narrative im vergleich: das dynamische 12. jahrhundert als scheide- oder höhepunkt des...
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ANJA RATHMANN-LUTZ
Narrative im Vergleich: Das dynamische 12. Jahrhun
dert als Scheide- oder Höhepunkt des Hochmittelalters
Epochenkonstruktionen mit einem Fokus auf die Rolle von „Kontinuitäten, Umbrüche und Zäsuren" in den jeweiligen Narrativen zu untersuchen, war das Ziel der Tagung, aus der der vorliegende Band hervorgegangen ist. Im Rahmen dieser Problemstellung beschäftige ich mich auf den folgenden Seiten mit der Frage nach den begrifflichen und narrativen Strategien, mit denen die Mediävistik versucht hat und noch versucht, die von ihr konstatierte „besondere Dynamik" des Hochmittelalters und namentlich des 12. Jahrhunderts zu fassen und für eine zeitgemäße Geschichtserzählung fruchtbar zu machen.'
Mein Beitrag versteht sich auch als Teil einer langen Reihe selbstreflexiver Überlegungen von Mediävist/innen zu ihrem Gegenstand und ihren Erzählweisen, die keineswegs erst nach dem linguistic turn eingesetzt haben - er schließt im Rahmen dieses Bandes an die Überlegungen zu disziplinären Epochenkonstruktionen an (vgl. den Beitrag von Kohl/Patzold). Vgl. außerdem Meistererzählungen vom
Mittelalter. Epochenimaginationen und Verlaufsmuster in der Praxis mediävisti
scher Disziplinen, hg. von Frank Rexroth, München 2007 (Historische Zeitschrift
Beihefte NF 46) sowie ders.: Das Mittelalter und die Moderne in den Meister
erzählungen der historischen Wissenschaften, in: Lili. Zeitschrift für Literatur
wissenschaft und Linguistik 2008 (38/151), S. 12-31; ders.: Geschichte erforschen
oder Geschichte schreiben? Die deutschen Historiker und ihr Spätmittelalter
1859-2009, in: Historische Zeitschrift 2009 (289), S. 109-147; Valentin Groebner: Arme Ritter. Moderne Mittelalterbegeisterungen und die Selbstbilder der Me
diävistik, in: Das Mittelalter zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Probleme,
Perspektiven und Anstöße für die Unterrichtspraxis, hg. von Thomas Martin B uck und Nicola Brauch, Münster 201 L, S. 335-345, sowie die Arbeiten von Otto Gerhard Oexle. Einzelne Aspekte dieses Textes wurden bereits in der Sektion „Wiedergänger und Neugeborene. Das Renaissance-Narrativ in der (post)modernen Historiographie" auf dem Historikertag in Mainz 2012 und im Kolloquium „Entdeckung - Erfindung - Innovation: Wie kommt das Neue in die Welt?" des Zentrums Vormodernes Europa in Tübingen 2013 diskutiert. Allen Beteiligten danke ich für ihre kritischen Nachfragen und konstruktiven Anregungen.
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Zunächst seien einige - vermeintlich selbstverständliche - Bemerkungen zur Epochenimaginat ion nicht nur in den Geschichtswissenschaften vorgeschaltet:
Periodisierung bedeutet Abgrenzung auch und gerade innerhalb einer Disziplin, von Sachfragen ist sie weitgehend abgekoppelt, es geht um institutionelle claims und individuelle Spezialisierungen. Als Folge der Spezialisierung und der institutionellen Ausdifferenzierung steht die Forschung vor massiven inter- wie intradisziplinären Verständigungsschwierigkeiten: einerseits konkurrieren Narrative der Spezialisten verschiedener Epochen miteinander und andererseits gestaltet sich die Kommunikation der geschichtswissenschaftlichen Teil- und historisch arbeitenden Nachbardisziplinen mit methodischer und thematischer Spezialisierung untereinander durchaus schwierig. In der Konstruktion der Epochen und ihrer Grenzen wird dann besonders deutlich, dass Abgrenzungsbedürfnis und Verständigungsschwierigkeiten bisweilen zum bewussten Verschweigen der Ergebnisse langjähriger Forschung führen: so fällt es beispielsweise immer noch leicht, die Frage „how the world became modern" mit Hilfe des alten Klischees von der Statik und der selbst verschuldeten Unmündigkeit des Mittelalters, aus dem eine dynamische Moderne wie ein Phönix aus der Asche aufsteigen kann, zu beantworten.2
2 Vgl. als ein rezentes, wenn auch recht drastisches, Beispiel unter vielen: Stephen
Greenblatt: The swerve. How the world became modern, New York 2011. ,,An
isolated individual, considered outside the structures of family and occupation,
made very little sense. What mattered was what you belonged to or even whom
you belonged to." (S. 15) ,,The household, the kinship network, the guild, the
corporation - these were the building blocks of personhood. lndependence and
self-reliance had no cultural purchase; indeed, they could scarcely be conceived,
Jet alone prized. Identity came with a precise, well-understood place in a chain of
command and obedience. [ ... ] The best course was humbly to accept the identity
to which destiny assigned you: [ ... ] ." (S. 16) Vgl. neben den in Anm. 1 genannten
Arbeiten zur Epochendiskussion für das Mittelalter mit unterschiedlichen Schwer
punktsetzungen Karl Ferdinand Werner: Das „europäische Mittelalter". Glanz und Elend eines Konzepts, in: Geschichte Europas für den Unterricht der Europäer. Prolegomena eines Handbuchs der europäischen Geschichte für die Lehrer der Sekundarstufe ll; Materialien einer europäischen Konferenz in Münster/Westfalen, 17.-20. Dezember 1979, hg. von Karl-Ernst Jeismann, Braunschweig 1980
(Studien zur internationalen Schulbuchforschung Bd. 27), S. 25-35; Hans-Werner
Goetz: Das Problem der Epochengrenzen und die Epoche des Mittelalters, in:
Mittelalter und Modeme: Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt. Kongreßakten des 6. Symposiums des Mediävistenverbandes in Bayreuth 1995, hg. von Peter Segl, Sigmaringen 1997, S. 163-172; Hagen Keller: Überwin-
Narrative im Vergleich 193
Dabei wird der Epochen b ru c h zwischen Mittelalter und Moderne in der Regel so konzeptualisiert, dass in die postulierte ,theoretisch-normative Statik' der Ständegesellschaft, nicht intendierte ,reale Veränderungen' wie sozialer Wandel oder zufällige technische Verbesserungen einbrechen, die eine unaufhaltbare Entwicklung hin zu bewussten und ,gewollten' Veränderungen und dem Fortschrittsdenken der Moderne nach sich ziehen.3 Die Mediävistik reagiert darauf - und zwar aus den beiden möglichen Perspektiven, Alterität oder Kontinuität der Epoche zu betonen - mit Gegenargumenten, die die entsprechenden Entwicklungen und Bewegungen vorverlegt sehen und das Mittelalter als innovat ionsfähige Epoche sehen. Innovationen und Fortschrittsbewusstsein sind ebenso und meist als Wurzel der späteren Entwicklung im Mittelalter zu finden und stehen der vorgeblich epocheprägenden Statik, dem Beharrungswillen und der Rückwärtsgewandtheit entgegen.4 Welche Geschichte man auch erzählt: Plausibilität und Suggestionskraft werden immer zu einem nicht unwesentlichen Teil auf Kosten anderer Teilepochen und Teilfächer erzielt.
