narrative im vergleich: das dynamische 12. jahrhundert als scheide- oder höhepunkt des...

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ANJA RATHMANN-LUTZ Narrative im Vergleich: Das dynamische 12. Jahrhun- dert als Scheide- oder Höhepunkt des Hochmittelalters Epochenkonstruktionen mit einem Fokus auf die Rolle von „Kontinuitäten, Umbrüche und Zäsuren" in den jeweiligen Narrativen zu untersuchen, war das Ziel der Tagung, aus der der vorliegende Band hervorgegangen ist. Im Rahmen dieser Problemstellung beschäſtige ich mich auf den lgenden Sei- ten mit der Frage nach den begrifflichen und narrativen Strategien, mit denen die Mediävistik versucht hat und noch versucht, die von ihr konstatierte „be- sondere Dynamik" des Hochmittelalters und namentlich des 12. Jahrhunderts zu ssen und für eine zeitgemäße Geschichtserzählung fruchtbar zu ma- chen.' Mein Beitrag versteht sich auch als il einer langen Reihe selbstreflexiver Über- legungen von Mediävist/innen zu ihrem Gegenstand und ihren Erzählweisen, die keineswegs erst nach dem linguistic tu eingesetzt haben - er schließt im Rah- men dieses Bandes an die Überlegungen zu disziplinären Epochenkonstruktionen an (vgl. den Beitrag von Kohl/Patzold). Vgl. außerdem Meistererzählungen vom Mittelalter. Epochenimaginationen und rlaufsmuster in der Praxis mediävisti- scher Disziplinen, hg. von Frank Rexroth, München 2007 (Historische Zeitschriſt Beihefte NF 46) sowie ders.: Das Mittelalter und die Moderne in den Meister- erzählungen der historischen Wissenschaſten, in: Lili. Zeitschriſt r Literatur- wissenschaſt und Linguistik 2008 (38/151), S. 12-31; ders.: Geschichte erschen oder Geschichte schreiben? Die deutschen Historiker und ihr Spätmittelalter 1859-2009, in: Historische Zeitschriſt 2009 (289), S. 109-147; lentin Groeb- ner: Arme Ritter. Modee Mittelalterbegeisterungen und die Selbstbilder der Me- diävistik, in: Das Mittelalter zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Probleme, Perspektiven und Anstöße für die Unterrichtspraxis, hg. von Thomas Martin B uck und Nicola Brauch, Münster 201 L, S. 335-345, sowie die Arbeiten von Otto Ger- hard Oexle. Einzelne Aspekte dieses Textes wurden bereits in der Sektion „Wiedergänger und Neugeborene. Das Renaissance-Narrativ in der (post)modernen Historiographie" auf dem Historikertag in Mainz 2012 und im Kolloquium „Entdeckung - Erfin- dung - Innovation: Wie kommt das Neue in die Welt?" des Zentrums Vormoder- nes Europa in Tübingen 2013 diskutiert. Allen Beteiligten danke ich für ihre kriti- schen Nachfragen und konstruktiven Anregungen.

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ANJA RATHMANN-LUTZ

Narrative im Vergleich: Das dynamische 12. Jahrhun­

dert als Scheide- oder Höhepunkt des Hochmittelalters

Epochenkonstruktionen mit einem Fokus auf die Rolle von „Kontinuitäten, Umbrüche und Zäsuren" in den jeweiligen Narrativen zu untersuchen, war das Ziel der Tagung, aus der der vorliegende Band hervorgegangen ist. Im Rahmen dieser Problemstellung beschäftige ich mich auf den folgenden Sei­ten mit der Frage nach den begrifflichen und narrativen Strategien, mit denen die Mediävistik versucht hat und noch versucht, die von ihr konstatierte „be­sondere Dynamik" des Hochmittelalters und namentlich des 12. Jahrhunderts zu fassen und für eine zeitgemäße Geschichtserzählung fruchtbar zu ma­chen.'

Mein Beitrag versteht sich auch als Teil einer langen Reihe selbstreflexiver Über­legungen von Mediävist/innen zu ihrem Gegenstand und ihren Erzählweisen, die keineswegs erst nach dem linguistic turn eingesetzt haben - er schließt im Rah­men dieses Bandes an die Überlegungen zu disziplinären Epochenkonstruktionen an (vgl. den Beitrag von Kohl/Patzold). Vgl. außerdem Meistererzählungen vom

Mittelalter. Epochenimaginationen und Verlaufsmuster in der Praxis mediävisti­

scher Disziplinen, hg. von Frank Rexroth, München 2007 (Historische Zeitschrift

Beihefte NF 46) sowie ders.: Das Mittelalter und die Moderne in den Meister­

erzählungen der historischen Wissenschaften, in: Lili. Zeitschrift für Literatur­

wissenschaft und Linguistik 2008 (38/151), S. 12-31; ders.: Geschichte erforschen

oder Geschichte schreiben? Die deutschen Historiker und ihr Spätmittelalter

1859-2009, in: Historische Zeitschrift 2009 (289), S. 109-147; Valentin Groeb­ner: Arme Ritter. Moderne Mittelalterbegeisterungen und die Selbstbilder der Me­

diävistik, in: Das Mittelalter zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Probleme,

Perspektiven und Anstöße für die Unterrichtspraxis, hg. von Thomas Martin B uck und Nicola Brauch, Münster 201 L, S. 335-345, sowie die Arbeiten von Otto Ger­hard Oexle. Einzelne Aspekte dieses Textes wurden bereits in der Sektion „Wiedergänger und Neugeborene. Das Renaissance-Narrativ in der (post)modernen Historiographie" auf dem Historikertag in Mainz 2012 und im Kolloquium „Entdeckung - Erfin­dung - Innovation: Wie kommt das Neue in die Welt?" des Zentrums Vormoder­nes Europa in Tübingen 2013 diskutiert. Allen Beteiligten danke ich für ihre kriti­schen Nachfragen und konstruktiven Anregungen.

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Zunächst seien einige - vermeintlich selbstverständliche - Bemerkungen zur Epochenimaginat ion nicht nur in den Geschichtswissenschaften vorgeschaltet:

Periodisierung bedeutet Abgrenzung auch und gerade innerhalb einer Dis­ziplin, von Sachfragen ist sie weitgehend abgekoppelt, es geht um institu­tionelle claims und individuelle Spezialisierungen. Als Folge der Speziali­sierung und der institutionellen Ausdifferenzierung steht die Forschung vor massiven inter- wie intradisziplinären Verständigungsschwierigkeiten: einer­seits konkurrieren Narrative der Spezialisten verschiedener Epochen mitein­ander und andererseits gestaltet sich die Kommunikation der geschichts­wissenschaftlichen Teil- und historisch arbeitenden Nachbardisziplinen mit methodischer und thematischer Spezialisierung untereinander durchaus schwierig. In der Konstruktion der Epochen und ihrer Grenzen wird dann besonders deutlich, dass Abgrenzungsbedürfnis und Verständigungsschwie­rigkeiten bisweilen zum bewussten Verschweigen der Ergebnisse langjähriger Forschung führen: so fällt es beispielsweise immer noch leicht, die Frage „how the world became modern" mit Hilfe des alten Klischees von der Statik und der selbst verschuldeten Unmündigkeit des Mittelalters, aus dem eine dynamische Moderne wie ein Phönix aus der Asche aufsteigen kann, zu be­antworten.2

