jürgen kühnel: 'mythopoiesis'. mythenschöpfungen des 2o. jahrhunderts

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Jürgen Kühnel: ‚Mythopoiesis’. Mythenschöpfungen des 2o. Jahrhunderts. In: Mythes et mythologies. Actes du Colloque international du 6, 7 et 8 mars 2oo8 à Amiens. Ed. Danielle BUSCHINGER. Amiens 2oo9 (= Médiévales, Bd 9), S. 255-268.

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Jürgen Kühnel: ‚Mythopoiesis’. Mythenschöpfungen des 2o. Jahrhunderts.

In: Mythes et mythologies. Actes du Colloque international du 6, 7 et 8

mars 2oo8 à Amiens. Ed. Danielle BUSCHINGER. Amiens 2oo9 (=

Médiévales, Bd 9), S. 255-268.

255

‚Mythopoiesis’. Mythenschöpfungen des 2o. Jahrhunderts.

Jürgen KÜHNEL (Siegen).

1.

Der Begriff des Mythos entzieht sich einer eindeutigen und verbindlichen Definition.

Es gibt vielmehr eine Reihe sehr unterschiedlicher Mythos-Begriffe, die sich freilich nicht

gegenseitig ausschließen, sondern unterschiedliche Aspekte eines sehr komplexen Sachver-

haltes beschreiben.

Im Sinne der Ethnographie und Religionsgeschichte sind Mythen Geschichten, die Er-

eignisse fixieren, auf denen kultische und soziale Rituale gründen, beschreibbar als triadische

Relation zwischen einem ‚Ur-Ereignis’, seiner narrativen Fixierung und seiner rituellen Wie-

derholung. Diese ‚Geschichten’ haben eine Ordnungsfunktion, sie fixieren – darin, so LEVI-

STRAUSS, wissenschaftlichem Denken grundsätzlich gleichwertig – Modelle der Welt und der

Gesellschaft, sie dienen der Begründung und Stabilisierung des gesellschaftlichen Zusam-

menhangs.

Im Verständnis der Psychoanalyse, insbesondere bei C. G. JUNG und seinen Schülern,

sind Mythen im ‚kollektiven Unbewussten’ der menschlichen Psyche verankert; sie sind Ver-

arbeitungen kollektiver Erfahrungen (‚Ur-Erfahrungen’) der Menschheit, die sich – auf die

Ebene des Bewusstseins gehoben – in ‚archetypischen’ Bildern und Ereignisfolgen artikulie-

ren. Sie lassen sich damit – so auch FREUD – in Analogie zum Traum beschreiben, sind je-

doch im Gegensatz zum individuellen Traum Ausdruck kollektiver, überindividueller Erfah-

rungen.

Im Verständnis der Narratologie sind Mythen Erzählmuster, in denen die narrative und

konzeptuelle Ordnung von Geschichten fixiert ist, Handlungsmodelle, ‚plots’, in denen ge-

schichtliche und soziale Wirklichkeit in äußerster Verdichtung mimetisch-diegetisch gedeutet

wird. Dieser narratologische Mythos-Begriff hat seine prägnanteste Ausprägung in dem funk-

tionalistischen Mythos-Begriff HANS BLUMENBERGs gefunden. Danach sind Mythen Ge-

schichten, die modellhaft Konzepte bereitstellen für das Verhältnis des Menschen zu seinen

Erfahrungen, zur Welt und zu der Gesellschaft, in der er lebt; sie sind Antworten auf histori-

sche Erfahrungen, auch Defiziterfahrungen, und sie dienen als solche der Handlungsorientie-

rung, der Handlungslegitimation und der Begründung eines kollektiven Identitätsbewusst-

seins. In diesem Sinne weisen sie auch eine historische Dimension auf: veränderte Situationen

und neue Erfahrungen bedürfen anderer Antworten, neuer Konzepte. Sie müssen dabei stets

von Neuem auf ihre Leistungsfähigkeit befragt und den veränderten historischen Bedingun-

gen angepasst werden; BLUMENBERG spricht hier von der ‚Arbeit am Mythos’.

Dass sich der Mythos einer eindeutigen Definition entzieht, hängt mit einer Tatsache

zusammen, die jede Mythos-Diskussion problematisch macht: der Mythos an sich ist in kei-

nem Falle greifbar; vielmehr gibt es nur individuelle ‚poietische’ Spiegelungen des Mythos in

der Literatur, in der Kunst, in der Musik etc. Auch die ältesten greifbaren ‚poietischen’ Spie-

gelungen mythischer Überlieferung und die Fixierung oraler Traditionen konservieren diese

nicht naiv, sondern weisen bereits eine fruchtbare Dialektik auf zwischen der oft nur hypothe-

tischen mythischen Überlieferung und ihrer bewusst reflektierenden und variierenden ‚poieti-

256

schen’ Adaption im Zeichen des ‚logos’, um hier den traditionellen Gegenbegriff zum Mythos

aufzugreifen. Der ‚poietisch’ reflektierte Mythos ist stets zugleich interpretierter und instru-

mentalisierter Mythos. Wie Mythen auch immer definiert werden, es gibt letztlich nur die

bewusst schöpferische ‚Arbeit am Mythos’ und der Mythos fällt damit mit der Geschichte

seiner produktiven Rezeption zusammen.

Unter diesem Aspekt wird auch die Unterscheidung zwischen ‚überlieferten’ Mythen

und Mythenschöpfungen problematisch, erweist sich die Grenze zwischen Mythen, deren

‚Ursprung’ für uns ungreifbar bleibt, sich im Dunkel der Frühzeit verliert und meist nur hypo-

thetisch gesetzt ist, und Mythenschöpfungen, deren ‚Entstehung’ wir nachvollziehen können,

als unscharf. Das gilt ebenso für den spätantiken und mittelalterlichen Alexander-Mythos, wie

er in der Geschichte des Alexanderromans greifbar wird, wie für den genuin mittelalterlichen

Mythos von Perceval/Parzival und dem Gral oder die frühneuzeitlichen Mythen von Faust

und Don Juan, um nur einige Beispiele zu nennen. Zu Mythen sind diese Geschichten erst

durch ihre produktive Rezeption, eben durch die fortgesetzte ‚Arbeit am Mythos’ geworden.

Beschreiben lassen sich Mythen in diesem Sinne mit dem von GÉRARD GENETTE in

seinen Palimpsestes bereitgestellten Instrumentarium der Analyse intertextueller, insbesonde-

re hypertextueller Beziehungen, nämlich als Serien von Hypertexten, als fortgesetzte Überla-

gerung, ‚Überschreibungen’ von Texten.

Dies gilt auch für die Fälle von Mythenschöpfung, ‚mythopoiesis’, denen ich mich im

Folgenden zuwenden will, Mythenschöpfungen des 2o. Jahrhunderts: auf der einen Seite das

monumentale epische Werk des britischen Mediaevisten und Sprachhistorikers JOHN RONALD

REUEL TOLKIEN, auf der anderen Seite eine Serie von ‚Blockbustern’ des Hollywood-Kinos,

an deren Anfang GEORGE LUCAS’ erster Star Wars-Film steht: Star Wars – Episode IV: A

New Hope, 1977. Filme wie STEVEN SPIELBERGs Indiana Jones-Serie, seit 198o, oder die

Matrix-Trilogie der Brüder WACHOWSKI (1999-2oo3), aber auch die Hollywood-Verfilmung

von Tolkiens Lord of the Rings durch PETER JACKSON lassen sich hier anreihen.

