„historische horoskope als quelle der wissenschaftsgeschichte“ [inaugural lecture], in: dick,...

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1 DICK, Wolfgang R. und Jürgen HAMEL (Hg.), Beiträge zur Astronomiegeschichte, Bd. 5 (= Acta Historica Astronomiae, Bd. 15), Frankfurt/M. 2002, S. 9–25 © H. Deutsch 2002 [S.9] Günther Oestmann HISTORISCHE HOROSKOPE ALS QUELLE DER WISSENSCHAFTSGESCHICHTE 1 Zusammenfassung Behandelt wird die Analyse und Interpretation historischer Horoskope am Beispiel der astro- logischen Aktivitäten Heinrich Rantzaus (1526–1598), der Statthalter des dänischen Königs in Schleswig-Holstein und im 16. Jahrhundert ein führender Vertreter humanistischer Bildung und Lebenskultur war. Er korrespondierte mit zahlreichen bedeutenden Gelehrten und pfleg- te zu Tycho Brahe freundschaftliche Kontakte. Summary The paper deals with the analysis and interpretation of historic horoscopes. The astrological activities of Count Heinrich Rantzau (1526–1598), Danish governor of Schleswig-Holstein, who was one of the leading representatives of humanistic learning and culture in the 16 th cen- tury, have been taken as an example. He corresponded with numerous scholars and was a friend of Tycho Brahe. The following text comprises the inaugural lecture of the author deliv- ered on May 28 th , 2001 at Hamburg University which is a summary of his forthcoming post- doctoral thesis. Wir befinden uns auf 53°33’ nördlicher Breite und 9°59’ östlicher Länge von Greenwich. Es ist 12.20 mitteleuropäischer Sommerzeit. Gerade steigt der 6. Grad der Jungfrau am östlichen Horizont auf und der 27. Grad des Stiers kul- miniert. Jupiter, Sonne, Merkur und Saturn – letzterer in Konjunktion mit der Sonne – stehen im 10. Haus. Gleichzeitig bildet Venus mit dem Mond einen harmonischen Trigonalaspekt. Jupiter ist im Sextilschein mit dem Mond, der das 12. Haus besetzt, und Venus, die ganz nahe der Grenze zwischen dem 8. 1 Bei dem nachfolgenden Text handelt es sich um die am 28.5.2001 an der Universität Ham- burg gehaltene Antrittsvorlesung des Verfassers, die eine Zusammenfassung seiner Habili- tationsschrift Heinrich Rantzau und die Astrologie: Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des 16. Jahr- hunderts darstellt. Diese wird demnächst als zweiter Band der vom Hamburger und Münchner Institut für die Geschichte der Naturwissenschaften sowie dem Braunschweiger Landesmuseum gemeinsam herausgegebenen Schriftenreihe Disquisitiones Historiae Scien- tiarum: Braunschweiger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte erscheinen.

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DICK, Wolfgang R. und Jürgen HAMEL (Hg.), Beiträge zur Astronomiegeschichte, Bd. 5(= Acta Historica Astronomiae, Bd. 15), Frankfurt/M. 2002, S. 9–25 © H. Deutsch 2002

[S.9]Günther Oestmann

HISTORISCHE HOROSKOPE ALS QUELLE

DER WISSENSCHAFTSGESCHICHTE1

Zusammenfassung

Behandelt wird die Analyse und Interpretation historischer Horoskope am Beispiel der astro-logischen Aktivitäten Heinrich Rantzaus (1526–1598), der Statthalter des dänischen Königs in

Schleswig-Holstein und im 16. Jahrhundert ein führender Vertreter humanistischer Bildungund Lebenskultur war. Er korrespondierte mit zahlreichen bedeutenden Gelehrten und pfleg-

te zu Tycho Brahe freundschaftliche Kontakte.

Summary

The paper deals with the analysis and interpretation of historic horoscopes. The astrological

activities of Count Heinrich Rantzau (1526–1598), Danish governor of Schleswig-Holstein,

who was one of the leading representatives of humanistic learning and culture in the 16th cen-tury, have been taken as an example. He corresponded with numerous scholars and was a

friend of Tycho Brahe. The following text comprises the inaugural lecture of the author deliv-ered on May 28th, 2001 at Hamburg University which is a summary of his forthcoming post-

doctoral thesis.

