max schiendorfer: minnesang als leselyrik – mouvance – rollen- und sprachspiele. eine antwort...

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ZEITSCHRIFT FÜR DEUTSCHE PHILOLOGIE (ZfdPh) Herausgegeben von Werner Besch Norbert Oellers Ursula Peters Hartmut Steinecke Helmut Tervooren 722. Band 2003 Drittes Heft

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ZEITSCHRIFT FÜR DEUTSCHE PHILOLOGIE(ZfdPh)

Herausgegeben von

Werner Besch • Norbert Oellers •

Ursula Peters • Hartmut Steinecke • Helmut Tervooren

722. Band 2003 • Drittes Heft

MINNESANG ALS LESELYRIK - MOUVANCE -ROLLEN- UND SPRACHSPIELE

Eine Antwort auf Thomas Cramers Umwertung aller Werte

von Max S c h i e n d o r f c r , Zürich

Es ist mit Meinungen, die man wagt, wie mit Stei-nen, die man voran im Brette bewegt: sie könnengeschlagen werden, aber sie haben ein Spiel eingelei-tet, das gewonnen wird.

/. W. v. Goethe: Maximen und Reflexionen [910]

Animiert wurden nachstehende Bemerkungen durch ein Buch, das als .kühnerWurf offenbar bewusst provozieren will.1 Dass dieses Vorhaben bei meinerPerson weithin geglückt ist, ließe sich schwerlich kaschieren. So sei es denn garnicht erst versucht. Oftmals bedeutet provokant aber eben auch anregend, undauch das trifft im vorliegenden Fall unbedingt zu. Im Sinne wissenschaftlicherHerausforderung und Anregung - wenngleich meist Anregung zum Wider-spruch - bietet die Beschäftigung mit Thomas Cramers Studien reichen Ge-winn. Da im Übrigen schon Helmut Tervooren manche grundsätzlichen Be-denken zu Cramers methodischem Vorgehen angemeldet hat2, brauchen diesehier nicht wiederholt zu werden. Ergänzend dazu soll der Blick eher auf einigemir diskussionsbedürftig scheinende Bausteine der Argumentationsführung undauf die dabei vorgetragenen Textinterpretationen gerichtet werden.

Die Lunte des in Cramers Eingangskapitel „Mittelalterliche Lyrik und Schrift-lichkeit" lauernden Zündstoffs wird bereits im Vorwort des Bandes gelegt. Die-se erste Provokation zielt ab auf die „Vorstellung, die Gedichte3 seien allererstfür den Auftritt des Autor-Sängers vor der Hofgesellschaft bestimmt gewesenund hätten dort ihren eigentlichen gesellschaftlichen und künstlerischen Ort ge-habt" (S. 7). Kämpferisch dreht Gramer den Spieß um und behauptet in apodik-tischem Tonfall, den man von ihm fortan immer wieder vernimmt: „[...] mittel-alterliche Gedichte sind im Wortsinne literarische, also durch die Schriftbestimmte Kunstgebilde in ihrer Konzeption, der primary reception und derVerbreitung" (S. 8). Es ist ja gewiss richtig, manche in jüngerer Zeit aufgekom-mene Ansichten und Begrifflichkeiten - nicht zuletzt in der speziell avisierten£er/or7w««ce-Forschung - nochmals kritisch zu sichten und auf ihre Schlüs-sigkeit zu prüfen. Vorstellungen über mögliche Vortragssituationen und -loka-tionen wären zu nennen, ferner solche über Gönner- und Publikumskon-

1 Thomas Gramer: Waz hilfet ane sinne kunst> Lyrik im 13. Jahrhundert. Studien zu ih-rer Ästhetik, Berlin 1998 (PhStQ 148).2 Helmut Tervooren: Rez. Gramer, in: ZfdA 128, 1999, S. 366-371.3 Die musikalische Komponente des Minnesangs konsequent ignorierend spricht Gra-mer hier wie im gesamten Band stets ostentativ von „Gedichten".

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stellationen, denkbare ,Inszenierungsformen', (para-),rituelles' Rollenhandeln,den ,Partitur'-Charakter schriftlicher (Text-)Quellen und noch so manches an-dere. Gewisse Revisionen vermeintlichen Wissens, Präzisierungen und vor al-lem eine solidere Fundierung von Teilerkenntnissen könnten sich für die For-schung als durchaus heilsam erweisen. Kritische Sichtung in diesem Sinnemüsste sich eine möglichst exakte Trennung der Spreu vom Weizen sowie diesorgsame Inventur und Neubewertung des Letzteren zum Ziel setzen. In ihrerRadikalität schießen Cramers Studien freilich klar über dieses Ziel hinaus, in-dem performance-Forschung offenbar in toto zu den wissenschaftshistorischenAkten gelegt werden soll. Kann ein derart ambitiöses Projekt in einem schma-len Band von 200 Seiten überhaupt umfassend präsentiert und mit gebührenddetaillierter Quellenauswertung abgestützt werden? Im üblichen Sinne einer,,großangelegte[n] Untersuchung", wie sie der Klappentext des Bandes verheißt,wohl kaum. So wählt Gramer denn ein Vorgehen, welches Tervooren treffendals „essayistisch" bezeichnet hat4: flotter Schreibstil, assoziative Argumen-tationsgänge, forsche Hypothesenfreude, espritgeladene Einfalle und Szenarien.An die Stelle systematischer Empirie tritt ein eher exemplarisch orientierter Zu-griff, sodass zwischen der Tragweite einer These und ihrer quellenmäßigen Ab-sicherung ein gelegentlich prekäres Verhältnis eintritt: Oft müssen zwei, dreiausgesuchte Belege aus Primär- oder Sekundärliteratur zur Stützung umfassen-der Gedankenkonstrukte genügen, und der dabei drohenden Gefahr selektiverWahrnehmung ist Gramer wiederholt erlegen.

Dies zeigt sich bereits zu Beginn seiner Ausführungen, wo er die „immer wie-der angeführten Schilderungen von musikalischen und/oder literarischen Ver-gnügungen bei Hoffesten" (S. 13) problematisiert. Gramer selbst nennt je eineBelegstelle aus dem „Tristan", dem „Erec" und dem „Nibelungenlied", die alsBeschreibung von Minnesang-Vorträgen in der Tat wenig hergeben. Ebensotrifft es zu, dass die Anfangspartie des „Iwein" das Singen irgendwelcher Liedernicht näher spezifiziert und dass es dort lediglich „eins unter einer großen An-zahl von Vergnügungsangeboten darstellt" (S. 13). Dennoch ist dem Verschie-

denes entgegenzuhalten:

Erstens: Ist es erlaubt, auf der einen Seite die historische Aussagekraft literari-scher Schilderungen (teilweise zurecht) zu relativieren, auf der ändern aber wie-derholt als Garanten einen Ulrich von Liechtenstein zu bemühen, dessen„Frauendienst" als historische Realienquelle problematischer kaum sein könn-te? Wie vieles in diesem eigenwilligen Roman betont stilisiert und ironisiert,z.T. geradezu grotesk überzeichnet wurde, sollte heute doch allgemein aner-kannt sein. Darf dieses Faktum außer acht bleiben, wenn man etwa eine Aussa-ge Ulrichs zitiert, wonach sein Lied XXXVIII von den Rittern während der

Tervooren [Anm. 2], S. 366.