2 Vgl. als ein rezentes, wenn auch recht drastisches, Beispiel unter vielen: Stephen

Greenblatt: The swerve. How the world became modern, New York 2011. ,,An

isolated individual, considered outside the structures of family and occupation,

made very little sense. What mattered was what you belonged to or even whom

you belonged to." (S. 15) ,,The household, the kinship network, the guild, the

corporation - these were the building blocks of personhood. lndependence and

self-reliance had no cultural purchase; indeed, they could scarcely be conceived,

Jet alone prized. Identity came with a precise, well-understood place in a chain of

command and obedience. [ ... ] The best course was humbly to accept the identity

to which destiny assigned you: [ ... ] ." (S. 16) Vgl. neben den in Anm. 1 genannten

Arbeiten zur Epochendiskussion für das Mittelalter mit unterschiedlichen Schwer­

punktsetzungen Karl Ferdinand Werner: Das „europäische Mittelalter". Glanz und Elend eines Konzepts, in: Geschichte Europas für den Unterricht der Euro­päer. Prolegomena eines Handbuchs der europäischen Geschichte für die Lehrer der Sekundarstufe ll; Materialien einer europäischen Konferenz in Münster/West­falen, 17.-20. Dezember 1979, hg. von Karl-Ernst Jeismann, Braunschweig 1980

(Studien zur internationalen Schulbuchforschung Bd. 27), S. 25-35; Hans-Werner

Goetz: Das Problem der Epochengrenzen und die Epoche des Mittelalters, in:

Mittelalter und Modeme: Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt. Kongreßakten des 6. Symposiums des Mediävistenverbandes in Bayreuth 1995, hg. von Peter Segl, Sigmaringen 1997, S. 163-172; Hagen Keller: Überwin-

Narrative im Vergleich 193

Dabei wird der Epochen b ru c h zwischen Mittelalter und Moderne in der Regel so konzeptualisiert, dass in die postulierte ,theoretisch-normative Sta­tik' der Ständegesellschaft, nicht intendierte ,reale Veränderungen' wie sozi­aler Wandel oder zufällige technische Verbesserungen einbrechen, die eine unaufhaltbare Entwicklung hin zu bewussten und ,gewollten' Veränderungen und dem Fortschrittsdenken der Moderne nach sich ziehen.3 Die Mediävistik reagiert darauf - und zwar aus den beiden möglichen Perspektiven, Alterität oder Kontinuität der Epoche zu betonen - mit Gegenargumenten, die die entsprechenden Entwicklungen und Bewegungen vorverlegt sehen und das Mittelalter als innovat ionsfähige Epoche sehen. Innovationen und Fort­schrittsbewusstsein sind ebenso und meist als Wurzel der späteren Entwick­lung im Mittelalter zu finden und stehen der vorgeblich epocheprägenden Statik, dem Beharrungswillen und der Rückwärtsgewandtheit entgegen.4 Wel­che Geschichte man auch erzählt: Plausibilität und Suggestionskraft werden immer zu einem nicht unwesentlichen Teil auf Kosten anderer Teilepochen und Teilfächer erzielt.

Der Nachweis für das Postulat vom ,statischen Mittelalter' wird häufig mit dessen angeblicher Scheu vor dem Neuen erbracht. Entsprechend haben sich ganze Generationen von· Forschern häufig in begriffsgeschichtlichen Studien an der Frage abgearbeitet, ob das Neue im „Mittelalter" grundsätz­lich negativ oder auch einmal positiv bewertet worden sei. Ihre Ergebnisse betonen meist die Ambivalenz des Begriffs.5 Hans-Joachim Schmidt weist

4

dung und Gegenwart des „Mittelalters" in der europäischen Modeme, in: Früh­

mittelalterliche Studien 2003 (37), S. 477-496.

Niklas Luhmann: Evolution und Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft

1976 (2), S. 284-309. Winfried Schulze: Wahrnehmungsmodi von Veränderung in

der Frühen Neuzeit, in: Mitteilungen des Sonderforschungsbereichs 573 2005 (1),

S. 16-25; Wulf Oesterreicher: Die Entstehung des Neuen - Differenzerfahrung

und Wissenstransformation: Projektions- und Retrospektionshorizante frühneu­

zeitlicher Sprachreflexion, in: Mitteilungen des Sonderforschungsbereichs 573

2005 (1), S. 26-37.

Vgl. Klaus Oschema und Christian Hesse: Aufbruch im Mittelalter - Innovation in

Gesellschaften der Vormoderne. Eine Einführung, in: Aufbruch im Mittelalter -

Innovationen in Gesellschaften der Vormoderne . Studien zu Ehren von Rainer C.

Schwinges, hg. von dens., Ostfildern 2010, S. 9-33.

Johannes Spörl: Das Alte und das Neue im Mittelalter, in: Historisches Jahrbuch

1930 (50), S. 297-341; Elisabeth Gössmann: Antiqui und Moderni im Mittelalter.

Eine geschichtliche Standortbestimmung, München 1974 (Veröffentlichungen des

Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philo­

sophie Bd. 23); Antiqui und Moderni. Traditionsbewusstsein und Fortschrittsbe­

wusstsein im späten Mittelalter, hg. von Gudrun Vuillemin-Diem und Albert Zirn-

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ergänzend darauf hin, dass es den Zeitgenossen vor allem darum ging, das Neue bzw. ein bisher unbekanntes Phänomen im Lauf der Heilsgeschichte verorten zu können. Dem ,Neuen' wurde damit ebenso wie einem ,Fort­schreiten' der Schrecken genommen, sei es zur Zeit seiner Entstehung oder Wahrnehmung mit dem Argument der emendatio oder nachträglich durch historiographische Einordnung in den linearen Verlauf der Heilsgeschichte.6

Scheint ,dem Mittelalter' also das Neue zwar nicht immer Negatives, doch aber zumindest das Risiko der Un-Ordnung angehaftet zu haben, so bringt es dem Narrativ der Historiker überhaupt erst Ordnung: die Ordnung erzählba­rer Geschichte, sei es entlang des Fortschritts oder zumindest entlang einer durch Sprünge und Schübe gekennzeichneten klaren Entwicklungslinie.

