radikale anthroponomie wieso griechische polis und theokratie diametrale gegensätze sind egon flaig

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Radikale Anthroponomie Wieso griechische Polis und Theokratie diametrale Gegensätze sind Egon Flaig Es gibt in der Geschichte nicht nur das theokratische Argument; es gibt auch – gar nicht so selten – theokratische Elemente beim Organisieren menschlicher Gesellschaften. Das ist auch zu erwarten. Denn das Argu- ment kann nur wirken, wenn bei den Adressaten die Vorstellung besteht, es sei möglich, theokratische Modelle zu verwirklichen. Will man sich nun diesen Versuchen, die Herrschaft theokratisch zu gestalten, nähern, bewegt man sich nicht mehr allein auf der Ebene von Diskursen und Diskursfor- mationen. Die politologische Analyse von Herrschaftssystemen läßt sich dann nicht umgehen; sie muß selbstverständlich religionssoziologisch ab- gesichert sein. Mein Aufsatz bezweckt, dafür einen Vorschlag zu umrei- ßen, der sich in den forschungspraktischen Operationen als hilfreich erwei- sen könnte. Es ist nämlich heuristisch angebracht und konzeptionell viel- versprechend, das theokratische Phänomen von seiner Gegenseite her zu beleuchten. In der klassischen Antike, vor allem bei den Griechen, bildete sich der politische Verweisungszusammenhang für jene menschliche Au- tonomie, die im 1. Stasimon der sophokleischen ‚Antigone‘ so beredt das Wort ergreift. Diese Autonomie ist unvereinbar mit jeglicher theokrati- schen Tendenz. Um kulturelle Besonderheiten auf den Begriff zu bringen, sind in diesem Falle die religionssoziologischen Differenzen zu ermitteln und so pointiert als möglich zu konzeptualisieren. Das ist auch deswegen vonnöten, weil in den Kulturwissenschaften ein Trend eingesetzt hat, im Namen politischer Correctness die Differenzen herunterzuspielen oder gar zu verwischen. Für die Reflexion ist solche Entdifferenzierung verhäng- nisvoll; was man an politisch korrekter ‚Nähe‘ gewinnt, verliert man an wissenschaftlicher Präzision und Begrifflichkeit. Um dieser Entdifferen- zierung entgegenzuwirken, ist historische Rückbesinnung angesagt. Sie fällt leichter, wenn zunächst die begrifflichen Probleme konturiert sind. Konzeptuelle Arbeit im Stile Max Webers heißt nicht, Schubladen zu bas- teln, in welche die empirischen Fälle hineinzuwerfen wären; sondern im Gegenteil sind denkbare Möglichkeiten definitorisch voneinander abzu-

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Radikale Anthroponomie Wieso griechische Polis und Theokratie diametrale Gegensätze sind

Egon Flaig

Es gibt in der Geschichte nicht nur das theokratische Argument; es gibt auch – gar nicht so selten – theokratische Elemente beim Organisieren menschlicher Gesellschaften. Das ist auch zu erwarten. Denn das Argu-ment kann nur wirken, wenn bei den Adressaten die Vorstellung besteht, es sei möglich, theokratische Modelle zu verwirklichen. Will man sich nun diesen Versuchen, die Herrschaft theokratisch zu gestalten, nähern, bewegt man sich nicht mehr allein auf der Ebene von Diskursen und Diskursfor-mationen. Die politologische Analyse von Herrschaftssystemen läßt sich dann nicht umgehen; sie muß selbstverständlich religionssoziologisch ab-gesichert sein. Mein Aufsatz bezweckt, dafür einen Vorschlag zu umrei-ßen, der sich in den forschungspraktischen Operationen als hilfreich erwei-sen könnte. Es ist nämlich heuristisch angebracht und konzeptionell viel-versprechend, das theokratische Phänomen von seiner Gegenseite her zu beleuchten. In der klassischen Antike, vor allem bei den Griechen, bildete sich der politische Verweisungszusammenhang für jene menschliche Au-tonomie, die im 1. Stasimon der sophokleischen ‚Antigone‘ so beredt das Wort ergreift. Diese Autonomie ist unvereinbar mit jeglicher theokrati-schen Tendenz. Um kulturelle Besonderheiten auf den Begriff zu bringen, sind in diesem Falle die religionssoziologischen Differenzen zu ermitteln und so pointiert als möglich zu konzeptualisieren. Das ist auch deswegen vonnöten, weil in den Kulturwissenschaften ein Trend eingesetzt hat, im Namen politischer Correctness die Differenzen herunterzuspielen oder gar zu verwischen. Für die Reflexion ist solche Entdifferenzierung verhäng-nisvoll; was man an politisch korrekter ‚Nähe‘ gewinnt, verliert man an wissenschaftlicher Präzision und Begrifflichkeit. Um dieser Entdifferen-zierung entgegenzuwirken, ist historische Rückbesinnung angesagt. Sie fällt leichter, wenn zunächst die begrifflichen Probleme konturiert sind. Konzeptuelle Arbeit im Stile Max Webers heißt nicht, Schubladen zu bas-teln, in welche die empirischen Fälle hineinzuwerfen wären; sondern im Gegenteil sind denkbare Möglichkeiten definitorisch voneinander abzu-

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grenzen. So gewinnt man heuristische Instrumente, die es erleichtern, em-pirische Fälle als reale Varianten idealer Typen zu erfassen. Der Historiker hat es empirisch immer mit Varianten zu tun, nie mit den theoretisch kon-struierten und methodisch vorausgesetzten Typen.

I. Begriffsklärung. Wogegen grenzt sich der Begriff ‚Theokratie‘ ab und wie ist er zu differenzieren?

A) Zwei Typen der Theokratie Der jüdische Historiograph und römische Bürger Flavius Josephus prägte den Neologismus ‚Theokratia‘, ihn explizit absetzend von den drei in der griechischen politischen Philosophie gängigen Grundformen der Staatsver-fassung, nämlich Monarchie, Oligarchie und Demokratie.1 Er schuf damit einen verfassungsrechtlichen Begriff, um eine Staatsform zu benennen, die sich von allen anderen grundsätzlich unterscheidet: Gott selber ist der Souverän. Seine scharfe Grenzziehung nenne ich die josephische Unter-scheidung. Sie ist politisch ähnlich folgenreich wie die mosaische Unter-scheidung zwischen Polytheismus und Monotheismus welche Jan Assmann so prägnant herausgearbeitet hat.2 Sie lautet: Theokratie und jedwede menschlich gesetzte Ordnung sind diametrale Gegensätze. Inwiefern sie unvereinbar sind, ist eine andere Frage; logisch Unvereinbares amalga-miert sich in der Geschichte gar nicht selten.

1 „Nun sind aber unendlich die Unterschiede im Detail bei den Sitten und Gesetzen

unter allen Völkern; nach den Hauptstücken könnte man sie so durchgehen: die einen haben nämlich den Monarchien, die anderen den Dynastien weniger, andere aber den Massen übertragen die Macht in den Staaten. (165) Unser Gesetzgeber aber richtete sich nach überhaupt keiner davon, sondern entwarf den Staat (Politeuma) als ‚Theokratie‘ – wie man wohl sagen könnte wenn man das Wort vergewaltigt –, indem er Gott die Herr-schaft (Archè) und die Gewalt (Kratos) zuwies… (167) er offenbarte ihn als einen und ungewordenen und in ewige Zeit unveränderlichen, unterschieden von der Schönheit jeder menschlichen Gestalt und durch seine Kraft uns erkennbar, nach seiner Seinsbe-schaffenheit aber unerkennbar.“ Josephus, Gegen Apion, II 164 f. Dazu vorzüglich: HUBERT CANCIK, Theokratie und Priesterherrschaft. Die mosaische Verfassung bei Fla-vius Josephus, c. Apionem II 157–198, in: Religionstheorie und Politische Theologie, Bd. 3: Theokratie, hrsg. v. Jacob Taubes, München u. a. 1987, 65–77, dessen Überset-zung ich übernehme.

2 Josephus meint, die Theokratie habe sich in mehreren Phasen der israelitischen Ge-schichte realisiert: zuerst unter Moses, dann in der Epoche der Richter bis Samuel, nach der Königszeit wiederum als Priesterherrschaft unter den Persern. Die Wahl Sauls zum König war ein Umsturz, der die Theokratie beendete: „die Politeia der Hebräer stürzte in das Königtum“ – es war ein Akt der Unfrömmigkeit, einen König zu erheben (Josephus, Jüdische Altertümer, VI 36, 83 u. 88).

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Nun muß Josephus einräumen, daß sich diese Theokratie vorwiegend als Herrschaft einer organisierten Priesterschaft über das gesamte Leben des Volkes realisierte. Eine platonische Denkfigur gebrauchend, nennt er eine solche Priesterherrschaft eine ‚Aristokratie‘.3 Damit hat er eine Wi-dersinnigkeit eingestanden: Denn in einer Aristokratie herrschen zwei-felsohne Menschen, obgleich die Besten. Josephus rechtfertigt diese Be-stimmung, indem er ausführt: Herrschaft der wahrhaft Besten heiße, daß die Weisen herrschten, welche sich an die eine, unverbrüchliche Wahrheit hielten und sich am bestmöglichen und unveränderlichen Gesetz orientier-ten.4 Im Medium platonischer Begriffe hätte folglich Josephus von ‚No-mokratie‘ sprechen müssen, nicht von ‚Aristokratie‘. Aber sein konzeptu-eller Fehlgriff legt das Dilemma jeglicher Theokratie offen: Gott herrscht nicht unmittelbar.

Dieses Dilemma ist konzeptuell einzukreisen; dabei möchte ich Jan Assmanns Unterscheidung von ‚repräsentativer‘ und ‚identitärer‘ Theokra-tie nicht übernehmen. Denn eine ‚identitäre Theokratie‘ hieße, daß Gott selber – in Präsenz – herrscht. Diese begriffliche Opposition ist eine Transposition jener Opposition von repräsentativer und identitärer Demo-kratie, welche Carl Schmitt in seiner Verfassungslehre ausgearbeitet hat.5 Diese Opposition ist bei Schmitt sachlich nicht sauber begründet, weil die Inkongruenz zwischen einem empirischen Volk, welches Kinder, Gefäng-nisinsassen wie auch Schwerbehinderte empirisch enthält, und seinem poli-tischen Inbegriff, der nur die qualifizierten Bürger enthält, nicht weiter aufzulösen ist. Wenn Gott ins Spiel kommt, ist der Korrelatbegriff ‚identi-tär‘ nicht mehr operabel. Theologisch mag der Begriff taugen, religionsso-ziologisch ist er unzutreffend. Denn Gott braucht ja Vermittler, um seinem Volk Befehle zu geben, also Agenten, mittels derer er seine Herrschaft ausübt. Und diese Agenten können unmöglich nicht-herrschen. Im Hin-blick auf Josephus bedeutet dies: er wendet seine eigene Unterscheidung nicht streng an. Priesterherrschaften sind Hierokratien; sie werden selten zu Theokratien.