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Tjost gesungen worden sei (S. 15)? Anscheinend nimmt Gramer diese von ihmzwar als „merkwürdig" taxierte Angabe dennoch tel quel als histonsch-biogra-fisches Zeugnis. Ist dies zwingend? Könnte alles nicht auch ganz anders gewe-sen sein, indem z.B. der Autor zunächst im Lied eine mögliche .Antithese' zurWolframschen Fundamentalopposition von Minnesang und Schildes ambet vor-exerzieren wollte (vgl. „Parzival" 115,11-18; KLD XXXVIII,4,3: Schildes ampt)und dazu erst später, bei Abfassung der epischen Rahmenhandlung, ein zur Er-heiterung der nunmehr angepeilten Sekundärrezipienten probates razo hinzu-fingierte? Ich sage nicht, exakt so sei es gewesen; aber ich meine doch, dies seieine mögliche Frage, die man sich durchaus hätte stellen können. Ähnlich sus-pekt ist mir u.a. Ulrichs Aussage zu KLD XXXIII, welches „vergleichsweisebescheidene Reimkunststück [...] nur von wenigen Kennern begriffen" wordensei (S. 16). Auch dies riecht m.E. kräftig nach einer humoristisch gewürztenÜbertreibung, wenn auch natürlich unbestritten sei, dass die mittelalterlichenebenso wie die heutigen Minnesangrezipienten gewiss eine ganze Skala unter-schiedlich entwickelter Kennerschaft repräsentierten.

Zweitens hätte man bei neutralerer Stoßrichtung der Untersuchungen durchausergiebigere literarische Belege finden können (etwa Strickers „Daniel", vv.8162-8166, oder Rudolfs „Guten Gerhard", vv. 5980-5984). Trotzdem gehe ichmit Gramer darin einig, dass das eigentliche Hoffest - und zumal das so gernezitierte Mainzer Jahrhundertspektakel von 1184! - einen eher irreführendenVorstellungshintergrund „für eine geläufige Form literarischen Lebens" (S. 13)abgibt. Was hier und in den genannten literarischen Schilderungen greifbarwird, markiert gerade nicht die Norm, sondern den allein mitteilenswertenAusnahmefall. Und dies gilt mutatis mutandis kaum weniger, wenn etwa Had-laub in SMS 2 eine Reihe historischer Persönlichkeiten nennt, die wohl tatsäch-lich einem bestimmten Vortrag, vielleicht der „Uraufführung" dieses Liedesbeiwohnten.5 Auch hier geschieht dies just deshalb, weil die regionalpolitisch il-lustren Größen als rare soziale Glanzlichter den üblichen Rahmen überstrahl-ten. Den Normalfall eines Liedervortrags sollte man sich gewiss unter weitminder prunkvollen Bedingungen und in größenmäßig äußerst limitierten Di-mensionen vorstellen.

Was bedeutet es z.B., wenn Kürcnbcrgs auf einer Zinne postierte vrouwe einenRitter al üz der menigin singen hört (MF II.2)? Befindet er sich, umringt vonvielleicht einem Dutzend Leuten, im Inncnhof ihrer Burg? Von einem Hoffestist jedenfalls nicht die Rede, da die vom Sänger betörte Landesherrin davon of-fenkundig nichts weiß. Oder erfolgt der Vortrag möglicherweise extra muros,in einem Baumgarten oder auf den Straßen eines zur Burg gehörenden Städt-

5 Vgl. dazu Max Schiendorfer: Ein regionalpolitisches Zeugnis bei Johannes Hadlaub(SMS 2). Überlegungen zur historischen Realität des sogenannten ,Manessekreises', in:ZfdPh 112, 1993, S. 37-65.

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chens? Und was für eine Vortragssituation stellt sich der Marner vor, wenn lautseiner Repertoire-Strophe XV,14 - sing [!] ich dien liuten miniu lief - immerhineiner von zehn seiner Hörer niht wan hübschen minnesanc vernehmen möchte?Mit Gewissheit kann ein Berufssänger wie er seine Auftritte nicht auf die selte-nen Großanlässe ,öffentlicher' Hoffeste beschränkt haben. Hatte er daneben dieMöglichkeit, seine Dienste in kleinerem privaten oder halböffentlichen Rahmenanzubieten? Vielleicht - etwa gegen Verpflegung und temporäre Unterkunft -zur Untermalung einer Sonntagstafel auf dem Stammsitz einer Landadels-familie, in einer städtischen Patrizierresidenz oder gar einem öffentlichen Gast-haus? Es können hier, soviel ich sehe, lediglich Fragen und keine fixen Ant-worten geboten werden. Keinem Zweifel unterliegt es jedoch, dass zwischenden von Gramer avisierten Extremen des öffentlichen Hoffestes und der priva-ten Lektüre irgendein Zwischenbereich der skizzierten Art existiert habenmuss, den man sich als prioritären ,Sitz im Alltagsleben' höfischer Sangeskunstzu denken hat. Wie sonst sollten ein Marner und seine Zunftgenossen ihr Aus-kommen bestritten haben - womöglich, indem sie Abschriften ihrer ,Gedichte'vervielfältigten und zuhanden privater Leser hausierend feilboten? Die Mitbe-rücksichtigung der fahrenden Berufssänger hätte nicht nur aus diesem Grundgewiss manche von Cramers Schlussfolgerungen gravierend beeinflusst.6

Drittens: Gegen die Deutung der in den Miniaturen des Codex Manesse begeg-nenden Schriftbänder als „signifikant für die enge Bindung der Dichtung an dieSchrift" (S. 27) ist soweit nichts einzuwenden. Wollte er den Sänger primär inseiner Funktion als (Text-)Autor kennzeichnen, bedurfte der Maler natürlich ei-nes passenden, leicht entschlüsselbaren Bildmotivs. Warum aber muss im Ge-genzug die ikonographische Signifikanz der ja gleichfalls nicht wenigen Musik-instrumente derart manifest heruntergespielt werden? Wenn Gramer etwa beidem von zwei Musikern flankierten Kanzler eine ausdrückliche „Vortragsgebär-de" vermisst, so wird er damit doch hoffentlich nicht leugnen wollen, dass derMaler die drei Figuren in aller Klarheit aufeinander bezogen hat (S. 41). Über-haupt verbannt Gramer die musikalische Komponente fast vollständig aus sei-nen Betrachtungen: Das bekannte Carmen „Lingua balbus" des Archipoeta re-klamiert er als frühestes und für ihn ,,zweifelsfrei[es]" Zeugnis dafür, „daßGedichte auch schon im 12. Jahrhundert gelesen werden konnten, ja daß dies so-gar als der Normalfall vorausgesetzt wird" (S. 30f.). Indiz dafür ist ihm der hu-morige Einschub in Str. 4, wo der Autor in Betracht zieht, ein lector seines 45-strophigen sermo könnte allenfalls vor Langeweile einschlafen. Natürlich er-kennt auch Gramer darin eine Assoziation des ,,Ritual[s] der klösterlichenTischlesung" (S. 31), wobei ich vielleicht gar eher an die lectiones der Offiziendenken würde. Das heißt aber keinesfalls, dass der Autor für sein Carmen tat-sächlich gottesdienstlichen Gebrauch ins Auge fasst; gerade die komische Ein-

Weitere Gründe nennt Tervooren [Anm. 2], S. 368f.

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läge von Str. 4 schließt dies völlig aus. Es handelt sich lediglich um einen launi-gen Seitenblick auf eine - nur vom behandelten Stoff, nicht von der Form her!- vergleichbare ,Literaturgattung', aus dem sich über die Vertrags- bzw. Rezep-tionsart des „Lingua balbus" rein gar nichts ableiten lässt, auch nicht Cramersintuitive Einschätzung, „das Einschlafen vor Langeweile [sei] eher für den Leserbei privater Lektüre zu erwarten" (ebd.). Hier mag man sich an die bekannteAnekdote des Caesanus von Heisterbach erinnern („Dialogus miraculorum"IV,36), wonach es einem geistlichen lector wohl wirklich nicht immer leicht fiel,sein Publikum wach zu halten. Der Archipoeta übersteigert nun dieses leidigeFaktum noch, indem er gar den lector selbst als gefährdet supponiert. Im Übri-gen schließt auch das in Str. l verwendete Verbum loqui (statt ca.nta.re, wie Gra-mer moniert) gesungenen Vortrag nicht aus, wenn man sich etwa die stehendeFormel psalmos dicere der Breviere vor Augen hält; und beispielsweise macht eseinem Walther ja auch niemand zum Vorwurf, dass er im „Preislied" den deut-schen Frauen seine frohe Kunde nicht singen, sondern schlicht und bescheidensagen will (L. 56,22f.; Cormeau 32,II,lf.).