Während Konsens darüber zu herrschen scheint, dass die Frage nach ei­nem auf die Moderne verweisenden ,Willen zu Innovation' weder adäquat noch relevant ist, wird ebendieser der ganzen Epoche oder einzelnen ihrer Vertreter immer wieder zugeschrieben. Das ist vielleicht am Besten an einem kurzen Aufsatz zu illustrieren, den David Luscombe zum „sense of innova­tion" bei Abaelard verfasst hat.7 Luscombe zeigt, dass die meisten Vorwürfe der Zeitgenossen gegen Abaelard gerechtfertigt waren, insofern sie als Norm­verstoß verstanden wurden, nicht allerdings im Sinn von Innovation; genauso wenig wie Abaelard selbst Innovation im Sinn gehabt habe. Dennoch, so be­ginnt und schließt Luscombe seinen Aufsatz, sei Abaelard ein großer „inno­vator" gewesen. Diese Feststellung, die Zuschreibung einer unbew ussten Intention zur Innovation, gehört in das Repertoire einer in der Rückschau positiven Bewertung Abaelards - wiederum mit Blick auf die moderne Wis­senschaft. Die Debatte über die zeitgenössische Wahrnehmung des Neuen verweist damit wie die gesamte Periodisierungsdiskussion auf die Bedeutung des Fortschrittsnarrativs für die Historiographie.8 An den Epochenimagina-

mermann, Berlin 1974 (Miscellanea mediaevalia Bd. 9); Die Wahrnehmung des Neuen in Antike und Renaissance, hg. von Achatz von Müller und Jürgen von

Ungern-Sternberg, München 2004 (Colloquium Rauricum Bd. 8). 6

Hans-Joachim Schmidt: Legitimität von Innovation. Geschichte, Kirche und neue Orden im 13. Jahrhundert, in: Vita Religiosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm zum 70. Geburtstag, hg. von Franz J. Felten und Nikolas Jaspert, Berlin 1999

(Berliner Historische Studien Bd. 31/0rdensstudien Bd. 13), S. 371-391. Hans­

Joachim Schmidt: Einleitung: Ist das Neue das Bessere? Überlegungen zu Denk­figuren und Denkblockaden im Mittelalter, in: Tradition, Innovation, Invention. Fortschrittsverweigerung und Fortschrittsbewusstsein im Mittelalter, hg. von

dems., Berlin 2005 (Scrinium Friburgense Bd. 18), S. 7-24.

David Luscombe: The Sense of Innovation in the Writings of Peter Abelard, in:

Tradition, Innovation, Invention (wie Anm. 6), S. 181-194.

Für eine Typologie im geschichtswissenschaftlichen Umgang mit „Wandel und

Narrative im Vergleich 195

tionen ,Mittelalter', ,Renaissance' und ,Frühe Neuzeit' wird deutlich, welche hohe Bedeutung der Umschwung zur ,Modeme' in der Retrospektive hat und dass es dabei immer um eine Konkurrenz in der ,Dynamik' geht, die den Epochen zugeschrieben werden kann. Die ,Modeme' - so multipel sie auch inzwischen sein mag9

- ist und bleibt also ein wirkmächtiges Bezugs- und Legitimationsmuster für historiographisches Erzählen.

Doch nun konkret zum 12. Jahrhundert, das aus den eben genannten Kon­texten heraus in seiner Bedeutung für die Epochenimaginationen der histori­schen Wissenschaften kaum zu überschätzen ist. Denn die Geschichte des Schreibens über das Hochmittelalter kann als eine Geschichte des sich Verlie­rens in Metaphern des Neuen und Erneuerns erzählt werden, aus der sich Meta-Narrative wie ,Revolution', ,Renaissance' oder ,Krisenzeit' herauskris­tallisieren, die selten miteinander in Beziehung gesetzt werden.

Für das späte 11. und das 12. Jahrhundert ist seit dem frühen 19. Jahrhun­dert immer wieder die Rede von einer besonderen Dynamik, einem an zahl­reichen Einzelstudien aufgezeigten, letztlich aber diffusen Befund: ,,un con­texte global unique de renouveau et de croissance". 10 Bernard Ribemont schlug vor, die Zeit mit ,,le concept de mouvance, de tourbillon, et, ... d'overlapping"

zu beschreiben.11 Und Leidulf Melve formuliert in seinem Überblick über die Forschung im Anschluss an Haskins' 12th century renaissan.ce vorsichtig zu­sammenfassend „the period is characterised by the uneasy coexistence bet­ween traditional themes and a plurality of new approaches" und stellt fest, ,,[i]f one trait stands out from the numerous works over the last 20 years or so, it can perhaps be called ,innovation within continuity"'. 12

Innovation" vgl. Lutz Raphael: Jenseits von Strukturwandel oder Ereignis? Neu­ere Sichtweisen und Schwierigkeiten der Historiker im Umgang mit Wandel und Innovation, in: Historische Anthropologie 2009 (17), S. 110-120.

Shmuel N. Eisenstadt: Die Vielfalt der Moderne: Ein Blick zurück auf die ersten Überlegungen zu den „ multiple modernities ", in: Themenportal Europäische Ge­schichte (2006), http://www.europa.clio-online.de/site/lang_de-DE/ItemID _113/

mid_l 1428/40208214/default.aspx, [23 .9.2012]. 10

Jacques Verger: Renaissance de Xlle siecle et reforme de l'Eglise, in: La Renais­sance? Des Renaissances? Vllle-XV/e siecles, hg. von Sophie Masse, Paris 2010

(Collection Circare Bd. 7), S. 165-175, hier S. 175; vgl. auch Peter Johanek:

Klosterstudien, in: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, hg. von Johannes Fried, Sigmaringen 1986 (Vorträge und Forschun­gen Bd. 30), S. 35-68, hier S. 67.

11 Bernard Ribemont: Le concept de «renaissance» est-il operationel dans l' etude de la civilisation medievale?, in: La Renaissance? Des Renaissances? (wie Anm. 10),

S. 85-106, hier S. 105.12 Leidulf Melve: ,, The revolt of the medievalists ". Directions in recent research on

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In der Regel kann man sich also im kleinsten gemeinsamen Nenner darauf einigen, dass ,dynamisch' als Epochensignatur taugt, sowie darauf, dass im 12. Jahrhundert ,Neues', teilweise explosionsartig 1 3 , aus einer spezifischenSpannung zwischen Tradition und Innovation entstanden sei. Konkurrenzgibt es für diesen Befund allerdings von beiden Seiten: so könnte man ohnezu zögern auch das ,lange 10. Jahrhundert.i4

- als Wendepunkt zur Modernekonstruieren oder aber auch die Reformwelle um 1050 als „eigentlich karolin­gisch" (Miriam Czock) bezeichnen und somit bis in das 9. Jahrhundert zu­rück gehen. Insbesondere das 11. Jahrhundert schwankt zwischen der Bewer­tung als Wegbereiter der ,eigentlichen' Neuerungen des 12. Jahrhunderts oderals eigenständige „Umbruchszeit". 15 Und am chronologisch anderen Endewartet das ,fortschrittliche' 13. Jahrhundert, dem die Renaissance auf demFuße folgt. 16

Macht man sich nun auf die Suche nach einer Konkretisierung der Befun­de, wird man in den unterschiedlichsten Bereichen fündig. Allen voran wer­den Religion und Gesellschaft als die Felder benannt, in denen neue - prämo­derne - Formen zu finden seien. 17 Das sind natürlich beileibe nicht die

the tweljth-century renaissance, in: Journal oj Medieval History 2006 (32), S. 231-

252, hier S. 243-246, S. 247; s. v. a. Peter von Moos: Das 12. Jahrhundert- eine

„Renaissance" oder ein „Aufklärungszeitalter"?, in: Mittellateinisches Jahrbuch

1988/1991 (23), S. 1-10. 13 Margot E. Fassler: Mary's Nativity, Fulbert of Chartres, and the Stirps }esse: Li­

turgical Innovation circa 1000 and lts Afterlife, in: Speculum 2000 (75/2), S. 389-

434, hier S. 422. 14

Christine Kleinjung, Davina Brückner und Rene Weiter: Tagungsbericht: Das

lange 10. Jahrhundert- struktureller Wandel zwischen Zentralisierung und Frag­

mentierung, äußerem Druck und innerer Krise, 14.03.2011 - 16.03.2011 Mainz,

in: H-Soz-Kult (28.05.2011), <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungs

berichte-3650> [24.2.2012]. 15

Karl J. Leyser: Am Vorabend der ersten europäischen Revolution. Das 11. Jahr­

hundert als Umbruchszeit. Mit einem Nachwort von Horst Fuhrmann, in: Histori­

sche Zeitschrift 1993 (257), S. 1-28. 16

Schmidt: Legitimität von Innovation (wie Anm. 6). Zu Entstehung, Funktion und

Aktualität des Renaissance-Begriffs vgl. Karlheinz Stierle: Renaissance. Die Ent­

stehung eines Epochenbegrif.fs aus dem Geist des 19. Jahrhunderts, in: Epochen­

schwelle und Epochenbewusstsein, hg. von Reinhart Koselleck und Reinhart Her­

zog, München 1987 (Poetik und Hermeneutik Bd. 12), S. 453-492; Randolph A.