Wir befinden uns auf 53°33’ nördlicher Breite und 9°59’ östlicher Länge von

Greenwich. Es ist 12.20 mitteleuropäischer Sommerzeit. Gerade steigt der 6.

Grad der Jungfrau am östlichen Horizont auf und der 27. Grad des Stiers kul-

miniert. Jupiter, Sonne, Merkur und Saturn – letzterer in Konjunktion mit der

Sonne – stehen im 10. Haus. Gleichzeitig bildet Venus mit dem Mond einen

harmonischen Trigonalaspekt. Jupiter ist im Sextilschein mit dem Mond, der

das 12. Haus besetzt, und Venus, die ganz nahe der Grenze zwischen dem 8.

1 Bei dem nachfolgenden Text handelt es sich um die am 28.5.2001 an der Universität Ham-burg gehaltene Antrittsvorlesung des Verfassers, die eine Zusammenfassung seiner Habili-

tationsschrift Heinrich Rantzau und die Astrologie: Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des 16. Jahr-

hunderts darstellt. Diese wird demnächst als zweiter Band der vom Hamburger undMünchner Institut für die Geschichte der Naturwissenschaften sowie dem Braunschweiger

Landesmuseum gemeinsam herausgegebenen Schriftenreihe Disquisitiones Historiae Scien-tiarum: Braunschweiger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte erscheinen.

2

und 9. Haus steht. [S. 10] Um 14.31 wird Merkur, der Gott der Kaufleute und

Diebe, aber auch der Patron der Wissenschaften und Künste, die Himmelsmit-

te erreichen. Er befindet sich allerdings in Opposition zum feurigen Mars im 4.

Haus.

Was ich Ihnen soeben mitteilte, sind einerseits astronomische Fakten, anderer-

seits Aussagen, die einem insbesondere in den Naturwissenschaften diskredi-

tierten Bereich zugehören, nämlich der Astrologie. Sie ist Mathematik, mit der

man zaubern kann, wie Aby Warburg einmal treffend bemerkt hat.

Es soll hier nicht zur Rede stehen, ob man astrologische Prämissen noch glau-

ben kann oder wieder für diskussionswürdig halten sollte. Tatsache ist, daß

sich Historiker der Naturwissenschaften einem außerordentlich reichen Fun-

dus astrologischer Quellen gegenübersehen, die zum überwiegenden Teil im

15.–17. Jahrhundert entstanden sind. Zudem zeigt selbst eine kursorische Be-

trachtung der Astronomie jener Zeit, daß sehr vielen Aktivitäten auf diesem

Gebiet astrologische Motivationen zugrundelagen, ja die Astrologie alle Wis-

sensgebiete durchdrang.

Die Beschäftigung mit der Geschichte der Astrologie war bis vor wenigen

Jahrzehnten ein heikles Unterfangen und der Forscher sah sich unversehens

zwei Lagern gegenüber, nämlich einerseits der Majorität der Wissenschaftshi-

storiker, die die Astrologie bestenfalls als „fossile Wissenschaft“ betrachteten.

Dabei waren gewisse Gebiete der Astrologie durchaus von Interesse, wurden

aber nur insoweit behandelt, als sie für die Entwicklung der Astronomie be-

deutsam erschienen, d.h. man beschränkte sich auf die astronomisch-

mathematischen Grundlagen der Horoskopie. Andererseits gab es die Anhän-

ger der Astrologie verschiedenster Couleur. Das Studium der Astrologiege-

schichte sui generis war (und ist) nicht selten die Domäne professioneller Ast-

rologen mit historischen Neigungen, was die Verständigung auf beiden Seiten

zuweilen erschwert hat und in der Wissenschaftsgeschichte oft zur gänzlichen

Nichtbeachtung der reichhaltigen, wenn auch qualitativ sehr unterschiedli-

chen, von Astrologen verfaßten Literatur führte.