Damit sind wir an der Stelle angelangt, von wo aus sich Konzepte ge-winnen lassen, indem man das von Weber empfohlene theoretische Ver-

3 Josephus verschweigt wohlweislich, daß das Priestertum des nachexilischen Juden-

tums gentilcharismatisch legitimiert war und sich schlicht und einfach intrafamilial rek-rutierte. Siehe: PAUL VOLZ, Die biblischen Altertümer, Ndr. Wiesbaden 1989, 56–60.

4 CANCIK, Theokratie (Anm. 1), 72. Angesichts dieses Gesetzes sind alle Tugenden der Frömmigkeit untergeordnet und muß jedes Delikt zum Verbrechen an Gott werden. Siehe: Gegen Apion, II 194.

5 Siehe: JAN ASSMANN, Politik zwischen Ritual und Dogma, in: Stein und Zeit. Mensch und Gesellschaft im Alten Ägypten, hrsg. v. dems., München 1971, 241–245, wiederaufgenommen in: DERS., Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, Mün-chen 1991.

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fahren anwendet: nämlich bestimmte Eigenschaften gedanklich zu isolie-ren von anderen und sie zu steigern. Mir scheinen zwei fundamentale Ei-genschaften bedeutsam: Erstens geben Gott oder die Götter in Theokratien die politische Ordnung. Zweitens ist das wichtige politische Handeln in Theokratien gottgeleitet oder soll es sein. Die erste Fundamentaleigen-schaft läßt sich unter – mindestens – drei Aspekten betrachten:

1. In Theokratien gibt Gott die politische Ordnung. Und dabei öffnet sich ein großer Spielraum für Varianten. Die minimalste Form wäre die, daß Gott selber benennt, wem Gehorsam zu leisten ist, seien es auserwähl-te Personen oder sei es eine Funktionsgruppe. Zudem gibt Gott Vorschrif-ten für das politische Handeln. Das tut er auf zwiefache Weise: entweder durch aktuelle Befehle, oder durch schriftliche Gesetze. Diese beiden For-men des Gebots konstituieren zwei ganz unterschiedliche Formen theokra-tischer Herrschaft.

2. Beide Formen der Theokratie führen zu politisch sehr unterschiedli-chen Ergebnissen: Wenn Gott ständig aktuelle Befehle gibt, benötigt das Gemeinwesen überhaupt keine politische Organisation, sondern eine regu-lierte Anarchie; das Gemeinwesen führt, wer die Befehle Gottes ständig vernimmt und sie an das Volk weitergibt; hier sind unablässig Propheten nötig. Die zweite Form der Theokratie benötigt einen einzigen Propheten, nämlich zur Offenbarung von Gottes Gesetz, und danach keinen mehr. Stattdessen braucht sie Schriftgelehrte, die das göttliche Gesetz dauernd auslegen.6 Die erste Form der Theokratie ist charismatisch, die zweite scholastisch. Beide Formen sind in bleibender Spannung und gelegentlich in blutigem Widerstreit, wie das Alte Testament bezeugt und auch die is-lamische Geschichte. Langfristig unterliegt immer der prophetische Typ. Zwar sind Theokratien desto ‚reiner‘, je mehr sie dem prophetischen Typ zuneigen, aber alle charismatischen Herrschaften sind extrem instabil, sie lassen sich nicht verstetigen. Theokratien stabilisieren sich, je mehr die Rechtsgelehrten die Propheten eliminieren; in diesem Falle werden The-okratien zu „göttlich fundierten Nomokratien“, wie Erwin Rosenthal und Majid Khadduri es für den Islam dargelegt haben.7 Die Nomokratie auf

6 Josephus sieht die Theokratie in einer Priesterherrschaft verwirklicht. Liest man al-

lerdings genau, dann ist nicht die priesterliche Funktion und Qualität der Priesterschaft das maßgebliche Kriterium für die besonderen Führungskompetenzen, sondern der Um-stand, daß sie das Gesetz kennen und sich an ihm orientierend das Volk führen. Die Füh-rungskompetenz ergibt sich aus der Vertrautheit mit dem Gesetz und der Kunst dieses zu interpretieren.

7 Zum Verhältnis von politischer Verfaßtheit und religiöser Fundierung siehe: ERWIN

I. J. ROSENTHAL, Political Thought in Medieval Islam. An introductory outline, Cam-bridge 1958; TILMAN NAGEL, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam. Geschichte der politischen Ordnungsvorstellungen der Muslime, Bd. II: Vom Spätmittelalter zur Neu-zeit, Zürich / München 1981; ANN K. S. LAMBTON, State and Government in Medieval

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Basis eines göttlichen Gesetzes ist also der häufigste Fall von theokrati-scher Herrschaft.8

3. Die häufig in der Literatur anzutreffende Meinung, theokratische Ordnungen seien ‚egalitär‘ ist soziologisch falsch. Der Irrtum entsteht aus der Augenfälligkeit, daß theokratische Autoritätstypen die herkömmlichen sozialen und politischen Hierarchien unterminieren, offen bekämpfen und häufig sogar abschaffen. Daher erklärt sich der ‚revolutionäre‘ Ton the-okratischer Ideologien und das revolutionäre Gehabe theokratischer An-führer, also der Zusammenhang von „Exodus und Revolution“.9 Doch die theokratisch legitimierte Führung errichtet sofort neue Hierarchien – diese funktionieren als politische Herrschaft mit weit weniger Möglichkeiten zur Partizipation als die allermeisten sonstigen Organisationsformen. Es ist daher irrig, das Adjektiv ‚demokratisch‘ zu verwenden, um theokratische Ordnungen zu charakterisieren. Zwist zwischen theokratischen Anführern kann – solange man streng im Rahmen theokratischer Legitimation bleibt – nur durch Gottesurteile geschlichtet oder entschieden werden.10

Schematisierung der 2 Typen der Theokratie: Radikaler (reiner) Typ Nomokratischer Typ

Gott gibt: fortlaufend Befehle

Gott gibt: einmalig Gesetze, Ordnung und Aufträge

Propheten: empfangen Gottes Befehle; geben diese weiter

Schriftgelehrte: interpretieren die Gesetze

Charismatische Autorität: individuelle Berufung durch Gott (die Gemeinde muß das glauben)

Scholastische Autorität: Wissenserwerb durch spezifische Schulung (die Schule verleiht Qualifikation)

Sehr instabil: Infragestellung durch konkurrierende Cha-rismatiker

Relativ stabil: Legitime Infragestellung nur durch andere Textauslegung (andere Schulen)

Kurzlebig Traditionsfähig

Islam. An introduction to the study of Islamic Political Theory: The Jurists, Oxford 1981; JOHANN C. BÜRGEL, Allmacht und Mächtigkeit. Religion und Welt im Islam, München 1991, bes. 64 ff.; HENNING OTTMANN, Geschichte des politischen Denkens, Bd. II/2: Das Mittelalter, Stuttgart 2004, 129–168.

8 Politische Formationen, in denen der König selber als unmittelbare Verkörperung Gottes gilt, was Jan Assmann für die ägyptische Monarchie festgestellt hat, scheinen sehr selten zu sein. Um eine solche Politie zu bezeichnen, schlägt Assmann die Kategorie ‚inkarnatorische Theokratie‘ vor.

9 MICHAEL WALZER, The Revolution of the Saints. A study in the origins of radical politics, Cambridge (Mass.) 1965; DERS., Exodus und Revolution, Frankfurt 1995.

10 Vorbild eines solchen Gottesurteils: Die Vernichtung von Korach und seinen An-hängern, welche sich gegen Mose aufgelehnt hatten (Numeri 16).

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Radikaler (reiner) Typ Nomokratischer Typ

Israel (Vorkönigliche Ära)

Israel (nach dem babylonischen Exil) Sunnitischer Islam (gestützt durch Mamlu-kie)

Nun ist in Theokratien nicht nur die Ordnung gottgegeben, sondern das entscheidende politische Handeln ist gottgeleitet. Diese zweite Fundamen-taleigenschaft läßt sich unter folgenden Aspekten näher besehen:

1. Das intensivste politische Handeln ist das Kriegführen. In Theokra-tien gibt es Heilige Kriege, also gottbefohlene Kriege. Je stärker die the-okratische Tendenz hervortritt, desto mehr gerät das Kriegführen unter göttliches Gebot oder gar unter göttliche Befehle. Im Idealfall hieße das: Alle Kriege, die nicht gottbefohlen sind, werden geächtet.11 Es ist für die Charakterisierung der byzantinischen Monarchie – in welcher der Kaiser zugleich Oberhaupt der Kirche war – ganz entscheidend, daß „das byzanti-nische Reich … keine Kreuzzüge“ entwickelte.12

2. Anderseits gibt es gottbefohlene Kriege nicht nur in Theokratien, sondern überall dort, wo Gott oder die Götter politische Befehle geben können. Historisches Vergleichsmaterial bietet hier systematisierbare Auf-schlüsse: So vermochten zwar Germanen, Kelten und Römer ihre Krieg-führung zu sakralisieren, aber sie waren außerstande, gottbefohlenen Krie-ge zu führen.13 Für die Griechen ist ein einziger legendärer Fall eines gott-befohlenen Krieges belegt, nämlich jener zugunsten des Orakels von Del-phi (um 600 v. Chr.). Dieser einmalige göttliche Befehl erfolgte in der Form eines Orakels. Diese mantische Form überläßt den Menschen die Initiative; diese fragen, die Götter antworten. Allerdings war es im Kontext der griechischen Archaik unerläßlich, die Götter zu befragen. Wo die kul-turellen Konditionierungen eine Anfrage bei den Göttern verbindlich

11 Diese Tendenz hat MAJID KHADDURI (War and Peace in the Law of Islam, Balti-

more 1955), für die sunnitische Kriegführung festgestellt. 12 MICHAEL MITTERAUER, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Son-

derweges, München 2003, 201. Die voll entwickelte ‚Kreuzzugsrhetorik‘ ist eine Falle, in die Historiker gerne hineintappen. Maßgeblich sind jedoch nicht die Worte, sondern der praxeologische Kontext, in dem sie allererst ihre Bedeutsamkeit gewinnen. Mitterauer weist mit Recht darauf hin, daß schlicht und einfach im byzantinischen Reich die Vor-stellung fehlte, die Gefallenen – in Kriegen oder in Kriegen gegen Glaubensfeinde – könnten eo ipso zu Märtyrern werden. Ist keine Heilsgewißheit gegeben, besteht für die Kombattanten eine radikal andere Situation als etwa bei den Muslimen. Von einem ‚hei-ligen Krieg‘ kann dann überhaupt keine Rede sein.

