recovery-orientiert fragen

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Der englische Begriff „Recovery“ kann ins Deutsche mit Begriffen wie „Genesung“, „Besserung“, „Erholung“ oder „Wieder- gewinnung“ übersetzt werden. In der Psychiatrie steht der Begriff „Recovery“ für eine Bewegung von Psychiatrie-Er- fahrenen, die seit Anfang der 90-er Jahre des letzten Jahrhunderts für eine andere Wahrnehmung psychischer Erkrankung kämpfen [1]. Die Bewegung ist rasant gewachsen und hat die Versorgung, aber auch die Gesundheitspolitik in anglo- amerikanischen Ländern maßgeblich beeinflusst. Viele unterschiedliche Grup- pen und Institutionen arbeiten heute mit Recovery und aus diesem Grunde gibt es auch viele verschiedene Definitionen da- zu. Eine der wichtigsten stammt von Wil- liam Anthony [2]: Recovery ist ein zutiefst persönlicher, einzigartiger Veränderungsprozess der Hal- tung, Werte, Gefühle, Ziele, Fertigkeiten und Rollen. Es ist ein Weg, um ein befriedigendes, hoffnungsvolles und konstruktives Leben, trotz der durch die psychische Krankheit verursachten Einschränkungen zu leben. Recovery beinhaltet die Entwicklung eines neuen Sinns und einer neuen Aufgabe im Le- ben, während man gleichzeitig über die ka- tastrophalen Auswirkungen von psychischer Krankheit hinauswächst. In der Definition klingt an, dass mit Re- covery also weniger ein Zustand als viel- mehr ein Prozess beschrieben wird. Wäh- rend Fachleute der Medizin Recovery viel- fach zeitlich begrenzt definieren, z. B. als einen Zustand, der nach einer bestimmten Zeit nach einer Erkrankung wieder herge- stellt ist, spielt der Gedanke eines Prozesses für die vielen Protagonisten eine wichtige Anders fragen: Überlegungen für ein Recovery-orientiertes Assessment Recovery-orientiert fragen Michael Schulz und Gianfranco Zuaboni Recovery ist eine Haltung, ein Prozess, eine Art zu leben und zu pflegen. Psychiatrisch Pflegende – in allen Bereichen des psychiatrischen Versorgungssystems – können dazu beitragen, dass die Vision einer Recovery- orientierten Versorgung Wirklichkeit wird. Das geht aber nur, wenn die eigene Rolle und die eigene Fachlichkeit im Sinne des Konzeptes reflektiert und die Arbeitsweise entsprechend angepasst wird. Rolle. Patricia Deegan (1996) beschreibt dieses Prozesshafte wie folgt: Recovery zielt nicht auf ein Endprodukt oder ein Resultat. Es bedeutet nicht, dass man „geheilt“, oder einfach stabil ist. Reco- very beinhaltet eine Wandlung des Selbst, bei der einerseits die eigenen Grenzen ak- zeptiert werden und andererseits eine gan- ze Welt voller neuer Möglichkeiten entdeckt wird. Dies ist das Paradoxe an Recovery: Beim Akzeptieren dessen, was wir nicht wer- den tun oder sein können, beginnen wir zu entdecken, wer wir sein können und was wir tun können. Recovery ist eine Art zu leben. Warum ist Recovery entstanden? Recovery ist im englischen Sprachraum (USA, GB und Neuseeland) als Konsumen- tenbewegung („Überlebende der Psychiat- rie“) entstanden. Recovery ist nicht die ers- te Betroffenenbewegung gewesen, die es im Bereich der psychischen Erkrankungen gegeben hat. Jahrzehnte vorher hat es be- reits im Rahmen der „Anonymen Alkoho- liker“ eine erste Nutzerbewegung gegeben. Dass diese Entwicklung im Bereich der Psy- chosen auch von Fachpersonen zunehmend registriert wurde, dafür waren folgende Rahmenbedingungen ausschlaggebend: . Langzeitstudien haben gezeigt, dass Genesung auch von schwerer psychi- scher Erkrankung möglich ist. . Personen, die einen erfolgreichen Recovery-Prozess gestalten konnten, wurden zu Symbolfiguren und Sprach- rohre der Bewegung. . Aspekte von Recovery wurden gesundheitspolitisch relevant und haben Eingang in Konzepte zur Versor- gung der Bevölkerung gehalten. 230 SCHWERpUnKt|RECoVERY Heruntergeladen von: Gianfranco Zuaboni. Urheberrechtlich geschützt.

