesregierung urwichtig, zu wissen, wer Libyen in Deutschland teilt, seine Legitimitt gnzlich verloren habe. vertritt. Wie aber kann dann sein Botschafter in Berlin Die Botschaft hat sich zur Opposition be- noch Legitimitt genieen? Da seufzen die Jukannt. Das sieht man an der Flagge. risten im Auswrtigen Amt. Es sei, heit es pragUnd wer ist der Botschafter? matisch, momentan einfach wichtig, einen Kanal Der Botschafter ist immer noch Herr al-Ba- ins Land offen zu halten. raq (der von Gadhafi bestellte Botschafter). Was die Bundesregierung am liebsten she, Gibt es also einen Machtkampf bei Ihnen? wre, dass der Rebellenrat einen Vertreter nach Ich mchte dazu nichts sagen. Deutschland schickte. Er htte einen Status wie Was wir auch ohne Auskunft annehmen dr- einstmals der stndige Vertreter der DDR in fen, ist, dass Botschafter Dschamal al-Baraq in Bonn; die hatte die Bundesrepublik vlkerrechtgewisser Weise die Seiten gewechselt hat. Als vor lich auch nie anerkannt. Dazu sind die Rebellen wenigen Wochen der Vorsitzende des libyschen bisher allerdings nicht gekommen. Nach London Rebellenrates nach Berlin kam, geleitete ihn al- und Paris, ja, dahin schickten sie umgehend BeBaraq durch die Hauptstadt. Mittlerweile ist aber sondere Gesandte. Berlin dagegen scheint so auch bekannt, dass ein Vertrauter al-Baraqs von dringlich nicht zu sein. JOCHEN BITTNER

POLITIK & LYRIKSeit dem 10. Mrz versuchen wir im Politikteil der ZEIT, Politik von einer anderen Seite und auf andere Art wahrzunehmen. Elf Lyrikerinnen und Lyriker verfassen eigens fr die ZEIT Gedichte, sie zeigen uns ihre Sicht auf die Politik. Womit wir anfangs nicht gerechnet hatten, das ist die Flle und Dichte der Ereignisse, wie wir sie seit Anfang dieses Jahres erleben. Die Gedichte wurden dabei hufig sehr aktuell. Diese Woche widmet sich Herbert Hindringer den Attentaten in Norwegen. Bislang sind 27 Gedichte erschienen.

6 4. August 2011

DIE ZEIT No 32

POLITIK

Welche rechte Gefahr?Islamisten beobachtet der Verfassungsschutz genau, Rechtspopulisten so gut wie gar nicht. Wird der Massenmord von Norwegen daran etwas ndern? VON CHRISTIAN DENSOem Entsetzen ber den antimuslimischen Attentter von Norwegen, ber seine 77 Morde, folgt die Frage nach den Konsequenzen. Wird es Nachahmer geben, womglich auch in Deutschland? Wie gro, wie gefhrlich ist die rechtspopulistische Szene, und vor allem: Welches Gewaltpotenzial steckt in ihr? Die beunruhigende Antwort lautet, dass die Verfassungsschtzer des Bundes und der Lnder dazu momentan nicht genau Auskunft geben knnen weil sie Rechtspopulisten nur sehr oberflchlich im Blick haben. Die islamophobe Rhetorik, mit der Anders Behring Breivik seinen Massenmord rechtfertigt, findet sich auch in Dutzenden deutschen rechtspopulistischen Blogs. Deren Anzahl ist in den vergangenen Jahren gestiegen, sie hat die Angst vor einer angeblich drohenden berfremdung geschrt und sich in Brgerbewegungen wie Pax Europa und Parteien wie Die Freiheit institutionell verfestigt. Doch in den Jahresberichten des Bundesamtes fr Verfassungsschutz wurden Rechtspopulisten in den vergangenen fnf Jahre nur selten erwhnt. Wir haben die rechtspopulistische Szene im Blick. Systematisch beobachten drfen wir sie aber nicht. Dafr sind die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfllt, sagt ein Sprecher des Bundesamtes fr Verfassungsschutz. Die Ausnahme taucht im Bericht fr das Jahr 2010 auf: Es geht um die Brgerbewegungen Pro Kln und Pro NRW, die personell verwoben sind. Pro Kln wurde von ehemaligen Mitgliedern der NPD und der Republikaner gegrndet und mit ihrer Kampagne gegen den Bau der Klner Moschee bekannt. Pro NRW ging aus dem Bndnis hervor. Bisher ziehen die Nachrichtendienstler ihre Einschtzungen im Wesentlichen aus offenen Quellen wie Parteiprogrammen oder dem Blog Politically Incorrect (PI). Immer wieder haben sie geprft, ob auch Rechtspopulisten verfassungsfeindliche Bestrebungen zeigen so wie Rechtsextremisten, die sich beispielsweise eine Diktatur wie das Dritte Reich zurckwnschen. Aber die Verfassungsschtzer wurden nicht fndig. So gibt sich PI, ein Leitmedium der deutschen Islam-Opposition, proisraelisch, pro-amerikanisch und bekennt sich ausdrcklich zum Grundgesetz. Damit erfllt die Seite laut dem Bundesamt fr Verfassungsschutz nicht die