Der Nachweis für das Postulat vom ,statischen Mittelalter' wird häufig mit dessen angeblicher Scheu vor dem Neuen erbracht. Entsprechend haben sich ganze Generationen von· Forschern häufig in begriffsgeschichtlichen Studien an der Frage abgearbeitet, ob das Neue im „Mittelalter" grundsätzlich negativ oder auch einmal positiv bewertet worden sei. Ihre Ergebnisse betonen meist die Ambivalenz des Begriffs.5 Hans-Joachim Schmidt weist
4
dung und Gegenwart des „Mittelalters" in der europäischen Modeme, in: Früh
mittelalterliche Studien 2003 (37), S. 477-496.
Niklas Luhmann: Evolution und Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft
1976 (2), S. 284-309. Winfried Schulze: Wahrnehmungsmodi von Veränderung in
der Frühen Neuzeit, in: Mitteilungen des Sonderforschungsbereichs 573 2005 (1),
S. 16-25; Wulf Oesterreicher: Die Entstehung des Neuen - Differenzerfahrung
und Wissenstransformation: Projektions- und Retrospektionshorizante frühneu
zeitlicher Sprachreflexion, in: Mitteilungen des Sonderforschungsbereichs 573
2005 (1), S. 26-37.
Vgl. Klaus Oschema und Christian Hesse: Aufbruch im Mittelalter - Innovation in
Gesellschaften der Vormoderne. Eine Einführung, in: Aufbruch im Mittelalter -
Innovationen in Gesellschaften der Vormoderne . Studien zu Ehren von Rainer C.
Schwinges, hg. von dens., Ostfildern 2010, S. 9-33.
Johannes Spörl: Das Alte und das Neue im Mittelalter, in: Historisches Jahrbuch
1930 (50), S. 297-341; Elisabeth Gössmann: Antiqui und Moderni im Mittelalter.
Eine geschichtliche Standortbestimmung, München 1974 (Veröffentlichungen des
Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philo
sophie Bd. 23); Antiqui und Moderni. Traditionsbewusstsein und Fortschrittsbe
wusstsein im späten Mittelalter, hg. von Gudrun Vuillemin-Diem und Albert Zirn-
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ergänzend darauf hin, dass es den Zeitgenossen vor allem darum ging, das Neue bzw. ein bisher unbekanntes Phänomen im Lauf der Heilsgeschichte verorten zu können. Dem ,Neuen' wurde damit ebenso wie einem ,Fortschreiten' der Schrecken genommen, sei es zur Zeit seiner Entstehung oder Wahrnehmung mit dem Argument der emendatio oder nachträglich durch historiographische Einordnung in den linearen Verlauf der Heilsgeschichte.6
Scheint ,dem Mittelalter' also das Neue zwar nicht immer Negatives, doch aber zumindest das Risiko der Un-Ordnung angehaftet zu haben, so bringt es dem Narrativ der Historiker überhaupt erst Ordnung: die Ordnung erzählbarer Geschichte, sei es entlang des Fortschritts oder zumindest entlang einer durch Sprünge und Schübe gekennzeichneten klaren Entwicklungslinie.
Während Konsens darüber zu herrschen scheint, dass die Frage nach einem auf die Moderne verweisenden ,Willen zu Innovation' weder adäquat noch relevant ist, wird ebendieser der ganzen Epoche oder einzelnen ihrer Vertreter immer wieder zugeschrieben. Das ist vielleicht am Besten an einem kurzen Aufsatz zu illustrieren, den David Luscombe zum „sense of innovation" bei Abaelard verfasst hat.7 Luscombe zeigt, dass die meisten Vorwürfe der Zeitgenossen gegen Abaelard gerechtfertigt waren, insofern sie als Normverstoß verstanden wurden, nicht allerdings im Sinn von Innovation; genauso wenig wie Abaelard selbst Innovation im Sinn gehabt habe. Dennoch, so beginnt und schließt Luscombe seinen Aufsatz, sei Abaelard ein großer „innovator" gewesen. Diese Feststellung, die Zuschreibung einer unbew ussten Intention zur Innovation, gehört in das Repertoire einer in der Rückschau positiven Bewertung Abaelards - wiederum mit Blick auf die moderne Wissenschaft. Die Debatte über die zeitgenössische Wahrnehmung des Neuen verweist damit wie die gesamte Periodisierungsdiskussion auf die Bedeutung des Fortschrittsnarrativs für die Historiographie.8 An den Epochenimagina-
mermann, Berlin 1974 (Miscellanea mediaevalia Bd. 9); Die Wahrnehmung des Neuen in Antike und Renaissance, hg. von Achatz von Müller und Jürgen von
Ungern-Sternberg, München 2004 (Colloquium Rauricum Bd. 8). 6
Hans-Joachim Schmidt: Legitimität von Innovation. Geschichte, Kirche und neue Orden im 13. Jahrhundert, in: Vita Religiosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm zum 70. Geburtstag, hg. von Franz J. Felten und Nikolas Jaspert, Berlin 1999
(Berliner Historische Studien Bd. 31/0rdensstudien Bd. 13), S. 371-391. Hans
Joachim Schmidt: Einleitung: Ist das Neue das Bessere? Überlegungen zu Denkfiguren und Denkblockaden im Mittelalter, in: Tradition, Innovation, Invention. Fortschrittsverweigerung und Fortschrittsbewusstsein im Mittelalter, hg. von
dems., Berlin 2005 (Scrinium Friburgense Bd. 18), S. 7-24.
David Luscombe: The Sense of Innovation in the Writings of Peter Abelard, in:
Tradition, Innovation, Invention (wie Anm. 6), S. 181-194.
Für eine Typologie im geschichtswissenschaftlichen Umgang mit „Wandel und
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tionen ,Mittelalter', ,Renaissance' und ,Frühe Neuzeit' wird deutlich, welche hohe Bedeutung der Umschwung zur ,Modeme' in der Retrospektive hat und dass es dabei immer um eine Konkurrenz in der ,Dynamik' geht, die den Epochen zugeschrieben werden kann. Die ,Modeme' - so multipel sie auch inzwischen sein mag9
- ist und bleibt also ein wirkmächtiges Bezugs- und Legitimationsmuster für historiographisches Erzählen.