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Der englische Begriff „Recovery“ kann ins Deutsche mit Begriffen wie „Genesung“, „Besserung“, „Erholung“ oder „Wieder-gewinnung“ übersetzt werden. In der Psychiatrie steht der Begriff „Recovery“ für eine Bewegung von Psychiatrie-Er-fahrenen, die seit Anfang der 90-er Jahre des letzten Jahrhunderts für eine andere Wahrnehmung psychischer Erkrankung kämpfen [1]. Die Bewegung ist rasant gewachsen und hat die Versorgung, aber auch die Gesundheitspolitik in anglo-amerikanischen Ländern maßgeblich beeinflusst. Viele unterschiedliche Grup-pen und Institutionen arbeiten heute mit Recovery und aus diesem Grunde gibt es auch viele verschiedene Definitionen da-zu. Eine der wichtigsten stammt von Wil-liam Anthony [2]:

Recovery ist ein zutiefst persönlicher, einzigartiger Veränderungsprozess der Hal-tung, Werte, Gefühle, Ziele, Fertigkeiten und Rollen. Es ist ein Weg, um ein befriedigendes, hoffnungsvolles und konstruktives Leben, trotz der durch die psychische Krankheit verursachten Einschränkungen zu leben. Recovery beinhaltet die Entwicklung eines neuen Sinns und einer neuen Aufgabe im Le-ben, während man gleichzeitig über die ka-tastrophalen Auswirkungen von psychischer Krankheit hinauswächst.

In der Definition klingt an, dass mit Re-covery also weniger ein Zustand als viel-mehr ein Prozess beschrieben wird. Wäh-rend Fachleute der Medizin Recovery viel-fach zeitlich begrenzt definieren, z. B. als einen Zustand, der nach einer bestimmten Zeit nach einer Erkrankung wieder herge-stellt ist, spielt der Gedanke eines Prozesses für die vielen Protagonisten eine wichtige

Anders fragen: Überlegungen für ein Recovery-orientiertes Assessment

Recovery-orientiert fragenMichael Schulz und Gianfranco Zuaboni

Recovery ist eine Haltung, ein Prozess, eine Art zu leben und zu pflegen. Psychiatrisch Pflegende – in allen Bereichen des psychiatrischen Versorgungssystems – können dazu beitragen, dass die Vision einer Recovery-orientierten Versorgung Wirklichkeit wird. Das geht aber nur, wenn die eigene Rolle und die eigene Fachlichkeit im Sinne des Konzeptes reflektiert und die Arbeitsweise entsprechend angepasst wird.

Rolle. Patricia Deegan (1996) beschreibt dieses Prozesshafte wie folgt:

Recovery zielt nicht auf ein Endprodukt oder ein Resultat. Es bedeutet nicht, dass man „geheilt“, oder einfach stabil ist. Reco-very beinhaltet eine Wandlung des Selbst, bei der einerseits die eigenen Grenzen ak-zeptiert werden und andererseits eine gan-ze Welt voller neuer Möglichkeiten entdeckt wird. Dies ist das Paradoxe an Recovery: Beim Akzeptieren dessen, was wir nicht wer-den tun oder sein können, beginnen wir zu entdecken, wer wir sein können und was wir tun können. Recovery ist eine Art zu leben.