Profi-Teufelskerlelaufen 100 Meter Amok unter 3 Minuten, einmal um die ganze Welt ein Staellauf durch alle Gesichtsbcher, oh Gott, wir sind fassungslos ihr auch? Nur Amy Winehouse als Stolperstein Fuck Amy, es sind 77 unschuldige Menschen gestorben, oh

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meine Gte, deine Gte, was fr ein Arschloch, Hans-Peter Uhl (CSU) sagt: In Wahrheit wurde diese Tat im Internet geboren

Da nehmen wir doch gleich Erziehungsurlaub, bilden uns fort und weiter im Text: Wir sind die deutsche Synchronstimme des norwegischen Volkes immerhin sind wir nicht verfassungslos und wachsen sorglos auf

dem Boden der Tatsachen fest gehen in die Kneipe, denn drauen ndet das wahre Leben statt Tod statt, das gilt auch fr hier drinnen, ein Bier, wir nicken und schtteln Kpfe und Hnde, wissen mehr als andere: In was fr Zeiten wir nur leben

aber nicht lieben, Herzschmerz ist eine App, die man als Wecker benutzt in den nsteren Nchten, in denen Haustiere sterben wacht man als Achtjhriger auf und Satan liegt unter dem BettFotos: Michael Gottschalk/ddp (Ausschnitt); Judith Sombray (SW)

schnurrt wie eine Erinnerung, so wird der Kopf zum Fall von ganz oben wartet auf Knien und auf Gedeih und Verderb und auf den nchsten Knall

POESIE NRO: 22

gesetzlichen Voraussetzungen fr die geheimdienstliche Beobachtung, die erheblich weiter geht. Erst wenn die Verfassungsschtzer neben aufflligen Meinungsuerungen auch Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung erkennen, drfen sie eine Organisation nicht nur im Blick haben, sondern auch systematisch beobachten. Dann knnen sie Akten anlegen, Verdchtige observieren und Ausknfte ber sie bei Banken, Fluglinien oder Telefonanbietern einholen. Bestrebungen? Ein vager Begriff, der Interpretationsspielraum lsst. Er bezeichnet Versuche, Taten, die deutlich ber bloe Meinungsuerungen hinausgehen, politisch motivierte, zielgerichtete Aktivitten, mit denen etwa die im Grundgesetz verankerten Menschenrechte beseitigt werden sollen. Die Prfung, wer vom Verfassungsschutz systematisch beobachtet werde, sagt der Sprecher des Bundesamtes, ist ein am Bundesverfassungsschutzgesetz ausgerichteter, komplexer Prozess. Niemand kann sich einen Geheimdienst wnschen, der auerhalb des Rechts agiert. Aber das Gesetz ist seit Jahrzehnten im Wesentlichen unverndert, und nun, nach Oslo, stellt sich die Frage: Verhindern die Vorschriften womglich, dass die Gefahr des Rechtspopulismus richtig ausgelotet wird? Wie soll rechtzeitig erkannt werden, wann aus Meinungen Bestrebungen werden? Wenn hasserfllte Worte zu Gewalttaten fhren? Wir mssen uns nach den Taten von Norwegen fragen, ob Rechtspopulisten, die offen Islamhass propagieren, damit nicht auch Grundrechte und das Grundgesetz in Frage stellen und dementsprechend behandelt werden mssen, sagt der SPDInnenexperte Michael Hartmann. Wie wichtig es ist, dass der Verfassungsschutz eine solche Szene beobachtet und durchdringt, sieht man an den Islamisten. 2007 durchleuchteten neben Polizisten auch Verfassungsschtzer die Sauerland-Gruppe, lange bevor sie einen Anschlag begehen konnte. Im Frhjahr dieses Jahres hatten die Dienste wohl groen Anteil daran, dass in Dsseldorf eine hnliche Zelle frhzeitig aufflog. Sicherheitsbeamte nennen die Zusammenarbeit von Polizei und Geheimdiensten im Berliner Terrorismusabwehrzentrum GTAZ und im gemeinsamen Internetzentrum GIZ entscheidend fr solche Erfolge im Anti-Terror-Kampf.