In der Folge deutet Gramer bestimmte poetische Finessen „als Symptome einerimmer intensiveren, möglicherweise ausschließlichen Bindung der Lyrik an dieSchrift" (S. 47). Gemeint sind strukturelle Phänomene, die sich lediglich dem le-senden Auge, nicht aber dem Ohr eines Rezipienten erschließen. So lasse sichetwa das Reimschema von Hausens Lied MF XIV sowohl vom Anfang wieauch vom Ende der Strophe her als Abfolge 3/3/4 lesen, womit die formaleStruktur angeblich die im Text beschriebene „Gegenbewegung von Entfernungund Annäherung" (S. 46) des Sängers an die Geliebte nachvollziehe. „Gehörtwerden kann dies zweifellos nicht" (ebd.). Zweifellos, zumal die hier einmalglücklich erhaltene Melodie (Guiots de Provins!) die Struktur mit einem weite-ren und gerade in diesem Stück besonders prägnanten Akzent versieht: Es han-delt sich um eine sogenannt durchkomponierte Strophe mit musikalisch diver-genten Stollen. Diese Melodie hätte ebenso wie Guiots Text in die Analysemitembezogen gehört. Jedenfalls Guiot und gewiss auch Hausen können ihreWerke demnach kaum mit Blick auf eine .stille Leserschaft' geschaffen haben.7

Für ebenso überinterpretiert halte ich Cramers nächstes Belegstück, WalthersLied L. 66,21; Cormeau 43: Dessen Pausenreimwörter der Zeilen 5/7 sollen an-einandergereiht eine Art Akrostichon bilden. Die Deutung kommt nicht ohne

7 Melodienotationen sind im Minnesang beklagenswert rar, aber es gibt sie eben doch,z.B. zu Liedern Neidharts oder späthöfischer Sänger wie dem Mönch von Salzburg undOswald von Wolkenstein. Besonders interessant ist das Dießenhofener Liederblatt, des-sen Konzeption „an seine Verwendung bei der Aufführung der Lieder" denken lässt(Eckart C. Lutz: Das Dießenhofener Liederblatt. Ein Zeugnis späthöfischer Kultur, Frei-burg/Br. 1994, S. 15). Die dem 14./15. Jahrhundert entstammenden Quellen datieren ausZeiten, in denen gemäß Gramer die Wendung zum ,Lesegedicht' wohl längst abgeschlos-sen sein sollte. Warum werden sie totgeschwiegen?

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(unkommentierten) Texteingriff (da > daz) sowie Leithandschriftenwechsel aus,da in A das zentrale Verbum hazzen gerade nicht begegnet.8 Überdies wäre beiPausenreimen - Gramer nennt weitere Fälle bei Neifen - erneut nach der allfäl-ligen Bedeutung musikalischer Realisierung zu fragen: Könnten sie vielleichtdurch korrespondierende Melismen nicht doch ein Stück weit .hörbarer' ge-

macht worden sein?

Natürlich kennt Gramer auch frappantere Beispiele. Ein reimtechnischer Kraft-akt wie Dürinc KLD I ist tatsächlich nicht ohne Zuhilfenahme etwa einerSchreibtafel konstruierbar (S. 47f.). Aber das ist ja auch gar nicht der Streit-punkt; den Beizug solcher Hilfsmittel halte ich im Gegenteil schon bei Hausenund seinen Kollegen für den Regelfall. Gefragt werden darf aber, ob sich Belegesolcher Parforcetouren wirklich derart .vielfach vermehren' ließen, wie Gramerbehauptet (S. 48), um dann aber einzig noch das allbekannte Kunststück Kon-rads von Würzburg (Schröder 13) ins Feld zu führen. Unendlich leichter ließensich doch reihenweise Texte beibringen, denen solche Merkmale ganz oderweitgehend fehlen. Hier wäre statistisches Material zumindest ebenso auf-schlussreich gewesen wie im gleich zu besprechenden Kontext der .Mouvance'.Überdies braucht ein auf Schriftlichkeit basierender Schöpfungsakt natürlichnicht zwingend, geschweige denn ausschließlich, auf stille Lektüre als Rezepti-onsform abzuzielen - und dies wohl auch dann nicht, wenn bei einem Publi-kumsvortrag die poetischen Finessen nur teilweise erkannt werden können.

Darauf wird nochmals zurückzukommen sein.

Die Provokation des Kapitels „Mouvance"9 besteht in der Unterstellung, eshandle sich bei diesem Phänomen variabler Strophenfolgen zumindest fallweise„um (vom Autor vorgesehene und legitimierte) Bearbeitungen durch Redakto-ren" (S. 61). Manche Dichter hätten in ihren Texten absichtlich „Stolpersteine"(S. 68) ausgelegt, um damit einen produktiven Umgang mit dem Werk zu initi-ieren. Als Ausgangsbasis liefert Gramer tabellarische Überlieferungsstatistiken,in denen mehrfach tradierte Texte den Kategorien „Parallel" (identische Stro-phenkonstellation), „Varianz" (andere Anzahl, gleiche Folge) und „Mouvance"(andere Folge, gleiche oder andere Anzahl) zugeteilt werden. Das Fazit einerersten Durchsicht lautet: Besonders häufig begegnet Mouvance bei Autoren des12. Jahrhunderts (S. 62), während sie bei den Sängern nach Walther und Neid-hart merklich zurückgeht. Gramer erklärt dies mit dem sich wandelnden Selbst-verständnis der Dichter, die ihr Werk zunehmend als schützenswertes Unikataufgefasst und daher mit .Stabilisierungsmaßnahmen' - Reimkorrespondenzen,

8 Ist übrigens die von Gramer beanspruchte idiomatische Formel des wol - im Sinnevon .sei's drum' - anderweitig stichfest belegbar?9 Vgl. dazu auch Thomas Gramer: Mouvance, in: Philologie als Textwissenschaft. Alteund neue Horizonte, hg. v. Helmut Tervooren und Horst Wenzel, zugl. Sonderheft derZfdPh 116, 1997, S. 150-181.

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Capfinido-Techmk u.a. - drohender Mouvance vorgebeugt hätten. (Ob dabeidie unterschiedlich langen Tradierungswege wohl ausreichend mitbedacht wur-den?)10 Des Weiteren zeigt sich, dass Mouvance nicht linear, sondern bei man-chen Autoren gehäuft auftritt. Unter diesen hebt Gramer Reinmar und Morun-gen hervor, muss zu jenem aber zugeben, es „könnte dies den schlichten Grundhaben, daß seine Gedichte besonders häufig drei- oder mehrfach überliefertsind" (S. 63). Als schlagender erscheint ihm daher das CEuvre Morungens, dochübersieht er dabei, dass gerade bei Morungen die in AC tradierten Korporanicht auf eine Vorstufe *AC zurückführbar sind. Da also auch hier eine .zu-sätzliche' Quelle anzusetzen ist, wird Cramers Vermutung, bestimmte Autorenseien dafür bekannt gewesen, „daß sie die Möglichkeit zum produktiven kom-binatorischen Umgang in ihren Gedichten anlegten" (ebd.), weiter relativiert.