Warum ist Recovery entstanden?Recovery ist im englischen Sprachraum (USA, GB und Neuseeland) als Konsumen-tenbewegung („Überlebende der Psychiat-rie“) entstanden. Recovery ist nicht die ers-te Betroffenenbewegung gewesen, die es im Bereich der psychischen Erkrankungen gegeben hat. Jahrzehnte vorher hat es be-reits im Rahmen der „Anonymen Alkoho-liker“ eine erste Nutzerbewegung gegeben. Dass diese Entwicklung im Bereich der Psy-chosen auch von Fachpersonen zunehmend registriert wurde, dafür waren folgende Rahmenbedingungen ausschlaggebend: . Langzeitstudien haben gezeigt, dass

Genesung auch von schwerer psychi-scher Erkrankung möglich ist. . Personen, die einen erfolgreichen Recovery-Prozess gestalten konnten, wurden zu Symbolfiguren und Sprach-rohre der Bewegung. . Aspekte von Recovery wurden gesundheits politisch relevant und haben Eingang in Konzepte zur Versor-gung der Bevölkerung gehalten.

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Recovery im deutschsprachigen Raum

Wenngleich im deutschsprachigem Raum erst mit dem Erscheinen des Buchs „Re-covery – Das Ende der Unheilbarkeit“ von Amering und Schmolke [3] der Begriff vor einigen Jahren einer breiteren fachlichen Öffentlichkeit zugänglich wurde, lassen sich Recovery-orientierte Bewegungen auch im deutschsprachigem Raum mit Anfängen in den 80-er und 90-er Jahren des letzten Jahrhunderts finden. Die Su-che nach vergleichbaren Entwicklungen ohne Berufung auf die gleichen Konzepte oder Schriften macht aus unserer Sicht Sinn. Vor allem im Hinblick auf unter-schiedliche Gesundheitssysteme und unterschiedliche kulturelle und histo-rische Ausgangssituationen können auf dieser Basis eine Schärfung des Begriffs und eine Übertragung des Konzeptes oh-ne ideologische Überfrachtung gelingen. Eine wichtige Entwicklung waren die Angebote der Psychose-Seminare, respek-tive Trialog-Veranstaltungen. Veranstal-tungen, in denen Betroffene, Angehörige und Fachpersonen auf Augenhöhe Fragen stellen sowie Erfahrungs- und Fachwissen austauschen, können mit Fug und Recht als eine der Motoren der Recovery-Be-wegung im deutschsprachigen Raum be-zeichnet werden.

Weshalb Recovery jetzt?

Lange Zeit galten für Menschen, die an einer psychischen Erkrankung litten und dadurch auf Unterstützung angewiesen waren, nicht die gleichen Rechte, wie für Menschen mit anderen Erkrankungen. Mit der Ratifizie-rung der UNO-Behindertenrechtskonventi-on erhofft man sich zumindest in Deutsch-land und Österreich (die Schweiz hat die Konvention nicht unterschrieben), dass sich in diesem Bereich einiges bewegen wird.

Ein weiterer begünstigender Faktor ist die Tatschen, dass mit der Einführung des Qualitätsmanagements (QM) in psychia-trischen Dienstleistungen der Patient zu-nehmend nicht nur als erduldendes Wesen gesehen wird, sondern als kritische Per-son, die den Aufenthalt in einer Institution aus seiner Sicht bewerten kann und damit Einfluss auf die weitere Entwicklung der Dienstleistung nimmt. Institutionen, die das QM ernsthaft betreiben, geeignete Strukturen der Patientenrückmeldungen etabliert haben und diese Rückmeldungen auch in die Anpassung und Weiterentwick-lung von Angeboten aufnehmen, für diese Dienstleistungen ist die Recovery-Orien-tierung eine konsequente Entwicklung des Qualitätsprimats. Für solche Dienstleis-tungen sind die Recovery-Komponenten (abb. 1), wie z. B. individualisierte, perso-

Selbst-gesteuertHoffnung

Individualisiert und personen-

zentriert

Empowerment

Ganzheitlich

NichtlinearStärken basiert

Peer Support

Respekt

Verantwortung

abb. 1 Komponenten von Recovery.

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nenzentrierte Angebote oder Wahlmög-lichkeiten, integrale Bestandteile einer hochwertigen, professionellen Dienstleis-tung. Über kurz oder lang müssen sich Dienstleistungen mit der Frage von Patien-ten auseinandersetzen, weshalb sie keine Recovery orientierte Interventionen im Angebot haben. Und am deutlichsten wird die Recovery-Orientierung einer Dienst-leistung im Vorhandensein von peerge-stützten oder -geleiteten Angeboten.