Starn: A Postmodern Renaissance?, in: Renaissance Quarterly 2007 (60/1),

S. 1-24.17 So spricht Karl Bosl: Regularkanoniker (Augustinerchorherren) und Seelsorge in

Kirche und Gesellschaft des europäischen 12. Jahrhunderts, München 1979 (Bay­

erische Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Abhandlungen NF 86),

Narrative im Vergleich 197

einzigen. Die Konsolidierung von Macht- und Herrschaftsstrukturen, der Übergang von der Romanik zur Gotik, die zunehmende Bedeutung der Volkssprachen in Historiographie und Literatur, die Kodifizierung von Recht, das Wachstum der Städte und die Organisation der Kommunen sowie die Ausdifferenzierung der Wissenschaften sind weitere Aspekte, die zum Bild des dynamischen 12. Jahrhunderts beigetragen haben. 18

Wie oben schon angedeutet geht es hier nicht darum, diese Befunde selbst in Frage zu stellen oder ihre Plausibilität im Einzelnen zu prüfen. Im Folgen­den wird vielmehr versucht, eine Übersicht über die Meta-Narrative, die aus diesen Befunden entstehen bzw. mit ihnen gefüllt werden, und die Sprachbil­der, die für sie gefunden werden, zu erstellen.

Idealtypisch kann zwischen Kontinuitäts- und Brucherzählungen unter­schieden werden, wobei sogleich Einschränkungen zu machen sind: zunächst sind disziplinäre und nationale Traditionen sowie die thematische Einordnung der Darstellungen maßgeblich für die - bewusste oder unbewusste - Wahl des Narrativs und daher immer mitzudenken; sodann ist eine eindeutige Zuord­nung zum einen oder anderen Modell kaum je möglich - es dominieren Zwi­schenformen. Beide Einschränkungen treffen vor allem auf die Rede von der ,Renaissance' des 12. Jahrhunderts zu, sie wird daher gesondert betrachtet.

Kontinuität wird also erstens in ,Entwicklungs'-, ,Phasen'- oder ,Konjunk­tur'-Modelle gefasst, die jeweils als Teil einer großen Aufstiegserzählung funktionieren. Hier können Wurzeln, Anfänge und Vorläufer zwanglos vor­geschaltet werden, strenge Grenzziehungen sind - auch zum Nachfolgenden hin - zweitrangig. Daher ist hier hauptsächlich von ,Reform(en)' und vom prozesshaften Werden die Rede und ,das lange 12. Jahrhundert' kann sich in seiner äußersten Ausdehnung von der Mitte des 11. bis zur Mitte des 13. Jahr­hunderts dehnen. 19 Das narrative Grundmuster von ,Aufstieg', ,Höhepunkt'

S. 25 von einer „Zeit sich auflösender archaischer, mythischer, totaler Starrheit,

Unpersönlichkeit, Unterordnung, die sich mit neuen Formen und Inhalten von

Religion und Menschsein seit dem 11. Jahrhundert konfrontiert sah und auseinan­

dersetzte,[ ... ]". Auch hier findet sich wieder die aus der Tradition der Renaissan­

cegeschichtsschreibung (Jacob Burckhardt) stammende Konstruktion des ,Davor'als besonders statisch, vgl. oben Anm. 2 (Greenblatt).

18 Die entsprechende Literatur ist Legion, sowohl in der Geschichtswissenschaft wie

auch in den Nachbarwissenschaften. Daher sei hier nur exemplarisch Alfred Ha­

verkamp: Zwölftes Jahrhundert, 1125-1198, Stuttgart 102003 (Gebhardt. Hand­

buch der deutschen Geschichte Bd. 5), genannt. Auch bei den in den folgenden

Anmerkungen genannten Literaturhinweisen handelt es sich um eine subjektive,

exemplarische Auswahl. 19

Vgl. Robert I. Moore: The formation of a persecuting society. Authority and devi­

ance in Western Europe, 950 -1250, Malden, Mass. 22007; Michael T. Clanchy:

198 Anja Rathmann-Lutz

und ,Dekadenz'/,Krise' ist zwar dominant (wobei das 12. Jahrhundert jeweils

als Höhepunkt konzipiert ist), kann aber durch die Multiplikation von Höhe­

punkten, verschiedene Geschwindigkeiten und Ausdehnungen von Entwick­

lungen variiert werden.20 Entsprechend gestaltet sich der Gebrauch von

Metaphern. Le Goff beispielsweise spricht vom langsamen „Eintröpfeln" des

Neuen in die mentalen Strukturen21 und Fluss- wie Wellenmetaphern be­

inhalten sowohl kontinuierliche Vorwärtsbewegung wie auch Richtungs- und

Intensitätswechsel. Besonders häufig sind Bilder naturhaften Wachsens und

Vergehens wie das der Lebensalter oder der Jahreszeiten. Diese wandern

auch zwischen den Disziplinen, so teilen sich beispielsweise die Literatur­

und die Wirtschaftsgeschichte das Modell der ,Blütezeiten'.

Zweitens gibt es ,Bruch'-Modelle, die das Muster einer klaren Abgren­

zung zum Vorigen und des Anschlusses an das Folgende, die Moderne verfol­

gen. Hier markiert folgerichtig ,Revolution'22 statt Reform die Bruchkante,

Erfindungen und Innovationen stehen paradigmatisch für die Abkehr vom

Alten. Es ist die Rede von ,Schöpfung', ,Geburt', ,Zäsuren' und „Wassersehei-

From Memory to Written Record, England 1066-1307, Oxford 32013; Thomas

Haas: Geistliche als Kreuzfahrer. Der Klerus im Konflikt zwischen Orient und

Okzident 1095-1221, Heidelberg 2012 (Heidelberg transcultural studies Bd. 3);

Jan M. Ziolkowski: From didactic poetry to bestselling textbooks in the long

twelfth century, in: Calliope's Classroom: Studies in Didactic Poetry from Anti­

quity to the Renaissance, hg. von Annette Harder, Alasdair A. MacDonald und

Gerrit J. Reinink, Leuven 2007, S. 221-243. 20

Vgl. Heide Wunder: Die„ Krise des Spätmittelalters" im Spiegel der Geschlechter­

beziehungen -Zum gesellschaftsgeschichtlichen Phasenmodell Ferdinand Seibts,

in: Von Aufbruch und Utopie. Perspektiven einer neuen Gesellschaftsgeschichte

des Mittelalters. Für und mit Ferdinand Seiht aus Anlaß seines 65. Geburtstages,

hg. von Bea Lundt und Helma Reimöller, Köln 1992, S. 73-85; Felicitas Sehmie­

der: Das Werden des mittelalterlichen Europa aus dem Kulturkontakt: Vorausset­

zungen und Anfänge der europäischen Expansion, in: Expansionen in der Frühen

Neuzeit, hg. von Renate Dürr, Gisela Engel und Johannes Süßmann, Berlin 2005

(Zeitschrift für historische Forschung Beihefte 34), S. 27-41. 21

Jacques Le Goff: Au Moyen Age: Temps de l'Eglise et temps du marchand, in:

Annales. Histoire, Sciences Sociales 1960 (15), S. 417-433, hier S. 421. 22

Robert I. Moore: Die erste europäische Revolution, München 2001. Charles M.