13 Kelten und Germanen pflegten bisweilen das feindliche Heer zu weihen, um die Besiegten allesamt zu töten. Doch sie taten das nicht, weil ein Gott es ihnen befohlen hatte, sondern weil sie selber durch ein Votum die Götter in den Kampf involvierten. Siehe dazu: EGON FLAIG, ‚Heiliger Krieg.‘ Auf der Suche nach einer Typologie, in: His-torische Zeitschrift 285 (2007), 265–302.

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machten, dort hing es von der Orakelpraxis ab, ob es zu regelrechten gött-lichen Kriegsaufträgen kam oder nicht. Und die unterschied sich in Hellas erheblich von derjenigen im Vorderen Orient.

3. Die politische Theologie theokratischer Bewegungen oder Regierun-gen beruhen auf der expliziten oder latenten Voraussetzung, daß die Götter oder Gott in der Geschichte zielorientiert handeln. Andernfalls sind sie außerstande, politische Ordnungen zu erlassen und planvolle Gebote zu geben. Das bedeutet freilich, daß viele Polytheismen sich nicht für the-okratische Semantiken eignen. Sie werden erst dann theokratie-tauglich, wenn die anderen Götter einem höchsten Gott willig dienen. Dann wird überhaupt erst denkbar, daß dessen Handeln in der Geschichte kohärent und planvoll erfolgen kann. Im Monotheismus ist die göttliche Regierung über die Geschichte definitiv gesichert.14 In der entwickelten theokrati-schen Semantik werden Kriege tendenziell zu Kriegen Gottes gegen die Feinde seines Planes, wie das Alte Testament viele Male zeigt. Das Volk Israel begeht in den Büchern ‚Josuah‘ und ‚Samuel‘ Genozide der perfek-testen Art – unter dem Befehl Gottes.15

Führt jeder Monotheismus zur Theokratie? Nein. Nur derjenige Mono-theismus, in dem Gott als Herr seiner Gläubigen in der Geschichte handelt – durch Befehl oder Gesetz –, ist anfällig für theokratische Phänomene, seien diese ephemer, periodisch oder langdauernd. Anders verhält es sich mit gnostischen Strömungen. Wenn ein Bote Gottes sagt: ‚Mein Reich ist nicht von dieser Welt‘, dann hat für diesen Gott das Heil keine Geschichte. Und dann hat die Geschichte kein Heil. Heil und Geschichte haben über-haupt nichts miteinander zu tun. Monotheistische Strömungen von gnosti-scher Couleur sind somit theokratie-unfähig. B) Sakralisierung der Macht ist nicht identisch mit Theokratie In vielen Gesellschaften hielt man die menschliche Ordnung für teilweise gottgegeben oder göttlich gebilligt. Aber nur wenige davon bildeten eine ausgesprochene Theokratie aus. Daher ist Theokratie begrifflich und sach-lich zu trennen von Sakralisierung. Ich verdeutliche das in vier Punkten:

1. Sakralisierung der politischen Macht heißt: Gott wird dazu einge-spannt, der politischen Macht zu helfen. Aber diese Hilfe bedeutet keines-wegs, daß Gott die politische Ordnung bestimmt. Das ist ein kleiner Unter-

14 Auch Vergil unterstellt in seiner ‚Aeneis‘ den geschichtlichen Verlauf der Vorse-

hung Jupiters. Tendenziell werden dann die anderen Götter zu Gehilfen. 15 1. Samuel 15. Solche Weihungen des Feindes kennen auch andere Kulturen. Aber

bei Kelten, Germanen und Römern ist die Weihung eine politische Entscheidung der kriegführenden Menschen. Hier ist es ein Befehl Gottes. Dazu: STANLEY GERVITZ, Jeri-cho and Schechem. A Religio-Literary Aspect of City Destruction, in: Vetus Testamen-tum 13 (1963), 52–62, sowie: FLAIG, ‚Heiliger Krieg‘ (Anm. 13).

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schied mit welthistorischen Folgen. Römische Kaiser lassen sich auf Mün-zen des Öfteren begleiten von mächtigen Göttern. Doch der begleitende Gott herrscht nicht; er ist comes des herrschenden Kaisers, er unterstützt diesen. Es ist also Genauigkeit verlangt bei der Analyse der sakralen Di-mension politischer Macht.

2. Deutlich wird der Unterschied, wenn man die Sakralisierung unter-schiedlichster Monarchien vergleicht. Wir hören häufig das Wort Cäsaro-papismus, es soll eine besonders enge Verbindung von weltlich und sakral anzeigen. Aber die Verbindung von weltlich und sakral ist etwas ganz an-deres als Theokratie. Cäsaropapismus ist ein nonsense-Wort, wenn man sich die Amtsbefugnisse des byzantinischen Kaisers ansieht.16 In Byzanz gilt das Römische Recht, also ein radikal weltliches Recht. Der byzantini-sche Kaiser hält ein säkulares Amt inne, auch wenn Gott ihm dabei hilft. Die Reichstheologie des Eusebios ist nicht kongruent mit der politischen Praxis. Auch half es ihm nichts, das Oberhaupt der Kirche zu sein; er konnte trotzdem exkommuniziert werden.17 Auch als Kaiser Nikephoros Phokas 963 eine Synode darum bat, seine gefallenen Soldaten in den Sta-tus von Märtyrern zu erheben, weigerte sich diese.18 Er selber konnte dar-über nicht verfügen. Die Trennung von regnum / sacerdotium bzw. basi-leia / hierosyne ist nicht bloß ein Diskursphänomen. Daher hat es eine Magna Charta in europäischen Monarchien gegeben – und nicht nur eine –, aber nie im islamischen Raum.19

3. Dementsprechend sind Hierokratien nicht unbedingt Theokratien. Die Organisation der katholischen Kirche war durch Konzilsbeschlüsse verän-derbar. Das kanonische Recht ist nie ‚heiliges Recht‘ gewesen, denn es besteht aus Synodalbeschlüssen und Dekreten. Es ist zwar nicht ‚weltli-ches‘, aber fast unumstritten ‚menschliches‘ Recht.20 Das ist im Judentum großenteils anders, im Islam radikal anders.21

16 GILBERT DAGRON, Empereur et prêtre. Etude sur le ‘Césaropapisme’ byzantin, Pa-

ris 1996. 17 Der Patriarch Nikolaios Mystikos schloß 907 den Kaiser Leo VI. vom Kirchgang

aus; Michael VIII. wurde 1262 exkommuniziert. Siehe: MARIE T. FÖGEN, Warum Canos-sa in Byzanz nur zur Parodie taugte, in: Die Macht des Königs, hrsg. v. Bernhard Jussen, München 2005, 205–215.

18 Siehe: Zonaras, XVI 25,22 f. Der Patriarch Polyeuktos berief sich auf den 13. Ka-non Basilius des Großen (ep. 188,13), welcher ein kriegerisches Martyrium ausschloß. Doch wie verbindlich war dieser Kanon? Dazu: GUSTAVE SCHLUMBERGER, Un empereur byzantin au Xe siècle. Nicephore Phocas, Paris 1890. Allgemein hierzu: WALTER EMIL

KAEGI, Byzantium and the Early Islamic Conquests, Cambridge / New York 1992. Zum Kontext: Siehe dazu: MITTERAUER, Warum Europa? (Anm. 12), 199–215, hier 201, so-wie FLAIG, ‚Heiliger Krieg‘ (Anm. 13).

19 MITTERAUER, Warum Europa? (Anm. 12), 149–151. 20 Die Diskussionen auf der Tagung in Heidelberg haben diesen Umstand verdeutlicht.

Daß man im Mittelalter von ‚canones sanctissimi‘ sprach, ist zwar semantisch interes-

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Schematisierung der Differenz zwischen ‚Sakralisierung‘ der Macht und

theokratischer Organisation des Gemeinwesens Theokratien

Hierokratien (Typ kathol. Kirche)

‚Sakrale‘ Königtümer

Göttliches Gesetz ist unverfügbar. Strittig: ist es vollständig? – Oder ist es ergänzbar?

Göttliche Gebote (wenige) sind unverfügbar; aber sie lassen große Spielräume für menschli-che Setzungen (kanoni-sches Recht)

Gott schützt den König (Dei Gratia) Strittig: Nur die Person? (wie lange?) – auch die In-stitution?

Ordnung kann nicht verändert werden; nur verändert werden, wenn Übereinstimmung mit göttlichem Gesetz

Minimaler Anspruch an politische Ordnung: Außer: Sie soll nicht die Grundla-ge der klerikalen Organi-sation antasten (manchmal eine Prinzi-pienfrage)

Politische Ordnung ist ver-

änderbar

Strittig: Welche Instanzen dürfen das? (meist: weltliche Instanzen) Beispiel: Magna Charta (religiöse Hilfe: nützlich, nicht entscheidend)

Veränderung nur unter Kontrolle der Schriftgelehr-ten

Einmischung, wenn klerikale Interessen bedroht sind

Wehrt klerikale Einmi-schung oft ab (besonders bei Fragen der inneren Ordnung)

sant. Freilich sind von Synoden beschlossene Regeln, auch wenn sie unter göttlicher Inspiration zustande kamen, etwas ganz anderes als von Gott gegebene Gesetze. Die Lexik verbirgt zwei religionssoziologisch völlig verschiedene Sachverhalte. Noch wich-tiger ist, daß diese ‚canones sanctissimi‘ mit säkularem Recht kollidieren können. Steffen Patzold erwähnte in der Diskussion den frühmittelalterlichen Fall eines Klerikers, der sich gegen die Regeln des kanonischen Rechtes auf sächsisches Recht berief und dem die zuständige Synode Recht gab. Ein solcher Fall wäre – so ist anzunehmen – in der islami-schen Welt oder im Judentum schwer denkbar gewesen.

21 Ein solcher Satz, geschrieben von einem Althistoriker, ist selbstverständlich keine Aussage, die aus fachdisziplinärer Forschung gewonnen wäre. Er ist lediglich aus kom-paratistischen Bemühungen gerechtfertigt. Doch bei jeder Komparatistik stellt sich sofort die Frage, welchen ‚Strömungen‘ in der fremden Disziplin man folgt. Ich habe mich entschieden, zur Frage der Theokratie und des Djihad den Standard-Handbüchern zu folgen, nämlich MAJID KHADDURI, ERWIN ROSENTHAL, ANN LAMBTON, TILMAN NAGEL und WERNER ENDE.