Im 19. Jahrhundert widmeten sich nur vereinzelte Wissenschaftler der Astro-

logie, die lediglich im Rahmen von altphilologischen Texteditionen von ge-

wissem Interesse war. Eine Pioniertat stellte das 1899 erschienene Werk

L’Astrologie grecque Auguste Bouché-Leclercqs (1842–1924) dar, dessen Darle-

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gungen man allerdings anmerkt, wie er die für ihn höchst anrüchigen Quellen

gewissermaßen mit spitzen Fingern anfaßte.

Das Corpus der griechischen Astrologica wurde im Verlauf der ersten Hälfte

des 20. Jahrhunderts u.a. von Franz Cumont und Franz Boll systematisch kata-

logisiert. Boll (1867–1923) widmete seine ganze Forschungstätigkeit der Ge-

schichte der Astrologie, behandelte aber in erster Linie die literarischen Refle-

xe und religionsgeschichtlichen Aspekte astrologischen Denkens. In diese Zeit

fallen auch die Arbeiten des bereits erwähnten Hamburger Kunst- und Kul-

turwissenschaftlers Aby Warburg (1866–1929), der 1912 in seinem legendären

Vortrag über den Freskenzyklus Francesco Cossas im Palazzo Schifanoia zu

Ferrara die Bedeutung

[S. 11]

Porträt von Heinrich Rantzau. Kupferstich eines unbekannten Künstlers, 1588,

in: Hieronymus Henninges, Genealogiae aliquot familiarum nobilium in Saxonia,Hamburg 1590. Der dänische Statthalter ist hier als Gelehrter ohne die Insignienseiner ritterlichen Herkunft dargestellt.

4

[S. 12] astrologischer Bildtraditionen für die Kunst der Renaissance aufdeckte

und für eine stoffliche wie methodische Erweiterung der Kunstgeschichte in

Richtung auf eine Kulturwissenschaft eintrat.

Die jahrzehntelangen Quellenstudien Lynn Thorndikes, der sich der Geschich-

te der magischen und experimentellen Wissenschaften über einen Zeitraum

von nicht weniger als 17 Jahrhunderten verschrieb, markierten in der Ge-

schichte der Naturwissenschaften, die sich, sofern die Astrologie überhaupt

zur Kenntnis genommen wurde, dem Gegenstand in einer spürbar herablas-

senden Haltung näherte, einen Wendepunkt. In den vergangenen dreißig Jah-

ren ist die Bedeutung der sogenannten „okkulten Wissenschaften“ für die

Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft vor allem durch die Publikatio-

nen von Frances Yates, Charles Webster und Allen G. Debus, die sämtlich am

Londoner Warburg-Institute tätig waren, neu bewertet worden. Auch aus den

Kreisen professioneller Astrologen und Anhängern der Astrologie sind für die

Wissenschaftsgeschichte wichtige Publikationen hervorgegangen.

Horoskopus meint wörtlich die die Stunde eines Ereignisses (zumeist die Ge-

burt eines Menschen) anschauende Stelle des Tierkreises, den Aszendenten.

Unter dem Begriff Horoskop (auch als Nativität oder Genitur bezeichnet), ver-

steht man allerdings allgemein eine tabellarische Auflistung oder schemati-

sche Darstellung von Zeit und geographischer Position des betreffenden Erei-

gnisses mit gewissen astronomischen Angaben. Hinzu treten oft mehr oder

weniger ausführliche textliche Erläuterungen bzw. Ausdeutungen.

Alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnis der Vergangen-

heit gewonnen werden können, sind geschichtliche Quellen. Auch ein histori-

sches Horoskop fällt zweifellos unter diese Definition.

Es stellt sich zunächst das Problem, welche Fragen sinnvollerweise an dieses

doch sehr spezielle historische Material zu richten sind und welche Antworten

die Quelle überhaupt zu geben vermag. So kann beispielsweise die Nachrech-

nung eines Horoskops Aufschlüsse über die astronomischen und mathemati-

schen Kenntnisse seines Urhebers geben. Die Interpretation einer Himmels-

konfiguration kann von der Wahl der Parameter, aber auch von gewissen

Traditionen abhängig sein. Schließlich ist nach der Motivation des Bestellers,

vielleicht auch nach dem Verhältnis des Astrologen zu seinem Klienten zu

fragen. Auch müßte versucht werden, die Stellung der Horoskopie in ihrer

Zeit zu den übrigen Wissenschaften bzw. der Naturphilosophie zu klären.