Konzept für die psychiatrische PflegeWenn psychiatrischen Dienstleistungen und damit auch psychiatrische Pflege sich

an Recovery ausrichten sollen, dann gilt es, die professionellen Rollen an diesen Ansatz anzupassen. Im Kern bedeutet dies z. B., dass psychiatrisch Pflegende eher als Coach denn als Experte des Patienten ihre Rolle ausfüllen. Betroffene werden best-möglich auf ihrer individuellen Reise un-terstützt. Im Zentrum steht weniger die Frage nach den Defiziten, sondern die Fra-ge nach der individuellen Bedeutung der Erkrankung. Doch wurde professionelle psychiatrische Pflege nicht schon vor dem Auftauchen des Recovery-Ansatzes in einer vergleichbaren Art beschrieben? Eine De-finition aus einem weit verbreiteten Lehr-buch zur Psychiatrischen Pflege [4] lautet:

Strukturierter Gesprächsleitfaden nach Slade

Aktuelle Stärken und Ressourcen Wie schaffen Sie es, trotz aller Schwierig-keiten weiter zu machen? Welche Rolle spielen dabei . spirituelle Aspekte, . kulturelle/politische Identität, . der Glaube an sich selbst, . Lebenserfahrung, . Belastbarkeit, . Widerstandskraft (Resilienz), . Humor, . Bewältigung des Umfeldes, . Unterstützung von Anderen, . Fähigkeit, Gefühle künstlerisch auszu-

drücken?

Persönliche ziele Was würden Sie sich an ihrem Leben anders wünschen?Was sind heute Ihre Träume? Wie haben Ihre Träume sich verändert?

Frühere Coping ErfahrungenWie sind Sie durch die schwierigen Zeiten Ihres Lebens gekommen?Welche Form von Unterstützung haben Sie als hilfreich erfahren?Was hätten Sie sich als Ereignis in Ihrem Leben gewünscht?

Familiäre Ressourcen Gibt es in Ihrer Familie Menschen, die etwas Besonderes erreicht haben, z. B. Künstler, Autoren, Sportler oder Wissenschaftler?

Familiäre UmgebungGab es in Ihrer Kindheit eine Person, die Sie wirklich bewundert haben?Was waren wichtige Erkenntnisse, die Sie während ihrer Kindheit gehabt haben?

Aus der Vergangenheit lernen Was haben diese Erfahrungen Sie gelehrt?Gibt es positive Veränderungen, die sich auf Ihrem Weg ergeben haben oder dazu ge-führt haben, dass Sie als Person gewachsen sind? Welche Rolle spielten dabei Aspekte wie . Altruismus (uneigennützig etwas für

andere zu tun), . freiwilliges Engagement, . Empathie, . Mitgefühl, . Selbstannahme, . Selbstwirksamkeit, . Bedeutung?

EntwicklungsgeschichteWie haben Sie Ihr Leben in der Zeit der Jugend und des Heranwachsens erlebt?Was haben Sie genossen?Was ist Ihre schönste Erinnerung?Welche Fähigkeiten oder Besonderheiten haben Sie in dieser Zeit entdeckt?

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Psychiatrische Pflege unterstützt Individu-en und Gruppen im Rahmen eines Problemlö-sungs- und Beziehungsprozesses bei der Be-wältigung des Alltags und beim Streben nach Wohlbefinden, bei der Erhaltung, Anpassung oder Wiederherstellung von physischen, psy-chischen und sozialen Funktionen und beim Umgang mit existentiellen Erfahrungen.

Was bedeutet dieser Ansatz für das (pflegerische) Assessment in psychiatri-schen Kontexten?

Im Rahmen des Recovery-Konzepts wird deutlich zwischen den gemachten Er-fahrungen mit psychischen Erkrankungen und der psychischen Erkrankung selbst unterschieden. Gefordert wird eine kon-sequente Fokussierung auf die Person mit ihren Stärken und Lebensziele und nicht alleinig auf die Krankheit.