Man mag sich fragen, was die in Tolkiens Erzählwerk und in den genannten Filmen

erzählten Geschichten zu Mythen macht. Denn keinesfalls handelt es sich um Mythenschöp-

fungen, die der Begründung eines ‚kollektiven Identitätsbewusstseins’ dienen, wie man das

bei frühneuzeitlichen Mythenschöpfungen – etwa bei Faust und Don Juan – doch wohl be-

haupten kann. Im Sinne der GENETTEschen Klassifikation handelt es sich – im Gegensatz zu

den immer wieder neu erzählten Geschichten vom trojanischen Krieg, von Siegfried und dem

Untergang der Burgunden, von Parzival und dem Gral, von Faust und von Don Juan oder den

zahllosen Versionen des Alexanderromans, durchweg Fälle einfacher ‚Transformationen’ –

bei TOLKIEN und den genannten Filmen um ‚indirekte Transformationen’, nämlich ‚Nachah-

mungen’. Sie erzählen nicht überlieferte, bekannte Geschichten neu, sondern ahmen Ge-

schichten dieser Art nach, kreieren neue Geschichten, die sich an bekannte Geschichten an-

lehnen, deren Motive und Strukturen aufgreifen. Die Grenze zwischen ‚ernsten’ und ‚komi-

schen Nachahmungen’ – ein weiteres GENETTEsches Kategorienpaar – ist dabei fließend.

Fasst man das ganze Spektrum der ‚komischen’ Formen der Hypertextualität ins Auge, die

GENETTE unterscheidet, darunter die ‚ironische’, die ‚spielerische’ und die ‚humoristische’

Variante, so weisen die genannten Texte (auch Filme lassen sich, bei einem umfassenden

Text-Begriff, als Texte begreifen), bei allem Ernst, alle mehr oder weniger in eine Richtung.

In allen genannten Fällen liegt ein souveränes Spiel mit Mythen und ihren Strukturen vor, ein

Spiel, das im Falle der Indiana Jones-Trilogie ironisch, im Falle von TOLKIENs erster publi-

zierter Erzählung – The Hobbit: or There and Back Again – aber auch in TOLKIENs Lord of

the Rings humoristisch ausfällt; humoristisch ganz im Sinne eines romantischen Humor-

257

Begriffs, bei dem „im Uneigentlichen noch das Eigentliche, oder umgekehrt das Eigentliche

noch in seinen uneigentlichsten Erscheinungsformen“ sichtbar wird1 und auch auf ganz unhe-

roische Figuren wie Bilbo und Samwise noch ein Abglanz des Heroischen fällt, selbst eine

tragikomische Figur wie Gollum noch eine entscheidende Funktion im welt- und heilsge-

schichtlichen Geschehen des Herrn der Ringe erhält. (The Hobbit war ohnehin für ein kindli-

ches Publikum bestimmt.) Offen sind in allen diesen Fällen auch die Grenzen zu anderen

Formen der Inter- beziehungsweise Transtextualität (in GENETTEs Definition): Intertextualität

im engeren Sinne – Allusionen auf bekannte Mythen und Mythenzitate nicht nur bei Tolkien,

sondern ebenso bei Indiana Jones oder in The Matrix; fingierte Paratextualität und Metatextu-

alität in TOLKIENs Erzählwerk (Rahmungen, Kommentare, textuelles Beiwerk unterschiedli-

cher Art) und Momente der Architextualität durch den Bezug auf ein Strukturmuster mythi-

schen Erzählens, dem in den letzten Jahrzehnten geradezu die Funktion einer Matrix zur Ge-

neration von Mythen (nicht nur in Hollywood) zukam und zukommt, einen Bezug, der allen

hier genannten Fällen von ‚mythopoiesis’ des 2o. Jahrhunderts gemeinsam ist. Gemeint ist

das von JOSEPH CAMPBELL entwickelte Modell der ‚Heldenreise’.

2.

JOSEPH CAMPBELL, prominenter Vertreter des amerikanischen ‚myth criticism’ oder

‚archetypal critcism’, einer Richtung der vergleichenden Mythenforschung, die unter anderem

durch C. G. JUNG inspiriert ist, und Schüler des in Oxford lehrenden deutschen Indologen

(und HOFMANNSTHAL-Schwiegersohnes) HEINRICH ZIMMER, CAMPBELL hatte in seinem zu-

erst 1949 erschienen Buch The Hero with a Thousand Faces ein mythisches Erzählmuster

herausgearbeitet, das er in den Mythologien und Literaturen aller Kulturen und Ethnien und

durch die Jahrhunderte hindurch nachweisen konnte und das er, aufgrund seiner Universalität,

als ‚Monomythos’, als den ‚einen’ und ‚einzigen Mythos’, den ‚Mythos aller Mythen’ gewis-

sermaßen, bezeichnete: den ‚Monoymythos’ von der ‚katabasis’, der ‚Unterweltsreise’ des

‚Helden’ – von ihm selbst folgendermaßen zusammengefasst2:

„Der Held verläßt die Welt des gemeinen Tages und sucht einen Bereich übernatürli-

cher Wunder auf, besteht dort fabelartige Mächte und erringt einen entscheidenden Sieg; dann

kehrt er mit der Kraft, seine Mitmenschen mit Segnungen zu versehen, von seiner geheimnis-

vollen Fahrt zurück.“

Konstitutiv für die Struktur dieses Mythos ist zweierlei:

(1) eine klare Topologie, charakterisiert durch den Gegensatz zweier Welten, der in unter-

schiedlicher Weise artikuliert sein kann: als Diesseits und Jenseits, als Reich über der Er-

de und unter der Erde, als umfriedetes Innen und feindliches Außen, als patriarchale und

matriarchale Gesellschaft, als Kultur und Natur, Zivilisation und Chaos, gesellschaftliche

Ordnung und Anarchie, als Leben und Tod. Dazwischen, trennend und verbindend zu-

gleich, eine Schwelle. Und

(2) eine mehr oder weniger feste Stationenfolge. Am Anfang steht eine ‚Mangelsituation’: die

Mächte des Jenseits bedrohen das Diesseits; es gibt Übergriffe (die Mächte des Jenseits

bringen, zum Beispiel, einen ‚heilskräftigen’ Gegenstand in ihre Gewalt). In dieser Situa-

tion ergeht an den Helden ein ‚Ruf’, der ihn an die Schwelle des Jenseits lockt; er nimmt

1 Käte Hamburger: der Humor bei Thomas Mann. Zum Joseph-Roman. 2. Aufl. München 1969, S. 23.

2 Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. Taschenbuchausg.: Frankfurt a. M. 1978 (= st, Band 424),

S. 36.

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den ‚Ruf’ an und überschreitet, trotz allen Warnungen, die Schwelle: eine Dislokation, auf

die eine Abenteuerfahrt folgt. Der Held – jetzt Vorkämpfer gegen die Mächte des Jenseits

– durchmisst eine ‚unterirdische’ Welt der Schrecken, besteht märchenhafte Ungeheuer –

eine Serie von ‚Prüfungen’ – und erringt schließlich den entscheidenden Sieg über die

Dämonen der jenseitigen Welt. Er kehrt dann – mit einer lebenspendenden Kraft versehen

(zum Beispiel dem verlorenen beziehungsweise geraubten Gegenstand) – in die obere

Welt zurück: eine zweite Dislokation, diesmal in umgekehrter Richtung; auf die ‚kataba-

sis’, den ‚Abstieg’ den ‚descensus ad inferos’, folgt die ‚resurrectio’, die ‚Auferstehung’

des Helden. Er kehrt als Heilsbringer zurück – die anfängliche ‚Mangelsituation’ ist auf-

gehoben.