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Astrologische Quellen besitzen offenbar verschiedene Sinnebenen und ermög-

lichen mehrere Lesarten. In Anlehnung an den von Erwin Panofsky (1892–

1968) formulierten ikonologischen Interpretationsansatz von Kunstwerken soll

hierfür ein dreistufiges Modell vorgeschlagen werden.

[S. 13] I. Auf der ersten Ebene wird die äußere Gestalt und der astronomisch-

mathematische Inhalt des Horoskops untersucht.

Zunächst erfolgt die Beschreibung der Quelle (Material, Beschreibstoff, For-

mat, Inschriften, Datierungen etc.), die Edition eventuell vorhandener Erläute-

rungen, Beischriften und aller begleitenden Texte. Sodann wird der Blick auf

die „technischen Informationen“, d.h. die astronomisch-mathematischen In-

halte, gerichtet. Hierbei sind fünf Parameter zu betrachten:

I.1 Datum

Erfolgt die Angabe nach dem julianischen oder gregorianischen Kalender?

Hierbei sind die sehr unterschiedlichen Einführungsdaten des neuen Kalen-

ders in den protestantischen Territorien zu beachten.

I.2 Zeit

Gewöhnlich erfolgen Zeitangaben nach wahrer Sonnenzeit, es sei denn, es

wird auf die Schläge einer Räderuhr hingewiesen. Kommen präzise Zeitanga-

ben (bis auf die Angabe von Sekunden) vor, liegen diesen spezifisch astrologi-

sche Berechnungen (Verfahren zur Rektifikation etwa des Geburtszeitpunktes)

zugrunde, deren Erörterung hier zu weit führen würde.

I.3 Geographische Koordinaten

Bei der Nachrechnung eines historischen Horoskops müssen die in der Quelle

angegebenen Positionsangaben verwendet oder bei fehlenden Koordinaten

auf zeitgenössische Quellen zurückgegriffen werden, da diese von heutigen

Angaben beträchtlich abweichen können. Genaue Längen- und Breitenanga-

ben sind vor 1600 selten. Eine unsichere Längenangabe führt bei der Aufstel-

lung eines Horoskops nur beim schnellaufenden Mond zu nennenswerten

Fehlern. Die Positionen der anderen Planeten werden hiervon kaum betroffen.

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Dagegen ist der Einfluß einer fehlerhaften Breitenangabe auf den Aszendenten

und die Häusergrenzen beträchtlich. Die Ortsangaben in Horoskopen beruhen

nur in Ausnahmefällen auf eigens angestellten astronomischen Beobachtun-

gen. In der Regel wurden sie Koordinatenlisten entnommen. Die hierin enthal-

tenen Angaben sind teils aufgrund von Beobachtungen oder durch Abgreifen

mit dem Zirkel auf Karten gewonnen, teils aus älterem Material übernommen

worden. Wie sich die Tradierung von geographischen Koordinaten im einzel-

nen vollzogen hat, welche Abhängigkeiten der Ortslisten untereinander beste-

hen, ist noch weitgehend unerforscht. Neben Ortstafeln in Ephemeridenwer-

ken fanden im 16. Jahrhundert vor allem die Ortslisten in Johannes Schoeners

Luculentissima quaedam terrae totius descriptio (Nürnberg 1515) und im Cosmo-

graphicus liber des Peter Apian (Landshut 1524 und öfters) Verwendung.

[S. 14]

I.4 Planetenörter

Auch die Nachrechnung der Planetenörter muß mittels zeitgenössischer Ta-

felwerke erfolgen. Dem Astronomen und Astrologen des 16. Jahrhunderts

standen fertig ausgerechnete Aufstellungen der Planetenörter in bestimmten

zeitlichen Abständen für mehrere Jahre im Voraus (Ephemeriden) oder Tafeln

zur Verfügung, welche die Berechnung von Planetenpositionen für einen be-

liebigen Zeitpunkt gestatteten. Im 16. Jahrhundert sind dies – hier stark ver-

kürzt gesagt – die etwa 300 Jahre zuvor entstandenen, auf ptolemäischen Pa-

rametern basierenden Alfonsinischen Tafeln und die 1551 erstmals erschiene-

nen, nach Copernicus berechneten Prutenischen Tafeln Erasmus Reinholds

sowie deren Derivate.