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Theokratien

Hierokratien (Typ kathol. Kirche)

‚Sakrale‘ Königtümer

Keine Entscheidungsregel: ergo: a) Konsens vonnöten: (erredet, erstritten, erzwun-gen), b) Unfähigkeit zu entscheiden = Status quo bleibt erhalten; Verände-rungen werden blockiert (Tendenz zur wörtlichen Auslegung, weil diese am wenigsten anfechtbar ist)

Oft klare Entscheidungs-regel: buddhist. Klöster: Majorz – kathol. Kirche: 2/3 Ma-jorz

In wichtigen Gremien klare Entscheidungsregeln: in den Städten: qualifiz. Majorz; später: meist Majorz, (etwa: Schwabenspiegel)

4. Schließlich sollte man unterscheiden zwischen ‚Pseudo-Theokratien‘

und Theokratien. Gut organisierte Hierokratien können in gravierenden historischen Situationen der politischen Elite die Deutungshoheit über wichtige Belange entreißen – nämlich darüber, wie man kollektives Unheil zu deuten habe. Die Spitze der Hierokratie definiert dann die ‚Kosten‘ (Opfer, sakrale Handlungen), welche die Gemeinschaft aufbringen muß, um Unheil abzuwehren; sie kann eventuell diese Kosten enorm nach oben treiben (bis zu massenhaften Menschenopfern – wie etwa bei den Azte-ken). Mit dieser Befugnis beeinflussen sie die Allokation der sozialen Res-sourcen entscheidend. Gelingt ihnen das, dann können hierokratische Sys-teme beachtliche Machtfülle erwerben und sogar Monarchien in quasi-hierokratische Systeme verwandeln. Die politischen Effekte eines solchen tendenziell schrankenlosen Herrschaftsanspruches ähneln jenen einer the-okratischen Herrschaft. Doch die Praxis der Unheilsabwendung unterliegt nicht notwendig einer göttlichen Beauftragung. Im Gegenteil: das sakrale Handeln richtet sich gegen böse göttliche Mächte; es unterliegt also keiner ‚Rechtleitung‘ durch Gott; folglich ist die Machtfülle solcher Priester nicht theokratisch begründet. Trotz analogem Herrschaftsanspruch in der Praxis unterscheidet sich die Politische Theologie radikal. Dieser Typ dürfte his-torisch häufiger vorgekommen sein als die Quellen dokumentieren. Doch er sollte – aus religionssoziologischen Gründen – nicht mit Theokratie as-soziiert werden.

Ich komme zurück zur ersten Fundamentaleigenschaft, nämlich zur gottgegebenen Ordnung. An ihr gemessen sind Theokratie und Republik die schärfsten und unversöhnlichsten Gegensätze, welche die Weltge-schichte hervorgebracht hat. In keiner theokratisch verfassten Gesellschaft und in keiner Gesellschaft, in der die Ordnung göttlich gegeben ist, können sich die Menschen ihre Ordnung selber geben. Nirgends gibt es in einer theokratischen Ordnung: freie Wahlen zu einem Parlament, eine parlamen-tarisch kontrollierte Regierung, oder gar Volksversammlungen, die ihre

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Amtsträger wählen und Beschlüsse fassen. Wo es überhaupt die Mehr-heitsentscheidung gab – wie z. B. in den jüdischen Gemeinden des Mittel-alters und der frühen Neuzeit –, dort galt sie nur mit Einschränkung. Und es kann – in einer radikalen Theokratie – keine regulierten und partizipati-ven Verfahren geben, mittels derer die Menschen sich selber Gesetze ge-ben.22

Nur dort, wo dies möglich war, nämlich die Gesetzgebung durch eine menschliche Institution, legitimiert durch das Gesamtvolk, nur dort entwi-ckelte sich eine republikanische Dynamik. Eine solche Dynamik ist in der Weltgeschichte dreimal dokumentiert, einmal in Altindien (zwischen 500 v. Chr. und 300 n. Chr.), zweimal in Europa; zuerst bei den Griechen vor 2700 Jahren – mit einer Schubwirkung, die in die hellenistische Welt tief hineinreichte und bis zum 4. Jh. n. Chr. anhielt. Ferner in vielen Dutzenden und dann Hunderten von mittelalterlichen Städten in Italien, Mittel- und

22 Es ist religionssoziologisch bedeutsam, dass die jüdischen Gemeinden des Mittelal-

ters nicht in eine theokratische Spur einschwenkten. Sowohl unter moslemischer wie unter christlicher Herrschaft entwickelten sie Organisationsprinzipien, die deutlich ‚re-publikanische‘ Züge trugen. Dazu trugen drei Faktoren maßgeblich bei: a) die religiösen Autoritäten sprachen sich in Rechtsgutachten dafür aus, dass die Gemeinde viele kom-munale Belange selber zu entscheiden habe – selbstverständlich unter der Dominanz eines Ältestenrates –, und diese Entscheidungen auch mit gerichtlichem Zwang gegen Widerstrebende durchsetzen solle, womit sich die Gemeinde in eine politisch organisierte Körperschaft verwandelte; b) der Gebrauch der Mehrheitsentscheidung wurde ausgewei-tet; während sie in der Ära des 2. Tempels ausschließlich bei Gerichtsverfahren ange-wandt wurde (denn so gelangten die Richter schnell und eindeutig zu einem Urteil), ver-fügten nun die Gelehrten, dass auch die Gemeinde nach der Mehrheitsregel ihre Be-schlüsse fassen solle; c) die Rabbiner konnten zwar mit ihren Responsa (Rechtsgutach-ten) jeden beliebigen kommunalen Beschluß für unstatthaft erklären, doch sie unterschie-den zwischen Bereichen, in denen die Gemeinde nicht gegen die Torah beschließen durf-te (issur) und Bereichen, in denen der Gemeinde eine beachtliche Selbstbestimmung eingeräumt wurde (mamon); d) die Rabbiner und Gelehrten hielten sich zurück beim Übernehmen von Ämtern und überließen die kommunale Verwaltung dem gewählten Rat der Ältesten. Diese Entwicklung vollzog sich vom 10. bis zum 13. Jh., war im 14. Jh. praktisch abgeschlossen. Die jüdischen Gemeinden, wiewohl nicht demokratisch sondern eher ‚aristokratisch‘ strukturiert, hatten somit nördlich der Alpen einen Vorsprung von etwa anderthalb Jahrhunderten gegenüber der aufkommenden städtischen Selbstverwal-tung. Das Judentum hat sich in der historischen Wirklichkeit demnach weit weniger ‚the-okratisch‘ entwickelt als von der theokratischen Ideologie her zu erwarten gewesen wäre. Siehe dazu: IRVING A. AGUS, Democracy in the Communities of the Early Middle Ages, in: The Jewish Quarterly Review, n. s. 43 (1952), 153–176; MENACHEM ELON, Jewish Law. History, Sources, Principles, Bd. I u. II, Jerusalem 1994; EPHRAIM KANARFOGEL, Unanimity, Majority and Communal Government in Ashkenaz during the High Middle Ages: A Reassessment, in: Proceedings of the American Academy for Jewish Research 58 (1992), 79–106; SAMUEL MORELL, The Constitutional Limits of Communal Govern-ment in Rabbinic Law, in: Jewish Social Studies 33 (1971), 87–119. Siehe auch den Bei-trag von RONEN REICHMAN in diesem Band.

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Westeuropa. Wenn die spätmittelalterlichen Städte die antike politische Autonomie wiederbelebten, dann war das ein Rezeptionsprozeß, der die Griechen und Römer zu Vorbildern erhob.23 II. Autonomisierung des politischen Feldes und Anthroponomie

A) Eine ausgedachte Ordnung errichten. Die Reformen Solons Das autonome politische Verfügen über die menschliche Ordnung ist eine historische Leistung. Zuerst geschah das – nach dem bisherigen Stand un-serer Kenntnisse – in der griechischen Archaik. In der globalen Geschichte stellen die Griechen einen Extremfall dar: ihre Politie ist der radikalste Gegensatz zu jeglicher Theokratie.

Wie es dazu kam, stellt sich historiographisch dar als ‚Entstehung des Politischen‘ (Chr. Meier), ideengeschichtlich als ‚Gründungsakt‘, als se-mantisch hochgradig aufgeladenes Ereignis. Gemeint sind die ‚solonischen Reformen‘. Die von inneren Krisen geschüttelte Polis Athen wählte 594 v. Chr. Solon als ‚Wieder-Einrichter‘, um die Bürgerschaft neu zu ordnen. Solon erließ umfassend Gesetze und eine neue Ordnung, die gefeit sein sollte gegen soziale Unruhen, adlige Fehden, politische Umstürze und Bürgerkriege.24 Daher regelte er die Wahl zu den Ämtern, die Amtskontrolle, die Rolle des Adelsrates, die Rolle der Volksversammlung und das Gerichtswesen. Eine neue Verfassung also, aus einem Guß. Wer so tief eingreift in die Ordnung muß sein Tun rechtfertigen. Solon tat das in Gedichten, von denen einige fast vollständig erhalten sind. In seiner Elegie ‚Eunomia‘ (‚Staatselegie‘) verkündet er, daß die Götter Athen nicht ver-derben würden.25 Trotzdem gleite die Polis ins Verderben ab. Denn ver-schuldete Bürger würden als Sklaven verkauft, es folgten Fehden und so-gar der Bürgerkrieg, und schließlich gerate die Stadt unter die Knute von Tyrannen.

23 JOHN G. A. POCOCK, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and

the Atlantic Republican Tradition, Princeton 1975; QUENTIN SKINNER, Liberty before Liberalism, Cambridge 1998; Republicanism. A shared European Heritage, 2 Bde., hrsg. v. Martin van Gelderen, Cambridge 2002. Dazu: MELVIN RICHTER, Zur Rekonstruktion der Geschichte der Politischen Sprachen. Pocock, Skinner und die Geschichtlichen Grundbegriffe, in: Alteuropa – Ancien Régime – Frühe Neuzeit. Probleme und Methoden der Forschung, hrsg. v. Hans E. Bödeker / Ernst Hinrichs, Stuttgart 1991, 134–174.

24 ALFRED HEUß, Hellas. Die archaische Zeit – die klassische Zeit, in: Propyläen-Weltgeschichte, Bd. III, Frankfurt a. M. / Berlin 1962, 162–177.