Im Fokus der Verfassungsschtzer steht seit einiger Zeit auch der Salafismus, eine ultraorthodoxe Spielart des Islam. Der 21-jhrige Islamist Arid U., der Anfang Mrz zwei US-Soldaten auf dem Frankfurter Flughafen erschoss, wurde offensichtlich auch durch derartiges Gedankengut radikalisiert. Die deutschen Vertreter der Salafisten-Szene aber rufen so gut wie nie offen zur Gewalt auf. Im Moment lsst sich nur schwer abschtzen, ob aus dem ersten antimuslimischen Terroranschlag eine neue Bedrohung erwchst. Erste Anzeichen dafr sehen die Verfassungsschtzer schon selbst. Im Jahresbericht 2010 warnt das Bundesamt fr Verfassungsschutz vor Kooperationsbestrebungen von Rechtsextremisten und Rechtspopulisten auf europischer Ebene. Der bayerische Landesamts-Chef Burkhard Krner sprach diese Woche von einer mglicherweise neuen Form des Extremismus, der sich gegen

Muslime und die Religionsfreiheit wende. Und Alexander Eisvogel, Vizeprsident des Bundesamtes, sagte dem Spiegel, die Taten und Schriften von Anders Breivik seien eine Blaupause fr Nachahmer. Liefert der norwegische Attentter mit seiner brisanten Mischung aus einer Tat, die wie ein Fanal wirkt, und der genauen Anleitung dazu in seinem Manifest den Zndfunken fr die Szene? Die Nachrichtendienstler schauen deshalb jetzt wieder genauer hin: Welche Kommentare werden in Reaktion auf Norwegen geschrieben? Gibt es Impulse zu einer Radikalisierung? Wolfgang Bosbach (CDU), Vorsitzender des Bundestagsinnenausschusses, sagt es so: Um eine Gefahr abwehren zu knnen, muss ich zunchst wissen, ob es sie gibt.Siehe auch Seite 49 und Seite 60

HERBERT HINDRINGER, 1974 in Passau geboren, lebt seit 2006 in Hamburg. Bei yedermann erschien unter anderem der Gedichtband Distanzschule. Im Oktober 2011 erscheint im Fixpoetry Verlag die gemeinsam mit Judith Sombray geschriebene Gedichtsammlung Nhekurs

Gegen Moscheen, fr Rechtspopulisten: Eine Demonstrantin der Brgerbewegung Pro Kln

POLITIK

4. August 2011 DIE ZEIT No 32

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Bleiben drfen nur die BravenMit Entlassungswellen zwingt Ungarns Ministerprsident Orbn die staatlichen Medien auf seinen KursVON ALICE BOTAFoto (Ausschnitt): ullstein