I.5 Häuser

Es handelt sich hier um eine rein astrologisch begründete, je nach Verfah-

rensweise unter Umständen mathematisch sehr anspruchsvolle Einteilung des

Tierkreises in zwölf Felder, die gewöhnlich als Häuser bezeichnet und ent-

sprechend dem Aufgang der Tierkreiszeichen entgegen dem Uhrzeigersinn

durchnumeriert werden. Die zwölf Häuser geben Aufschluß über verschiede-

ne Bereiche des menschlichen Lebens und ihnen wurden bestimmte Bedeu-

7

tungen unterlegt. Es würde den Rahmen des Vortrages sprengen, die außer-

ordentlich verwickelte Geschichte der Häuserteilungen auch nur in Grundli-

nien darzulegen. Die Methoden lassen sich in drei Gruppen mit übergreifen-

den Merkmalen einordnen:

a. Ekliptikale Systeme: Die Teilung der Ekliptik wird zur Errichtung der Häu-ser verwendet.

b. Raumsysteme: Hierbei wird vom Himmelsraum ausgegangen, ohne dessenBezug zur Ekliptik zu berücksichtigen. Nach Unterteilung des Raumes in glei-che Abschnitte ergeben sich die Häuserspitzen. Erst danach wird die Bezie-hung der Ekliptik zu den Häusern betrachtet.

c. Zeitsysteme: Basis der Errichtung der Häuser ist die tägliche Rotation derHimmelskugel bzw. die hieraus resultierenden gleichen Zeiteinheiten. Im Ge-gensatz zu den anderen Systemen werden hier nicht die Ekliptik selbst oderder Himmelsraum, sondern Zeitspannen als Basis der Teilung verwendet.

Die mit dem Namen Johannes Regiomontans (1436–1476) verbundene Metho-

de, durch den Nord- und Südpunkt des Beobachterhorizontes Großkreise der

Häuserbegrenzungen zu legen, die den Himmelsäquator in zwölf Abschnitte

zu je 30° gleichmäßig teilen, ist das mit Abstand am häufigsten verwendete

Verfahren des 16. und 17. Jahrhunderts. Es zählt zur zweiten Kategorie der

Raumsysteme. Für dessen Verbreitung war sicherlich der Umstand maßgeb-

lich, daß rasch fertig ausgerechnete, gedruckte Häusertafeln verfügbar waren.

Die Vorarbeit dazu leistete Regiomontan mit seinen 1467 im Manuskript ver-

faßten, im Jahre 1490 erstmals gedruckten Tabulae directionum.

[S. 15]

II. Die Ausdeutung des astronomischen Befundes ist Gegenstand der zweiten

Interpretationsebene. Auch hier können astronomisch-mathematische Fakten,

das „Nachrechenbare“, eine Rolle spielen, denn je nachdem, ob der Urheber

des Horoskops orthodoxe Methoden bevorzugte oder etwa Reformansätze be-

fürwortete, mag er sich für bestimmte Rechenmethoden und Parameter ent-

schieden haben. Ist bereits ein Text vorhanden, muß der jeweilige Traditions-

zusammenhang beleuchtet werden, denn althergebrachte Lehrmeinungen und

Autoritäten spielen gerade in der Astrologie eine große Rolle und man wird

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nicht selten über sehr verschlungene Wege bis in die ferne Vergangenheit zu-

rückgehen müssen. Fehlt eine Ausdeutung, könnte der Forscher, ausgehend

von der einschlägigen Literatur der Zeit, eine eigene Interpretation wagen und

mit den überlieferten historischen Fakten vergleichen.

III. Kann schon die astrologische Bedeutung einer Himmelskonfiguration oft-

mals nur unter Schwierigkeiten und nicht immer vollständig erfaßt werden,

gestaltet sich die Ermittlung des eigentlichen Gehaltes oder „Dokumentsinns“

eines Horoskops noch problematischer. Hier wäre zu erforschen, welchen

weltanschaulichen Stellenwert der Urheber des Horoskops und/oder sein

Klient der Astrologie beimaßen. Schließlich konnte es dabei unter Umständen

nicht um triviale Fragen, sondern um Leben und Tod oder die Frage nach der

Allmacht Gottes gehen.