Aus der Reihe der genannten Texte nur ein Beispiel: STEVEN SPIELBERGs zweiter In-

diana Jones-Film: Indiana Jones and the Temple of Doom, 1983:

Indiana Jones, als Archäologe einer der typischen Grenzgänger zwischen den Welten

(vergleichbar ist der Jäger: Typus Quatermain), Indiana Jones ist in einem indischen Dorf

gelandet. Aus dem Heiligtum des Dorfes ist ein wundertätiger Stein geraubt worden; damit ist

aller ‚Segen’ von dem Dorf genommen, die Bevölkerung leidet unter dem Verlust des heils-

kräftigen Gegenstandes, die Kinder des Dorfes sind verschwunden. Indiana ist dazu auserse-

hen, den Stein zurückzuholen; er nimmt diesen ‚Ruf’ an.

Es folgt ein Ortswechsel, die obligatorische Dislokation. Indiana und seine ‚Helfer’

Shorty und Willie gelangen auf der Suche nach dem wundertätigen Stein über verschiedene

Hindernisse an den Hof eines Maharaja, eines Kindkönigs, der von einem wenig vertrauener-

weckenden Wesir beherrscht wird. Im Palast gefangen, finden sie – nach mancherlei Aben-

teuern – den Weg in das ‚Herz der Finsternis’, den unterirdischen Tempel der Göttin Kali,

Zentrum eines grausamen Opferkults. Dort, in der Gewalt der ‚thug’-Sekte (ein stereotypes

Motiv in Indien angesiedelter Abenteuerfilme), der natürlich auch der Wesir angehört, befin-

det sich der geraubte Stein, zusammen mit anderen heiligen Steinen dieser Art, Steinen, die

jetzt in einem riesigen Totenschädel im Zentrum des Kali-Heiligtums aufleuchten.

In diesem unterirdischen Heiligtum wird Indiana Zeuge des Opferrituals der ‚thugs’.

Unter ekstatischen Tänzen wird einem der menschlichen Opfer vom Oberpriester bei lebendi-

gem Leibe das Herz aus dem Leib gerissen; anschließend wird sein Leib in einen kochenden

Lavastrudel hinabgesenkt. Indiana kann den geraubten Stein an sich bringen. Auf der Flucht

entdeckt er die verschleppten Kinder des Dorfes, die in einer unterirdischen Mine Schürf-

dienste leisten müssen. Bei dem Versuch, die Kinder zu befreien, wird er jedoch von seinen

Verfolgern überwältigt. Es folgt ein in mehrer Phasen gegliederter Kampf zwischen Indiana

und seinen Gegnern, verknüpft mit einer rasanten Verfolgungsjagd. Am Ende hat Indiana

Priester, Wesir etc. besiegt, sich, Shorty und Willie, aber auch den kindlichen Maharaja und

weiter die Kinder des Dorfes und den Stein befreit.

Es folgt ein erneuter Ortswechsel, diesmal in umgekehrter Richtung: die zweite Dislo-

kation. Indiana und seine Begleiter kehren in das Dorf zurück und liefern den Stein und die

Kinder ab. Damit mündet die Geschichte in ‚happy end’: die Wiederherstellung der anfangs

gestörten Ordnung.

Die Universalität diese CAMPBELLschen ‚Monomythos’ wird deutlich, wenn man ihn

mit anderen Ansätzen in Verbindung bringt: Ansätzen der formalistischen und strukturalisti-

schen Erzählforschung, Ansätzen der Psychoanalyse und Ansätzen der Ethnologie bezie-

hungsweise der Kulturanthropologie.

259

Ansätze der formalistischen und strukturalistischen Erzählforschung: gemeint sind

VLADIMIR PROPPs Morphologie des Märchens und ALGIRDAS JULIEN GREIMAS’ ‚mythisches

Transformationsmodell’.

VLADIMIR PROPP hatte in seinem zuerst 1928 erschienenen erzähltheoretischen

Hauptwerk – wissenschaftlichgeschichtlich ein entscheidendes Bindeglied zwischen den rus-

sischen Formalisten und dem französischen Strukturalismus – den Versuch gemacht, die

Struktur russischer Volksmärchen zu erfassen. Er beschrieb die Handlung typischer Volks-

märchen dabei als konstitutive Abfolge fester Funktionen, deren er maximal einunddreißig

unterschied und die er zu Strukturformeln verschiedener Märchentypen ordnete. Das Beispiel

des zweiten Indiana Jones-Filmes lässt sich dabei dem Typus des Märchens zuordnen, dessen

Handlung durch das ‚Funktionspaar’ ‚Kampf und Sieg des Helden’ bestimmt ist (Alternative:

die ‚Aufgabe’, der sich der Held konfrontiert sieht, und ihre ‚Lösung’). Strukturformel:

A B C ↑ Z K-S V-R Ü St L ↓ H

Die Formel ist leicht zu entschlüsseln:

Auf die ‚Schädigung’ [A] (die gestörte Ordnung; der Verlust des wundertätigen Stei-

nes) folgen die ‚Vermittlung’ [B] (der Ruf an den Helden) und die ‚einsetzende Gegenhand-

lung’ [C] (der Held nimmt den Auftrag an). Die ‚Abreise’ [↑] des Helden, die erste Dislokati-

on, führt ihn in die Gegenwelt. Die dort stattfindenden Kämpfe sind durch das Gegensatzpaar

‚Kampf und Sieg’ [K-S] und die ‚Lösung’ [L] bestimmt (Indiana kann den geraubten Stein an

sich bringen etc.). In diesem Zusammenhang spielen das Gegensatzpaar ‚Verfolgung und Ret-

tung’ [V-R] und die ‚Überführung’ [Ü] und ‚Bestrafung’ [St] des ‚Schädigers’ ebenso eine

Rolle wie ein ‚Zaubermittel’ [Z], das ambivalent sein kann (in Indiana Jones and the Temple

of Doom ein magischer Trank, der Indiana selbst zu einem Anhänger der ‚thugs’ macht; erst

das Licht einer Fackel, die Shorty ihm, höchst symbolisch, vor die Augen stößt, bringt ihn

wieder zur Vernunft). Es folgt die ‚Rückkehr’ [↓] des Helden, die zweite Dislokation, mit

dem ‚happy end’, der Wiederherstellung der gestörten Ordnung. Am Ende der Strukturformel

stehen bei Propp die Funktionen ‚Hochzeit’ und ‚Thronbesteigung’ [H]. Diese Elemente fin-

den sich in Indiana Jones and the Temple of Doom nur andeutungsweise: immerhin kann der

kindliche Maharaja den Thron besteigen und am Ende des Films steht ein Kuss zwischen In-

diana und Willie …

ALGIRDAS JULIEN GREIMAS hat in seiner Strukturalen Semantik PROPPs Ansatz weiter-

entwickelt. Er hat PROPPs einunddreißig Funktionen in seinem ‚mythischen Transformati-

onsmodell’ zusammengefasst. ‚Mythisch’ heißt dieses Modell mit Bezug auf den aristoteli-

schen Begriff des ‚mŷthos’ (‚mŷthos’ = ‚plot’), ‚Transformationsmodell’ wegen seiner spezi-

fischen Struktur, der ‚Transformation’ eines Ausgangszustandes in einen Endzustand.

GREIMAS reduziert die einunddreißig Funktionen PROPPs, ordnet sie paarweise an

und kategorisiert sie. Dabei arbeitet er mit folgenden Kategorien:

(1) ‚Kommunikation’ – gemeint im weitesten Sinne des gesellschaftlichen Handlungszusam-

menhangs, artikuliert in der Opposition von ‚Alienation vs. Reintegration’ (in symboli-

scher Schreibweise: C vs. C). ‚Alienation’ meint zum Beispiel einen ‚Verrat’, der eine

‚Mangelsituation’ bewirkt (in Indiana Jones and the Temple of Doom der Raub des wun-

dertätigen Steines mit seinen Folgen), ‚Reintegration’ meint die ‚Beseitigung des Man-

gels’, die ‚Bestrafung des Verräters’ etc.;

260

(2) ‚Kontrakt’, artikuliert als Opposition von ‚Bruch vs. Wiederherstellung (bzw. Etablierung)

des Kontraktes’ (in symbolischer Schreibweise: A vs. A). Wobei ‚Kontrakt’ die gesell-

schaftliche Ordnung in einem weitesten Sinne meint, die den gesellschaftlichen Hand-

lungszusammenhang – die ‚Kommunikation’ – garantiert.