Konkrete Einzelfälle autorgesteuerter Mouvance sucht Gramer zunächst beiVeldeke plausibel zu machen: Dessen Dreistropher MF V beginnt in B mit ei-nem Natureingang, der in G stattdessen an zweiter Stelle erscheint. Diese unüb-liche Position fasst Gramer als eine Art lectio difficilior und somit als ursprüng-liche Autorfassung auf, was er auch dadurch bestätigt findet, dass sich in G „fürdie Strophen II und III ein durchlaufender a-Reim, der beide Strophen eng ver-klammert", ergibt (S. 65). Der Redaktor von B habe dagegen die Normalstruk-tur mit eigentlichem Natureingang hergestellt, ganz im Sinne Veldekes, der ihnmit der „bewußt angelegten Anstößigkeit" (S. 68) selber auf die latente Alterna-tivfassung hingeführt habe. Nun ist die Verknüpfung durch Reimresponsionenaber nicht nur für Nachbarstrophen üblich, gerade das Prinzip der „Rückkehrdes Schlusses zum Anfang" mit Korrespondenzen der ersten und letzten Stro-phen ist im Minnesang kaum minder beliebt. Doch sei's drum, denn tatsächlichlassen Analogiefälle vermuten11, dass Veldeke vielleicht wirklich mit ungewohntplatzierten Naturstrophen Aufmerksamkeit erregen wollte. Und vorausgesetzt,er machte sich über das Nachleben seines Werks überhaupt konkret voraus-schauende Gedanken, bedeutet dies dann wohl auch, dass er mit .korrigierend'eingreifenden Redaktoren rechnen musste. Ist aber die weiterführende Annah-me, Veldeke habe diese künftige Einebnung seiner Pointe geradezu aktiv ange-strebt, (psycho-)logisch wirklich überzeugend?

Es würde sich zweifellos lohnen, von hier aus den Blick auch auf andere Gat-tungen auszuweiten, z.B. auf die Gruppe der Brautwerbungsepen. Auch deren

10 Wenn übrigens Gramer zu seiner sichtlichen Überraschung den Leich als eine „Text-sorte, die für Mouvance nicht zur Verfügung steht", akzeptieren muss (S. 53), so hätte ge-rade hier, angesichts einer Komposition mit formal divergenten Modulen, die Reflexionüber die Rolle des musikalischen Elements nicht ausbleiben dürfen.11 Neben MF V vgl. auch Veldeke II und XIV, nicht aber das von Gramer, S. 71, eben-falls reklamierte MF VII; hier handelt es sich entweder um .Parallel'-Überlieferung odereher noch um zwei unabhängige Einzelstrophen.

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Autoren rekurrieren auf ein aus oraler Tradition überkommenes Struktursche-ma, welches sie, indem sie es auf die Stufe der Schriftlichkeit heben, aber alsbaldallen erdenklichen Deformationen unterwerfen. Beim Publikum wird einerseitsKenntnis der grundlegenden Erzählstruktur präsupponiert, denn nur vor dieserFolie ist die spezifische Leistung der einzelnen Schemaindividuation angemes-sen zu würdigen; andererseits wird dieses Vorwissen laufend irritiert mit Sche-mavarianten bis hin zu veritablen Schemabrüchen. Bei den Ependichtern dientder Einsatz solcher ,Stolpersteine' zwar zweifelsohne als wichtige Rezeptions-steuerung, was aber sicher nicht kurzschlüssig in eine Aufforderung zu aktiverSchemarestauration umgedeutet werden darf.12

Im Übrigen lassen sich für Mouvance gelegentlich auch andere Ursachen nahelegen. Gramer selbst räumt zu Rugge MF VI (S. 73) und zu Hartmann MF III(S. 80) ein, die Kopf- bzw. Endstellung von Strophen könne sich hier dem re-daktionellen Bedürfnis nach Concatenatio verdanken. Der Anreiz zur Umstel-lung wäre in solchen Fällen mithin nicht im betroffenen Ton selber - und damitauch nicht vom Autor - angelegt gewesen. Wie Gramer zurecht andeutet(S. 73), musste das Phänomen der Concatenatio, besonders mit Blick auf dieTon-interne Strophenumordnung, zuerst einmal umfassend aufgearbeitet wer-den, bevor über die allfällige Restmenge einer autorverursachten Mouvancepräzisere Aussagen möglich sind.

Noch mehr gilt dies bezüglich einer überlieferungsgeschichtlich orientiertenminutiösen Quellenanalyse, wie sich ebenfalls anhand von Hartmanns Lied IIIillustrieren lässt. Ein Vergleich der vier (A) bzw. sechs (G) Strophen ergibt, dasslediglich zwei davon beidenorts in gleicher Abfolge auftreten (A II-III bzw. GV-VI). Dies begründet Gramer erneut mit einer Verklammerung durch gleicheReimwörter (alsö:vrö) oder Reimklänge (bän:ergän bzw. bän:wän). Zum einenwäre hier zu ergänzen, dass der <zrc-Reim nicht nur in den besagten zwei, son-dern in sämtlichen der sechs C-Strophen vertreten ist, in I und IV ebenfalls inden Stollen, in II und III stattdessen im Abgesang. Strophe V teilt zudem nichtnur mit VI, sondern auch mit IV einen Abgesangsreim (kan:man bzw.gan:man); der ^z-Reim im Abgesang von IV wiederum hat seine Entsprechun-gen im Abgesang von I und im Aufgesang von III, sodass die postulierte .Ver-klammerung' also mitnichten so exklusiv ist, wie der Verfasser suggeriert. Hin-zu kommt ein gewichtigerer Einwand: Gramer weist selber darauf, dass die

12 Wenn der Schemabruch eine bestimmte Toleranzgrenze der Rezipienten sprengt, kannsich auch in der Brautwerbungsepik das Phänomen der Schemarestauration einstellen: Derhöchst problematisch gezeichnete Held der „Heidin I" überstieg offenbar das hierin er-trägliche Maß, sodass spätere Stoffbearbeiter (in „Heidin II-IV") diese Rolle mit weitschemakonformeren Trägern neu besetzten. Dass dies aber schon in der Absicht des ur-sprünglichen Dichters gelegen haben könnte, ist mir schlechterdings unvorstellbar; mit dergenannten Fehlbesetzung strebte er doch gerade die für ihn essentielle Sinnstiftung an.

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,Verklammerung' in der dritten Quelle (B) durch eingeschobene Strophen einesFremdtons gesprengt erscheint, was freilich „am grundsätzlichen, durch andereGedichte bestätigten Befund" nichts ändere (S. 80, Anm. 23).13 Ich meine, einVersuch diesem Störfaktor ernsthaft auf den Grund zu gehen, wäre die metho-disch adäquatere Reaktion gewesen. Das Einsprengsel in B geht augenscheinlichbereits auf die Sammlung *BC zurück, oder anders gesagt: Cramers Str. C VIhatte in jener Vorlage Nachtragscharakter. Während die Redaktoren von B diesübersahen, ordneten jene von *C oder C sie dem korrekten Ton zu, und zwar- mit Bedacht oder nur als naheliegendste Verlegenheitslösung? - als dessenSchlussstrophe. D.h., Str. C VI muss auf einer früheren Überlieferungsstufe se-parat in Umlauf gewesen sein, was übrigens auch für die in B fehlende Str. C IVgelten dürfte, die wohl in *C hinzugetreten ist (falls B sie nicht nur versehent-lich übersprungen hat). Die Nachbarschaft der angeblich so eng liierten Stro-phen in C ist somit primär überlieferungshistorisch bedingt, und es ist zu-mindest nicht unmöglich, dass auch der von A gebotene Vierstropher inEtappen zusammengewachsen ist; denn hier stehen ausgerechnet jene einzeln indie letztliche C-Fassung gelangten Strophen am Schluss. Für meine Begriffewäre die Möglichkeit, dass man es hier nicht mit rezeptionell begründeter Mou-vance, sondern mit Reflexen paralleler Autorfassungen zu tun haben könnte,sehr wohl zu erwägen. Nochmals anders liegt der Fall bei Hartmanns LiedXVIII, wo die Strophenumstellung mit abweichenden Autornamen korrespon-diert. Da dieses Stück zudem spürbar parodistische Züge aufweist, wäre hiergar die Möglichkeit sängerischer Interaktion14 zu prüfen.