25 MICHAEL STAHL, Solon F3D. Die Geburtsstunde des demokratischen Gedankens, in: Gymnasium 99 (1992), 385–408, hier 394.

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„Unsere Stadt wird nie nach dem Rat der unsterblichen Götter/ Noch mit Willen des Zeus ja ins Verderben gestürzt:/ Denn als Hüterin hält des Allgewaltigen Tochter,/ Pallas Athene, die Hand sorgenden Sinns über sie./ Aber die Bürger selbst und der unrechte Sinn ihrer Führer/ Bringen die große Stadt, Törichte, selber in Not…“ (vv 1–6, nach Snell) Solon postuliert einen rein immanenten Vergeltungsmechanismus, „einen von göttlicher Einwirkung freien irdischen Kausalzusammenhang“: Sozia-les Übel ist von Menschen gemacht und führt zur Selbstzerstörung der Bürgerschaft – ohne göttliches Zutun.26 Es ist die Sacher aller, sie am Ent-stehen zu hindern, indem man ihre Ursachen beseitigt. Nur eine neue poli-tische Ordnung leistet das, verwirklicht in einem Bündel von Gesetzen und Verfassungsregeln, innerhalb des Rahmens von Institutionen, die auch funktionieren. Da jegliche politische Ordnung prekär ist, erfordert die ‚Wohlordnung‘ ein ständiges Wachsambleiben aktiver Bürger. Uns er-scheint das ganz selbstverständlich, da wir in einer langen republikani-schen Tradition stehen. Und diese nimmt ihren Ausgang eben von jenem Gründungsakt. Nun sind Gründungsakte stets Produkte der nachträglichen sinnstiftenden Arbeit des kulturellen Gedächtnisses von Gemeinschaften, die sich in ihrer Welt orientieren müssen. Sie erscheinen als Vorgänge mit mythomotorischer Dynamik, welche neue historische Schneisen schlagen und historische Kontinuitäten regelrecht in Gang setzen. Indes, historische Kontinuitäten sind allzumeist imaginäre Größen; eine Kontinuität zwi-schen Solons Reformen und der im Spätmittelalter erfolgenden Verbrei-tung politischer Anthroponomie (Kommunale Bewegung z. B.) hat es nicht gegeben. Die antiken Errungenschaften waren Jahrhunderte lang nicht mehr im kulturellen Gedächtnis vorhanden, ja geradezu historisch ausge-löscht. Doch standen die antiken Texte zitierfähig zur Verfügung, als es galt – in Italien ab dem 11. Jh. – die Gemeindeautonomie in Begriffe zu fassen. Indes, der ‚Gründungsakt‘ selber löst sich ebenfalls auf, wenn man ihn näher betrachtet. B) Gesetzgebung durch die Volksversammlung in der Archaik Die Reformen Solons waren umfangreich, systematisch und gewiß längst konzipiert, bevor er sein Archontenamt antrat. Ein solch planvolles Han-deln verrät das Wirken einer Tradition, in welcher Solon selber stand. Die-se Tradition ist glücklicherweise außerhalb der ‚großen Texte‘ zu fassen. Aus der kretischen Stadt Dreros stammt das älteste ‚staatsrechtliche‘ Do-

26 STAHL, Solon (Anm. 25), 399. W. Jaeger hat früh erkannt, daß Solon eine „imma-

nente Gerechtigkeit des Geschehens“ entdeckt und formuliert habe (WERNER JAEGER, Solons Eunomie, Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften 11 [1926], 69 ff., hier 79).

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kument Europas: eine Inschrift von etwa 650 v. Chr. enthält ein Gesetz, das verbietet, zweimal innert 10 Jahren das oberste Amt zu bekleiden; es verpflichtet einen gewählten Rat dazu, Verstöße zu ahnden: „Gott möge gnädig sein (?). Das hat die Polis beschlossen. Wer Kosmos gewesen war, der soll 10 Jahre lang nicht nochmals Kosmos sein. Wenn er als Kosmos tätig ist, wel-ches Urteil er auch spreche, soll er das Doppelte schulden; und er soll amtsunfähig sein lebenslang; und was er als Kosmos tut, soll nichtig sein… Beschwören sollen es der Kosmos und die Damioi und die 20 der Polis…“27 Die Ratifikationsformel lautet „dieses hat die Polis beschlossen“. Wie Karl-Joachim Hölkeskamp aufzeigte, gab es Verfassungsgesetze solcher Art zu Solons Zeit in Fülle, obschon die allermeisten nicht erhalten sind. Solche Gesetze scheiden das Sakrale vom Profanen, das Öffentliche vom Privaten; sie regeln die Ausübung politischer Macht, zerlegen die politi-sche Macht in definierte Befugnisse, welche die Polis gewählten Personen auf begrenzte Zeit zuweist. Kein mythischer Gründer hat sie gegeben, kein göttliches Orakel angeordnet; sie beruhen allesamt auf Volksbeschlüssen. In feierlicher Monotonie kehrt die pathetische Formel wieder: „Dieses hat die Polis beschlossen“. Dieses Selbstbewusstsein kleiner griechischer Städ-te wird die Bürger repräsentativer Demokratien auf immer in Erstaunen setzen. Stolz sprechen die Bürgerschaften aus, daß sie ein kollektives Sub-jekt der Gesetzgebung sind, daß sie selber der Urheber der eigenen Ord-nung sind, dass sie als Gemeinschaft autonom sind – nämlich auto-nomos, sich selber das Gesetz gebend. Keine einzige griechische Polis ist auf gött-liche Gesetze gegründet. Und die Ausnahme Sparta ist wahrscheinlich kei-ne.28

‚Intellektuelle‘ wie Solon mussten bloß einen Schritt machen, nämlich den Schritt vom Verfügen über einzelne Sachverhalte hin zum Verfügen über die Ordnung als Ganze; dazu mußten sie soziale und politische Ange-legenheiten ‚vom Ganzen her‘ denken; und so ließen sich ganze Ordnun-gen ersinnen. Doch eine ausgedachte Verfassung vorlegen und sie planvoll in Form von Gesetzen verwirklichen, bedeutet, daß der politische Hand-lungsraum zu einer ganz besonderen Sphäre der Kommunikation wird, in dem selbstbewusste Bürgerschaften über ihre Regeln nachdenken. Das Po-litische kann dann kein Luhmannsches System mehr sein neben anderen Systemen; statt dessen wird es der Ort, an dem die Bürger auf ihre sozialen Beziehungen willentlich und planmäßig einwirken, mit reflektierten Ent-

27 RUSSEL MEIGGS / DAVID LEWIS, Selection of Greek Historical Inscription to the

End of the fifth Century B. C., Oxford 1969, No. 2. Dazu: KARL-JOACHIM HÖLKESKAMP, Schiedsrichter, Gesetzgeber und Gesetzgebung im archaischen Griechenland, Stuttgart 1999, 87–95.

28 Siehe: UWE WALTER, An der Polis teilhaben. Bürgerstaat und Zugehörigkeit im ar-chaischen Griechenland, Stuttgart 1993, 157 ff.

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würfen und rationalen Debatten. Eben das – die politische Deliberation und Partizipation – ist nach Aristoteles die vornehmste Praxis des Men-schen. Somit löst sich der solonische Gründungsakt auf – freilich nicht in der Weise, daß er sich als Trugbild entpuppte und verschwände, sondern in der Weise, daß er sich als ein Ereignis innerhalb einer Vielzahl von gleich-läufigen Ereignissen darstellte, ein Ereignis von besonderer semantischer und politischer Dichte innerhalb eines Wandlungsprozesses, welcher eine ganze Kultur umspannte. C) Religiöse Unfähigkeit zur Theokratie Solons Gesetze wurden von der athenischen Bürgerschaft durch einen Eid angenommen. Aber band der Eid wirklich? Nicht zufällig stößt Machiavel-li auf ein Dilemma aller Gesetzgebung: Woher bezieht das gegebene Ge-setz seine bindende Kraft? Aus der Autorität des Gesetzgebers! Doch wo-her stammt die? Kategorisch lautet der Bescheid: „Es gab noch nie einen außergewöhnlichen Gesetzgeber in einem Volk, der sich nicht auf Gott berufen hätte, weil seine Gesetze sonst nicht angenommen worden wären; denn es gibt viel Gutes, das zwar von einem klugen Mann erkannt wird, aber doch keine so in die Augen springende Gründe in sich hat, um andere von seiner Richtigkeit überzeugen zu können. Kluge Männer nehmen daher zur Gottheit ihre Zuflucht, um dieser Schwierigkeit Herr zu werden. So machte es Lykurg, so Solon und viele andere, die dasselbe Ziel an-strebten.“29 Stimmt das? Den babylonischen König Hammurapi ermuntert zwar der Gott Shamash, Gesetze zu erlassen, wie die berühmte Statue im Louvre zeigt; doch der König formuliert dieselben in eigenem Namen, vor etwa 3800 Jahren. Mose hingegen gibt keine Gesetze, sondern erhält auf dem Sinai von Gott die beschriebenen Tafeln mit fertigen Gesetzen.30 Zwischen Hammurapi und Mose verläuft eine prinzipielle Trennlinie, welche Machi-avelli verwischt. Zwischen göttlichem und menschlichem Gesetz klafft ein Abgrund: Hammurapi ist ein Gesetzgeber, obwohl ihm eine himmlische Macht dazu den Auftrag erteilt. Mose ist jedoch keiner, ebenso wenig wie später Mohammed.

Und Solon? Er beruft sich nicht einmal auf einen göttlichen Auftrag wie Hammurapi, sondern verkündet selbstbewußt: „Dies die Athener zu lehren,

29 “E veramente, mai fu alcuno ordinatore di leggi straordinarie in uno popolo che non

ricoresse a Dio; perché altrimenti non sarebbero accettate: perché sono molti i beni cono-sciuti da no prudente, i quali non hanno in sé ragioni evidenti da poterli persuadere a altrui. Però gli uomini savi, che vogliono torre questa difficoltà, ricorrono a Dio. Così fece Licurgo, così Solone, così molti altri che hanno avuto il medesimo fine di loro” (Discorsi, I 11 = Niccolò Machiavelli, Tutte le opere, ed. Mario Martelli, Firenze 1971, 94).