GREIMAS beschreibt mit Hilfe dieser beiden Oppositionen die ‚narrative Ordnung einer

Geschichte’ als Prozess einer ‚Transformation’, nämlich als ‚Transformation’ eines Anfangs-

zustandes, der durch ‚Störung der Kommunikation’ (die ‚Mangelsituation’ ) gekennzeichnet

ist, in einen Endzustand der wiederhergestellten ‚Kommunikation’ (C als ‚Aufhebung der

Mangelsituation’ C). Die ‚Störung der Kommunikation’ kann dabei in einer Störung der ge-

sellschaftlichen Ordnung (‚Vertragsbruch’ ) bedingt sein. Damit ergibt sich die ‚Transforma-

tion’ A C → C A . Die ‚Transformation’ selbst ist die exemplarische ‚Leistung’ des Pro-

tagonisten der Geschichte, das Resultat seines Handelns. Sie lässt sich zunächst – dritte

GREIMAssche Kategorie – als

(3) ‚Prüfung’ beschreiben, bestehend aus der Folge von A = ‚Kontrakt’, F = ‚Kampf’ und c =

‚Konsequenz’. An den Helden ergeht der ‚Ruf’, er erhält einen ‚Auftrag’ (A); es folgen

‚Kampf und Sieg’ (F); durch seinen Sieg erscheint der ‚Gegenstand des Verrats oder

Mangels’ in seiner positiven Form: c. Also: A + F + c . – Schließlich eine letzte Katego-

rie:

(4) ‚Dislokation’: ‚Kampf und Sieg’ des Protagonisten sind in der Regel außerhalb der „vom

Unglück betroffenen Gesellschaft situtiert.“3 Gerade Indiana Jones and the Temple of

Doom ist ein schönes Beispiel für diese ‚Reise’ des Helden in eine ‚jenseitige’ Welt der

Abenteuer, aus der er am Ende siegreich zurückkehrt. Mit anderen Worten: der Sequenz F

+ c geht eine Dislokation d – ein Ortswechsel – voraus, und der Sequenz F + c folgt eine

zweite Dislokation des Helden in umgekehrter Richtung.

Formel des ‚mythischen Transformationsmodells’ mithin:

A C A + d + F + c + d C A .

Der solchermaßen als ‚Transformation’ beschriebene ‚Mythos’ (im aristotelischen

Sinne) lässt eine zweifache Interpretation zu; er kann

(1) als ‚Mythos der akzeptierten gegenwärtigen Ordnung’ interpretiert werden, d. h. im zykli-

schen Sinne als Wiederherstellung einer gestörten Ordnung; aber auch

(2) als ‚Mythos der abgelehnten gegenwärtigen Ordnung’, d. h. in einem projektiven Sinne,

als Projektion einer Heilsverheißung – als Herstellung einer neuen Ordnung der Welt, in

der die Mängel der alten Ordnung aufgehoben sind.

Die psychoanalytische Deutung des CAMPBELLschen ‚Monomythos’ ist bei dem durch

C. G. JUNG inspirierten CAMPBELL selbst angelegt. Der ‚Monomythos von der ‚katabasis’ des

Helden verläuft analog zu C. G. JUNGs ‚Prozess der Individuation’, dem Prozess der ‚Selbst-

werdung des Helden’, einem Differenzierungsprozess, dessen Ziel das ‚Selbst’ als ‚Einheit’

und ‚Ganzheit’ der Persönlichkeit ist, die Bewusstsein und ‚Unbewusstes’ einschließt. Der

Weg zum ‚Selbst’ führt über die Auseinandersetzung dese ‚Ich’ mit dem ‚individuellen’ und

‚kollektiven Unbewussten’, über die Auseinandersetzung vor allem des ‚Ich’ mit den ‚Arche-

typen des kollektiven Unbewussten’; gemeint sind die dem ‚kollektiven Unbewussten’ inhä-

renten Aktions- und Reaktionsmuster, ‚Bereitschaftssysteme’, die das seelische Leben ordnen,

3 Algirdas Julien Greimas: Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen. Braunschweig 1971, S. 183.

261

strukturieren und organisieren und die Gestalt annehmen in ‚archetypischen Bildern und

Symbolen’ – in Träumen und Phantasien, in Mythen und Märchen, in Literatur und Kunst.

Der ‚Abstieg’ gewissermaßen des ‚Ich’ in die Tiefenschichten der Psyche und die Auseinan-

dersetzung des ‚Ich’ mit den ‚Archetypen des kollektiven Unbewussten’ korrespondiert der

Jenseitsreise des Helden mit ihren Kämpfen; die ‚Selbstwerdung des Ich’ korrespondiert der

Wiederherstellung der gestörten beziehungsweise der Etablierung einer neuen Ordnung durch

den Helden.

Nahe liegt hier auch die Nähe zu FREUDs Theorie der ‚Ich-Bildung durch Regression’,

der Festigung und Bestätigung der ‚Ich’ in der Auseinandersetzung mit dem ‚Es’ – auch dies

eine ‚katabasis’ in eine seelische ‚Unterwelt’. Hier nur noch der Hinweis auf FREUDs „Fort-

Da-Spiel“, das TERRY EAGLETON folgendermaßen beschreibt: 4

„Als Freud seinem Enkel einmal beim Spielen im Kinderwagen zusah, beobachtete er

ihn dabei, wie er ein Spielzeug aus dem Kinderwagen warf und dabei ‚fort!’ rief, um es dann

mit dem Ruf ‚da!’ an einer Schnur wieder hineinzuziehen. Dies – das berühmte Fort-da-Spiel

– interpretierte Freud in Jenseits des Lustprinzips (192o) als die symbolische Bewältigung der

Abwesenheit der Mutter durch das Kind: aber es kann auch als das erste Aufflackern des Ge-

schichtenerzählens gesehen werden. Fort-da ist vielleicht die kürzeste Geschichte, die man

sich ausdenken kann. Ein Objekt wird verloren und dann wieder gefunden. Aber auch die

komplizierteste Erzählung kann als Variation dieses Modells gelesen werden: das Grundmus-

ter der klassischen Erzählung besteht darin, daß eine ursprüngliche Anordnung zerstört wird,

um dann letztendlich wiederhergestellt zu werden. So gesehen ist das Geschichtenerzählen

eine Quelle des Trostes: der Verlust eines Objekts macht und Angst, da er bestimmte tiefer-

liegende unbewußte Verlusterfahrungen symbolisiert […], und es ist stets angenehm, etwas

wieder sicher an seinem angestammten Platz zu finden. […] Damit eine Geschichte sich

überhaupt entwickeln kann, muß irgendetwas verloren oder abwesend sein: wenn alles an

seinem Ort bliebe, gäbe es nichts zu erzählen.“

Unter ethnographischem beziehungsweise kulturanthropologischem Aspekt kann

CAMPBELLs ‚Monomythos’ als Initiation beschreiben werden – auch diese Deutung ist bei

Campbell selbst angelegt. Gemeint sind die Rituale, die den Heranwachsenden bei seinem

Übergang ins Erwachsenenalter, aus der ungeschichtlichen Welt des Kindes in die geschicht-

liche Welt der Erwachsenen, aus der Unmündigkeit in die Mündigkeit begleiten; Rituale, die

mit außergewöhnlichen Anforderungen an die Initianden verbunden sind: Mut- und Standhaf-

tigkeitsproben, Prüfungen etc. ARNOLD VAN GENNEP ordnete diese Rituale, die einen Prozess

der Enkulturation und Sozialisation des Individuums begleiten, den ‚Übergangsriten’, den

‚rites de passage’ zu, deren quasi-dramatische Gestaltung in drei Phasen – ‚séparation’ (die

Loslösung vom alten Status, meist verbunden mit einer Ausgliederung des Initianden aus der

Gesellschaft), ‚marge’ (die Übergangszeit, die der Initiand in einem Raum außerhalb der Ge-

sellschaft verbringt) und ‚agrégation’ (die Einführung in den neuen Status, die Wiedereinglie-

derung des Initianden in die Gesellschaft) wiederum in der Abenteuer- und Jenseitsreise des

Helden mit ihrer doppelten Dislokation ihr mythisches Analogon besitzt.