Astrologische Quellen stellen somit an den forschenden Bearbeiter hohe An-

forderungen, jedoch bieten sie weit mehr als etwa die bloße Möglichkeit, ein

anderweitig nicht überliefertes Geburtsdatum einer Person zu ermitteln.

Am Beispiel Heinrich Rantzaus habe ich versucht, eine Interpretation seines

Horoskops sowie anderer astrologischer Quellen nach diesen Vorgaben vor-

zunehmen und seine Einstellung zur Astrologie zu untersuchen.

Heinrich Rantzau (1526–1598) war mehr als vierzig Jahre hindurch Statthalter

dreier dänischer Könige (Christian III., Friedrich II. und Christian IV.) in

Schleswig-Holstein. Er gelangte weniger als Feldherr und Politiker, denn als

führender Vertreter humanistischer Bildung und Lebenskultur zu europäi-

schem Ruhm. Gerade die Persönlichkeit Heinrich Rantzaus und seine Aktivi-

täten in astrologicis boten sich als Forschungsgegenstand an, da er nicht bloß

rezeptiv, etwa als berühmter Klient eines Astrologen, in Erscheinung trat,

sondern sich als Fachschriftsteller betätigte und selbst das nötige astrono-

misch-mathematische Rüstzeug mitbrachte. Nicht zuletzt stand mir ein sehr

reicher, weitestgehend unbearbeiteter Quellenfundus zur Verfügung.

Heinrich Rantzau immatrikulierte sich 1538 in Wittenberg und kam dort in

engen Kontakt mit Luther und Melanchthon. Seine lebenslange Beschäftigung

mit der [S. 16] Astrologie ist ein Resultat seines zehn Jahre dauernden Aufent-

haltes in Wittenberg und Melanchthons Bewertung der Astrologie war für ihn

prägend.

9

Für Melanchthon war die Astrologie nicht bloß der prophezeiende Teil der

astronomischen Wissenschaft, sondern auch Bestandteil der Physik und Me-

dizin. Gott gibt mit den Bewegungen der Himmelskörper, ihren Verfinsterun-

gen und Konjunktionen sichtbare Zeichen, die sorgfältig beachtet werden

müssen. Das Handeln des Menschen läßt sich nun aber nicht allein aus dem

Einfluß der Sterne vorhersagen, sondern hängt nach der Auffassung Melanch-

thons von drei Faktoren ab: Zum ersten ist das von den Sternen bestimmte

Temperament und Wesen dem menschlichen Willen unterworfen, der es un-

terstützen oder bekämpfen kann, gemäß dem Grundsatz: Astra inclinant, non

necessitant. Zweitens ist Gott vollständig frei und kann Menschen auch entge-

gen ihren Neigungen lenken. Als dritte Ursache führt Melanchthon den Teufel

an, der auch Menschen mit guten Anlagen zu Verbrechen oder ins Unglück

treibe. Für Melanchthon sind die Sterne Mittler zwischen dem göttlichen Wil-

len und dem Menschen. Der Astronomie obliegt es daher, den Himmel zu be-

obachten und darin wie in einem aufgeschlagenen Buch den Willen Gottes zu

lesen.

Auch Heinrich Rantzau hatte sich diesen Standpunkt zu eigen gemacht, wie

aus seinem Briefwechsel hervorgeht. An den niederländischen Philologen und

Historiker Justus Lipsius (1547–1606) schrieb er 1584:

„Von folgendem bin ich also überzeugt: Daß das Schicksal das von Gott vorgeschrie-bene und von der Vorsehung geborene Gesetz und die Regel der Natur sei; die Sterneaber seien die Diener des Schicksals selbst und die Ausführer der göttlichen Festset-zung und der Aufgaben der Natur, und alles untere folge deren harmonischem undgeordnetem Lauf und ihren verschiedenen Bewegungen. Daher sage ich frei heraus,daß das meine Meinung ist: Daß alle unsere Taten und das noch zu Tuende von Gottund seiner Vorsehung abhängen, aus der das Schicksal entsteht, wie auch von denSternen, die dem Schicksal ihrerseits dienen, und die gleichsam dessen Geschosse undWaffen sind, und daß dies Untere durch genaue Einrichtung der himmlischen Körpergelenkt wird. Gott bedient sich nämlich des Dienstes dieser Körper gleichsam als Mitt-ler und zweiter Ursachen, und ihre Fähigkeit, Kraft und Wirksamkeit, die er ihnen beider Schöpfung eingegeben hat, erhält und hegt er noch jetzt, soweit es ihm beliebt undwie es von Beginn an bei ihm feststand.“2

[S. 17] Heinrich Rantzau trat auch als Fachschriftsteller hervor. Ihm stand eine

sehr reichhaltige, planvoll gesammelte Bibliothek auf seinem Herrensitz Brei-

2 Heinrich Rantzau an Justus Lipsius (O. O., 14.11.1584; Schleswig, Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 127.21, Ms. 293, S. 279f. [Übers. d. Vf.].

10

tenburg zur Verfügung, die auch einschlägige Handschriften enthielt. 1627 er-

oberten und plünderten Truppen Wallensteins die Breitenburg, weshalb die

Reste der Rantzauschen Bibliothek teils in Prag liegen, teils im weiteren Ver-

lauf des Dreißigjährigen Krieges vor allem in Nordeuropa verstreut wurden.3

Die gedruckten astronomisch-astrologischen Werke Heinrich Rantzaus sind

ausnahmslos Kompilationen verschiedener Quellentexte und Tabellenwerke.

Ihm dürfte demnach mehr die Rolle des Redaktors, denn eines Autors zu-

kommen. Nach der Auswahl der Texte wird die eigentliche Bearbeitung in

den Händen der zahlreichen, zeitweise auf Breitenburg tätigen Gelehrten (ins-

besondere Georg Ludwig Frobenius, Adrian Vossenhol, Thomas Finck und

Peter Lindeberg) gelegen haben. Dabei muß man aber berücksichtigen, daß in

der Astrologie nicht originelle Neuerungen, sondern die Berufung auf ehr-

würdige Lehrmeinungen gefragt waren. Da die Tradition – was immer darun-

ter im einzelnen jeweils verstanden wurde – eine bedeutende Rolle spielte, lag

es nahe, möglichst umfassende Kompendien zusammenzutragen.

Die Berechtigung der Astrologie suchte Heinrich Rantzau durch die Geschich-

te zu erweisen, indem er in seinem 1576 erstmals publizierten Catalogus Impe-

ratorum ein Verzeichnis berühmter Männer, die die Astrologie ausübten und

förderten, zusammen mit der Auflistung erfolgreicher astrologischer Vorher-

sagen publizierte.4

Im Tractatus astrologicus unternahm er 1593 den Versuch, durch eine konkor-

danzähnliche Zusammenstellung von Deutungsregeln das Lehrgebäude zu

systematisieren und durch das Beibringen neuer Manuskriptquellen aus sei-

ner Bibliothek zu erweitern.5 Man kann also sagen, daß Heinrich Rantzau die

Probleme der Astrologie mit Systematik und Empirie anging.

In diesem Zusammenhang konnte ein Instrument aus dem Besitz des däni-

schen Statthalters erstmals in seinen Funktionen erklärt werden (Berlin,

Kunstgewerbemuseum: K 4482). Es handelt sich zwei sechseckige, durch

Scharniere verbundene Täfelchen, auf denen alle wichtigen Daten und Deu-

3 Marcus Posselt, „Die Bibliothek Heinrich Rantzau’s“, Zeitschrift der Gesellschaft für Schles-wig-Holstein-Lauenburgische Geschichte, 11, 1881, S. 69–124.

4 Heinrich Rantzau, Catalogus Imperatorum, Regum, ac Virorum illustrium, qui artem astrologi-

cam amarunt, ornarunt et exercuerunt [...], Leipzig 1576.5 Heinrich Rantzau, Tractatus astrologicus de genethliacorum thematum iudiciis pro singulis nati

accidentibus, Frankfurt/M. 1593.