Viktor Orbn nach dem Wahlsieg seiner Partei Fidesz im Jahr 2010

Budapest ie Kndigungen sie sind also nicht politisch motiviert, kein Versuch, unliebsame Redakteure loszuwerden? Lgen sie also, die entlassenen Journalisten in Ungarn, die behaupten, der Staat habe sie gefeuert, weil sie zu kritisch seien? Die Pressesprecherin des staatlichen MTVA, eines neu geschaffenen komplizierten Konstrukts, das sich Mediendienstleistungs- und Vermgensfonds nennt, sitzt in ihrem Budapester Bro, spricht ruhig, lchelt viel. Nun aber rutscht ihr das Lcheln aus dem Gesicht. Wer solche Vorwrfe uert, sollte mit seinem Namen dafr einstehen. Das wrden sie ja nur zu gern, die gut 550 Journalisten und Mitarbeiter bei den ffentlich-Rechtlichen, denen im Juli gekndigt wurde. So mancher von ihnen wrde den Mund aufmachen, seinen Namen nennen und Rechenschaft verlangen. Oder zumindest eine Erklrung. Denn die fehlt bis heute. Aber da gibt es ja diese Klausel in ihren Vertrgen. Sollte jemand ohne Erlaubnis des Arbeitgebers ber sein Arbeitsverhltnis sprechen, dann sind auch alle Abfindungen weg. Ein Vater oder eine Mutter, daheim ein Kind oder mehr und keine neue Arbeit in Aussicht, wird es sich gut berlegen, auch das noch zu riskieren. Also schweigen die Journalisten offiziell. Sie reden natrlich trotzdem, nur darf nicht erkennbar werden, wer da spricht. Zu sagen haben sie eine Menge. Es war am 5. Juli, als ein grauhaariger, stiller Mann nennen wir ihn Herrn A. am Telefon aufgefordert wurde, sich am nchsten Tag um zehn Uhr bei seiner Arbeitsstelle einzufinden. Es folgte auch eine E-Mail, um zu besttigen, dass die Nachricht ihren Empfnger erreicht hatte. Dies war der erste Schritt in einem massenhaften Entlassungsprozess und Herr A. nur einer von vielen, der die Botschaft erhalten hatte. Am nchsten Tag, so erzhlt es Herr A., habe er sich zur genannten Zeit an seiner Arbeitsstelle eingefunden. Vier weitere Kollegen warteten schon im Flur. Nacheinander wurden sie hereingerufen. Wer herauskam, hielt entweder einen Umschlag in der Hand oder ein Blatt Papier. Der groe Umschlag hie: Das ist das Ende, sagt Herr A. Das Papier bedeutete: Glck gehabt. Dieses Papier war ein neuer Arbeitsvertrag, der gleich vor