4 Terry Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie. 2. Aufl. Aus dem Englischen von Elfi Bettinger und Elke

Hentschel. Stuttgart 1992 (= Slg Metzler, Band 246), S.177.

262

3.

Der hypertextuelle Bezug der TOLKIENschen ‚mythopoiesis’ und der genannten

‚Blockbuster’ des Hollywood-Kinos auf das von CAMPBELL entwickelte Modell des ‚Mono-

mythos von der katabasis des Helden’, die ‚indirekte Transformation’ beziehungsweise

‚Nachahmung’ dieses Modells sieht bei den einzelnen genannten Texten sehr unterschiedlich

aus.

TOLKIEN hat erwiesenermaßen CAMPBELL nicht gekannt. Das geht schon aus der

Chronologie der Werke hervor. Ausgangspunkt der Tolkienschen ‚mythopoiesis’ ist die ‚glot-

topoiesis’, die Erfindung von Sprachen. TOLKIEN war von Haus aus Philologe, Philologe im

strengen Sinne des Wortes und ganz in der Tradition des 19. Jahrhunderts. Er war Sprachhis-

toriker, Etymologe, Lexikograph des Alt- und Mittelenglischen, Editor, Übersetzer und

Kommentator alt- und mittelenglischer Texte. Seine Beschäftigung mit Sprachgeschichte und

Philologie reicht bis in seine Schulzeit zurück. Bereits der Schüler TOLKIEN las die Denkmä-

ler der alt- und mittelenglischen Literatur in der Originalsprache, lernte Kymrisch, Gotisch

und Altnordisch und beschäftigte sich mit der Erfindung künstlicher Sprachen, denen er wie-

derum – eine Steigerung dieses Spiels –, in Analogie zu den ihm bekannten historischen

Sprachen, künstliche Vorstufen und verwandte Dialekte zuordnete. Die entscheidende Er-

kenntnis, zu der TOLKIEN bei diesen philologischen und linguistischen Spielen kam, war die

Einsicht, dass die Erfindung einer Sprache an sich nicht möglich sei, sondern „daß es sich zur

perfekten Konstruktion einer Sprache als nötig erweist, wenigstens im Grundriß auch eine ihr

zugeordnete Mythologie zu konstruieren.“5 Spracherfindung und ‚mythopoiesis’ seien un-

trennbar miteinander verbunden: „Die Sprachkonstruktion wird eine Mythologie gebären.“6

Das exakt ist der Ausgangspunkt für die Entstehung des TOLKIENschen Erzählwerkes.

Zu TOLKIENs Lebzeiten waren nur The Hobbit und der Herr der Ringe erschienen,

zwei sehr unterschiedliche Werke, das eine ein Kinderbuch, das andere ein groß angelegtes

Epos, in dessen Mittelpunkt ein Kampf um den Fortbestand der Schöpfung steht – der Welt

und ihrer Geschöpfe –, ein Werk, das als Idylle beginnt und zunehmend apokalyptische und

eschatologische Züge annimmt. Weitere Werke erschienen posthum, zunächst The Silmarilli-

on, eine Sammlung von Ezählungen, die den mythologischen und historiographischne Rah-

men abstecken, in dem der Hobbit und der Herr der Ringe stehen. Es folgten die Unfinished

Tales als Ergänzungen zum Silmarillion und schließlich die zwölf Bände der History of Midd-

le-earth, eine im wesentlichen unter entstehungsgeschichtlichen Gesichtspunkten geordnete

und kommentierte Edition sämtlicher Vorstufen des Herrn der Ringe und des Silmarillion, zu

denen noch ein dreizehnter, das Gesamtwerk abschließender Registerband kommt.

Die Handlung des Hobbit und des Herrn der Ringe folgt dem Muster der ‚Heldenrei-

se’, wie CAMPBELL sie beschrieben hat. TOLKIEN, ein hervorragender Kenner nicht nur der

altenglischen und der altnordischen Literatur, sondern auch der Mythologien und Literaturen

der Antike und des Mittelalters und der Literatur des englischen ‚medievalism’ des 19. Jahr-

hunderts, war offensichtlich unabhängig von CAMPBELL zum gleichen Ergebnis gekommen

wie dieser. Im Herrn der Ringe gibt es dabei zwei ‚Heldenreisen’:

(1) auf der einen Seite die ‚Heldenreise’ Aragorns, die heroische Variante dieses Handlungs-

modells mit dem Ziel der Wiedergewinnung des verlorene Königreichs, eine ‚Heldenrei-

se’, die durch das PROPPsche Gegensatzpaar ‚Kampf und Sieg’ bestimmt ist und mit

5 J. R. R. Tolkien: Ein heimliches Laster. In: J. R. R. Tolkien: Gute Drachen sind rar. Drei Aufsätze. Hrsg. von

Christopher Tolkien. Aus dem Englischen von Wolfgang Krege. Stuttgart 1984, S. 7-49; hier: S. 29. 6 Ebenda, S. 3o.

263

‚Thronbesteigung’ und ‚Hochzeit’ endet. Überlagert wird diese ‚Heldenreise’ durch das

‚hero pattern’ mit seinen typischen Stationen: die hohe Abkunft des Kindes, die tödliche

Gefahr für das Neugeborene und seine Jugend bei Ersatzeltern; die Bewährung des noch

Unerkannten im heroischen Kampf; die Waffe, die der Held gewinnt beziehungsweise zu-

rückgewinnt, die Bewährung in weiteren Kämpfen und der Sieg als Bestätigung der hohen

Abkunft; das Offenbarwerden der Identität des Helden, der am Ende das väterliche Erbe

antritt – Stationen auch im Leben Aragorns. Auch hier liegt eine ‚indirekte Transformati-

on’ im Sinne GENETTEs vor;

(2) die zweite ‚Heldenreise’ ist die Frodos, eine ‚negative Heldenreise’ in einem doppelten

Sinne, denn einmal ist sie die Abenteuerreise des unheroischen Antihelden; zum anderen

wird hier nicht ein verlorener heilbringender Gegenstand zurückgewonnen, sondern ein

gefährlicher Gegenstand vernichtet. Am Ende dieses Handlungsstrangs steht, nach zahl-

reichen Prüfungen, die Vernichtung des ‚Rings der Macht’.