Für die betroffene Person stellt die per-sönliche Deutung der Krankheitserfahrung und somit die Integration in die persönliche Lebensgeschichte einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer erfolgreichen „Reco-very-Reise“ dar. Durch diesen Prozess kann das Erlebte einer bestimmten Situation oder Konstellation im Verlauf des Lebens und der Persönlichkeitsentwicklung zugeordnet werden. Dieses Einrahmen oder Eingrenzen der Erfahrung ermöglicht den Betroffenen einen bewussteren Umgang damit. So kön-nen auf diese Weise belastende Situationen erkannt werden, die zukünftig eine beson-dere Beachtung erfordern würden. Aber es würden auch Aspekte der Persönlichkeit und Lebensgestaltung deutlicher herausge-arbeitet werden, die von der Krankheitser-fahrung nicht beeinträchtigt sind.

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Assessment-Themen und -Fragen Notizen der betroffenen Person

Aufnahme auf der Station

Was hat Sie hierhergebracht?

Ursprung des Problems

Wann haben Sie das erste Mal davon Kenntnis genommen [...] oder dies bewusst wahrge nommen?

Wie hat das alles begonnen:

Vergangene Funktion des Problems

Wie hat sich das beim ersten Mal bei Ihnen ausgewirkt?

Wie beeinflusst mich das:

Vergangene Gefühle

[...] und was fühlten Sie darüber zu jener Zeit? Wie fühlte ich mich zu Beginn:

Geschichtliche Entwicklung

[...] und in welcher Weise, hat sich das über die Zeit verändert?

Wie haben sich die Dinge über die Zeit verändert:

Beziehungen

[...] und in wieweit hat dies Ihre Beziehungen zu den Mitmenschen verändert?

Wirkung auf meine Gefühle:

Aktuelle Gefühle

[...] und was empfinden Sie aktuell darüber?Was empfinde ich jetzt:

Ganzheitlicher Inhalt

[...] und was bedeutet dies alles für Sie?Was denke ich, bedeutet das:

Ganzheitlicher Kontext

[...] und was sagt dies alles über Sie als Person aus?Was sagt das alles über mich als Per-son aus:

Notwendigkeiten, Bedürfnisse, Wünsche

[...] und was würden Sie hoffen, würde dagegen unternommen werden?

Was ist jetzt notwendig zu tun:Was entspricht meinem Bedürfnis oder Wunsch, was nun geschehen soll:

Erwartungen

[...] und was denken Sie, können wir hier für Sie tun?Was erwarte ich von der Pflege, was sie für mich tun kann:

Holistic Assessment nach Barker (Beispiel)

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Eine weitere Möglichkeit die Recovery-Orientierung in die pflegerische Praxis zu implementieren ist die Orientierung an das Gezeitenmodell von Phil Barker und Poppy Buchanen-Barker [5]. Auf der Grundlage dieses Models lassen sich Dienstleistungen konzipieren, die im We-sentlichen mit dem personenzentrierten Recovery-Ansatz übereinstimmen. In ei-ner zentralen Aussage von Phil Barker zur Entwicklung von Angeboten im Rahmen des Gezeitenmodells, kommt dies gut zum Ausdruck. Ein Angebot soll nicht für die Betroffenen entwickelt werden, sondern mit ihnen gemeinsam. Daraus kann man schließen, dass nicht wir die Lösungen für die Probleme der Betroffenen bereithal-ten müssen, diese liegen alleine bei den Betroffenen. Unsere Aufgabe liegt mehr in der Begleitung und Unterstützung eines Prozesses, in dessen Verlauf der betroffene Mensch Lösungen auf der Basis von per-sönlichen Erfahrungen und Erkenntnissen entwickelt.