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Ort unter den Augen der Vorgesetzten unter- teurer Apparat, der wenige Zuschauer bringt, zeichnet wurde. aber dafr Ineffizienz, Korruption, FinanzieEs dauerte nicht lange, bis Herr A. aufgerufen rungsprobleme, schlechte Ausrstung, und das wurde. Er kam als Dritter an die Reihe, und kein mit mehr als 3000 Mitarbeitern. 1996 wurde das Gesprch dauerte lnger als fnf Minuten. Herr A. alte Mediengesetz verabschiedet; seitdem untertrat ein und nahm drei Leuten gegenber Platz. Er nahm keine Regierung ernsthafte Versuche, die kannte sie nicht. Wie Sie wissen, restrukturieren Strukturen zu verbessern und die Parteipolitik wir und leider ... Herr A. wusste, was kommen herauszuhalten. Auch die Sozialisten nicht. wrde. Er nahm den Umschlag und ging. Nun packt Viktor Orbn die Sache an, so wie er Den ganzen Tag lief es so. In allen ffentlich- Sachen stets anpackt: Er macht einen echten Missrechtlichen Sendern fanden sich Gruppen ein, stand aus und nutzt ihn, um seine Ideologie zu immer zu fnft. Die Mitarbeiter nahmen den verbreiten. Im April vergangenen Jahres hat seine Umschlag oder den Vertrag und gingen. Es war Partei Fidesz eine Zweidrittelmehrheit im Parlament nicht menschlich, sagt Herr A. gewonnen. Seitdem fhlt sich Orbn berufen, seine Dass diejenigen, die von Entlassungen betroffen Ideologie der nationalen Einheit in Ungarn wahrsind, sich ungerecht behandelt fhlen, ist nicht un- zumachen. Er hat eine neue Verfassung verabschiegewhnlich. Dass Kollegen, die bleiben durften oder den lassen, er hat das Verfassungsgericht geschwcht, fr andere, private Sender arbeiten, fassungslos sind, er hat die wichtigsten Institutionen Rechnungshof, schon. Zu denen, die gehen mussten, htten Medienbehrde, Gerichte mit seinen Leudie Besten und Erfahrensten gehrt, sagen ten besetzt. Seine Macht wrde selbst UNGARN dann noch pulsieren, wenn Orbn sie. Es bestehe kein Zweifel daran, dass abgewhlt wrde. die Entlassungen dafr genutzt worden seien, unliebsame Journalisten Im Winter hat er ein Mediengescharenweise loszuwerden. setz durchgesetzt, das seit Juli vollBudapest Gekndigt wurden: Trger des stndig gilt und die alten Rundfunkstrukturen auflst. Alle Jourungarischen Pulitzerpreises, Modenalisten der ffentlich-rechtlichen ratoren, die ber Ungarn hinaus Sender sind fortan dem MTVA, jebekannt sind, aufstrebende, mit PreiZEIT-Grak sen ausgezeichnete Jungtalente. Befrnem Mediendienstleistungs- und Ver150 km dert wurden: Journalisten, die pltzlich mgensfonds, unterstellt. Die bisherigen Nachrichtensendungen verantworten, obwohl Senderstrukturen existieren noch als Skelette. sie sich vorher vor allem mit Boulevardformaten 49 Redakteure arbeiten in jedem Medienunternehauskannten. Oder Redakteure wie der 32-jhrige men, sie nehmen allenfalls die Beitrge ab. Die ProDniel Papp, ehemaliger medienpolitischer Sprecher duktion, das Programm, all das wird vom MTVA der rechtsradikalen Jobbik-Partei, der krzlich einen zentral in Auftrag gegeben. Und die Nachrichten Beitrag ber den Grnen-Politiker und Orbn- produziert der MTVA fr alle Sender ebenfalls durch Kritiker Daniel Cohn-Bendit verflschte. In dem seine eigene Agentur. Beitrag wird Cohn-Bendit gefragt, ob er der MeiUnd die Privaten? Zwei Sender, die als regienung sei, dass sexuelle Belstigung von Kindern zu rungskritisch gelten und sich durch ein Rede- und den europischen Grundrechten gehre. Cohn- Diskussionsprogramm auszeichnen, wissen derzeit Bendit antwortete dem Journalisten ausfhrlich nicht, ob ihre Lizenzen verlngert werden und zu doch in dem Beitrag scheint der Politiker wortlos welchen Bedingungen. Staatliche Werbeauftrge den Raum zu verlassen, ohne Antwort. Papp wurde fehlen ihnen schon eine ganze Weile. Frau C. ist Ende 30, wirkt unsicher, arbeitet nicht entlassen. Man hat ihn zum Chef der zentralen bei den ffentlich-Rechtlichen und erzhlt, dass Nachrichtenredaktion gemacht. Der grauhaarige Herr A. bestreitet nicht, dass sie keine Ahnung habe, wie sie die Sendepltze in es Kndigungen geben musste. Kaum jemand der den nchsten Wochen bespielen soll. Mit einem Entlassenen bestreitet das. Der ffentlich-recht- Mal seien die Kollegen weg, selbst geplante Beiliche Rundfunk in Ungarn ist ein aufgeblhter trge lgen unfertig da.

Sie ist froh, sagt Frau C., dass sie ihre Arbeit behalten kann. Andererseits ist es in diesen Tagen keine Auszeichnung, nicht gekndigt zu werden. Ein Treffen an einem verregneten Sommertag in Budapest, mehrere Dutzend Journalisten sind da, fast alle entlassen. Misstrauisch blicken sie auf die, die gekommen sind, obwohl sie noch Arbeit haben ein Ausdruck von Solidaritt? Oder doch irgendein Maulwurf, der spter berichten wird, wer so da war? Ein junger Reporter, noch vllig frei keine Familie, keine Hypothek, aber viel Talent ,

ist stolz auf seine Kndigung, als besttigte sie ihm, dass er alles richtig gemacht habe. Er zeigt auf die Menge entlassener Journalisten vor sich, lacht und sagt: Die gehren zu den Besten. Damit hat sich Viktor Orbn die gefhrlichste Bastion gegen sich selbst geschaffen. Und die wchst. Im September folgen die nchsten Entlassungen. Betroffen diesmal: etwa 400 Mitarbeiter.A www.zeit.de/audio