Ein Paradeexempel von Mouvance könnte, im Sinne einer Gegenprobe, hinge-gen Hartmanns Lied MF II abgeben. Dieses wurde in C, wie eine Lesartenkol-lation nahelegt, offenbar aus *BC und *AC kontaminiert. Während der Wort-laut überwiegend (doch nicht ohne Ausnahmen) mit B einhergeht, stimmt dieStrophenfolge mit A überein (= B 3,2,1). Leider ist es aber, soviel ich sehe, mitden von Gramer propagierten Mitteln nicht möglich, die hier vom C-Redaktorverantwortete Mouvance auf eine plausible Ursache und gar auf eine Autorisa-tion von Seiten Hartmanns zurückzuführen. Kein Zweifel, Cramers Überlegun-gen zum Phänomen der Mouvance haben die Tür zu einem Untersuchungsbe-reich aufgestoßen, der fortan Beachtung verdient, für den aber ein Gutteilaufwändiger Grundlagenarbeit erst noch zu leisten ist.

13 Den einzigen überprüfbaren Analogiefall liefert Hartmanns Lied XVIII. Auch dort istaber die von Gramer, ebd., beanspruchte Reimresponsion von Str. 3/4 nicht exklusiv; vgl.die identischen Reimwörter wü:ml in Str. 2/5 sowie die als .Körner' eingesetzten Waisen-zeilen in Str. 1/4 (si:bi) und 3/5 (nihtmihi).14 Wenn Gramer meinen Beitrag zu diesem Thema (Handschriftliche Mehrfachzuwei-sungen: Zeugen sängerischer Interaktion im Mittelalter?, in: Euphorion 79, 1985, S. 66-94) als Beleg für Mouvance und gar für die „Arbeit am geschriebenen Text" beizieht(S. 75, Anm. 18), bedeutet dies eine klare Zweckentfremdung.

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Die Provokation des Kapitels „Rollenspiele" knüpft bei jener des Eingangska-pitels an. Erneut geht es letztlich darum, die Minnelieder als de facto für Privat-lektüre konzipierte .Gedichte' zu erweisen. Statt des in der Tat recht unglück-lichen Begriffs des Minnesang-,Rituals' hält Gramer sich lieber an jenen des.Spiels', denn: „Anders als beim Ritual, das mit der Verletzung der Regel zu-sammenbricht, kann der Versuch des Verstoßes gegen die Spielregeln ästhetischreizvoll sein" (S. 127). Soweit stimme ich vorbehaltlos zu. Wichtiger ist Gramerfreilich erneut, dass die Lyrik als Spiel „nicht unbedingt auf eine wie immer ge-artete Öffentlichkeit angewiesen [ist], das Spiel kann sich auch zwischen dem Le-ser und dem Text entfalten" (ebd.). Die Generation nach Walther ersetze die Re-flexion über traditionell vorgegebene Rollenmuster durch die Konzeptionneuartiger Rollen und Aktionsräume: „der Autor entwirft sich mit seiner Rollezugleich die Bühne, auf der er agieren kann" (S. 136). So bevölkert etwa Neidhartseine imaginierte Bühne mit einer vielköpfigen Dörpergesellschaft, in die er dannauch sein Sänger-Ich aktiv eingreifen lassen kann. Oder ein Singenberg konstru-iert in SMS 22 die Situation, dass dem zunächst fünf Strophen lang als kon-ventioneller Minnediener agierenden Ich unvermittelt ein Sängerrivale erwächst,der sich als dessen Sohn Rüedelin entpuppt. Dass damit der ,Vater' in die „Rolleder Neidhartschen Alten gesetzt [wird], deren Rolle die jüngere Generation ein-nehmen will" (S. 142), ist aber nur die halbe Wahrheit. Und wenn der Sänger sei-nen ,Sohn' nun seinerseits als unreifen Plapperer und grobschlächtigen Bauernabkanzelt, so wird damit keinesfalls „demonstriert, daß die Infragestellung durchdie eigene literarische Figur (denn natürlich ist auch der Sohn eine solche Figurnach variiertem literarischem Muster) in Wahrheit nichts in Frage stellt" (ebd.).Indem der ,Vater' - er übrigens nicht minder .literarische Figur' Singenbergs! -in hitzigem Wutausbruch aus der Minnesänger-Rolle herausfällt und dabei laut-stark mit seiner unveräußerlichen hövescheit prahlt, handelt er ja den eigenenethischen Imperativen flagrant zuwider, und die eingangs zelebrierte höfisch-zuchtvolle Pose erweist sich im Rückblick als genau dies: eben nichts als eine Po-se. Wie ferner die Überlieferungslage nahe legt (nur A hat die ominösen Schluss-strophen; C bietet allein die so konventionelle wie in sich formvollendete Min-neklage), ist das Lied offenbar in zwei Phasen entstanden. Der Autor Singenbergmuss, aus welchem Anlass auch immer, auf den beachtlich selbstironischen Ein-fall gestoßen sein, eines seiner früheren Paradestücke parodistisch auszuschlach-ten. Damit aber nicht genug: Der Vergleich mit Neidharts literatunmmanentenMutter-Tochter-Disputen sticht insofern nur bedingt, als der historische Ulrichtatsächlich einen Sohn Rudolf hatte, den er in dessen Jugend durchaus Rüedelingerufen haben dürfte. Es liegt also eine Selbstreferenz vor, die über den im Lied(bzw. den zwei Liedern) etablierten Kunstraum hinausweist. Dieses Spiel mitmehrfach skalierten Fiktionalitätsgraden setzt bei Singenbergs RezipientenKenntnisse seiner Biografie und seines früheren Werks voraus, die weder durchLektüre der C- noch der A-Fassung erschließbar sind.

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Gerade Singenberg ist für mich der Modellfall eines Autors, der wie kaum einanderer ,für die Bühne' gedichtet hat, für die gewiss vorwiegend an der St. Gal-ler Fürstabtei vollzogene Performance. Man darf vermuten, dass sein Publikuma) zahlenmäßig beschränkt, b) über längere Zeit relativ konstant und c) mit demsingenden Truchsessen (zumindest mehrheitlich) näher vertraut gewesen seindürfte. In diese Richtung weisen bei ihm manche weiteren Lieder15, so etwaSMS 23, wo der erneut janusköpfige Sänger sich ob des verweigerten Minne-lohns erst zunehmend in Rage steigert und Dienstabsage erwägt, in Str. IV aberplötzlich aus der Rolle fällt, indem er in dem vierden Hede seiner Dame in ei-nem Losentscheid nun doch noch eine allerletzte Chance geben will; und wieimmer dieser dann ausgefallen sei - daz lieze ich zem fünften sehen. Bis dahinkönnte man dieses merkwürdige Stück evtl. gar als Argument pro Gramer be-anspruchen, da das Sänger-Ich mit jenen metatextlichen Einwürfen temporärZüge des hinter ihm stehenden Autors erkennen lässt und die Aufmerksamkeitvon der .illusionistischen' Performance weg auf den schriftstellerischen Aktlenkt. Aber auch hier ist der Sachverhalt komplexer: Das angekündigte Orakelwird in der Folge nicht verbauter ausgeführt; dass es für die Dame günstig aus-gefallen sein muss, kann einzig aus der vom Sänger in Str. V völlig abrupt ein-genommenen Demutspose rückgeschlossen werden. Mit anderen Worten: DerLosentscheid selbst muss m.E. in einer Art entract zwischen den Strophen IVund V mit irgendwelchen .theatralischen' Mitteln (pantomimisches Blumen-zupfen o.a.) dargestellt worden sein. Unnötig zu sagen, dass die Jnszemerung'aus der Rolle fallender Protagonisten auf der Bühne ungleich reizvoller zurGeltung kommt als auf dem Pergament.16