Doch nun konkret zum 12. Jahrhundert, das aus den eben genannten Kontexten heraus in seiner Bedeutung für die Epochenimaginationen der historischen Wissenschaften kaum zu überschätzen ist. Denn die Geschichte des Schreibens über das Hochmittelalter kann als eine Geschichte des sich Verlierens in Metaphern des Neuen und Erneuerns erzählt werden, aus der sich Meta-Narrative wie ,Revolution', ,Renaissance' oder ,Krisenzeit' herauskristallisieren, die selten miteinander in Beziehung gesetzt werden.
Für das späte 11. und das 12. Jahrhundert ist seit dem frühen 19. Jahrhundert immer wieder die Rede von einer besonderen Dynamik, einem an zahlreichen Einzelstudien aufgezeigten, letztlich aber diffusen Befund: ,,un contexte global unique de renouveau et de croissance". 10 Bernard Ribemont schlug vor, die Zeit mit ,,le concept de mouvance, de tourbillon, et, ... d'overlapping"
zu beschreiben.11 Und Leidulf Melve formuliert in seinem Überblick über die Forschung im Anschluss an Haskins' 12th century renaissan.ce vorsichtig zusammenfassend „the period is characterised by the uneasy coexistence between traditional themes and a plurality of new approaches" und stellt fest, ,,[i]f one trait stands out from the numerous works over the last 20 years or so, it can perhaps be called ,innovation within continuity"'. 12
Innovation" vgl. Lutz Raphael: Jenseits von Strukturwandel oder Ereignis? Neuere Sichtweisen und Schwierigkeiten der Historiker im Umgang mit Wandel und Innovation, in: Historische Anthropologie 2009 (17), S. 110-120.
Shmuel N. Eisenstadt: Die Vielfalt der Moderne: Ein Blick zurück auf die ersten Überlegungen zu den „ multiple modernities ", in: Themenportal Europäische Geschichte (2006), http://www.europa.clio-online.de/site/lang_de-DE/ItemID _113/
mid_l 1428/40208214/default.aspx, [23 .9.2012]. 10
Jacques Verger: Renaissance de Xlle siecle et reforme de l'Eglise, in: La Renaissance? Des Renaissances? Vllle-XV/e siecles, hg. von Sophie Masse, Paris 2010
(Collection Circare Bd. 7), S. 165-175, hier S. 175; vgl. auch Peter Johanek:
Klosterstudien, in: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, hg. von Johannes Fried, Sigmaringen 1986 (Vorträge und Forschungen Bd. 30), S. 35-68, hier S. 67.
11 Bernard Ribemont: Le concept de «renaissance» est-il operationel dans l' etude de la civilisation medievale?, in: La Renaissance? Des Renaissances? (wie Anm. 10),
S. 85-106, hier S. 105.12 Leidulf Melve: ,, The revolt of the medievalists ". Directions in recent research on
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In der Regel kann man sich also im kleinsten gemeinsamen Nenner darauf einigen, dass ,dynamisch' als Epochensignatur taugt, sowie darauf, dass im 12. Jahrhundert ,Neues', teilweise explosionsartig 1 3 , aus einer spezifischenSpannung zwischen Tradition und Innovation entstanden sei. Konkurrenzgibt es für diesen Befund allerdings von beiden Seiten: so könnte man ohnezu zögern auch das ,lange 10. Jahrhundert.i4
- als Wendepunkt zur Modernekonstruieren oder aber auch die Reformwelle um 1050 als „eigentlich karolingisch" (Miriam Czock) bezeichnen und somit bis in das 9. Jahrhundert zurück gehen. Insbesondere das 11. Jahrhundert schwankt zwischen der Bewertung als Wegbereiter der ,eigentlichen' Neuerungen des 12. Jahrhunderts oderals eigenständige „Umbruchszeit". 15 Und am chronologisch anderen Endewartet das ,fortschrittliche' 13. Jahrhundert, dem die Renaissance auf demFuße folgt. 16
Macht man sich nun auf die Suche nach einer Konkretisierung der Befunde, wird man in den unterschiedlichsten Bereichen fündig. Allen voran werden Religion und Gesellschaft als die Felder benannt, in denen neue - prämoderne - Formen zu finden seien. 17 Das sind natürlich beileibe nicht die
the tweljth-century renaissance, in: Journal oj Medieval History 2006 (32), S. 231-
252, hier S. 243-246, S. 247; s. v. a. Peter von Moos: Das 12. Jahrhundert- eine
„Renaissance" oder ein „Aufklärungszeitalter"?, in: Mittellateinisches Jahrbuch
1988/1991 (23), S. 1-10. 13 Margot E. Fassler: Mary's Nativity, Fulbert of Chartres, and the Stirps }esse: Li
turgical Innovation circa 1000 and lts Afterlife, in: Speculum 2000 (75/2), S. 389-
434, hier S. 422. 14
Christine Kleinjung, Davina Brückner und Rene Weiter: Tagungsbericht: Das
lange 10. Jahrhundert- struktureller Wandel zwischen Zentralisierung und Frag
mentierung, äußerem Druck und innerer Krise, 14.03.2011 - 16.03.2011 Mainz,
in: H-Soz-Kult (28.05.2011), <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungs
berichte-3650> [24.2.2012]. 15
Karl J. Leyser: Am Vorabend der ersten europäischen Revolution. Das 11. Jahr
hundert als Umbruchszeit. Mit einem Nachwort von Horst Fuhrmann, in: Histori
sche Zeitschrift 1993 (257), S. 1-28. 16
Schmidt: Legitimität von Innovation (wie Anm. 6). Zu Entstehung, Funktion und
Aktualität des Renaissance-Begriffs vgl. Karlheinz Stierle: Renaissance. Die Ent
stehung eines Epochenbegrif.fs aus dem Geist des 19. Jahrhunderts, in: Epochen
schwelle und Epochenbewusstsein, hg. von Reinhart Koselleck und Reinhart Her
zog, München 1987 (Poetik und Hermeneutik Bd. 12), S. 453-492; Randolph A.
Starn: A Postmodern Renaissance?, in: Renaissance Quarterly 2007 (60/1),
S. 1-24.17 So spricht Karl Bosl: Regularkanoniker (Augustinerchorherren) und Seelsorge in
Kirche und Gesellschaft des europäischen 12. Jahrhunderts, München 1979 (Bay
erische Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Abhandlungen NF 86),
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einzigen. Die Konsolidierung von Macht- und Herrschaftsstrukturen, der Übergang von der Romanik zur Gotik, die zunehmende Bedeutung der Volkssprachen in Historiographie und Literatur, die Kodifizierung von Recht, das Wachstum der Städte und die Organisation der Kommunen sowie die Ausdifferenzierung der Wissenschaften sind weitere Aspekte, die zum Bild des dynamischen 12. Jahrhunderts beigetragen haben. 18
Wie oben schon angedeutet geht es hier nicht darum, diese Befunde selbst in Frage zu stellen oder ihre Plausibilität im Einzelnen zu prüfen. Im Folgenden wird vielmehr versucht, eine Übersicht über die Meta-Narrative, die aus diesen Befunden entstehen bzw. mit ihnen gefüllt werden, und die Sprachbilder, die für sie gefunden werden, zu erstellen.