Radding: Evolution of medieval mentalities: a cognitive-structural approach, in:

American Historical Review 1978 (83), S. 577-597, S. 597, betonte die „dimen­

sions of the break that began in the eleventh and twelfth centuries, [ ... ] this shift,

which comprised much more than a return to antique canons of style or the recov­

ery of classical texts." Die Forschung folgt Radding nicht in seiner radikalen Ein­

schätzung, so Melve: Revolt (wie Anm. 12), S. 242.

Narrative im Vergleich 199

den"23. Seltener wird das Hochmittelalter als eine Zeit vorgestellt, in der Din­

ge, die schon länger in Bewegung gewesen waren, vollendet werden und ihre vorerst endgültige Gestalt annehmen. Dieses Narrativ begegnet bei­spielsweise im Bereich der Musik- und Liturgiewissenschaften, die die Rede vom „Niedergang um 1000" mit einem Modell von erreichter Vielfalt ersetzt haben.24 Der Bruch wird hier nicht als Start-, sondern als Endpunkt vorge­stellt. Hier kreuzt sich das Narrativ dann mit dem Phasenmodell, denn nach einem solchen Höhepunkt setzt in der Regel eine Zeit des Niedergangs bzw. der Stagnation ein, die als produktive Krise verstanden werden kann.25 Daher führt die durch den Bruch diskontinuierlich gewordene Erzählung in aller Regel dann wiederum zielstrebig auf Renaissance und Modeme hin.

Eine ,epochale Umbruchszeit' war lange das bevorzugte Deutungsmodell der deutschen bzw. deutschsprachigen Forschung für das Hochmittelalter. Wie Michael Borgolte gezeigt hat, schloss die an den Investiturstreit angela­gerte Erzählung einer ,revolutionären Wende' und eines ,Aufbruchs' aller­dings auch - weniger radikale - ,Reformen' mit ein.26

Ergänzt und konkurrenziert werden diese Narrative durch das Konzept der ,Renaissance des 12. Jahrhunderts', das sich vor allem in der angelsächsi­schen und französischen Forschung durchsetzte.27 Es setzt voraus, dass die Mediävistik selbst die Erzählung vom Niedergang des Römischen Reiches und der fortschreitenden Barbarisierung übernahm und - im Sinn einer

23 Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter von Augustin bis Machia­

velli, Stuttgart 22000, S. 208; das Bild der Wasserscheide findet sich mit und ohne expliziten Bezug aufFiasch in zahlreichen Arbeiten zum 12. Jahrhundert.

24 So Andreas Odenthal: Liturgie vom Frühen Mittelalter zum Zeitalter der Konfes­

sionalisierung. Studien zur Geschichte des Gottesdienstes, Tübingen 2011 (Spät­

mittelalter, Humanismus, Reformation Bd. 61), S. 160; Craig Wright: Music and

Ceremony at Notre Dame of Paris, 500-1550, Cambridge 2008, S. 70, zur Litur­gie von Notre Dame de Paris zwischen 1100 und 1300.

25 Frank Klaar: Die „Krise" als Gegenstand der Mentalitätsforschung und ihre

Möglichkeiten. Exemplifiziert am Beispiel von Frantisek Graus, in: Mentalität

und Gesellschaft im Mittelalter. Gedenkschrift für Ernst Werner, hg. von Sabine Tanz, Bd. 2, Frankfurt am Main 1993 (Beiträge zur Mentalitätsgeschichte),

S. 301-319.26 Michael Borgolte: Einheit, Reform, Revolution. Das Hochmittelalter im Urteil der

Modernen, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 1996 (248), S. 225-258.27 Klassisch Charles Homer Haskins: The Renaissance of the Tweljth Century, Cam­

bridge 1927. Für einen Überblick über die neuere Forschung vgl. Andreas Nieder­berger und Alexander Fidora: Der Streit um die Renaissance im 12. Jahrhundert.

Eine Gesellschaft im Spannungsfeld zwischen Humanismus, Wissenschaft und

Religiosität, in: Convenit 2000 (3), S. 7-26; Melve: Revolt (wie Anm. 12).

200 Anja Rathmann-Lutz

,Bruch'-Erzählung - viel Zeit darauf verwendet, ein ,Vorher' zu konstruieren, von dem sich das „Zeitalter des Investiturstreits" bzw. der Kirchenreform28

oder auch einzelne Phänomene des Neuen dann besonders effektvoll absetzen konnten. Während jedoch die klassische (deutsche) Wendezeitvorstellung auf politik-, sozial-, kirchen- und wirtschaftshistorische Überlegungen aufruht, stellt die ,Renaissance' zumindest anfänglich in der Hauptsache auf die Be­obachtung kultureller Entwicklungen ab.29 Entsprechend unterschiedlich fällt auch die Identifizierung dessen aus, was als ,neu' konstatiert und in den Mit­telpunkt der Erzählung gestellt wird: das kann das ,lndividuum'30 sein, aber auch Herrschaftsverhältnisse31 oder Formen von Frömmigkeit.32 Die grund­legenden Meta-Narrative (,Renaissance', ,Umbruch', ,Reform' ) funktionieren unabhängig voneinander in unterschiedlicheri Themenbereichen, sie über­schneiden sich eher selten.

Die Frage nach der Passgenauigkeit von ,Renaissance' für das 12. Jahr­hundert in der Nachfolge von Haskins' Buch33 mündete einerseits in die Aus-

28 Vgl. Borgolte: Einheit, Reform, Revolution (wie Anm. 26), S. 237.

29 The Twelfth-century Renaissance, hg. von Charles R. Young, New York 1969 (Eu­ropean problem studies), S. lf. Es folgen diverse Verbreiterungen des Begriffs,

vgl. Melve: Revolt (wie Anm. 12), S. 235 f. 3° Colin Morris: The Discovery of the Individual: 1050-1200, London 1972 (Church

history outlines Bd. 5); Caroline Walker Bynum: Did the twelfth century discover the individual?, in: Journal of Ecclesiastical History 1980 (31/1), S. 1-17; Susan

R. Kramer und Caroline Walker Bynum: Revisiting the Twelfth-Century Individu­al. The Inner Seif and the Christian Community, in: Das Eigene und das Ganze.Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum, hg. von Gert Melville und

Markus Schürer, Münster 2002 (Vita regularis Bd. 16), S. 57-88.31

Vgl. Thomas Noel Bisson: The Crisis of the Twelfth Century Power, Lordship, andthe Origins of European Government, Princeton 2009; Das Lehnswesen im Hoch­mittelalter, hg. von Jürgen Dendorfer, Ostfildern 2010 (Mittelalter-ForschungenBd. 34). Für eine detaillierte Analyse der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhun­

derts zum Königtum vgl. Stephanie Kluge: Kontinuität oder Wandel? Zur Bewer­tung hochmittelalterlicher Königsherrschaft durch die frühe bundesrepublikani­sche Mediävistik, in: Frühmittelalterliche Studien 2015 (48/1), S. 39-120.