Die Basis der therapeutischen Arbeits-beziehung wird mit dem Assessment ge-legt. Zum einen können wichtige Infor-mationen ausgetauscht werden, die für die weitere Planung bedeutsam sind. Zum anderen bieten diese Gespräche Gelegen-heit, sich gegenseitig kennenzulernen und eine vertrauensvolle Beziehung zu etab-lieren. Der Assessment-Prozess sollte mit der Frage nach der subjektiven Bedeutung und Bewertung des Geschehenen durch den Betroffenen beginnen, wobei man auf die jeweilige Situation des Betroffenen eingehen muss. Zu Beginn einer psychi-schen Lebenskrise ist häufig die Verunsi-cherung über das Geschehen und Erlebte dominierend und damit einhergehend das Bedürfnis nach Erklärungen. Professionel-le sollten es aber vermeiden, vorschnelle „Antworten“ zu geben, die vielleicht kurz-fristigen Trost spenden, aber keine wirkli-chen Erkenntnisse hervorbringen.

Natürlich kann es für den Betroffenen hilfreich sein, eine Diagnose zu erhalten. Dies ermöglicht z. B. die Erkenntnis, dass andere Menschen auch schon Ähnliches erfahren haben. Häufig können Diagno-sen auch hinderlich sein, v. a. dann, wenn sie weniger als Erklärung und mehr als Ursache für einen Krankheitszustand an-

ziel von recovery ist es nicht, „normal“ zu werden.

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Bibliografie

DOI 10.1055/s-0032-1327011Psych Pflege 2012; 18: 230–235© Georg Thieme Verlag KGStuttgart · New York · ISSN 0949-1619

Michael Schulz

Prof. Dr., Herausgeber, Krankenpfleger und Ge-sundheitswissenschaftler. Lehrstuhl für Psychiat-rische Pflege an der FH der Diakonie in Bielefeld.

Gianfranco Zuaboni

Dipl. Psychiatriepfleger, dipl. Pflegeexperte, MScN. Leitung Pflegeentwicklung der Privatkli-nik für Psychiatrie und Psychotherapie Sanatori-um Kilchberg.

Korrespondenzadresse

[email protected]

gesehen werden. In diesen Fällen ist die Gefahr groß, dass der Recovery-Prozess des Betroffenen gestört wird, weil der Betrof-fene nun vom Experten erwartet, dass er tut, was zu tun ist, um die Person zu hei-len. Obwohl viele Betroffene und Angehö-rige darauf hoffen, gibt es für die meisten Menschen nicht die Wunderpille, die eine unmittelbare Heilung verspricht. Der Pro-zess erfordert vielmehr unzählige kleine Schritte. Seitens des Professionellen erfor-dert dies eine aufrichtige Haltung und kei-ne therapeutischen Manöver, um die harte Wahrheit einer Diagnose abzufedern.

Die persönliche Einordnung des (Krank-heits-)Geschehens durch den Betroffenen kann im Einklang mit den bestehenden Ansichten und Vorstellungen stehen, müs-sen aber nicht. Ziel von Recovery ist es nicht, „normal“ zu werden. Ziel ist es viel-mehr, auf dem Weg zu einem Vertieften Verständnis des eigenen Lebens voranzu-schreiten und im Wissen um seine Stärken und Schwächen die gesetzten Lebensziele zu verfolgen.

Ein auf Defizite orientiertes Assessment wird keiner Person gerecht, da jede Person auch Stärken und Ressourcen hat. Wie las-sen sich sowohl Stärken als auch Schwie-rigkeiten in einem Recovery-orientierten Assessment erheben? Mike Slade [6] hat einen strukturierten Gesprächsleitfaden entwickelt, der auch Stärken, Erfahrungen und Wünsche des Betroffenen berücksich-WLJW��ʪ�,QIRNDVWHQ���

Das Ziel des Assessments ist es, die Basis für eine partnerschaftliche Zusammenar-beit zu schaffen und so die individuellen Anstrengungen im Rahmen des Recovery-Prozesses zu unterstützen. Eine Defizit orientierte Beziehung soll also unbedingt vermieden werden.

Im Gezeitenmodell von Barker wird das Holistic Assessment, was man mit ganz-heitlichem Assessment übersetzen kann, beschrieben [5]. Bei der Durchführung des Assessmentgesprächs soll man dem Nut-zenden die Möglichkeit geben, sich seine eigenen Notizen des Gesprächs zu machen und darauf achten, dass man die Fragen und eigenen Notizen an der Sprache des Nutzenden ausrichtet. tab. 1 zeigt einen kurzen Auszug diese Assessments (Über-setzung der Autoren).