Idealtypisch kann zwischen Kontinuitäts- und Brucherzählungen unterschieden werden, wobei sogleich Einschränkungen zu machen sind: zunächst sind disziplinäre und nationale Traditionen sowie die thematische Einordnung der Darstellungen maßgeblich für die - bewusste oder unbewusste - Wahl des Narrativs und daher immer mitzudenken; sodann ist eine eindeutige Zuordnung zum einen oder anderen Modell kaum je möglich - es dominieren Zwischenformen. Beide Einschränkungen treffen vor allem auf die Rede von der ,Renaissance' des 12. Jahrhunderts zu, sie wird daher gesondert betrachtet.
Kontinuität wird also erstens in ,Entwicklungs'-, ,Phasen'- oder ,Konjunktur'-Modelle gefasst, die jeweils als Teil einer großen Aufstiegserzählung funktionieren. Hier können Wurzeln, Anfänge und Vorläufer zwanglos vorgeschaltet werden, strenge Grenzziehungen sind - auch zum Nachfolgenden hin - zweitrangig. Daher ist hier hauptsächlich von ,Reform(en)' und vom prozesshaften Werden die Rede und ,das lange 12. Jahrhundert' kann sich in seiner äußersten Ausdehnung von der Mitte des 11. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts dehnen. 19 Das narrative Grundmuster von ,Aufstieg', ,Höhepunkt'
S. 25 von einer „Zeit sich auflösender archaischer, mythischer, totaler Starrheit,
Unpersönlichkeit, Unterordnung, die sich mit neuen Formen und Inhalten von
Religion und Menschsein seit dem 11. Jahrhundert konfrontiert sah und auseinan
dersetzte,[ ... ]". Auch hier findet sich wieder die aus der Tradition der Renaissan
cegeschichtsschreibung (Jacob Burckhardt) stammende Konstruktion des ,Davor'als besonders statisch, vgl. oben Anm. 2 (Greenblatt).
18 Die entsprechende Literatur ist Legion, sowohl in der Geschichtswissenschaft wie
auch in den Nachbarwissenschaften. Daher sei hier nur exemplarisch Alfred Ha
verkamp: Zwölftes Jahrhundert, 1125-1198, Stuttgart 102003 (Gebhardt. Hand
buch der deutschen Geschichte Bd. 5), genannt. Auch bei den in den folgenden
Anmerkungen genannten Literaturhinweisen handelt es sich um eine subjektive,
exemplarische Auswahl. 19
Vgl. Robert I. Moore: The formation of a persecuting society. Authority and devi
ance in Western Europe, 950 -1250, Malden, Mass. 22007; Michael T. Clanchy:
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und ,Dekadenz'/,Krise' ist zwar dominant (wobei das 12. Jahrhundert jeweils
als Höhepunkt konzipiert ist), kann aber durch die Multiplikation von Höhe
punkten, verschiedene Geschwindigkeiten und Ausdehnungen von Entwick
lungen variiert werden.20 Entsprechend gestaltet sich der Gebrauch von
Metaphern. Le Goff beispielsweise spricht vom langsamen „Eintröpfeln" des
Neuen in die mentalen Strukturen21 und Fluss- wie Wellenmetaphern be
inhalten sowohl kontinuierliche Vorwärtsbewegung wie auch Richtungs- und
Intensitätswechsel. Besonders häufig sind Bilder naturhaften Wachsens und
Vergehens wie das der Lebensalter oder der Jahreszeiten. Diese wandern
auch zwischen den Disziplinen, so teilen sich beispielsweise die Literatur
und die Wirtschaftsgeschichte das Modell der ,Blütezeiten'.
Zweitens gibt es ,Bruch'-Modelle, die das Muster einer klaren Abgren
zung zum Vorigen und des Anschlusses an das Folgende, die Moderne verfol
gen. Hier markiert folgerichtig ,Revolution'22 statt Reform die Bruchkante,
Erfindungen und Innovationen stehen paradigmatisch für die Abkehr vom
Alten. Es ist die Rede von ,Schöpfung', ,Geburt', ,Zäsuren' und „Wassersehei-
From Memory to Written Record, England 1066-1307, Oxford 32013; Thomas
Haas: Geistliche als Kreuzfahrer. Der Klerus im Konflikt zwischen Orient und
Okzident 1095-1221, Heidelberg 2012 (Heidelberg transcultural studies Bd. 3);
Jan M. Ziolkowski: From didactic poetry to bestselling textbooks in the long
twelfth century, in: Calliope's Classroom: Studies in Didactic Poetry from Anti
quity to the Renaissance, hg. von Annette Harder, Alasdair A. MacDonald und
Gerrit J. Reinink, Leuven 2007, S. 221-243. 20
Vgl. Heide Wunder: Die„ Krise des Spätmittelalters" im Spiegel der Geschlechter
beziehungen -Zum gesellschaftsgeschichtlichen Phasenmodell Ferdinand Seibts,
in: Von Aufbruch und Utopie. Perspektiven einer neuen Gesellschaftsgeschichte
des Mittelalters. Für und mit Ferdinand Seiht aus Anlaß seines 65. Geburtstages,
hg. von Bea Lundt und Helma Reimöller, Köln 1992, S. 73-85; Felicitas Sehmie
der: Das Werden des mittelalterlichen Europa aus dem Kulturkontakt: Vorausset
zungen und Anfänge der europäischen Expansion, in: Expansionen in der Frühen
Neuzeit, hg. von Renate Dürr, Gisela Engel und Johannes Süßmann, Berlin 2005
(Zeitschrift für historische Forschung Beihefte 34), S. 27-41. 21
Jacques Le Goff: Au Moyen Age: Temps de l'Eglise et temps du marchand, in:
Annales. Histoire, Sciences Sociales 1960 (15), S. 417-433, hier S. 421. 22
Robert I. Moore: Die erste europäische Revolution, München 2001. Charles M.
Radding: Evolution of medieval mentalities: a cognitive-structural approach, in:
American Historical Review 1978 (83), S. 577-597, S. 597, betonte die „dimen
sions of the break that began in the eleventh and twelfth centuries, [ ... ] this shift,
which comprised much more than a return to antique canons of style or the recov
ery of classical texts." Die Forschung folgt Radding nicht in seiner radikalen Ein
schätzung, so Melve: Revolt (wie Anm. 12), S. 242.