Die Hypotexte, aus denen die ‚Heldenreisen’ in TOLKIENs Romanen im Sinne einer

‚indirekten Transformation’ abgeleitet sind, sind die Erzählungen der ‚matière de Bretagne’

mit der Grals-Queste und die im Kontext des englischen ‚medievalism’ und des britischen

Kolonialismus entstandenen ‚romances’ und Abenteuerromane WILLIAM MORRIS’ und SIR

HENRY RIDER HAGGARDs. Daneben weist TOLKIENs Werk intertextuelle Bezüge – Allusionen

und Zitate – zu zahlreichen anderen Werken auf:

Das zentrale Motiv des ‚Rings der Macht’ hat Vorbilder in SNORRI STURLUSONs [Jün-

gerer] Edda und in WAGNERs Ring-Tetralogie; der kosmische Zyklus von der Schöpfung bis

zu den ‚eschata’, der den Rahmen der ‚Geschichte von Mittelerde’ bildet, hat Parallelen in der

christlichen Mythologie, aber auch in der altnordischen Völuspá und wiederum in WAGNERs

Ring des Nibelungen; der Dualismus, der die Mythologie von ‚Mittelerde’ bestimmt, in der

Gnosis, aber auch im Werk von TOLKIENs Oxforder Kollegen C. S. LEWIS. Einzelne Motive –

sie können hier nicht en détail aufgeführt werden – sind der gälischen und kymrischen Mytho-

logie und Literatur nachgebildet (die Elbenwanderung, die Sukzession der Völker von ‚Mit-

telerde’, die fiktive Quelle des Red Book of Westmarch) oder dem altenglischen Béowulf (un-

ter anderem die Ents, der Kampf mit dem Drachen und der Drache als Schatzhüter) und der

Battle of Maldon (die Schlacht auf dem Pelennor), SNORRI STURLUSONs [Jüngerer] Edda, der

Völsunga saga und den Liedern der Edda (das Motiv des geborstenen und wieder zusammen-

gefügten Schwertes, die Nomenklatur der Zwerge und der Geschwisterinzest) entnommen;

das Motiv des ‚Waldläufers’ (Aragorn als Striker) stammt aus den Íslendinga sögur. Dazu

kommen Motive aus Werken des 19. Jahrhunderts, außer den bereits genannten auch aus ELI-

AS LÖNNROTs Kalevala.

Insgesamt handelt es sich um das virtuose intertextuelle Spiel eines gelehrten Mediae-

visten mit Mythen und mythischen Motiven – und mit dem Handlungsmuster der ‚Heldenrei-

se’, dessen mythengenerierende Kraft TOLKIEN unabhängig von (und etwa gleichzeitig mit)

CAMPBELL entdeckte.

4.

Ganz anders die ‚Blockbuster’ des Hollywood-Kinos, an deren Anfang Star Wars –

Episode IV steht. Den entstehungsgeschichtlichen Rahmen der ersten Star Wars-Trilogie bil-

dete die Krise des Hollywood-Kinos, die sich seit den 5oer Jahren abzeichnete. Die Zuschau-

errekorde schwanden, als das Fernsehen zum vorrangigen Unterhaltungsmedium wurde und

die in New York ansässige TV-Industrie mit dem Aufbau eigener Stars, Genres und Monopo-

264

le begann. Die Familie war als Zielgruppe nicht mehr aktuell. Mit technischen Mätzchen wie

3-D oder Innovationen wie CinemaScope sowie dem vollständigen Übergang zum Farbfilm,

versuchte Hollywood, kurzfristig auf die Krise zu reagieren. Diese Versuche scheiterten.

In dieser Situation hatte GEORGE LUCAS, der sich bereits während seines Studiums mit

CAMPBELLs Hero with a Thousand Faces beschäftigt hatte, die zündende Idee, unter Rück-

griff auf CAMPBELLs ‚Monomythos’ einen ‚modernen Mythos’, ein populäres Kino-Märchen

zu kreieren, im festen Glauben an den Erfolg dieser an ein universales Erzählmuster ange-

lehnten ‚mythopoiesis’. Und er sollte Recht behalten.

Star Wars – Episode IV, seine zwei ‚sequels’ und die späteren ‚prequels’ halten sich in

geradezu naiver Weise an den CAMPBELLschen ‚Monomythos’ und zeichnen seine Stationen 1

: 1 nach – ein Akt der schnörkellosen ‚Nachahmung’ im Sinne GENETTEs. Hier nur das Bei-

spiel von Star Wars – Episode IV:7

„Die ‚Imperial Forces’ wollen das Weltall unterjochen.“ Die schöne Prinzessin Leia,

die im Besitz der „Konstruktionspläne des ‚Todessterns’“ ist, der „Machtbasis des ‚Imperi-

ums’“, gerät in die Gefangenschaft Lord Darth Vaders – eine ‚Schatten’-Figur schon in ihrer

physischen Erscheinung. In dieser Situation ergeht der Ruf an den jungen Luke Skywalker,

dem der greise „Laserstrahl-Ritter“ Obi-Wan Kenobi seine Fähigkeiten und Ideale vermitteln

konnte. Luke und Obi-Wan Kenobi, begleitet von zwei Robotern, machen sich auf, die Prin-

zessin zu befreien. „Luke chartert das Piraten-Raumschiff des zynischen Han-Solo und seines

Co-Piloten, des Affen Chewbacca, und nimmt gemeinsam“ mit seine Begleitern „den Kampf

gegen die Mächte der Finsternis auf. […] Mit todesmutigem Einsatz gelingt es ihm, die Prin-

zessin zu befreien und den gefährlichen Stern [den ‚Todesstern’] zu vernichten.“ Nur der Bö-

sewicht Lord Darth Vader entkommt – Anknüpfungspunkt des ‚sequels’.

Diese an CAMPBELLs ‚Monomythos’ angelehnte Geschichte lässt sich unschwer mit

den Kategorien Propps und Greimas’ beschreiben; sie lässt sich als ‚Prozess der Individuati-

on’ im Sinne C. G. JUNGs (mit Lord Darth Vader als ‚Schatten’, Leia als ‚Anima’, Obi-Wan

Kenobi als ‚Vater-Archetypus’) oder als elaboriertes ‚Fort-Da-Spiel’ interpretieren. Und auch

die Analogie zu den ‚rites de passage’ ARNOLD VAN GENNEPs ist deutlich.

Ein ‚moderner’ Mythos ist Star Wars insofern, als sich hier die naive ‚Nachahmung’

des CAMPELLschen ‚Monomythos’ mit Motiven des ‚science fiction’ verbindet. LUCAS selbst

spricht von einem „Märchen“, „zeitversetzt um einige Jahrtausende. Die Übertechnisierung

der Welt mischt sich mit naivem Kinderglauben.“8 Der Film setzt die „naiven Strukturen“ des

Mythos „mit ungeheurer technischer Raffinesse ins Bild. Aus dieser Diskrepanz entsteht der

eigentümliche Reiz des Films“9, in dieser Diskrepanz gründet sein ungeheurer Erfolg.

Einen Schritt weiter ging STEVEN SPIELBERG mit der Serie seiner Indiana-Jones-

Filme. An die Stelle der naiven ‚Nachahmung’ trat hier das ironische Spiel mit dem mythi-

schen Handlungsmuster. Während Lucas den CAMPELLschen ‚Monomythos’ mit dem Genre

des ‚science fiction’ verknüpfte, machte Spielberg die konstitutive Bedeutung des Struktur-

models der ‚Heldenreise’ für die traditionellen Genres des Abenteuerromans und des Aben-

teuerfilms sichtbar. Er zitierte dabei auch den historischen Kontext, in dem diese Genres aus-

gebildet wurden und in dem ihre Geschichten angesiedelt sind, nämlich den des europäischen

7 Zitate: Reclams Filmführer. Von Dieter Krusche unter Mitarbeit von Jürgen Labenski und Josef Nagel. 11., neu

bearbeitet Aufl. Stuttgart 2ooo, S. 637. 8 Ebenda.

9 Ebenda, S. 638.

265

Kolonialismus und Imperialismus, und die rassistischen und sexistischen Implikationen dieser

Genres.

LUCAS und SPIELBERG hatten gewissermaßen das Potenzial des CAMPBELLschen Mo-

nomythos entdeckt – das Potenzial einer Matrix für die Generation immer neuer kinematogra-

phischer Mythen. Die Matrix-Trilogie der Brüder Wachowski ist nur ein weiteres Beispiel.