Konsequenzen aus diesen Assessment-Ansätzen

Grundsätzlich werden die Betroffenen nicht – wie vielfach in Assessments – als reine Daten-Lieferanten verstanden, wor-aus die Fachperson die relevanten Schlüs-se ziehen, sondern als primäre Quelle der notwendigen Lösungen. Der Patient ist der Experte seines Lebens und seiner Person! Die Fachperson unterstützt den Patien-ten dabei, die erforderlichen Schritte und Maßnahmen zu benennen. Dadurch wer-den die formulierten und anzustrebenden Ziele garantiert persönlich.

Ziele formulieren. In einem weiteren Schritt gilt es, die individuellen Ziele zu formulieren. Viele Menschen haben Probleme, hilfreiche Aktivitäten zu ent-wickeln. Psychiatrisch Pflegende können diesen Prozess durch folgende Fragen unterstützen: . Wann haben Sie sich besonders

lebendig gefühlt? . Wann haben Sie das letzte Mal Spaß gehabt? . Was würde in Ihrem Leben einen Unterschied machen? . Was sind Ihre Träume? . Was wollen Sie im Leben erreichen? . Was würde Ihr Leben besser machen? . Was würde Ihrem Leben mehr Sinn verleihen? . Was würde Ihr Leben für Sie angeneh-mer machen?

Psychiatrisch Pflegende fungieren hier als Coach des Betroffenen: . Was braucht es, um dieses Ziel zu errei-

chen? . Was würde passieren, wenn Sie die Regel brechen, wonach es Ihnen nicht erlaubt ist, das zu tun?

Um diese Rolle gut ausfüllen zu können, braucht es – neben Wissen und Erfah-rung – ein Umfeld, dass die Mitarbeiter dabei unterstützt, neue Wege zu gehen. Nicht Misstrauen und Kontrolle, sondern Risikobereitschaft, eine positive Fehler-kultur, flache Hierarchien, gegenseitiges Vertrauen und Interesse sind Vorausset-zungen, um die Recovery-Orientierung von psychiatrischen Dienstleistungen zu entwickeln.

Ausblick Psychiatrisch Pflegende – in allen Berei-chen des psychiatrischen Versorgungssys-tems – können dazu beitragen, dass die Vision einer Recovery-orientierten Versor-gung Wirklichkeit wird. Das geht aber nur, wenn die eigene Rolle und die eigene Fach-lichkeit im Sinne des Konzeptes reflektiert und die Arbeitsweise entsprechend ange-passt wird. Ausgehend von der Überlegung, dass Antworten nur so gut sein können, wie die gestellte Frage es zulässt, kommt dem Assessment im Rahmen einer solchen Arbeitsweise eine besondere Bedeutung zu. Dies gilt umso mehr im psychiatrischen Arbeitsfeld, wo die Richtung der Fragen un-trennbar mit dem theoretischen Konstrukt von Psychischer Erkrankung verbunden ist. Vor diesem Hintergrund stellen die Überle-gungen von Slade und Barker einen wich-tigen Ausgangspunkt für die Entwicklung einer entsprechenden Sichtweise dar. Dem müssen dann entsprechende Interventio-nen und Evaluationsüberlegungen folgen.

Literatur

1 Davidson L, Rakfeldt J, Strauss JS. The roots of the re-covery movement in psychiatry : lessons learned. Oxford: Wiley-Blackwell; 20102 Anthony WA. Recovery from mental illness: The guiding vision of the mental health service system in the 1990s. Psychosocial Rehabilitation Journal 1993;16: 11–233 Amering M, Schmolke M. Recovery das Ende der Un-heilbarkeit. Bonn: Psychiatrie-Verlag; 2011:4304 Sauter D, Abderhalden C, Needham I, Wolff S. Lehr-buch psychiatrische Pflege. Bern: Huber; 2004: 10655 Barker P, Buchanan-Barker P. The Tidal Model. Hove: Brunner-Routledge; 20056 Slade M. 100 ways to support recovery: Rethink; 2009

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