Narrative im Vergleich 199
den"23. Seltener wird das Hochmittelalter als eine Zeit vorgestellt, in der Din
ge, die schon länger in Bewegung gewesen waren, vollendet werden und ihre vorerst endgültige Gestalt annehmen. Dieses Narrativ begegnet beispielsweise im Bereich der Musik- und Liturgiewissenschaften, die die Rede vom „Niedergang um 1000" mit einem Modell von erreichter Vielfalt ersetzt haben.24 Der Bruch wird hier nicht als Start-, sondern als Endpunkt vorgestellt. Hier kreuzt sich das Narrativ dann mit dem Phasenmodell, denn nach einem solchen Höhepunkt setzt in der Regel eine Zeit des Niedergangs bzw. der Stagnation ein, die als produktive Krise verstanden werden kann.25 Daher führt die durch den Bruch diskontinuierlich gewordene Erzählung in aller Regel dann wiederum zielstrebig auf Renaissance und Modeme hin.
Eine ,epochale Umbruchszeit' war lange das bevorzugte Deutungsmodell der deutschen bzw. deutschsprachigen Forschung für das Hochmittelalter. Wie Michael Borgolte gezeigt hat, schloss die an den Investiturstreit angelagerte Erzählung einer ,revolutionären Wende' und eines ,Aufbruchs' allerdings auch - weniger radikale - ,Reformen' mit ein.26
Ergänzt und konkurrenziert werden diese Narrative durch das Konzept der ,Renaissance des 12. Jahrhunderts', das sich vor allem in der angelsächsischen und französischen Forschung durchsetzte.27 Es setzt voraus, dass die Mediävistik selbst die Erzählung vom Niedergang des Römischen Reiches und der fortschreitenden Barbarisierung übernahm und - im Sinn einer
23 Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter von Augustin bis Machia
velli, Stuttgart 22000, S. 208; das Bild der Wasserscheide findet sich mit und ohne expliziten Bezug aufFiasch in zahlreichen Arbeiten zum 12. Jahrhundert.
24 So Andreas Odenthal: Liturgie vom Frühen Mittelalter zum Zeitalter der Konfes
sionalisierung. Studien zur Geschichte des Gottesdienstes, Tübingen 2011 (Spät
mittelalter, Humanismus, Reformation Bd. 61), S. 160; Craig Wright: Music and
Ceremony at Notre Dame of Paris, 500-1550, Cambridge 2008, S. 70, zur Liturgie von Notre Dame de Paris zwischen 1100 und 1300.
25 Frank Klaar: Die „Krise" als Gegenstand der Mentalitätsforschung und ihre
Möglichkeiten. Exemplifiziert am Beispiel von Frantisek Graus, in: Mentalität
und Gesellschaft im Mittelalter. Gedenkschrift für Ernst Werner, hg. von Sabine Tanz, Bd. 2, Frankfurt am Main 1993 (Beiträge zur Mentalitätsgeschichte),
S. 301-319.26 Michael Borgolte: Einheit, Reform, Revolution. Das Hochmittelalter im Urteil der
Modernen, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 1996 (248), S. 225-258.27 Klassisch Charles Homer Haskins: The Renaissance of the Tweljth Century, Cam
bridge 1927. Für einen Überblick über die neuere Forschung vgl. Andreas Niederberger und Alexander Fidora: Der Streit um die Renaissance im 12. Jahrhundert.
Eine Gesellschaft im Spannungsfeld zwischen Humanismus, Wissenschaft und
Religiosität, in: Convenit 2000 (3), S. 7-26; Melve: Revolt (wie Anm. 12).
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,Bruch'-Erzählung - viel Zeit darauf verwendet, ein ,Vorher' zu konstruieren, von dem sich das „Zeitalter des Investiturstreits" bzw. der Kirchenreform28
oder auch einzelne Phänomene des Neuen dann besonders effektvoll absetzen konnten. Während jedoch die klassische (deutsche) Wendezeitvorstellung auf politik-, sozial-, kirchen- und wirtschaftshistorische Überlegungen aufruht, stellt die ,Renaissance' zumindest anfänglich in der Hauptsache auf die Beobachtung kultureller Entwicklungen ab.29 Entsprechend unterschiedlich fällt auch die Identifizierung dessen aus, was als ,neu' konstatiert und in den Mittelpunkt der Erzählung gestellt wird: das kann das ,lndividuum'30 sein, aber auch Herrschaftsverhältnisse31 oder Formen von Frömmigkeit.32 Die grundlegenden Meta-Narrative (,Renaissance', ,Umbruch', ,Reform' ) funktionieren unabhängig voneinander in unterschiedlicheri Themenbereichen, sie überschneiden sich eher selten.
Die Frage nach der Passgenauigkeit von ,Renaissance' für das 12. Jahrhundert in der Nachfolge von Haskins' Buch33 mündete einerseits in die Aus-
28 Vgl. Borgolte: Einheit, Reform, Revolution (wie Anm. 26), S. 237.
29 The Twelfth-century Renaissance, hg. von Charles R. Young, New York 1969 (European problem studies), S. lf. Es folgen diverse Verbreiterungen des Begriffs,
vgl. Melve: Revolt (wie Anm. 12), S. 235 f. 3° Colin Morris: The Discovery of the Individual: 1050-1200, London 1972 (Church
history outlines Bd. 5); Caroline Walker Bynum: Did the twelfth century discover the individual?, in: Journal of Ecclesiastical History 1980 (31/1), S. 1-17; Susan
R. Kramer und Caroline Walker Bynum: Revisiting the Twelfth-Century Individual. The Inner Seif and the Christian Community, in: Das Eigene und das Ganze.Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum, hg. von Gert Melville und
Markus Schürer, Münster 2002 (Vita regularis Bd. 16), S. 57-88.31
Vgl. Thomas Noel Bisson: The Crisis of the Twelfth Century Power, Lordship, andthe Origins of European Government, Princeton 2009; Das Lehnswesen im Hochmittelalter, hg. von Jürgen Dendorfer, Ostfildern 2010 (Mittelalter-ForschungenBd. 34). Für eine detaillierte Analyse der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhun
derts zum Königtum vgl. Stephanie Kluge: Kontinuität oder Wandel? Zur Bewertung hochmittelalterlicher Königsherrschaft durch die frühe bundesrepublikanische Mediävistik, in: Frühmittelalterliche Studien 2015 (48/1), S. 39-120.
32 Stefan Weinfurter: Grundlinien der Kanonikerreform im Reich im 12. Jahrhundert, in: Studien zur Geschichte von Millstatt und Kärnten. Vorträge der Millstätter Symposien 1981-1995, hg. von Franz Nikolasch, Klagenfurt 1997 (Archiv fürvaterländische Geschichte und Topographie Bd. 78), S. 751-770; Werner Röse
ner: Tradition und Innovation im hochmittelalterlichen Mönchtum. Kontroversenzwischen Cluniazensern und Zisterziensern im 12. Jahrhundert, in: Tradition, Innovation, Invention (wie Anm. 6), S. 399-421.