BCHER MAC

HEN POLITIK

Fr eine Handvoll CentWas nichts kostet, ist nichts wert? Die Berliner CDU bietet ihr Wahlprogramm fr einen halben Euro an. Dafr erfhrt man (fast) alles ber die S-Bahn-Krise, Krankenhauskeime und Gemeinsamkeiten mit Monaco VON PETER DAUSENDEin Kiosk in der Friedrichstrae: Ich htte gern ger als der gestaschenkompatible 240-Seitendas Wahlprogramm der Berliner CDU. Zwei Wlzer Eine Stadt fr alle Das Wahlprogramm der Verkufer starren einander an, als htte gerade je- Grnen. Aber wie heit es unter inhaltsorientiermand Shakespeares Gesamtwerk in der Erstaus- ten Wechselwhlern doch so treffend: Dont judge gabe von 1623 bestellt. Das Programm der CDU? a program by its cover. In den 100 Lsungen stellt sich auf Seite 3 Wer will denn so was lesen? Ja, ich. Schulterzucken, die Chefin muss ran. Ist gerade frisch ge- gleich mal Frank Henkel vor, der CDU-Spitzenliefert worden, sagt sie und kramt das Werk unter kandidat, wodurch der Berliner erfhrt, dass es ihn gibt. Bisher kannte er ja nur Klaus einem Zeitungsstapel hervor. 50 Cent Renate Wowereit-Knast. In einem wechseln den Besitzer, und einer der beieinfhrenden Essay legen dann die Auden Verkufer raunt dem Kunden in einer toren dar, wie schlecht Berlin regiert Mischung aus Mitleid und Zynismus zu: wird, was sich ndern muss und dass Na, dann viel Spa bei der Lektre. die CDU leider keine einfachen, Was nichts kostet, ist auch nichts schnellen Lsungen versprechen kann. wert. Nach diesem Motto beschreiten die Und das bei gleich vier SchwerpunkBerliner Christdemokraten vor der Landten: Wirtschaft, Integration, Bildung, tagswahl am 18. September wahlkmpfeSicherheit. Die CDU poliert hier zwar risches Neuland: Was sie zu sagen haben, ihr leicht angestaubtes Law-and-Orstellen sie kostenpflichtig. Fr einen halder-Vokabular auf, weist aber zugleich ben Euro bekommen die Leser auf 80 Frank Henkel: ber plumpe Sarrazinismen hinaus: Seiten 100 Lsungen fr 100 Probleme 100 Lsungen Genauso gilt es, die pauschale Verunprsentiert, die sie zuvor per Umfrage fr Berlin glimpfung von Islam-Glubigen zu Brgerbeteiligung ist gerade der dernier Das Wahlstoppen. Ein neuer Ton in der christchic in der Politikmode selbst benannt programm der haben. Auf dem Weg zum Buch, das Po- CDU. 80 Seiten, demokratischen Wahlkampfliteratur. Den heimlichen Hhepunkt des litik macht, sind die 100 Lsungen fr 50 Cent Werks markieren die Seiten 10 und 11, Berlin allerdings im Stadium eines labbedas Themenregister. Es kommt als rigen DIN-A4-Heftchens mit chrismonHaptik stecken geblieben, ein Druckerzeugnis, eigenwillige Mischung aus Sudoku, dem ZEITdas, fiele es aus der Tageszeitung, garantiert den Rtsel und Malen nach Zahlen daher. Es gibt krzesten Weg in den Papierkorb fnde. Rein op- Themenfelder, Problemnummern und Ergntisch berzeugt das Werk jedenfalls deutlich weni- zungsproblemnummern. Weil das niemand versteht, werden anschlieend noch mal 100 Probleme und 76 Ergnzungsprobleme aufgelistet, bevor sie einzeln abgearbeitet werden. Von Problem 1 Ohne A 100 kein guter Anschluss fr Nord- und Ostberlin bis zu Ergnzungsproblem 100e76 Hallenbder zu lange geschlossen. Ob S-Bahn-Krise, Mietexplosion oder Hundekot, ob dnis am Alex, Baustellenchaos oder multiresistente Krankenhauskeime es gibt kein Berliner Probl