30 Ex 31,18; 32,16; 34,1; Deut 4,13; 5,22; 9,10; 10,2–4.

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befiehlt mir mein Herz (thymos)“ (Staatselegie, v 30). Werner Jaeger hat diesen Vers für den „Höhepunkt des Gedichts“ gehalten. Auf gutem Grund. ‚Thymos‘ meint hier nicht Gefühl und subjektive Willkür, sondern den Drang, der eigenen Einsicht zu folgen – also der menschlichen Ver-nunft. Das ist eine ganz andere Quelle des Gesetzes als jene, aus der Mose und Mohammed schöpften. Solons Satz dokumentiert ein Doppeltes: ers-tens eine Autonomisierung der politisch tätigen Vernunft, zweitens den Vorgang, daß diese Vernunft sich reflexiv dieser Autonomisierung bewußt wird.31

Wie war das möglich, und warum war es in der griechischen Kultur so leicht möglich? Denn auch im alten Kanaan finden sich Stadtrepubliken, wie das alte Testament bezeugt. Doch dort hielten sich Republiken nicht, sie verschwanden und machten Monarchien Platz. Anders in der helleni-schen Kultur. Warum? Jacob Burckhardt hat den Grund klar gesehen und prägnant beschrieben. Es lag an der Schwäche der griechischen Religion.32 Materiell war diese Religion sehr stark; sie verschlang hohe Investitionen; sie versetzte der Architektur Impulse ebenso wie der Skulptur und der Poe-sie.33 Sie leistete in den Opferfesten Gemeinschaftsbildung: In diesen ge-meinsamen Feiern mit Prozessionen, Chorgesängen, Schlachtopfern, Fleischverteilungen und gemeinsamen Banketten wurden familienübergrei-fende, lokale oder sogar regionale Zusammengehörigkeiten aktualisiert und mit einer zeitlichen Tiefendimension versehen. Aber so sehr die Kult-praxis den Zusammenhalt förderte, so wenig wirkte die Religion hinüber in die anderen sozialen Bereiche, weder ins Politische, noch ins Rechtswesen, noch in die Organisation des Wissens, noch in die Dichtung, noch in die Ethik.34 Die Autonomisierung des Politischen wird verständlicher, wenn

31 Dazu: STAHL, Solon F3D (Anm. 25), 395. 32 JACOB BURCKHARDT hat diese Eigenschaft der griechischen Religion trefflich for-

muliert: „Wohl erhofft man in der ganzen griechischen Zeit von den Göttern auch Gutes und hält sie für Geber der Gaben: die Bessern betrachten sie auch hie und da als Schutz-herrn des Sittlichen. Es war immer eine Religion, aber eine schwache, so groß auch ihre materielle Stärke war. Ewig wird der Gegensatz Staunen erregen zwischen der so gerin-gen ethischen Meinung von den Göttern, der so geringen Hoffnung auf ihre sichere Hilfe, den so zweifelhaften Ansichten über ihre Macht – zumal in Sachen von Leben und Tod – und anderseits dem so gewaltig ausgedehnten Götterdienst.“ (Griechische Kulturge-schichte, Bd. 2 [Gesammelte Werke, VI], Basel / Stuttgart 1956, 134.

33 BURCKHARDT, Griechische Kulturgeschichte (Anm. 32), 125–156. 34 Es war Fustel de Coulanges, welcher als erster herausstrich, in welchem Maße die

antiken Gemeinwesen auf einer religiösen Basis aufruhten (NUMA DENIS FUSTEL DE

COULANGES, La Cité antique. Etude sur le culte, le droit, les institutions de la Grèce et de Rome, 27. Aufl., Paris 1922, 151–209). Dazu auch: GEORG BUSOLT, Griechische Staats-kunde, Bd. 1, 3. Aufl., München 1920, 514–527; MARTIN P. NILSSON, Geschichte der Griechischen Religion (Handbuch der Altertumswissenschaften, V 2/1), Bd. 1, 2. Aufl., München 1955, 708–734; WALTER BURKERT, Griechische Religion der archaischen und

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die Umstände plastischer werden, die eine Autonomisierung der Religion verhinderten oder anzeigten:

1. Es entstand keine organisierte Priesterschaft. Ein organisiertes Pries-tertum (mit eigener Rekrutierung, Edukation, Laufbahn, Binnenhierarchie, esoterischem Wissen) konnte sich nie herausbilden: a) weil jeder Grieche die zentrale Kulthandlung (Schlachtopfer) selber ausführen konnte, b) weil die Priesterfunktion (abgesehen von wenigen Ausnahmen wie Eleusis oder Delphi), in Form eines Wahlamtes mit beschränkter Amtszeit ausgeübt wurde. Anders gesagt: Wenn jeder Grieche opfern konnte, und jeder Haus-vater sich in ein Priesteramt wählen lassen konnte, dann waren die sakralen Funktionen nicht zu monopolisieren von ‚Spezialisten‘. So konnte keine segregierte Gruppe von sakralen Spezialisten entstehen.

2. Nur wenn die sakralen Spezialisten sich eine Organisation geben, sind sie in der Lage, eine ‚theologische Systematisierung‘ der Religion vorzunehmen. Deswegen ‚theologisierte‘ sich die griechische Religion nicht. Es kam nie zu dem was Max Weber ‚religiöse Systematisierung‘ nannte. Es erfolgte nie eine ‚Reinigung‘ des Göttermythos, welche ‚fal-sche‘ Mythen, ‚falsche‘ Versionen und Varianten ausgeschieden hätte, so daß künftig eine ‚orthodoxe‘ Version geschieden blieb von allen ‚apogry-phen‘ oder klar ‚häretischen‘ Versionen. Beide Abwesenheiten (kein orga-nisiertes Priestertum, keine systematisierte Theologie) verweisen somit aufeinander.

3. Das ist der Grund weshalb die Dichter einen solchen Spielraum ha-ben, die Mythen in immer neue Varianten zu erzählen, ja stetig neue My-then zu ersinnen. Diese konkurrierenden Bilder über die Götter verhindern, daß diese Götter jemals sich zu moralischen Instanzen entwickeln könnten.

4. Die fehlende dogmatische Systematisierung verhindert eine ‚ethische Systematisierung‘ der Religion. Zwischen dem moralischen Verhalten der Menschen und der göttlichen Gunst ergibt sich keine sachliche und seman-tische Verknüpfung. Es kommt abgesehen von bestimmtem Frevel (gegen Gastfreundschaft und Schutzflucht) zu keiner Verbindung von Heil und Handeln. Das Heil bleibt gebunden an rituelle Kommunikation, v. a. an die Darbringung von Schlachtopfern.

5. Daher war es nicht möglich, Korrelationen herzustellen zwischen göttlicher Zuwendung einerseits und den sozialen Normen andererseits, bzw. deren Etablierung, Sanktionierung, Befolgung oder Mißachtung. Die

klassichen Epoche (Die Religionen der Menschheit, 15), 2. Aufl., Stuttgart 2011, 99–178; MARCEL DETIENNE / JEAN-PIERRE VERNANT, La cuisine du sacrifice en pays grec, Paris 1979; Sacrificio e società nel mondo antico, hrsg. v. Cristiano Grotanelli / Nicalo Parise, Rom 1988; CHRISTIANE SOURVINOU-INWOOD, What is polis religion?, in: The Greek City from Homer to Alexander, hrsg. v. Oswyn Murray / Simon Price, Oxford 1990, 295–322.

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Götter werden nicht einmal zu Hütern der Gerechtigkeit.35 Darum bleiben die Chancen, daß sie als Ordnungsstifter gedacht werden könnten, äußerst gering.36 Daher konnte nie ein Heiliges Recht entstehen (im präzisen Sinne des Wortes: ein von Gott gegebenes Recht).37

6. Die einzigen religiösen Spezialisten, die sich als solche hielten, wa-ren die Seher. Aber deren Position war immer prekär (Athen) oder einge-rahmt (Sparta). Wie Kai Trampedach nachgewiesen hat, entsprach der wei-ten Nachfrage nach mantischen Auskünften überhaupt keine entsprechend starke politische Position der Manteis.38

Diese Religion entwickelte sich nie zu einer relativ autonomen Instanz; sie war außerstande, verbindliche moralische Maßstäbe zu setzen, politi-sche Hierarchien zu definieren, soziale Vorrechte zu legitimieren; sie war außerstande, Aussagen zu machen über die soziale und politische Ordnung; sie bot weder der Gerechtigkeit und dem Gesetz eine religiösen Stütze, und sie vermochte nicht, die Ordnung religiös abzusichern.

Darum konnten die griechischen Städte in einem fast beängstigenden Ausmaß politisch experimentieren – die einen eher aristokratisch, die an-deren eher demokratisch, mit gelegentlichen Umstürzen, um etwas Neues auszuprobieren. Da soviele griechische Städte experimentierten, war es ganz einfach, zu imitieren, zu variieren und bewußt zu vergleichen und politische Reflexionen anzustellen. Gerade diese vergleichend verfahrende Reflexion löste aber eine ungeheure Dynamik aus, jene weltgeschichtlich einmalige Dynamik, die zu logischem und wissenschaftlichem Denken führte. Die griechische Kultur konnte sich entfalten wegen der politischen

35 Siehe: EGON FLAIG, Ehre gegen Gerechtigkeit. Adelsethos und Gemeinschaftsden-

ken in Hellas, in: Gerechtigkeit. Richten und Retten in der abendländischen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen, hrsg. v. Jan Assmann / Bernd Janowski / Michael Welker, München 1998, 97–140.

36 Anderseits ist das eine Bedingung für eine spezifische intellektuelle ‚Offenheit‘: Diese geistige Lage gestattete, daß Weisheitslehrer immer neue kosmologische Spekula-tionen anstellten, welche untereinander konkurrierten und dabei zu Metaphysik und Lo-gik durchstießen. Daß nur die griechische Kultur zum Begriff der Wissenschaft im stren-gen Sinne (theorieförmige Systematisierung des Wissens) voranschritt, dafür ist diese Offenheit eine von zwei kardinalen Bedingungen (die andere ist eine spezifische agonale Debattenkultur, wie Geoffrey Lloyd herausgestellt hat).

37 Das konnte die ägyptische Religion, die israelitische, der Buddhismus, das Chris-tentum und der Islam, aber nicht die griechische Religion. Die Leitbilder bezeugen das. Die hellenischen Oberschichten bezogen die ihrigen aus den homerischen Epen, welche das Ethos eines kriegerischen Heldentums preisen. Doch Abenteuer und Risikobereit-schaft entziehen sich religiöser Ethisierung, außer es liegen besondere Umstände vor (MAX WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen 1980, 263, 288).

38 Dazu die exzellente Studie von KAI TRAMPEDACH, Politische Mantik (unveröffentl. Habilitationsschrift). Anders gesagt: Es gibt den israelitischen Propheten in Hellas nicht (nur in der sophokleischen Tragödie!).

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Schwäche der griechischen Religion. Dieses Experimentieren und diese Instabilität führen zurück zu unserer zentralen Frage.

Wenn Stabilisierung nicht zu erreichen war mit Hilfe der religiösen In-stanz, dann bedurfte es anderer Faktoren. Auffällig ist die rasche Entfal-tung von Institutionen; auffällig auch die ausgesprochene Neigung der Griechen, sehr präzise Verfahren auszubilden und zu institutionalisieren. Daher die frühe Ausbildung der Mehrheitsentscheidung; und die frühe und sehr umfassende Institutionalisierung der Mehrheitsregel.

Von hier aus ist der Blick zu werfen auf die theokratie-lastigen Rezidive im protestantischen Christentum, im Judentum und im Islam. Diese mono-theistischen Religionen unterliegen zweifelsohne alle einer theokratischen Versuchung. Aber die Anfälligkeit für theokratische Zuckungen ist unter-schiedlich groß. Je geringer sie ist, desto weniger ist sie ein Dauerphäno-men, desto eher kommt sie nur in besonderen historischen Konjunkturen zum Vorschein. Das katholische Christentum scheint seit vielen Jahrhun-derten resistent geworden zu sein. Das ist nicht mein Thema. Auch liegt es nicht in der Reichweite dieses Aufsatzes auf theokratische Rezidive im Judentum oder im protestantischen Christentum einzugehen. Kai Trampe-dach hat Wesentliches zu den theokratischen Einflüssen auf die Kriege der Hasmonäer geschrieben,39 und Andreas Pecar hat aufgewiesen, wie in den politischen Diskursen der frühen Neuzeit nicht nur die ‚Sprache des Re-publikanismus‘ einen dauernden Legitimationsdruck ausübte, sondern auf der anderen Seite eine ‚Sprache des Biblizismus‘ mit theokratischen Ar-gumenten die Herrschaftsorganisation in protestantischen Regionen unter Streß brachte.40 Ich möchte mich beschränken auf eine einzige der vielen Folgen, welche ein hoher theokratischer Druck für die politische Kultur eines Gemeinwesens mit sich gebracht hat, nämlich auf das Verschwinden der Räume politischer Kommunikation und ein damit einhergehendes Feh-len von Verfassungsdiskussionen.