33 Vgl. Marcia L. Colish: Haskins's Renaissance Seventy Years Later: Beyond AntiBurckhardtianism, in: Haskins Society Journal 2003 ( l l ), S. 1-15.
Narrative im Vergleich 201
einandersetzung mit zeitgenössischen Konzepten und Wahrnehmungen des
Wandels, wobei in zahlreichen vor allem begriffsgeschichtlichen Studien
deutlich wurde, dass im Renaissancebegriff ebenso viel ,Kontinuität' wie
,Umbruch' steckt.34 So schlug Ladner bereits 1982 vor, zu differenzieren, und
in Bezug auf das Reich von „restoration", in Bezug auf die Religion von „re
form", in Bezug auf die soziale Ordnung von „rebellion", in Bezug auf die
Vorstellungen von Natur und Kosmos von „renascence" zu sprechen.35 Giles
Constable hat das Reform-Modell für die Zeit zwischen 1040 und 1160 als
„reformation" weiter ausgebaut.36 Es ist inzwischen z.B. im Zusammenhang
von (politischer) Reform und Rhetorik noch ausgeweitet worden.37 Im Ergeb
nis entstehen differenzierte Teilerzählungen, die den Renaissancebegriff als
,umbrella-term' zwar ablehnen38, aber zugleich das im ,Renaissancenarrativ'
angelegte Potential der Kombination von Umbruchsmomenten und Kontinui
tätslinien nutzen.
Ebenfalls genutzt wird dieses Potential andererseits, indem in Anlehnung
an die Kriterien, mit denen die Renaissance des 14.-16. Jahrhunderts cha
rakterisiert wird, Prozesse der Innovation39, der Rationalisierung40
, der Pro
fessionalisierung, der Säkularisierung, der Zentralisierung und der Bürokrati-
34 Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, hg. von Robert Louis Benson,
Giles Constable und Carol Dana Lanham, Oxford 1982; Aufbruch - Wandel - Er
neuerung. Beiträge zur „Renaissance" des 12. Jahrhunderts. 9. Blaubeurer Sym
posion vom 9. bis 11. Oktober 1992, hg. von Georg Wieland, Stuttgart-Bad Cann
statt 1995; vgl. dazu auch Friedrich Ohly: Die Kathedrale als Zeitenraum. Zum
Dom von Siena, in: Frühmittelalterliche Studien 1972 (6), S. 94-158. 35
Gerhart B. Ladner: Terms and ldeas of Renewal, in: Renaissance and Renewal
(wie Anm. 34), S. 1-33. Zu „renascence" vgl. auch Erwin Panofsky: Renaissance
and Renascences, in: Kenyon Review 1944 (6), S. 201-236. 36 Giles Constable: The Reformation of the Twelfth Century, Cambridge 1996. 37
Rhetoric and Renewal in the Latin West 1100-1540, hg. von Constant J. Mews,
Cary J. Nederman und Rodney M. Thomson, Turnhout 2003 (Disputatio Bd. 2). 38
C. Stephen Jaeger: Pessimism in the Twelfth-Century "Renaissance", in: Specu
lum 2003 (78), S. 1151-1183.39 Vgl. Peter Damian-Grint: The New Historians of the Twelfth-Century Renaissan
ce. lnventing Vernacular Authority, Woodbridge 1999; Leidutf Melve: lnventing
the Public Sphere. The Public Debate during the lnvestiture Contest ( c. 1030-
1122), Leiden 2007 (Brill's Studies in lntellectual History Bd. 154); Conrad Ru
dolph: lnventing the Gothic Portal: Suger, Hugh of Saint Victor, and the Construc
tion of a New Public Art at Saint-Denis, in: Art History 2010 (33/4), S. 568-595.40
Vgl. Georg Wieland: Rationalisierung und Verinnerlichung. Aspekte der geistigen
Physiognomie des 12. Jahrhunderts, in: Philosophie im Mittelalter. Entwicklungs
linien und Paradigmen, hg. von Jan P. Beckmann u. a., Hamburg 1987.
202 Anja Rathmann-Lutz
sierung sowie der ,Humanismus' des 12. Jahrhunderts41 beschrieben werden. Nicht immer tragen die entsprechenden Analysen die ,Renaissance' im Titel, sie übernehmen jedoch das Grundmuster, teilweise auch die Inhalte der Renaissancehistoriographie.42 Auch hier überschlagen sich die Vorschläge für passende Metaphern oder Alternativbegriffe, die mitunter auch auf die jeweils dahinterliegende - disziplinär, wissenschaftspolitisch oder persönlich motivierte - Epochenimagination verweisen. Bei einigen der Bilder fällt die Ökonomisierung der Sprache ins Auge: so schlägt Balnaves vor, ,,boom would be a more useful, if a less distinguished term than ,renaissance"'43
, während Ribemont von „sursaut''44
, Le Goff von „essort" bzw. ,,take-off''45 spricht. Zurückhaltender von einer „era of transition" ist in einem Gegenentwurf
zu Umbruchs- wie Renaissance-Narrativ die Rede: Bruce Venarde nutzt diesen Begriff für die Zeit zwischen ca. 1000 und 1250, um auf die von Jo Ann McNamara und anderen postulierte und in der Folge heiß diskutierte Einengung weiblicher Handlungsspielräume zu verweisen und vorzuschlagen, doch sinnvoller nach „opportunities and accomplishments"zu fragen.46 Und Michael Borgolte plädiert 1996 dafür, die Erzählungen aufzubrechen und Plura-
41 Vgl. hauptsächlich die Arbeiten von Richard W. Southem, aber auch Willemien
Otten: From paradise to paradigm. A study of twelfth-century humanism (2004). 42
Robert N. Swanson: The twelfth-century renaissance, Manchester 1999, unter
scheidet gleich mehrere parallele Renaissancen. 43 John Balnaves: Bernard of Morlaix. The Literature of Complaint, the Latin Tradi
tion and the Twelfth Century 'Renaissance', Diss. Canberra 1997, S. 340. 44
Ribemont: Le concept de «renaissance» (wie Anm. 11 ), S. 103 f. 45
Jacques Le Goff: What Did the Twelfth-Century Renaissance Mean?, in: The Me
dieval World, hg. von Peter Linehan und J anet L. Nelson, London 2001, S. 635-
647. 46
Bruce Venarde: Praesidentes negotiis: Abbesses as managers in twelfth-century
France, in: Portraits of Medieval and Renaissance Living: Essays in Memory of
David Herlihy, hg. von Samuel Kline Cohn und Steven Epstein,Ann Arbor 1996,
S. 189-205, hier S. 190 f. Vgl. Jo Ann McNamara: Victims of progress: women
and the twelfth century, in: Female Power in the Middle Ages, hg. von Karen
Giente und Lise Winther-Jensen, Kopenhagen 1989, S. 26-37; Jo Ann McNama
ra: The "Herrenfrage": the restructuring of the gender system, 1050-1150, in:
Medieval Masculinities: Regarding Men in the Middle Ages, hg. von Clara A.