Auf LUCAS’ und SPIELBERGs ‚Entdeckung’ schließlich basiert der zuerst 1992 erschienene,

inzwischen mehrfach überarbeitete und in zahlreiche Sprachen übersetzte Bestseller des ame-

rikanischen Drehbuchautors und -beraters CHRISTOPHER VOGLER – er war viele Jahre lang in

den Stoffentwicklungsabteilungen der Disney Studios, der Twentieth Century Fox und der

Warner Brothers tätig und lehrte an den Filmabteilungen der University of Southern Califor-

nia in Los Angeles; Titel: The Writer’s Journey. Mythic Structure for Writers (Titel der zuerst

1997 erschienene deutschen Ausgabe: Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Über die mytho-

logischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgskinos). Der Untertitel macht den An-

spruch des Autors deutlich: das Buch soll eine Anleitung sein zum Schreiben eines erfolgrei-

chen Drehbuchs auf der Grundlage des von CAMPBELL beschriebenen ‚Monomythos’, auf

dessen universelle Gültigkeit sich auch VOGLER beruft.

Außer auf CAMPBELL bezieht sich VOGLER auch auf die letztlich aus der Poetik des

ARISTOTELES abgeleitete Drei-Akt-Struktur des kommerziellen Films, wie sie unter anderem

SYD FIELD in seinen Drehbuchratgebern herausgearbeitet hat, und auf C. G. JUNGs Archety-

penlehre.

VOGLER gliedert die ‚Reise des Helden’ in insgesamt zwölf verschiedene `Stationen’,

Phasen – eine Konkretisierung des CAMPBELLschen ‚Monomythos’:

(1) die ‚gewohnte Welt’: der Ausgangspunkt der Handlung – im Gegensatz zur ‚Welt der

Abenteuer’;

(2) der ‚Ruf des Abenteuers’: der ‚Ruf’, der an den ‚Helden’ ergeht;

(3) die ‚Weigerung’: der ‚Held’ zögert zunächst, den ‚Ruf’ anzunehmen;

(4) die ‚Begegnung mit dem Mentor’, einer wichtigen ‚Helfer’-Figur, einem väterlichen

Lehrer oder Begleiter des ‚Helden’, benannt nach dem greisen Erzieher des junge Tele-

machos in Homers Odyssee;

(5) das ‚Überschreiten der ersten Schwelle’: die entscheidende ‚Dislokation’;

(6) die ‚Bewährungsproben’: der ‚Held’ gewinnt ‚Verbündete’; es kommt zu ersten Ausei-

nandersetzungen mit ‚Feinden’;

(7) das ‚Vordringen zur tiefsten Höhle’, dem Ort der letzten und entscheidenden ‚Prüfung’;

(8) die ‚entscheidende Prüfung’;

(9) die ‚Belohnung’: der ‚Held’ hat sein Ziel erreicht;

(10) der ‚Rückweg’, verbunden mit Motivfolgen wie ‚Flucht und Verfolgung’ und Rück-

schlägen;

(11) die ‚Auferstehung’: der ‚Held’ entkommt der ‚Welt der Abenteuer’ – die zweite Dislo-

kation; schließlich

(12) die ‚Rückkehr mit dem Elixier’: die Rückkehr des ‚Helden’ in die ‚gewohnte Welt’;

damit verbunden sein kann die Rückführung eines geraubten, eines heilbringenden Ge-

genstandes (der Stein in Indiana Jones and the Temple of Doom), etwa auch – daher

VOGLERs Bezeichnung dieser Station – eines lebenspendenden ‚Elixiers’, eines das

‚ewige Leben’ garantierenden Trankes (z. B. in Indiana Jones and the Last Crusade).

266

Dabei entsprechen die Phasen (1) bis (4), bis zum ‚Überschreiten der ersten Schwelle’

dem ersten, die Phasen (5) bis (9), die Phasen der ‚Prüfung', dem zweiten und die Phasen (1o)

bis (12), der ‚Rückweg’, dem dritten ‚Akt’ in der Drei-Akt-Struktur SYD FIELDs.

Die ‚Reise des Helden’ ist für auch für VOGLER nicht nur im vordergründigen Sinne

die Abenteuerreise etc.; sie ist ebenso – im Sinne des ‚Prozesses der Individuation’ bei C. G.

JUNG – Metapher eines Weges des ‚Helden’ zu sich selbst, eines Selbstfindungsprozesses,

und damit das Strukturmodell des (erfolgreichen) Spielfilms schlechthin. Inzwischen liegt,

mit MAUREEN MURDOCKs Weg der Heldin (The Heroine’s Journey) auch eine ‚feministische’

Variante der VOGLERschen ‚Reise des Helden’ vor.

Getragen wird dieses Strukturmodell von Figuren, denen bestimmte Handlungsfunktio-

nen zukommen, und die Vogler als Archetypen bezeichnet. Zu den zwölf Stationen der ‚Hel-

denreise’ kommen insgesamt sieben ‚Archetypen’:

(1) der ‚Held’;

(2) der ‚Mentor’. Er ist eine wichtige ‚Helfer’-Figur, eine Art Lehrer oder väterlicher Rat-

geber des ‚Helden’; ein typisches Beispiel ist Obi-Wan Kenobi, der ‚Mentor’ Luke

Skywalkers. Im JUNGschen Sinne ist der ‚Mentor’ ein Repräsentant des ‚Vater-

Archetypus’, der das ‚Ich’ auf seinem Weg zu sich selbst ein Stück weit helfend beglei-

tet, von dem das ‚Ich’ sich dann aber lösen muss – im Extremfall in einer kämpferischen

Auseinandersetzung –, um zu sich selbst zu finden;

(3) der ‚Herold’, der dem ‚Helden’ den ‚Ruf’ überbringt, den Auftrag, und damit die Hand-

lung in Gang setzt;

(4) der ‚Schwellenhüter’: der Wächter gewissermaßen an der ersten ‚Schwelle’ zur ‚Welt

der Abenteuer’, der erste Gegenspieler des ‚Helden’;

(5) der ‚Schatten’ als der eigentliche Gegenspieler des ‚Helden’. Bei JUNG ist dieser Schat-

ten die Verkörperung der dunklen und inferioren Aspekte der Persönlichkeit, die Reprä-

sentation des Verdrängten und Schuldhaften, dessen Überwindung bzw. Integration zum

‚Prozess der Individuation’ gehört;

(6) der ‚Gestaltwandler’, eine Figur, deren Funktion (teilweise sogar mehrfach) wechselt:

der als ‚Helfer’ getarnte ‚Opponent’ oder, umgekehrt, der scheinbare Gegenspieler, der

sich im entscheidenden Moment als ‚Helfer’ erweist, beziehungsweise der ‚Opponent’,

der zum ‚Helfer’ wird; schließlich

(7) der ‚Trickster’, der ‚listenreiche Helfer’, der in jeder Situation – und sei sie noch so ge-

fährlich – einen Ausweg weiß.

VOGLER will diese ‚Archetypen’ nicht nur filmdramaturgisch (als Träger der Handlung)

verstanden wissen, er misst ihnen zugleich – im JUNGschen Sinne – eine psychologische Be-

deutung zu. Dass er dabei JUNG stark vereinfacht, muss nicht eigens hervorgehoben werden.

Tatsächlich handelt es sich – wie schon gesagt – um Handlungsfunktionen, wie sie in ver-

gleichbarer Weise schon ETIENNE SOURIAU in seinen Deux cent mille situations dramatiques

(195o) und GREIMAS in seinem ‚mythischen Aktantenmodell’ herausgearbeitet hatte.