32 Stefan Weinfurter: Grundlinien der Kanonikerreform im Reich im 12. Jahrhun­dert, in: Studien zur Geschichte von Millstatt und Kärnten. Vorträge der Millstät­ter Symposien 1981-1995, hg. von Franz Nikolasch, Klagenfurt 1997 (Archiv fürvaterländische Geschichte und Topographie Bd. 78), S. 751-770; Werner Röse­

ner: Tradition und Innovation im hochmittelalterlichen Mönchtum. Kontroversenzwischen Cluniazensern und Zisterziensern im 12. Jahrhundert, in: Tradition, In­novation, Invention (wie Anm. 6), S. 399-421.

33 Vgl. Marcia L. Colish: Haskins's Renaissance Seventy Years Later: Beyond Anti­Burckhardtianism, in: Haskins Society Journal 2003 ( l l ), S. 1-15.

Narrative im Vergleich 201

einandersetzung mit zeitgenössischen Konzepten und Wahrnehmungen des

Wandels, wobei in zahlreichen vor allem begriffsgeschichtlichen Studien

deutlich wurde, dass im Renaissancebegriff ebenso viel ,Kontinuität' wie

,Umbruch' steckt.34 So schlug Ladner bereits 1982 vor, zu differenzieren, und

in Bezug auf das Reich von „restoration", in Bezug auf die Religion von „re­

form", in Bezug auf die soziale Ordnung von „rebellion", in Bezug auf die

Vorstellungen von Natur und Kosmos von „renascence" zu sprechen.35 Giles

Constable hat das Reform-Modell für die Zeit zwischen 1040 und 1160 als

„reformation" weiter ausgebaut.36 Es ist inzwischen z.B. im Zusammenhang

von (politischer) Reform und Rhetorik noch ausgeweitet worden.37 Im Ergeb­

nis entstehen differenzierte Teilerzählungen, die den Renaissancebegriff als

,umbrella-term' zwar ablehnen38, aber zugleich das im ,Renaissancenarrativ'

angelegte Potential der Kombination von Umbruchsmomenten und Kontinui­

tätslinien nutzen.

Ebenfalls genutzt wird dieses Potential andererseits, indem in Anlehnung

an die Kriterien, mit denen die Renaissance des 14.-16. Jahrhunderts cha­

rakterisiert wird, Prozesse der Innovation39, der Rationalisierung40

, der Pro­

fessionalisierung, der Säkularisierung, der Zentralisierung und der Bürokrati-

34 Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, hg. von Robert Louis Benson,

Giles Constable und Carol Dana Lanham, Oxford 1982; Aufbruch - Wandel - Er­

neuerung. Beiträge zur „Renaissance" des 12. Jahrhunderts. 9. Blaubeurer Sym­

posion vom 9. bis 11. Oktober 1992, hg. von Georg Wieland, Stuttgart-Bad Cann­

statt 1995; vgl. dazu auch Friedrich Ohly: Die Kathedrale als Zeitenraum. Zum

Dom von Siena, in: Frühmittelalterliche Studien 1972 (6), S. 94-158. 35

Gerhart B. Ladner: Terms and ldeas of Renewal, in: Renaissance and Renewal

(wie Anm. 34), S. 1-33. Zu „renascence" vgl. auch Erwin Panofsky: Renaissance

and Renascences, in: Kenyon Review 1944 (6), S. 201-236. 36 Giles Constable: The Reformation of the Twelfth Century, Cambridge 1996. 37

Rhetoric and Renewal in the Latin West 1100-1540, hg. von Constant J. Mews,

Cary J. Nederman und Rodney M. Thomson, Turnhout 2003 (Disputatio Bd. 2). 38

C. Stephen Jaeger: Pessimism in the Twelfth-Century "Renaissance", in: Specu­

lum 2003 (78), S. 1151-1183.39 Vgl. Peter Damian-Grint: The New Historians of the Twelfth-Century Renaissan­

ce. lnventing Vernacular Authority, Woodbridge 1999; Leidutf Melve: lnventing

the Public Sphere. The Public Debate during the lnvestiture Contest ( c. 1030-

1122), Leiden 2007 (Brill's Studies in lntellectual History Bd. 154); Conrad Ru­

dolph: lnventing the Gothic Portal: Suger, Hugh of Saint Victor, and the Construc­

tion of a New Public Art at Saint-Denis, in: Art History 2010 (33/4), S. 568-595.40

Vgl. Georg Wieland: Rationalisierung und Verinnerlichung. Aspekte der geistigen

Physiognomie des 12. Jahrhunderts, in: Philosophie im Mittelalter. Entwicklungs­

linien und Paradigmen, hg. von Jan P. Beckmann u. a., Hamburg 1987.

202 Anja Rathmann-Lutz

sierung sowie der ,Humanismus' des 12. Jahrhunderts41 beschrieben werden. Nicht immer tragen die entsprechenden Analysen die ,Renaissance' im Titel, sie übernehmen jedoch das Grundmuster, teilweise auch die Inhalte der Renaissancehistoriographie.42 Auch hier überschlagen sich die Vorschläge für passende Metaphern oder Alternativbegriffe, die mitunter auch auf die jeweils dahinterliegende - disziplinär, wissenschaftspolitisch oder persönlich motivierte - Epochenimagination verweisen. Bei einigen der Bilder fällt die Ökonomisierung der Sprache ins Auge: so schlägt Balnaves vor, ,,boom would be a more useful, if a less distinguished term than ,renaissance"'43

, während Ribemont von „sursaut''44

, Le Goff von „essort" bzw. ,,take-off''45 spricht. Zurückhaltender von einer „era of transition" ist in einem Gegenentwurf

zu Umbruchs- wie Renaissance-Narrativ die Rede: Bruce Venarde nutzt die­sen Begriff für die Zeit zwischen ca. 1000 und 1250, um auf die von Jo Ann McNamara und anderen postulierte und in der Folge heiß diskutierte Einen­gung weiblicher Handlungsspielräume zu verweisen und vorzuschlagen, doch sinnvoller nach „opportunities and accomplishments"zu fragen.46 Und Mi­chael Borgolte plädiert 1996 dafür, die Erzählungen aufzubrechen und Plura-

41 Vgl. hauptsächlich die Arbeiten von Richard W. Southem, aber auch Willemien

Otten: From paradise to paradigm. A study of twelfth-century humanism (2004). 42

Robert N. Swanson: The twelfth-century renaissance, Manchester 1999, unter­

scheidet gleich mehrere parallele Renaissancen. 43 John Balnaves: Bernard of Morlaix. The Literature of Complaint, the Latin Tradi­

tion and the Twelfth Century 'Renaissance', Diss. Canberra 1997, S. 340. 44

Ribemont: Le concept de «renaissance» (wie Anm. 11 ), S. 103 f. 45

Jacques Le Goff: What Did the Twelfth-Century Renaissance Mean?, in: The Me­

dieval World, hg. von Peter Linehan und J anet L. Nelson, London 2001, S. 635-

647. 46

Bruce Venarde: Praesidentes negotiis: Abbesses as managers in twelfth-century

France, in: Portraits of Medieval and Renaissance Living: Essays in Memory of

David Herlihy, hg. von Samuel Kline Cohn und Steven Epstein,Ann Arbor 1996,

S. 189-205, hier S. 190 f. Vgl. Jo Ann McNamara: Victims of progress: women

and the twelfth century, in: Female Power in the Middle Ages, hg. von Karen

Giente und Lise Winther-Jensen, Kopenhagen 1989, S. 26-37; Jo Ann McNama­

ra: The "Herrenfrage": the restructuring of the gender system, 1050-1150, in:

Medieval Masculinities: Regarding Men in the Middle Ages, hg. von Clara A.