Lees, Minneapolis 1994 (Medieval Cultures Bd. 7), S. 3-29. Für das 10. Jahrhun
dert argumentiert ähnlich wie Venarde Robert Sabatino Lopez: Still Another
Renaissance?, in: The American Historical Review 1951 (57/1), S. 1-21. Lopez
blickt ebenfalls eher auf Möglichkeiten und sucht nicht nach Institutionalisie
rungsprozessen, die in den meisten Werken einer der Gradmesser von Fortschritt
in Folge von Innovation sind. Seiner Meinung nach verhindern letztere sogar das
Nutzen von Möglichkeiten.
Narrative im Vergleich 203
lität und Offenheit in sie einzubringen, da „die Rede von ,Aufbruch' und ,Wende' weniger auf die Sache, den historischen Gegenstand, als auf das Denken der modernen Historiker" verweise - und das habe sich eben geändert. Er folgert, es gehe „künftig, wenn nicht alles täuscht, eher um Vielheit als um Einheit" und dass die Zeit gekommen sei, ,,sich von der Einheitsvorstellung der Geschichte und der historischen Perioden zu lösen".47
Nun sind die Auswirkungen aller Varianten von Erzählungen, die das 12. Jahrhundert und das Hochmittelalter generell als hochdynamische Epochedes Wandels konzipieren,jetzt schon ansatzweise dort zu spüren, wo sich ,Vormoderne' als Ersatz für spezifischere Epochenbezeichnungen durchzusetzenbeginnt und eine neue Grundstruktur sichtbar wird, die die gemeinsame Betrachtung ca. des 11.-18. Jahrhunderts favorisiert.48 Damit werden - auchdurch Auseinanderdriften und Neuanordnung von institutionellen Einheiten -neue Epochengrenzen suggeriert, die freilich erstens nicht so klar abgrenzbarsind, wie es die früheren schienen und in denen sich zweitens der Trend artikuliert, dass eher langfristiger, in vielen Bereichen verflochtener49 ,Wandel'(auch als ,Verwandlung' oder ,Transformation') als Narrativ an Attraktivitätzu gewinnen scheint.50 Ein großangelegtes Projekt erforschte auf diese Weise
47 Borgolte: Einheit, Reform, Revolution (wie Anm. 26), S. 250f. 48
Als Alternativepoche ist das keineswegs ganz neu; vgl. die Neubewertungen des
Konzepts „Alteuropa" in Alteuropa, Vormoderne, Neue Zeit. Epochen und Dyna
miken der europäischen Geschichte ( 1200-1800), hg. von Christian Jaser, Ute
Lotz-Heumann und Matthias Pohlig, Berlin 2012 (Zeitschrift für historische For
schung Beiheft 46). Auch ,Vormoderne' ist ein explizit auf die Modeme ausge
richtetes Epochenkonzept. 49
Vgl. Entangled histories and negotiated universals. Centers and peripheries in a
changing world, hg. von Wolf Lepenies, Frankfurt am Main 2003; Nicbolas Tho
mas: Entangled objects: exchange, material culture, and colonialism in the Paci
fic, Carnbridge/Mass. 1991; Monica Juneja: Braided Histories? Visuelle Prakti
ken des indischen Moghulreichs zwischen Mimesis und Alterität, in: Historische
Anthropologie 2008 (16), S. 187-204; zu Natalie Zemon Davis vgl. Randolph
Starn: Braided Histories, in: Annual of Medieval Studies at CEU 2006 (12),
S. 211-218. Die Sektion Entwicklungssoziologie und Sozialanthropologie der
Deutschen Gesellschaft für Soziologie diskutierte 2007 auf der ESSA-Herbst
tagung „Wissen um Veränderung: Entwicklung, Geschichte, sozialer Wandel" Kon
zepte der Modernisierung, Globalisierung und Transformation. Eine produktive
Auseinandersetzung mit dem Begriff der Veränderung in der Soziologie durch die
Mediävistik steht noch aus; vgl. Sung-Joon Park und Patrick Neveling: Tagungs
bericht: Wissen um Veränderung: Entwicklung, Geschichte, sozialer Wandel,
0J.J0.2007-02.10.2007 Halle an der Saale, in: H-Soz-Kult 19.02.2008, <http://
www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte- l 905> [28.09.2008].50
Hagen Keller: Ordnungsvorstellungen, Erfahrungshorizonte und Welterfassung
204 Anja Rathmann-Lutz
den Übergang zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Im Modell der ,,transformation of the Roman World" laufen Erzählungen von Brechungen, Dynamik und Kontinuitäten so erfolgreich zusammen, dass es jetzt auch eine ,,Transformation des Karolingerreichs"51 gibt. Das Konzept der Transformation verbindet sich mit der Region als Beobachtungsgröße und historischer Einheit und kombiniert ,neue' mit ,traditionellen' Untersuchungsfeldern: so werden Repräsentationen und Kommunikationen, Konflikte, Wissen und Religion, Antikenbezüge, Wirtschaft und Infrastruktur, Kulturkontakte und -austausch gemeinsam betrachtet.52 Daran anschließend bietet ,evolutionäresErzählen' ebenfalls den Vorteil in längeren Zyklen und größeren Zusammenhängen erzählen zu können und Teilbereiche miteinander zu vergleichen.53
Zudem scheint die Integration von Pluralität und Kontingenz in die Geschichtserzählungen - wie von Borgolte 1996 eingefordert - vorzugsweise über ein Evolutions-Narrativ zu gelingen.54 Das kann beispielsweise für die Kirchen- und Dogmengeschichte interessant sein, wenn man es, wie Reinhard vorschlägt, auf die „Wellen" der Entwicklungen des okzidentalen Mönchtums anwendet.55 So kann auch dem Problem entgangen werden, das eine Hierarchisierung von Zeitabschnitten oder Regionen nach mehr oder weniger Innovation - also näher oder ferne der Modeme - mit sich bringt.56
im kulturellen Wandel des 12./13. Jahrhunderts, in: Ordnungskonfigurationen im
hohen Mittelalter, hg. von Bernd Schneidmüller und Stefan Weinfurter, Ostfildern
2006 (Vorträge und Forschungen Bd. 64), S. 257-278. 51 Vgl. Sören Kaschke: Tagungsbericht: Produktivität einer Krise. Die Regierungs
zeit Ludwigs des Frommen (814-840) und die Transformation des karolingischen
Imperiums, 16.03.2011-19.03.2011 Limoges, in: H-Soz-Kult 14.06.2011, <http://
www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-3680>. [24.02.2012). 51 Verwandlungen des Stauferreichs, hg. von Bernd Schneidmüller und Stefan Wein
fmter, Stuttgart 2010. 53
Ve1folgt man mit Luhmann: Evolution und Geschichte (wie Anm. 3) die Entwick
lung der Subsysteme treten andere Bruchlinien auf bzw. die bekannten können
anders gedeutet oder relativiert werden. 54 Rainer Walz: Theorien sozialer Evolution und Geschichte, in: Geschichte und Sys
temtheorie. Exemplarische Fallstudien, hg. von Frank Becker, Frankfurt am Main
2004 (Campus Historische Studien Bd. 37), S. 29-75. 55 Wolfgang Reinhard: Reformation als Mutation? Evolution und Geschichte, in:
Zeitschrift für Historische Forschung 2010 (37), S. 601-615. 56 Vgl. z. B. die Einleitung bei Swanson: The twelfth-century renaissance (wie
Anm. 42).