39 KAI TRAMPEDACH, Die Hasmonäer und das Problem der Theokratie, in: Die Bibel

als politisches Argument. Voraussetzungen und Folgen biblizistischer Herrschaftslegiti-mation in der Vormoderne, hrsg. v. Andreas Pečar / Kai Trampedach, München 2007, 37–65.

40 Siehe die profunde und geistvolle Studie von ANDREAS PEČAR, Macht der Schrift. Politischer Biblizismus in Schottland und England zwischen Reformation und Bürger-krieg, München 2011.

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III. Die Zerstörung des politischen Raumes – Mamlukie und Eunuchie

Es läßt sich schwerlich leugnen, daß die islamische Welt – trotz all ihrer Heterogenität – das Gegenbild zur griechischen Polis bietet. Einerseits hängt das damit zusammen, daß die maßgeblichen Rechtsschulen die so-ziale und politische Ordnung nomokratisch ausrichteten, wie Ann Lambton und Tilman Nagel es dargelegt haben: Solange gilt, daß die Scharia als offenbartes göttliches Gesetz vollständig ausreiche, um das soziale und politische Leben zu organisieren, so lange können die Rechtsgelehrten das letzte Wort beanspruchen.

Anderseits, darauf hat Gudrun Krämer hingewiesen, überließen diese die Ausübung der politischen Macht Emiren und Sultanen. Indiziert das nicht eine Trennung der politischen und der religiösen Sphäre? Doch just hier zeigt sich, wie weit die Schere zwischen den politischen Kulturen sich öffnete. Es entstanden just keine politischen Systeme mit partizipatori-schen Zügen. Stattdessen bildete sich die berüchtigte sklavistische Politie des Islam heraus, welche der Kultur für fast ein Jahrtausend den Stempel aufdrückte. Da die theokratische Ausrichtung der Herrschaft keine institu-tionalisierten Verfahren zuließ, um Herrscher einzusetzen, zu kontrollieren und – vielleicht – abzusetzen, war der blutige Sturz das einzige Mittel, einen Herrscher loszuwerden. Indes, die muslimischen Herrscher reagier-ten auf die Usurpationsdrohung mit einer einmaligen Innovation: Der Kalif Al-Mutasim stellte Anfang des 9. Jhs. in Bagdad ein Heer von 100.000 Sklaven türkischen und slawischen Ursprungs (Mamluken) auf, glaubend, er mache sich mit diesem drastischen Mittel unstürzbar. Er wurde sofort nachgeahmt, und so entstand fast überall im islamischen Herrschaftsgebiet ein Staatstyp, in dem der Herrscher sich auf einen bürokratischen Stab von Eunuchen und einen militärischen Apparat von Sklaven oder Ex-Sklaven stützte.41 Als Sklaven dienten sie ohne freie Wahl in einer Funktionsgrup-

41 Ein Militäradel konnte nicht entstehen, da die Söhne von Mamluken nicht mehr

Krieger werden durften. Das Mamlukentum rekrutierte sich also nicht biologisch, son-dern durch Ankauf von Sklaven und blieb ein Durchgangsstadium von einer Generation. Siehe dazu: DAWID AYALON, The Mamluk Military Society, London 1979; DANIEL

PIPES, Slave Soldiers and Islam: The Genesis of a Military System, New Haven / London 1981; PATRICIA CRONE, Slaves on Horses. The Evolution of the Islamic Polity, Cam-bridge / New York 1980. Zur Eunuchie: Wichtige Sultanate bauten auf der Eunuchie ihren gesamten Verwaltungsstab auf; die Kalifen von Bagdad hielten zeitweise mehrere Tausend Eunuchen. Siehe: JACQUES HEERS, Les négriers en terres d’ Islam. La première traite des Noirs – VIIe–XVIe siècle, Paris 2003, 201 f.; MURRAY GORDON, L’ Esclavage dans le Monde Arabe, Paris 1987, 110. Der Unterschied zu Byzanz ist fundamental, so-wohl quantitativ wie qualitativ. In der byzantinischen Zentralverwaltung betrug die Zahl der Eunuchen ein paar Dutzend, oft weniger, weil die allermeisten Funktionen von An-

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pe; und ihr Herr konnte sie beliebig gebrauchen. Diese unbegrenzte Verfü-gung über Menschen in leitenden Funktionen machte das islamische Ge-meinwesen zu einem absonderlichen Extrem in der Weltgeschichte. In der Mamlukie verkörperte sich die politische Lösung der unlösbaren Dilemma-ta einer theokratischen Konzeption der Gemeinschaft: Das vollkommene Fehlen von institutionalisierter Kontrolle – ja sogar weitgehend von rituali-sierter Einbindung – der politischen Herrschaft beförderte ein Despoten-tum, das sich in einmaliger Weise jenem ‚Absolutismus‘ näherte, den es in der sozialen Wirklichkeit niemals geben kann. Dieser Despotismus brauch-te zu seiner Selbsterhaltung eine Truppe, die sich ununterbrochen speiste durch großräumigen Import von Menschen, die als Sklaven brutal entwur-zelt waren. Eine ausschließlich auf den Sultan bezogene Funktionsgruppe war ein beliebig einsetzbares Instrument, mit welchem der Herrscher die äußerste politisch mögliche Unabhängigkeit von den freien Untertanen erlangte, dafür freilich in fatale Abhängigkeit von seinem Instrument ge-riet. Mit der Versklavung des Staatswesens entstand ein ‚Staats‘-Typ, in dem charakteristische Bestimmungen von autonomer Staatlichkeit auf ra-dikalste Weise pervertiert waren. Sklaven fungierten als Rädchen einer militärischen Maschine, welche die Bildung von Staaten im eigentlichen Sinne blockierte, jegliche Chance auf politische Selbstbestimmung – von Städten oder Gemeinden – zunichte machend, jeglichen Ansatz zur ‚Parti-zipation‘ der Beherrschten abschneidend, – aller politischen Freiheit töd-lich.42

Daher finden wir unter islamischer Herrschaft keine sich selbst verwal-tenden Bürgerschaften, keine beschließenden Volksversammlungen, keine regulären Wahlen, überhaupt keine Abstimmungen und keine städtischen Verfassungen, keine Rathäuser, wo gewählte Bürgermeister walten, nichts von dem, was in der klassischen Antike tausendjährige Selbstverständlich-keit war und was in West- und Mitteleuropa sich seit dem Mittelalter in Hunderten von Städten heranbildete. Daher die vollkommene Umstruktu-rierung der hellenistischen Städte unter islamischer Herrschaft, deren Um-wandlung von einer ‚Polis‘ zu einer ‚Medina‘. Die Städte der Antike benö-tigten großartige urbanistische Anlagen, die einer politisch partizipieren-

gehörigen der Reichselite ausgeübt wurden; die Kaiser benötigten Eunuchen in der Regel lediglich für Verwaltungsaufgeben, die weit entfernt waren von öffentlichen Tätigkeiten. Siehe: KEITH HOPKINS, Eunuchs in Politics in the Later Roman Empire, in: Proceedings of the Cambridge Philological Society 189 (1963), 62–80; HELGA SCHOLTEN, Der Eu-nuch in Kaisernähe, Frankfurt 1995; ALEXANDER DEMANDT, Die Spätantike, 2. Aufl., München 2007, 289 ff.

42 Die Mamlukie als System widerlegt die Befürchtungen des Großteils der griechi-schen politischen Philosophie: Denn sie vereinbart ein beachtliches Maß an persönlicher Freiheit – abgesichert in der Scharia – mit einem historischen Grenzwert an politischer Unfreiheit.

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den Bürgerschaft als ‚öffentlicher Raum‘ diente. Die architektonische Aus-gestaltung dieses öffentlichen Raumes hatte eine urbanistische Qualität, die auch im neuzeitlichen Europa nicht mehr erreicht wurde. Die Umwand-lung der eroberten hellenistischen und römischen Städte in eine Medina hieß vor allem: weitgehende oder vollständige Zerstörung jener öffentli-chen Räume der Polis.43

Dieser Verlust an urbanistischen und sozialen Räumen der politischen Kommunikation ist der Kontext für eine auffällige Besonderheit in der politischen Philosophie des Islam. Hier ist der Grund zu suchen für deren beklemmende Sterilität. Obwohl man so vieles übernahm vom hellenisti-schen Erbe, blieb man gegen die politische Reflexion der Griechen fast völlig immun. Diese wurde gegenstandslos, weil das Nachdenken über Verfassungen eine sinnlose Tätigkeit geworden war. Es darf nicht verwun-dern, wenn der jüdische Philosoph Maimonides, beheimatet im islamischen Córdoba, an der josephischen Unterscheidung festhielt:44 Das offenbarte mosaische Gesetz leiste eine politische Gemeinschaftsbildung, die zur Vollendung des Menschen hinführe – ganz im Gegensatz zu „den Gesetzen der Griechen“. Selbst der große Ibn Chaldun (1332–1406), als arabischer Montesquieu betitelt, trennt die Staatswesen scharf entlang der josephi-schen Scheidung: “Seine (des Herrschers) Herrschaft über sie (die Untertanen) beruht zu manchen Zeiten auf dem von Gott heruntergesandten Gesetz, und in ihrem Glauben an Lohn und Bestra-fung…; und zu anderen Zeiten (beruht sie) auf der verstandesmäßigen Regierung, welche

43 Zu diesem Wandel siehe: The Islamic City, hrsg. v. A. Habib Hourani / Samuel

Miklos Stern, Oxford 1977; OLEG GRABER, The Architecture of the Middle Eastern City, in: Middle Eastern Cities, hrsg. v. Ira M. Lapidus, Berkeley 1969, 19–46; STEFANO BI-

ANCA, Architektur als Lebensform im islamischen Staatswesen, Zürich 1979, 98 f.; G. VON GRÜNEBAUM, Die islamische Stadt, in: Saeculum 6 (1955), 138–153; HUGH KENNE-

DY, From Polis to Medina: Urban Change in Late Antique and Early Islamic Syria, in: Past and Present 106 (1985), 3–27. Es war eine Weile schick, die Hervorhebung der Dif-ferenzen als weberianischen Eurozentrismus zu verschreien, so etwa JANET L. ABU-LUGHOD, The Islamic City – Historic Myth, Islamic Essence, and Contemporary Rele-vance, in: Journal for Middle Eastern Studies 19 (1987), 155–176. Indes, Differenzen zu leugnen, heißt die Arbeit der historischen Kulturwissenschaft abzulehnen. Siehe dazu: WOLFGANG SCHWENTKER, Die ‚vormoderne‘ Stadt in Europa und Asien. Überlegungen zu einem strukturgeschichtlichen Vergleich, in: Die vormoderne Stadt. Asien und Europa im Vergleich, hrsg. v. dems. / Peter Feldbauer / Michael Mitterauer, Wien 2002, 259–287.