Lees, Minneapolis 1994 (Medieval Cultures Bd. 7), S. 3-29. Für das 10. Jahrhun­

dert argumentiert ähnlich wie Venarde Robert Sabatino Lopez: Still Another

Renaissance?, in: The American Historical Review 1951 (57/1), S. 1-21. Lopez

blickt ebenfalls eher auf Möglichkeiten und sucht nicht nach Institutionalisie­

rungsprozessen, die in den meisten Werken einer der Gradmesser von Fortschritt

in Folge von Innovation sind. Seiner Meinung nach verhindern letztere sogar das

Nutzen von Möglichkeiten.

Narrative im Vergleich 203

lität und Offenheit in sie einzubringen, da „die Rede von ,Aufbruch' und ,Wende' weniger auf die Sache, den historischen Gegenstand, als auf das Denken der modernen Historiker" verweise - und das habe sich eben geän­dert. Er folgert, es gehe „künftig, wenn nicht alles täuscht, eher um Vielheit als um Einheit" und dass die Zeit gekommen sei, ,,sich von der Einheitsvor­stellung der Geschichte und der historischen Perioden zu lösen".47

Nun sind die Auswirkungen aller Varianten von Erzählungen, die das 12. Jahrhundert und das Hochmittelalter generell als hochdynamische Epochedes Wandels konzipieren,jetzt schon ansatzweise dort zu spüren, wo sich ,Vor­moderne' als Ersatz für spezifischere Epochenbezeichnungen durchzusetzenbeginnt und eine neue Grundstruktur sichtbar wird, die die gemeinsame Be­trachtung ca. des 11.-18. Jahrhunderts favorisiert.48 Damit werden - auchdurch Auseinanderdriften und Neuanordnung von institutionellen Einheiten -neue Epochengrenzen suggeriert, die freilich erstens nicht so klar abgrenzbarsind, wie es die früheren schienen und in denen sich zweitens der Trend arti­kuliert, dass eher langfristiger, in vielen Bereichen verflochtener49 ,Wandel'(auch als ,Verwandlung' oder ,Transformation') als Narrativ an Attraktivitätzu gewinnen scheint.50 Ein großangelegtes Projekt erforschte auf diese Weise

47 Borgolte: Einheit, Reform, Revolution (wie Anm. 26), S. 250f. 48

Als Alternativepoche ist das keineswegs ganz neu; vgl. die Neubewertungen des

Konzepts „Alteuropa" in Alteuropa, Vormoderne, Neue Zeit. Epochen und Dyna­

miken der europäischen Geschichte ( 1200-1800), hg. von Christian Jaser, Ute

Lotz-Heumann und Matthias Pohlig, Berlin 2012 (Zeitschrift für historische For­

schung Beiheft 46). Auch ,Vormoderne' ist ein explizit auf die Modeme ausge­

richtetes Epochenkonzept. 49

Vgl. Entangled histories and negotiated universals. Centers and peripheries in a

changing world, hg. von Wolf Lepenies, Frankfurt am Main 2003; Nicbolas Tho­

mas: Entangled objects: exchange, material culture, and colonialism in the Paci­

fic, Carnbridge/Mass. 1991; Monica Juneja: Braided Histories? Visuelle Prakti­

ken des indischen Moghulreichs zwischen Mimesis und Alterität, in: Historische

Anthropologie 2008 (16), S. 187-204; zu Natalie Zemon Davis vgl. Randolph

Starn: Braided Histories, in: Annual of Medieval Studies at CEU 2006 (12),

S. 211-218. Die Sektion Entwicklungssoziologie und Sozialanthropologie der

Deutschen Gesellschaft für Soziologie diskutierte 2007 auf der ESSA-Herbst­

tagung „Wissen um Veränderung: Entwicklung, Geschichte, sozialer Wandel" Kon­

zepte der Modernisierung, Globalisierung und Transformation. Eine produktive

Auseinandersetzung mit dem Begriff der Veränderung in der Soziologie durch die

Mediävistik steht noch aus; vgl. Sung-Joon Park und Patrick Neveling: Tagungs­

bericht: Wissen um Veränderung: Entwicklung, Geschichte, sozialer Wandel,

0J.J0.2007-02.10.2007 Halle an der Saale, in: H-Soz-Kult 19.02.2008, <http://

www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte- l 905> [28.09.2008].50

Hagen Keller: Ordnungsvorstellungen, Erfahrungshorizonte und Welterfassung

204 Anja Rathmann-Lutz

den Übergang zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Im Modell der ,,transformation of the Roman World" laufen Erzählungen von Brechungen, Dynamik und Kontinuitäten so erfolgreich zusammen, dass es jetzt auch eine ,,Transformation des Karolingerreichs"51 gibt. Das Konzept der Transforma­tion verbindet sich mit der Region als Beobachtungsgröße und historischer Einheit und kombiniert ,neue' mit ,traditionellen' Untersuchungsfeldern: so werden Repräsentationen und Kommunikationen, Konflikte, Wissen und Re­ligion, Antikenbezüge, Wirtschaft und Infrastruktur, Kulturkontakte und -austausch gemeinsam betrachtet.52 Daran anschließend bietet ,evolutionäresErzählen' ebenfalls den Vorteil in längeren Zyklen und größeren Zusammen­hängen erzählen zu können und Teilbereiche miteinander zu vergleichen.53

Zudem scheint die Integration von Pluralität und Kontingenz in die Ge­schichtserzählungen - wie von Borgolte 1996 eingefordert - vorzugsweise über ein Evolutions-Narrativ zu gelingen.54 Das kann beispielsweise für die Kirchen- und Dogmengeschichte interessant sein, wenn man es, wie Rein­hard vorschlägt, auf die „Wellen" der Entwicklungen des okzidentalen Mönchtums anwendet.55 So kann auch dem Problem entgangen werden, das eine Hierarchisierung von Zeitabschnitten oder Regionen nach mehr oder weniger Innovation - also näher oder ferne der Modeme - mit sich bringt.56

im kulturellen Wandel des 12./13. Jahrhunderts, in: Ordnungskonfigurationen im

hohen Mittelalter, hg. von Bernd Schneidmüller und Stefan Weinfurter, Ostfildern

2006 (Vorträge und Forschungen Bd. 64), S. 257-278. 51 Vgl. Sören Kaschke: Tagungsbericht: Produktivität einer Krise. Die Regierungs­

zeit Ludwigs des Frommen (814-840) und die Transformation des karolingischen

Imperiums, 16.03.2011-19.03.2011 Limoges, in: H-Soz-Kult 14.06.2011, <http://

www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-3680>. [24.02.2012). 51 Verwandlungen des Stauferreichs, hg. von Bernd Schneidmüller und Stefan Wein­

fmter, Stuttgart 2010. 53

Ve1folgt man mit Luhmann: Evolution und Geschichte (wie Anm. 3) die Entwick­

lung der Subsysteme treten andere Bruchlinien auf bzw. die bekannten können

anders gedeutet oder relativiert werden. 54 Rainer Walz: Theorien sozialer Evolution und Geschichte, in: Geschichte und Sys­

temtheorie. Exemplarische Fallstudien, hg. von Frank Becker, Frankfurt am Main

2004 (Campus Historische Studien Bd. 37), S. 29-75. 55 Wolfgang Reinhard: Reformation als Mutation? Evolution und Geschichte, in:

Zeitschrift für Historische Forschung 2010 (37), S. 601-615. 56 Vgl. z. B. die Einleitung bei Swanson: The twelfth-century renaissance (wie

Anm. 42).

Narrative im Vergleich 205

Drei Punkte scheinen mir nun angesichts dieser älteren und neueren Möglich­

keiten Geschichte(n) zu erzählen bedenkenswert:

1. Die Reflexion über die eigenen Erzählweisen wie über die anderer gehört

inzwischen zum festen Repertoire der historischen Wissenschaften.57 Sie

sollte jedoch enger mit den Geschichtsdarste l lungen, vor allem in

Handbüchern, verzahnt und mit der Reflexion über Formate und Publika,

verbunden werden.58 Dies scheint mir - unspektakulär genug - durch das

sorgsame Beachten und Beschreiben von Interessens- und Erzähl-Kon­

junkturen innerhalb der Teildisziplinen möglich zu sein. Dafür eignen sich

Relektüren von ,Klassikern' beispielsweise technikgeschichtlicher For­

schung in kulturgeschichtlichem Kontext und andererseits ihre Neubewer­

tung vor dem Hintergrund neuerer Daten. Dabei ist immer die Frage neu

zu stellen, was ,Befund', was ,Projektion' sei - gerade auch um die eige­

nen Projektionen zu erkennen und die der anderen kreativ zu nutzen.59

2. Die interdisziplinäre und vor allem auch die innerdisziplinäre Kommuni­

kation sollte jenseits der Antragsrhetorik ausgebaut und verstetigt werden.

Denn meist scheint in der Lektüre das Neue in einer Epoche wie der Igel

zu sein, der immer schon da ist. Daher müssen die Kriterien dafür, was

und warum in der jeweiligen Spezialforschung als ,trigger', Symptom

oder Ergebnis einer beschriebenen Entwicklung verstanden wird, offenge­

legt und zur Diskussion gestellt werden. Wird beispielsweise das Anwach­

sen in der Menge (Bevölkerungswachstum, Ertragssteigerung, Multipli­

kation didaktischer Literatur) als ein ,Zeichen', eine ,Voraussetzung' oder

ein ,Treiber' von Innovation und Fortschritt konzipiert und welche Folgen

hat das für die gebotene Erzählung?

57 Vgl. Frank Ankers mit: Narrative, an lntroduction, in: Re-Figuring Hayden White,

hg. von dems., Ewa Domanska und Hans Kellner, Stanford/Calif. 2009, S. 77-80.

Um das Ganze noch weiter zu komplizieren, wäre der kritische Blick auf das Fort­

schrittsnarrativ der Forschung, das davon ausgeht, dass ,Fortschritt' in der For­

schung normal und erwartbar ist, wünschenswert. 58

Vgl. beispielsweise Steffen Patzold: Das Lehnswesen, München 2012 (Beck'sche

Reihe Wissen Bd. 2745). 59 Wie fruchtbar eine Infragestellung liebgewonnener Kategorien sein kann, zeigen

im Hinblick auf das Verhältnis von ,Monastik' und ,Scholastik' z.B. die Arbeiten

von Sita Steckei: Kulturen des Lehrens im Früh- und Hochmitte/alter. Autorität,

Wissenskonzepte und Netzwerke von Gelehrten, Köln 2011 (Norm und Struktur

Bd. 39); dies.: Säkularisierung, Desakralisierung und Resakralisierung. Trans­

formationen hoch- und spätmittelalterlichen gelehrten Wissens als Ausdifferenzie­

rung von Religion und Politik, in: Die Ausdijferenzierung von Religion und Poli­

tik. Soziologische Annahmen und historische Befunde, hg. von Karl Gabriel,

Christei Gärtner und Detlef Pollack, Berlin 2012, S. 134--175.

206 Anja Rathmann-Lutz

3. Im Idealfall gelingt es, über neue - kollaborative - Verfahren und Darstel­lungsformen, die Probleme zu kompensieren, die Spezialisierung undMultiplikation der Herangehensweisen mit sich gebracht haben. Dabeiwäre an eine Überblicksdarstellung zu denken, die durch ,Ein- und Aus­zoomen' innerhalb der Erzählung und dem Wechsel zwischen globalerund lokaler Betrachtungsebenen eine nicht-lineare Aneignung von Ge­samtzusammenhängen ermöglicht.60 Parallele Entwicklungen können zu­nächst einmal einzeln beschrieben und analysiert werden. Ihre Einsetzungin ein Narrativ von Gleichzeitigkeiten, das nicht durch Zuordnung von,Zeitgemäßheit' innerhalb eines Fortschrittsnarrativs funktioniert61

, wür­de dann über ihre Verlinkung innerhalb der Gesamtdarstellung erfolgen.Wenn solche multiperspektivischen Erzählungen für mehrere Zeitschnittevorliegen, steht wiederum neuen vergleichenden Betrachtungen der „op­portunities and accomplishments"62 nichts im Wege. Dann kann deutlichwerden, ob und in welchen Bereichen beispielsweise das 12. vielleicht mitdem 16. Jahrhundert mehr gemeinsam hat als mit dem 13. Jahrhundertohne dass Linien gezogen werden müssen, die bruchlos aufsteigen bzw.Brüche oder Bewegung gefunden werden müssen, die immer schon auf,moderne' Zustände verweisen.63

60 Vgl. auch Jacques Revel: Multiple Narratives: Scale and Discontinuity in History, in: Unsettling history, hg. von Sebastian Jobs und Alf Lüdtke, Frankfurt am Main

2010, S. 49-61. 61 Vgl. Achim Landwehr: Über den Anachronismus, in: Zeitschrift für Geschichts­

wissenschaft 2013 (61/1), S. 5-29; 1308 - eine Topographie historischer Gleich­zeitigkeit, hg. von Andreas Speer und David Wirmer, Berlin 2010 (Miscellanea Mediaevalia Bd. 35).

62 Venarde: Praesidentes negotiis (wie Anm. 46), S. 190f.; Lopez: Still Another Renaissance? (wie Anm. 46).

63 Das im Vortrag vorgestellte Modell einer solchen Neuperspektivierung des histo­

rischen Erzählens (,,Geschichte als Mobile" am Beispiel des 12. Jahrhunderts) ist

Gegenstand einer größeren Studie, an deren Abschluss die Autorin zur Zeit arbei­

tet.