SOURIAU unterschied sechs mögliche ‚Situationsfunktionen’:

(1) ‚la force orientée’ (die ‚zielgerichtete Kraft’) [Fo]: das in der Regel durch eine Figur ver-

körperte, auf ein Ziel gerichtete Begehren oder leidenschaftliche Streben: Liebe, Ehrgeiz,

Machtstreben usw.;

267

(2) ‚le bien souhaité’ (das ‚gewünschte Gut’) [Bs]: das Gut, nach dem Fo strebt. Dieses Gut

braucht nicht unbedingt in einer Figur verkörpert zu sein, es kann sich auch um unpersön-

liche Güter handeln, etwa Freiheit oder Gerechtigkeit;

(3) ‚l’obtenteur souhaité’ (der ‚gewünschte Erwerber’) [Os]: die Figur, für die Fo den Besitz

von Bs ersehnt: in Indiana Jones and the Temple of Doom will Indiana Jones (Fo) den ge-

raubten Stein (Bs) den Bewohnern des indischen Dorfes (Os) zurückbringen;

(4) ‚opposant’ (der ‚Gegner’) [Op]: der Gegner von Fo, der es verhindern will, dass Os in den

Besitz von Bs gelangt;

(5) ‚l’adjuvant’ (der ‚Helfer’) [Ad]: eine Figur, die die ‚force orientée’ unterstützt. Im Falle

des Indiana-Jones-Films Shorty und bis zu einem gewissen Grade auch Willie, später

auch der kindliche Maharaja; schließlich

(6) ‚l’arbitre de la situation’ (der ‚Situationsmächtige’) [Ar]: die Figur, die über den Ausgang

des Konflikts zwischen Fo und Op entscheidet. So verfügt in Indiana Jones and the Temp-

le of Doom über den von Indiana (Fo) gesuchten Stein (Bs) zunächst der Oberpriester der

Kali (Op + Ar), und erst nach einem harten Kampf, in dem er den Oberpriester und seine

Helfer besiegt, kann Indiana den Stein an sich bringen; jetzt verkörpert Indiana nicht nur

Fo, sondern auch Ar – Voraussetzung dafür, dass er den Stein schließlich den Bewohnern

des Dorfes (Os) zurückgeben kann.

GREIMAS hat SOURIAUs Modell der ‚Situationsfunktionen’ in seiner Strukturalen Sem-

antik weiterentwickelt; Ergebnis ist das ‚mythische Aktantenmodell’ – Pendant des ‚mythi-

schen Transformationsmodells’. Als ‚Aktanten’ bezeichnet GREIMAS die Handlungsfunktio-

nen. Er unterscheidet sechs ‚Aktanten’, die den sechs ‚Situationsfunktionen’ SOURIAUs ent-

sprechen und die er in Form dreier Oppositionen ordnet, nämlich:

(1) ‚Subjekt vs. Objekt’ (= Fo vs. Bs);

(2) ‚Adressant vs. Adressat’ (= Ar vs. Os) ;

(3) ‚Adjuvant vs. Opponent’ (= Ad vs. Op).

Das ‚Objekt’ ist dabei zunächst das ‚Objekt des Begehrens’, auf das das ‚Subjekt’ ab-

zielt. Die Relation zwischen ‚Subjekt’ und ‚Objekt’ ist eine ‚quête’, eine Suche. Daraus ergibt

sich die ‚Achse des Begehrens’ – Indiana Jones auf der Suche nach dem heiligen Stein ... Das

‚Objekt’ ist aber auch Objekt einer ‚Kommunikation’ und als solches zwischen einem ‚Adres-

santen’ und einem ‚Adressaten’ situiert. Damit ergibt sich die ‚Achse des Kommunikation’ –

Indiana Jones kann am Ende der Filmhandlung den Bewohnern des indischen Dorfes den

Wunderstein zurückgeben. Er ist der ‚Adressant’, die Bewohner des Dorfes sind der ‚Adres-

sat’. ‚Subjekt’ und ‚Objekt’, ‚Adressant’ und ‚Adressat’ sind dabei ‚primäre Aktanten’, ‚Ad-

juvant’ und ‚Opponent’ – ‚Helfer’ und ‚Gegenspieler’ – dagegen ‚sekundäre Aktanten’, die

als ‚Circumstanten’ auf das ‚Subjekt’ bei seiner ‚quête’ einwirken. Daraus ergibt sich das

‚mythische Aktantenmodell’:

Adressant Objekt Adressat

‘quête’

Adjuvant Subjekt Opponent

268

GREIMAS’ ‚mythisches Aktantenmodell’ und sein ‚mythisches Transformationsmodell’

sind aufeinander bezogen, insofern das ‚Objekt des Mangels’ im ‚Transformationsmodell’ mit

dem ‚Objekt des Begehrens’ im ‚Aktantenmodell’ identisch ist und die Transformation nichts

anderes ist, als die erzählerische Durchführung der ‚quête’ des ‚Aktantenmodells’.

Zurück zu VOGLER. Die Odyssee des Drehbuchschreibers bildet die Summe der Er-

fahrungen Hollywoods mit CAMPBELLs ‚Monomythos’. Seine Anleitung zum Schreiben eines

erfolgreichen Drehbuchs hat die folgenreiche Entdeckung GEORGE LUCAS’ und STEVEN

SPIELBERGs für die Generation immer neuer Kino-Mythen nutzbar gemacht. Es dürfte heute

kaum ein Drehbuchseminar geben, in denen VOGLERs Odyssee des Drehbuchschreibers nicht

eine wesentliche Diskussionsgrundlage darstellt. Dies verdeutlicht einmal mehr die ungebro-

chene Kraft des Mythos und der ‚mythopoiesis’ – auch im 2o. Jahrhundert und darüber hin-

aus.

Literatur:

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FIELD, Syd: Das Handbuch zum Drehbuch. Übungen und Anleitungen zu einem guiten Drehbuch. Frankfurt a.

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VAN GENNEP, Arnold: Übergangsriten. Aus dem Französischen von Klaus SCHOMBURG und Sylvia M.

SCHOMBURG-SCHERFF. Mit einem Nachwort von Sylvia M. SCHOMBURG-SCHERFF. Frankfurt a. M. /

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GENETTE, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a.M. 1993 (= edition suhrkamp, band

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GIESEN, Rolf: Krieg der Sterne. In: Film-Klassiker. Beschreibungen und Kommentare. Hrsg. von Thomas

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GREIMAS, Algirdas Julien: Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen. Braunschweig 1971.

KRUSCHE, Dieter (Hrsg.): Reclams Filmführer. Unter Mitarbeit von Jürgen LABENSKI und Josef NAGEL.

11., neu bearbeitet Aufl. Stuttgart 2ooo, S. 637/638 (Star Wars).

KÜHNEL, Jürgen: Tolkiens philologischer Hedonismus oder Über die Sprachen von Mittelerde. In: Mittelalter-

Rezeption III. gesammelte Vorträge des 3. Salzburger Symposion: ‚Mittelalter, Massenmedien, Neue Mythen’.

Hrsg. von Jürgen KÜHNEL, Hans-Dieter MÜCK, Ursula MÜLLER und Ulrich MÜLLER. Göppingen 1988 (=

Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Band 479), S. 5o5-526.

KÜHNEL, Jürgen: Einführung in die Filmanalyse. Teil 2: Dramaturgie des Spielfilms. Siegen 2oo4 (= universi,

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PROPP, Vladimir: Morphologie des Märchens. Frankfurt a.M. 1975 u.ö. (= stw, Band 131).

RAUSCHER, Andreas: Krieg der Sterne […]. In: Filmgenres. Science Fiction. Hrsg. von Thomas KOEBNER.

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glischen von Helmut W. PESCH. Stuttgart 2oo8.

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rikanischen Erfolgskinos. Frankfurt a.M. 1997; 31999.