44 „Und dieses Gesetz allein ist es, welches das Gesetz Gottes genannt werden darf. Was es aber an politischen Gesetzen außer ihm gibt, wie die Gesetze der Griechen…, dies alles gehört zu den Werken der regierenden Personen, nicht aber zu denen der Pro-phetie“ (Mose ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, Bd. II, hrsg. v. Adolf Weiss [Phil. Biblioth., 184 a–c], 2. Aufl., Hamburg 1995, Kap. 39). Dazu: ROSENTHAL, Political Thought (Anm. 7), 20.

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ihren Gehorsam verlangt bei der Erwartung, vom Herrscher belohnt zu werden…“45 „Bei der verstandesmäßigen Lenkung … lassen sich zwei Arten unterscheiden. In der ersten werden allgemein die Belange (des Gemeinwesens) berücksichtigt, ferner speziell die Interessen des Herrschers am guten Zustand seines Reiches. Dies war die Staatslenkung der Perser, die der Philosophie verwandt war. Im Islam zur Zeit des Kalifats hat Gott sie ersetzt; denn die Bestimmungen des göttlichen Gesetzes, unter das auch die Regeln der Herrschaft fallen, machten sie für die allgemeinen und speziellen Belange und für Un-glücksfälle entbehrlich. Die zweite Art liegt darin, daß (in erster Linie) das Interesse des Herrschers berücksichtigt wird und wie in fortdauernder Ausübung von Gewalt sein Reich Bestand haben kann; in dieser Form (der Staatslenkung) sind die allgemeinen Be-lange nachgeordnet. Dies ist die Art der Staatslenkung …, die alle übrigen Herrscher der Welt, Muslime oder Ungläubige, befolgen. Die muslimischen Herrscher freilich halten sich dabei an die Erfordernisse der islamischen shari’a, soweit es ihnen möglich ist. Die herrscherlichen Anordnungen bestehen daher (einerseits) aus Bestimmungen der shari’a (anderseits) aus ethischen Maximen und Normen, die in der Gesellschaft natürlich sind, sowie aus notwendigen Dingen wie der Beachtung von Stärke und Gruppensolidarität. Man hält sich zuerst an das göttliche Gesetz, dann an die Normen der Weisen und an den (vorbildlichen) Lebensweg der (alten) Herrscher“.46 Die Philosophenherrschaft – von den Persern beinahe erreicht – kam also der Gottesherrschaft nahe, denn beide berücksichtigen in höchstem Maße das Gemeinwohl. Darum konnte die Gottesherrschaft – zur Zeit der ersten vier Kalifen – jene der Philosophen ohne Verlust ersetzen. Als freilich das Kalifat entartete, wurde aus der Gottesherrschaft eine Herrschaft im Inte-resse des Herrschers – was die griechische politische Philosophie Tyrannis nannte. Doch selbst in diesem depravierten Zustand bleibe das muslimi-sche Staatswesen immer noch allen anderen überlegen, da die Sharia – Gottes Gesetz – gelte und die Herrschergewalt beschränke.47 Die divine Nomokratie dämpfe also die Autokratie. Ibn Khaldun entwirft damit einen vergangenen Idealzustand – keine Utopie! –, welcher grundsätzlich wieder herstellbar ist, unter günstigen politischen und kulturellen Umständen.

Überflüssig waren nun die hochdifferenzierten politischen Kategorien und analytischen Reflexionen etwa der aristotelischen ‚Politik‘. Stattdes-sen gewann Platons politische Philosophie die höchste Anerkennung. Er-win Rosenthal urteilt: “It is no exaggeration to speak of a renaissance of Plato’s political philosophy in Islam”.48 Doch sensu stricto handelt es sich nicht um einen Renaissance, sondern um eine Naissance; denn in der ge-samten griechischen und römischen Antike war Platons politische Philoso-

45 Zit. nach: ROSENTHAL, Political Thought (Anm. 7), 93. 46 NAGEL, Staat und Glaubensgemeinschaft (Anm. 7), 72 f. 47 „Der Bestand der Herrschaft beruht allein auf der religiösen Ordnung. Wird sie

schwach, befällt auch das Königtum Schwäche“ (NAGEL, Staat und Glaubensgemein-schaft [Anm. 7], 25).

48 ROSENTHAL, Political Thought (Anm. 7), 7. Alle islamischen Philosophen außer Avempace gehen bei ihrem politischen Nachdenken von Platons ‚Politeia‘ und ‚Nomoi‘ aus (ebd., 113–121).

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phie ohne Nachahmer und praktisch bedeutungslos geblieben.49 Platon eig-nete sich, weil in der islamischen Welt die Thematik des Politischen auf ganz wenige Belange zusammenschnurrte, gravitierend um die Stellung des Kalifen und um die Autorität der Rechtsgelehrten.50

IV. Schluß Griechen wie Römer waren sich in hohem Maße bewußt, welche Risiken sie eingingen, indem sie selber sich ihre Ordnungen gaben und ihre Geset-ze machten. Das Exordium des 1. Stasimon der sophokleischen Antigone – „Vieles ist furchtbar, nichts ist furchtbarer als der Mensch“ – führt direkt hin zum Gesetz, welches alleine dem Menschen Halt gibt, einen Halt, den Kreon mit seinem eigenmächtigen Gesetz aufs Spiel setzt. Ein enorm viel-fältiger politischer Diskurs schuf über ein Jahrtausend lang einen mannig-faltigen und variierenden semantischen Zusammenhang von selbstgesetz-tem Gesetz und Freiheit. Weder politische Ordnung noch Gesetze benötig-ten in der Antike eine göttliche Legitimation; göttliches Recht – abgesehen von wenigen Sakralvorschriften, die häufig durch Einholung eines Orakels bestätigt wurden – gibt es weder bei den Griechen, noch bei den Römern. Das Römische Recht ist von Menschen gesetztes Recht, anpaßbar an neue Sachlagen, wobei Senat und Volksversammlung, die Prätoren und später die Kaiser Neues beschlossen und häufig Altes außer Kraft setzten, genaue politische Prozeduren einhaltend.51 Mittelalterliche Deutungsarbeit ge-brauchte diesen Zusammenhang als Reservoir für zitierte Juwelen und als Referenz für politische Maßstäblichkeit, wie Pocock und Skinner aufge-zeigt haben. Diese Autonomie ist unvereinbar mit Heiligem Recht. Gerade

49 Siehe das brillante Buch von KAI TRAMPEDACH, Platon, die Akademie und die zeit-

genössische Politik, Stuttgart 1994. 50 “Political Thought at first centers round the Caliphate and is, in fact, a theory of the

caliphate, its origin and purpose” (ROSENTHAL, Political Thought [Anm. 7], 3). Die histo-rische Realität ist mannigfaltiger: immerhin entstanden Rechtsbücher, die nicht auf der Scharia beruhten, sondern auf regionalen oder ethnischen Traditionen – insbesondere im osmanischen Raum. Es wäre voreingenommen, wollte man leugnen, daß solche ‚säkulari-sierenden‘ Elemente die Möglichkeit zu Schubwirkungen enthalten.

51 Auch andere Kulturen haben ein rein weltliches Recht hervorgebracht. Am auffäl-ligsten ist das chinesische positive Recht, welches sich seit dem 3. Jh. v. Chr. herausbil-dete. Allerdings sind die chinesischen Gesetze allzumeist herrscherliche Befehle. Das dürfte der Grund sein, weswegen eine Autonomisierung des Rechts, wie wir sie im Rö-mischen Reich feststellen können, nicht einsetzen konnte. Das chinesische Recht hat seinen Geltungsgrund in hohem Maße in der Macht des Herrschers. Siehe: KARL BÜN-

GER, Entstehen und Wandel des Rechts in China, in: Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, hrsg. v. Wolfgang Fikentscher / Herbert Franke / Oskar Köhler, Freiburg 1980, 451, 463, 470 f.

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die theokratischen Anfälle, die bisweilen ganze Regionen der westchristli-chen Kultur heimsuchten, unterstreichen wie weit der politische Raum sich bereits ‚säkularisiert‘ und gegen göttliche Befehle immunisiert hatte.52

Kulturwissenschaftliches Erkennen heißt, differenzieren und die Diffe-renzen inventarisieren und sie in explikative Modelle einbauen. Das be-wahrt davor, ähnliche Phänomene unter denselben Rubriken zu verbuchen, obwohl sie aus unterschiedlichen Kulturen stammen, die nach unterschied-lichen Logiken funktionieren. Systematisch vergleichende Rückbesinnung ist epistemologisch heilsam.

52 JÜRGEN MIETHKE, Das Reich Gottes als politische Idee im späteren Mittelalter, in:

Religionstheorie und Politische Theologie, Bd. 3: Theokratie, hrsg. v. Jacob Taubes, München u. a. 1987, 267–278. Päpste wie Innozenz III. oder Bonifaz VIII. verwiesen zwar auf die Maßstäblichkeit des – jenseitigen – Regnum Christi für die irdischen Ver-hältnisse, um daraus eine Überordnung der spirituellen Gewalt über die königliche abzu-leiten. Aber das alleine ist noch keine theokratische Tendenz. Siehe auch: NORMAN

COHN, The Pursuit of the Millenium, New York 1970, 220 f. Zu den neuzeitlichen Ten-denzen: MICHAEL WALZER, The Revolution of the Saints. A study in the origins of radi-cal politics, Cambridge, Mass. 1965, 114–198. Zu den theokratischen Diskursen in Eng-land siehe nun: ANDREAS PEČAR, Auf der Suche nach den Ursprüngen des ‚Divine Right of Kings‘. Herrschaftskritik und Herrschaftslegitimation in Schottland unter Jacob VI., in: Die Bibel als politisches Argument. Voraussetzungen und Folgen biblizistischer Herr-schaftslegitimation in der Vormoderne, hrsg v. dems. / Kai Trampedach, München 2007, 295–314; ferner die umfassende und systematisch brillante Studie von ANDREAS PEČAR, Macht der Schrift. Politischer Biblizismus in Schottland und England zwischen Reforma-tion und Bürgerkrieg, München 2011.