Narrative im Vergleich 205
Drei Punkte scheinen mir nun angesichts dieser älteren und neueren Möglich
keiten Geschichte(n) zu erzählen bedenkenswert:
1. Die Reflexion über die eigenen Erzählweisen wie über die anderer gehört
inzwischen zum festen Repertoire der historischen Wissenschaften.57 Sie
sollte jedoch enger mit den Geschichtsdarste l lungen, vor allem in
Handbüchern, verzahnt und mit der Reflexion über Formate und Publika,
verbunden werden.58 Dies scheint mir - unspektakulär genug - durch das
sorgsame Beachten und Beschreiben von Interessens- und Erzähl-Kon
junkturen innerhalb der Teildisziplinen möglich zu sein. Dafür eignen sich
Relektüren von ,Klassikern' beispielsweise technikgeschichtlicher For
schung in kulturgeschichtlichem Kontext und andererseits ihre Neubewer
tung vor dem Hintergrund neuerer Daten. Dabei ist immer die Frage neu
zu stellen, was ,Befund', was ,Projektion' sei - gerade auch um die eige
nen Projektionen zu erkennen und die der anderen kreativ zu nutzen.59
2. Die interdisziplinäre und vor allem auch die innerdisziplinäre Kommuni
kation sollte jenseits der Antragsrhetorik ausgebaut und verstetigt werden.
Denn meist scheint in der Lektüre das Neue in einer Epoche wie der Igel
zu sein, der immer schon da ist. Daher müssen die Kriterien dafür, was
und warum in der jeweiligen Spezialforschung als ,trigger', Symptom
oder Ergebnis einer beschriebenen Entwicklung verstanden wird, offenge
legt und zur Diskussion gestellt werden. Wird beispielsweise das Anwach
sen in der Menge (Bevölkerungswachstum, Ertragssteigerung, Multipli
kation didaktischer Literatur) als ein ,Zeichen', eine ,Voraussetzung' oder
ein ,Treiber' von Innovation und Fortschritt konzipiert und welche Folgen
hat das für die gebotene Erzählung?
57 Vgl. Frank Ankers mit: Narrative, an lntroduction, in: Re-Figuring Hayden White,
hg. von dems., Ewa Domanska und Hans Kellner, Stanford/Calif. 2009, S. 77-80.
Um das Ganze noch weiter zu komplizieren, wäre der kritische Blick auf das Fort
schrittsnarrativ der Forschung, das davon ausgeht, dass ,Fortschritt' in der For
schung normal und erwartbar ist, wünschenswert. 58
Vgl. beispielsweise Steffen Patzold: Das Lehnswesen, München 2012 (Beck'sche
Reihe Wissen Bd. 2745). 59 Wie fruchtbar eine Infragestellung liebgewonnener Kategorien sein kann, zeigen
im Hinblick auf das Verhältnis von ,Monastik' und ,Scholastik' z.B. die Arbeiten
von Sita Steckei: Kulturen des Lehrens im Früh- und Hochmitte/alter. Autorität,
Wissenskonzepte und Netzwerke von Gelehrten, Köln 2011 (Norm und Struktur
Bd. 39); dies.: Säkularisierung, Desakralisierung und Resakralisierung. Trans
formationen hoch- und spätmittelalterlichen gelehrten Wissens als Ausdifferenzie
rung von Religion und Politik, in: Die Ausdijferenzierung von Religion und Poli
tik. Soziologische Annahmen und historische Befunde, hg. von Karl Gabriel,
Christei Gärtner und Detlef Pollack, Berlin 2012, S. 134--175.
206 Anja Rathmann-Lutz
3. Im Idealfall gelingt es, über neue - kollaborative - Verfahren und Darstellungsformen, die Probleme zu kompensieren, die Spezialisierung undMultiplikation der Herangehensweisen mit sich gebracht haben. Dabeiwäre an eine Überblicksdarstellung zu denken, die durch ,Ein- und Auszoomen' innerhalb der Erzählung und dem Wechsel zwischen globalerund lokaler Betrachtungsebenen eine nicht-lineare Aneignung von Gesamtzusammenhängen ermöglicht.60 Parallele Entwicklungen können zunächst einmal einzeln beschrieben und analysiert werden. Ihre Einsetzungin ein Narrativ von Gleichzeitigkeiten, das nicht durch Zuordnung von,Zeitgemäßheit' innerhalb eines Fortschrittsnarrativs funktioniert61
, würde dann über ihre Verlinkung innerhalb der Gesamtdarstellung erfolgen.Wenn solche multiperspektivischen Erzählungen für mehrere Zeitschnittevorliegen, steht wiederum neuen vergleichenden Betrachtungen der „opportunities and accomplishments"62 nichts im Wege. Dann kann deutlichwerden, ob und in welchen Bereichen beispielsweise das 12. vielleicht mitdem 16. Jahrhundert mehr gemeinsam hat als mit dem 13. Jahrhundertohne dass Linien gezogen werden müssen, die bruchlos aufsteigen bzw.Brüche oder Bewegung gefunden werden müssen, die immer schon auf,moderne' Zustände verweisen.63
60 Vgl. auch Jacques Revel: Multiple Narratives: Scale and Discontinuity in History, in: Unsettling history, hg. von Sebastian Jobs und Alf Lüdtke, Frankfurt am Main
2010, S. 49-61. 61 Vgl. Achim Landwehr: Über den Anachronismus, in: Zeitschrift für Geschichts
wissenschaft 2013 (61/1), S. 5-29; 1308 - eine Topographie historischer Gleichzeitigkeit, hg. von Andreas Speer und David Wirmer, Berlin 2010 (Miscellanea Mediaevalia Bd. 35).
62 Venarde: Praesidentes negotiis (wie Anm. 46), S. 190f.; Lopez: Still Another Renaissance? (wie Anm. 46).
63 Das im Vortrag vorgestellte Modell einer solchen Neuperspektivierung des histo
rischen Erzählens (,,Geschichte als Mobile" am Beispiel des 12. Jahrhunderts) ist
Gegenstand einer größeren Studie, an deren Abschluss die Autorin zur Zeit arbei
tet.