Hier anzufügen sind die nicht wenigen Fälle referenzloser Deixis.17 Was sollsich ein Leser etwa unter der kryptischen Angabe daz mich min gemüete darnoch dar, wan dar so striteclichen treit konkret ausmalen (Singenberg 24.V.3f.)?Bei Annahme entsprechender Zeigegesten während des Liedvortrags (derendritte evtl. Ulrichs Gattin Adelheid gegolten haben könnte - oder auch geradenicht) stellt dies so wenig ein Problem dar wie z.B. Konrads von Altstetten zwobrune brä, die hänt mich da (nämlich wohl im Herzen) verwundet sere und an-derswä (SMS 3.1.8-10). Oder der mit den flandrischen Textilmetropolen Ypern

15 Vgl. dazu Ulrich Müller, der wohl zurecht vermutet, „die .Schwierigkeit' der politi-schen Strophen des St. Galler Truchsessen" erkläre sich durch dessen intime Vertrautheitmit seinem St. Galler Stammpublikum (Untersuchungen zur politischen Lyrik des deut-schen Mittelalters, Göppingen 1974 [GAG 55/56], S. 328, Anm. 1).16 Zu diesen und weiteren einschlägig instruktiven Liedern Singenbergs vgl. Max Schien-dorfer: Ulrich von Singenberg, Walther und Wolfram. Zur Parodie in der höfischen Lite-ratur, Bonn 1983 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 112).17 Vgl. dazu ausführlich Helmut Tervooren: Die .Aufführung' als Interpretament mittel-hochdeutscher Lyrik, in: .Aufführung' und .Schrift' in Mittelalter und früher Neuzeit, hg.v. Jan-Dirk Müller, Stuttgart 1996 (DFG-Symposien. Berichtsbände 17), S. 48-66.

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und Huy getriebene Wortwitz bei Büwenburg (SMS 4.II) kann ausschliesslichbei akustischer Textvermittlung adäquat entschlüsselt werden, da er wesentlichauf der Homophonie Huy/höi basiert.18

Von „Theatralisierung" spricht auch Gramer im Unterkapitel „Das Gedicht alsHandlungsraum", allerdings mit gerade gegenläufiger Tendenz. Wenn etwa ver-schiedene Dichter des 13. Jahrhunderts ihre Natureingänge zunehmend mitPersonifikationen bevölkern (als deren Ahnvater wohl der personifizierte Maimit seiner farbenfrohen wät grüßen lässt), so schaffen sie sich damit imaginierteAktionsräume, die den realen Vortragsrahmen gerade entbehrlich machen sol-len. Und auch das weitere Stichwort „Episierung" erscheint bei Gramer mitgleicher Stoßrichtung. Ich würde es stattdessen lieber unter das Motto .experi-mentelle Gattungsfusionen' stellen, ganz abgesehen davon, dass episierendeTendenz ja seit jeher konstitutiv für das von Gramer hier behandelte genre ob-jectif ist. Gattungsgeschichtlichen und -analytischen Fragen schenkt er aber ge-nerell zu wenig Beachtung. Weder KLD I des Burggrafen von Lüenz nochKLD IX/IV Ottos von Botenlauben können ohne erhebliche Abstriche als „Ta-gelied" betitelt werden (S. 155). Die poetische Leistung des Burggrafen erfährtmit dem Ausspruch, er brauche „zwei Strophen, um auf umständlichste Weisedas Personal seines Tageliedes zu versammeln" (ebd.), kaum Gerechtigkeit. DasAufgebot der dramatis personae orientiert sich ja noch gar nicht am Gattungs-modell des Tagelieds, sondern an jenem der Serena, das gleichsam die Vorge-schichte des ab Str. 3 folgenden Tagelieds strukturiert. In Str. 5 weist schließlichdas Tagelied seinerseits über sich hinaus, indem es (mit der unüblichen Andeu-tung des konkreten Trennungsanlasses) als weitere Gattung das Kreuzlied amHorizont aufscheinen lässt. Das Experiment mit dem fünfstrophigen Gattungs-konglomerat insgesamt und nicht „der erzählerische Aufbau der Szenerie istwichtiger [...] als das Tagelied selbst" (ebd.). Das Lied Botenlaubens kann sogarals weithin lupenreine Serena bestimmt werden, in der nur die zwei Schlussver-se den Ausblick auf eine Nachbargattung gewähren: owe ml maniger abentsen-der klage, diu mich twanc unz gegen dem tage. Dabei handelt es sich aber wohlnicht um das „Tagelied" (ebd.), sondern viel eher um das Anti-Tagelied mitdem Thema der einsam durchwachten, nicht enden wollenden Nächte.19 So

18 Vgl. Max Schiendorfer: Ulrich von Baumburg: Trutz, trutz, trete - Ein .echtes' Pro-dukt des Manessischen von Büwenburg'?, in: Da beeret auch geloube zuo. Überlieferungs-und Echtheitsfragen zum Minnesang. Beiträge zum Festcolloquium für GüntherSchweikle anläßlich seines 65. Geburtstags, hg. v. Rüdiger Krohn, Stuttgart 1995, S. 155-176, hier S. 170f.19 Dagegen beschließt Hadlaub seine Serena SMS 51 mit der Tagelied-Assoziation: dazin vröide wirt verzucket, so der wachter tages gicht. Bei Botenlauben folgt übrigens in Cein Leerraum für eine weitere Strophe. Falls sie tatsächlich existierte, könnte sie natürlichsehr wohl doch auch noch das urloup-Motiv ins Spiel gebracht haben.

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oder so sehe ich nicht ein, weshalb solche Gattungsexperimente speziell auflesende Rezeption abzielen sollen.

Die Provokation des Kapitels „Sprachspiele" besteht darin, dass Gramer dienachwaltherschen Sänger zu Vorreitern eines l'art-pour-1'art-Programms erklä-ren will: „Sprache generiert hier Eigensinn, ihre eigenen Klang- und Assoziati-onsräume, schafft sich ihre eigene Welt als Sprachraum, die keine Abbildung ei-ner Dingwelt zu sein mehr vorgibt" (S. 174). Ansatzpunkt ist KLD XVIUlrichs von Winterstetten, dessen Naturcingang die sommerlichen Akzidcntienals für die Dichter ergiebige materie preist. Materie soll hier aber nicht wie üb-lich als ,materieller' Stoff gemeint sein, der sich für eine poetische Gestaltungmittels Sprache eignet; vielmehr bezeichne der Terminus einen „bereits sprach-lich formulierten Tatbestand" (S. 16l).20 Ulrichs „poetischer Gegenstand istnicht die höfische Liebe, sondern es sind die Gedichte über die höfische Liebe"(S. 163), oder genereller: „nicht die Welt ist die Form der Sprache, sondern dieSprache ist die Form der Welt" (S. 165). Daraus resultieren dann jene .dinglo-sen' Sprachräume: „Sprache denkt sich selbst weiter, erhebt den Anspruch aufAutonomie" (S. 177). Dies ist wahrlich „eine kühne These, die mittelalterlicheLyrik an die der Moderne heranreichen läßt"21 und weiterer Abstützung be-dürfte. Interessant ist ein Gedanke wie folgender aber allemal: „[...] das Dich-terwort tritt in Analogie aber nicht in Konkurrenz zum welterschaffenden gött-lichen Logos. Im Medium der Sprache, aber nur in ihm, vollzieht sich derWandel zum modernen, welterschaffenden Dichter" (S. 174; die Präzisierung,dies geschehe „unter Ausklammerung der semantischen" Komponente, ist mirfreilich erneut zu resolut). Ich möchte zwei Überlegungen, die sich hier an-knüpfen ließen, wenigstens andeuten:

Erstens könnten - aus Produzentensicht - mittelalterliche Dichter, nicht min-der aber auch Architekten, Maler oder Komponisten, ihre Schöpfungen wohlwirklich als mikrokosmische Analogien zu den Kreationen des deus artifex ver-standen haben, der alle Dinge „nach Maß, Zahl und Gewicht" geordnet hat(Sap 11,21). Etwa zahlensymbolische Verfahren, komplexe Reimstrukturen,Akrosticha, Anagramme u.a. könnten dann (zumindest bei manchen Autoren)im Sinne einer imitatio göttlicher Schöpfungsprinzipien gemeint sein. Und dassz.B. dem architektonischen Konzept der Abteikirche von St. Denis ein umfas-sendes theologisches Programm des Abtes Suger zugrunde liegt, ist ja ebensodokumentierbar, wie dass die Koryphäen der ars musica die göttliche .Kompo-sition' der Sphärenharmonie als ihr ultimatives Leitbild verehrten. Wenn also

20 Als Beleg für diesen Wortgebrauch in schulmäßiger Rhetorik dient Gramer die 1275776 abgefasste „Summa de arte prosandi" Konrads von Mure (S. 161f.), die damit freilichweithin allem steht. Ihre Breitenwirkung war zudem höchst limitiert, und Winterstettenkann sie schon aus chronologischen Gründen nicht gekannt haben.21 Tervooren [Anm. 2], S. 370.

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Gramer auch in diesem Kontext wieder formale Subtilitäten anführt, die sich„nur dem Auge des Lesers" offenbaren (S. 176), so könnte man sich immerhinfragen, ob die Künstler in Gott nicht nur ihren selbstredend unerreichbarenProto-Typus, sondern zugleich auch ihren idealen, weil allwissenden .Rezipien-ten' erblickt haben könnten.22

Zweitens sei - aus Rezipientenoptik - gefragt, ob und wieweit ästhetischerGenuss auf intellektueller Einsicht beruhen kann oder muss. MUSS man sichmit Partitur und Libretto, evtl. gar mit Kontrapunkt, Kompositionslehre, In-strumentenkunde usw. auseinandergesetzt haben, um aus der Aufführung ei-ner Oper ästhetisches Vergnügen zu beziehen? Und wenn sich im Publikummanchmal ja wohl wirklich eine Handvoll solcher Fachkundiger befindet — ha-ben deswegen die Künstler ihr Werk mit (ausschließlichem) Blick auf ebendie-se schmale Bildungselite konzipiert? Oder in Abwandlung des Gedankens:Gerade das Erlebnis einer Aufführung kann ja u.U. zu nachträglicher Infor-mation und Vertiefung animieren, den Rezipienten eines Minnesang-Vertragsz.B. zur tieferen Ergründung eines ihm erst ansatzweise deutlich gewordenenReimkunststücks durch Lektüre des Textes oder aber auch - warum nicht? -durch ein klärendes Gespräch mit dem Künstler. All dies und gewiss nochmehr wäre in Rechnung zu stellen, ehe man kategorisch Minnesang zur Lese-lyrik erklärt.

Als Provokation des abschließenden ,,Ausblick[s]" lässt sich die erneut viel zupauschale Behauptung benennen, im 13. Jahrhundert zeige sich eine zunehmen-de „Verschiebung von der ästhetischen zur moralischen Einschätzung desGedichts" (S. 190). Gramer will dies an Lied KLD X Walthers von Mezze auf-zeigen, dessen Natureingangs-Elemente ihren Anspruch auf „ästhetische Eigen-ständigkeit" eingebüßt hätten: „[...] die traditionelle Klage des Natureingangsüber Blumen und Vögel bekommt einen neuen, aktuellen Sinn, wenn man ihreSchönheit nicht als selbstbedeutend im Kontext einer literarischen Ästhetik [...],sondern als signifikant für moralische bonitas im Sinne der scholastischen Äs-thetik gelten lassen kann. Nur wenn sie Verweischarakter haben, bekommen dielyrischen Kunstfiguren einen ,Sinn'" (ebd.). Präzisierend resümiert geht es um

22 Mit Blick auf Walthers „Ottenton" hat Friedrich Ackermann diesen Gedanken bereitsvor geraumer Zeit formuliert: Gewisse „Formeigentümlichkeiten, die beim Verlauten desGedichts im Gesangsvortrag weithin unbemerkt bleiben mußten [...], waren dennochgeistiger Lebensausdruck: fromme Darbringung für den absoluten Zuhörer, Bindung andie in Gott wurzelnden Gesetzlichkeiten" (Zum Verhältnis von Wort und Weise im Min-nesang, in: WW 9, 1959, S. 177-188, hier S. 185f.). Ackermann verweist dabei auch aufden hoch über den Köpfen der Gläubigen hängenden Radleuchter einer romanischen Kir-che, dessen kunstvolle Schnitzarbeit eines himmlischen Jerusalem den Augen der Kirch-gänger über die Jahrhunderte hin gänzlich verborgen blieb; die Darstellung „war für dieAugen Gottes geschnitzt, der .durch die Wände und Gewölbe schaut'" (S. 186). Beispielesolch unsichtbarer .Kunst am Bau' ließen sich leicht vermehren.

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folgendes: Des Sängers Klage gilt de facto nicht Blumen und Vögeln23, sonderndem Umstand, dass auch tugendlose Menschen an diesen Sommerwonnen unbe-helligt teilhaben. Da er ihnen dies missgönnt, möchte er sie davon ausgeschlos-sen und zugleich öffentlich stigmatisiert sehen. Seiner Utopie gemäß sollten dieVögel als richterliche Instanz die Guten von den Bösen scheiden: Ausschließlichjenen sollten die Nachtigallen, diesen dagegen die Kuckucke und Distelfinkenaufsingen. M.E. ist das hier beanspruchte moralische vingerzeigen wohl weniger- zumindest nicht direkt - auf Prinzipien scholastischer Ethik zurückzuführenals vielmehr auf den traditionell moraldidaktischen Gestus der Sangspruchdich-tung. Vorbild scheint mir ganz klar Walther von der Vogelweide zu sein mit sei-nem fast schon notorischen Anspruch des scheidens der höfischen Herren- undDamenwelt (z.B. L. 58,35f.; Cormeau 34,IV,6f.: ich scheide die guoten von denbcesen) wie auch der Sängerzunft (z.B. in Lied L. 64,61; Cormeau 41). Und be-reits Walther bedient sich diesbezüglich der Vogelmetaphorik, wenn er sich alsAnwalt hovelichen Sangs selber als nahtegal apostrophiert (L. 65,23; Cormeau41,IV,7) bzw. auf der anderen Seite seinen schamelosen Widersachern - si heizenwip, si heizen man - Esels- und Kuckucksgeschrei als üblen ,Angang' an-wünscht (L. 73,31; Cormeau 50,11,3). Dass gerade Walther „den Weg zu dieserForm der Erneuerung [...] eröffnet und als erster beschriften" hat (S. 191), ist na-türlich kein Zufall und erklärt sich aus seiner Doppelrolle als professionellerSangspruchdichter und Minnesänger. Auf seine Pionierarbeit berufen sich Gat-tungsexperimente wie jenes des Walther von Mezze.24

Den Schlusspunkt seiner Provokationen setzt Gramer mit der Auslegung dreierSpruchstrophen, deren erste für den Band titelgebend wurde: Waz hilfet anesinne kunst? Es lässt sich an diesem Beispiel zuletzt noch einmal eindrücklichaufzeigen, wie unterschiedlich die Lektüren mittelalterlicher Lyrik mitunterdoch ausfallen können. Gramer fasst die drei Sprüche im Frau-Ehren-TonReinmars von Zweier als Werk Ulrichs von Singenberg25 sowie als kohärente

23 Nicht nur hier formuliert Gramer missverständlich. Beklagt wird in traditionellen(Winter-)Natureingängen das Schicksal der unter Witterungsunbilden leidenden Vögeloder häufiger - aus anthropozentrischer Sicht - das Ausbleiben ihres wohlklingendenGesangs. Im Übrigen hat doch wohl auch die traditionelle Saisonschilderung schon eineüber die ausschließlich ästhetische Signifikanz hinausreichende Verweisfunktion.24 Auf Interferenz von Sangspruch- und Liedtradition basiert auch etwa die Neigungmancher Minnelieder zur ,Ent-Privatisierung', d.h. zum allgemein gehaltenen Frauenpreisbei Konrad von Würzburg u.a.; auch hier lässt sich die Spur bis zu Walther zurückver-folgen (vgl. etwa Strophe L. 27,17; Cormeau 11,V). Eine andere Meinung hierzu vertratGramer schon vor längerer Zeit in: Minnesang in der Stadt. Überlegungen zur LyrikKonrads von Würzburg, in: Literatur - Publikum - Historischer Kontext, hg. v. GertKaiser, Bern u.a. 1977 (Beiträge zur älteren deutschen Literaturgeschichte 1), S. 91-108.25 Mit der Aufnahme der nur in A ihm zugewiesenen Strophen in Singenbergs SMS-Korpus wollte ich durchaus nicht dessen Autorschaft behaupten (vgl. Max Schiendorfer:

(Fortsetzung der Fußnote auf S. 407)

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Sinneinheit auf.26 Den in besagter Initialzeile propagierten Konnex von kunstund sin schränkt er zunächst kommentarlos auf (schriftliche) Sprachkunst einund bezieht diese wiederum auf die scholastische Ästhetik und ihr Postulat,dass wahre pulchritudo nur als Ausfluss von honitas denkbar sei. Daraus folgt:„Schönheit in der Literatur besteht in der Bedeutung, die sie vermittelt und innichts anderem" (S. 196).27 Ich sehe meinerseits keinen Anlass, den kunst-Re-griff hier auf ästhetische Disziplinen und gar auf Literatur zu reduzieren, kunstumfasst als .Können' vielmehr den Gesamtbereich der artes liberales wie me-chanicae, welche äußerlich lernbaren Fertigkeiten nicht ohne Verstand undUmsicht eingesetzt werden sollen. Gramer jedoch verfolgt die einmal aufge-nommene Fährte konsequent weiter und springt nun zum Stichwort mxre inStr. 2 über: Zwar habe „auch fiktionale Literatur ihre Signifikanz, hat auch dasmiere seine Wahrheit [...], aber die Lektüre des Buchs der Welt erschließt dieWahrheit unmittelbarer" (S. 196). Das Tertium comparationis von Str. 2 lautetaber weder märe noch „Wahrheit", sondern vielmehr wunder. Nicht denWahrheitsbegriff will der Autor abstufen, sondern jenen des Wunderbaren. Dievon Alexander u.a. erlebten wunder werden keineswegs in Frage gestellt. AlsAnsatzpunkt eines Überbietungstopos müssen sie aber zur Aussage herhalten:Das alles war noch gar nichts verglichen mit jenem Wunder, dttz tegelich ge-schiht. Und was könnte mit diesem .Alltagswunder' wohl gemeint sein? Gramerdenkt, wie gesehen, an das .Buch der Welt'. Die in der Schlusszeile eingenom-mene Attitüde des verklausulierenden Rätselstellers - nü merkent, wa! - scheintmir eher auf eine speziellere Lösung abzuzielen, am ehesten vielleicht auf dasWunder der täglichen Menschwerdung Christi im eucharistischen Mcssopfer.Jedenfalls will mir Cramers nahtlose Überleitung zu Str. 3, deren auf das Buchder Welt bezogenes Programm es sein soll, „den Blick für die Bedeutung dertäglich erfahrbaren Welt zu öffnen durch unmittelbare Belehrung" (S. 197), er-neut nicht einleuchten. Völlig unbestritten geht es hier zwar um Belehrung,nämlich um das weiß Gott nicht originelle Postulat, dem Rat der Weisen, nicht

Art. „Ulrich von Singenberg, Truchseß zu St. Gallen", in: 2VL 10, 1999, Sp. 21-27, hierSp. 231.). Und den Vers Swer blinden volget, der ist wol erblendet würde ich jedenfallssolange nicht als Indiz „gegen eine Verfasserschaft des blinden Reinmar von Zweier, des-sen Sache Selbstironie nicht ist" (S. 197, Anm. 18), beanspruchen, als die berechtigtenZweifel Joachim Bumkcs an Reinmars Blindheit nicht ausgeräumt sind (vgl. Ministeriali-tät und Ritterdichtung. Umrisse der Forschung, München 1976, S. 24).26 In den weiteren Quellen CD stehen die Strophen (unter Reinmar von Zweter) freilichnicht direkt beisammen.27 Diese Aussage steht in manifestem Widerspruch zu den Hauptanliegen anderer Kapi-tel, wo gerade die formale Artistik (bes. Kap. 1) bzw. die Schöpfung .dingloser' Sprach-räume „unter Ausklammerung der semantischen" Komponente (Kap. 4) betont wurde.Mangelnde Systematik und gedankliche Vernetzung ist gewiss eine der methodischenHauptschwächen von Cramers „fünf essayistische[n] Ausflüge[n]" (so Tervooren[Anm. 2], S. 366).

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der .Bünden' zu folgen. Was dies aber mit einem ,,literaturtheoretische[n] Pro-gramm" zu tun haben soll (ebd.), bleibt mir ebenso schleierhaft, wie wenn Gra-mer in weiterem Kurzschluss ein allgemein ethisches Problem - waz hilf et auchgebeitiu minne, diu niender vonme herzen kwnpt? - als spezifische „Auseinan-dersetzung mit der Mustertradition des Minnesangs" (ebd.) begreifen unddaraus wiederum deren Niedergang herleiten will: Die Wendung ins ethischAllgemeine „bedeutet notwendigerweise die Wendung zur belehrenden Spruch-dichtung, bedeutet das Ende einer Lyrik, die ein Jahrhundert lang den Versuchunternommen hatte, Spielformen der Erotik zum Modell einer ästhetisiertenWelt zu machen" (S. 198). Dieser Schlusssatz des Bandes, zu dem Gramer no-tabene von Texten der Zeit um ca. 1230/50 inspiriert wurde, möge für sich sel-ber sprechen.

Am Ende reibt sich der Leser verwundert die Augen. Zurück bleiben ihm Rat-losigkeit und eine gewisse Konsternation darüber, dass der Vorhang nun gefal-len sein soll und doch so zahlreiche Fragen noch offen sind. Aber gerade dies,um es abschließend nochmals zu betonen, ist das unbestrittene Verdienst vonCramers ,kühnem Wurf: Fragen über Fragen zu provozieren. Die angekündig-te „großangelegte Untersuchung" zu diesen Fragestellungen bleibt jedoch einst-weilen ein Forschungsdesiderat.

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