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tungshilfsmittel zum Horoskopieren tabellarisch zusammengestellt sind. Die-

ses aide-mémoire stellt ein einzigartiges astrologisches Hilfsmittel dar, für das

ich den Gattungsbegriff tabellarisches Instrument vorschlagen möchte. Die um-

fangreichen, teilweise sehr kom-[S. 18]pliziert verschränkten astrologischen

Bedeutungszuweisungen legten derartige handliche Zusammenstellungen

nahe.

Nicht zuletzt der Autor selbst legte mit seinem Horoskop, das er jedem seiner

Bücher mit Erläuterungen und Ausdeutungen in extenso beigab, Zeugnis dafür

ab, was die Astrologie nach seiner Auffassung zu leisten vermochte.

Abb. 2 Das Horoskop Heinrich Rantzausim Ptolemäus-Kommentar des Conrad Dasypodius, Basel 1578

12

Wann Heinrich Rantzau das erste Horoskop für sich gestellt hat oder stellen

ließ, ist nicht bekannt. Das in der Handschrift Thott 248.2° der Königlichen Bi-

bliothek Kopenhagen überlieferte Horoskop scheint zeitlich das früheste zu

sein, denn es wurde wohl anläßlich der Hochzeit mit Christina von Halle im

Jahre 1554 aufgestellt.

[Berichtigung: Es existiert ein früheres Horoskop, das von Erasmus Reinhold

stammt und vor 1553, dem Todesjahr Reinholds, entstanden ist; s. Oestmann,

Heinrich Rantzau und die Astrologie, S. 102.]

1578 erschien in Basel ein von dem Straßburger Mathematiker Conrad Dasy-

podius (1531–1601) verfaßter Kommentar zur „Bibel der Astrologen“, der Te-

trabib-[S. 19]los des Ptolemäus. Dasypodius stellte seinem Werk die Horoskope

des dänischen Statthalters und seiner Gattin voran.6

Nach genealogischen Aufzeichnungen seines Vaters wurde Heinrich Rantzau

am 11. März 1526 zwischen 10 und 11.00 in der Nacht geboren.7 Sein Geburts-

ort ist die Steinburg in der Kremper Marsch nordwestlich von Hamburg.

Die im Mittelfeld des kreisförmigen Horoskopschemas sekundengenau ange-

gebene Geburtszeit (10h 31m 36s) ist offensichtlich astrologisch „rektifiziert“

worden. Neben dem Horoskopschema sind links oben die geographischen

Koordinaten (Länge 26°40’, Breite 54°44’) sowie der Betrag der Zeitgleichung

(8m 5s) vermerkt. Nullmeridian ist die Insel Porto Santo nahe Madeira. Auffäl-

lig ist, daß die geographische Breite gegenüber dem heutigen Wert zu weit

(etwa 1°) nördlich verschoben ist. Es handelt sich um einen systematischen

Fehler in den Ortslisten von Peter Apian und Johannes Schoener, der den

nördlichen Teil Deutschlands insgesamt betrifft.8

Die Nachrechnung ergab, daß die Planetenörter aus den Alfonsinischen Tafeln

ermittelt worden sind; die geringen Abweichungen sind auf Abrundungen im

Rechengang zurückzuführen. Bezugsmeridian der Alfonsinischen Tafeln ist

Toledo, das laut Schoener 9°4’ östlich von Porto Santo liegt. Zur Nachrech-

6 Girolamo Cardano, Hieronymi Cardani, In Cl. Ptolemaei De astrorum iudiciis, aut (ut vulgo ap-pellant) Quadripartitae Constructionis Lib. IIII. Commentaria, ab Autore postremum castigata, etlocupletata. [...] Item, Cunradi Dasypodii, Mathematici Argent. Scholia et Resolutiones seu Tabulaein Lib. IIII. Apotelesmaticos Cl. Ptolemaei: Una cum Aphorismis eorundem librorum. Denique bre-vis explicatio Astronomici Horologii Argentoratensis, ad veri et exacti temporis investigationem ex-

tructi, Basel 1578, S. 720–722.7 Schleswig, Landesarchiv Schleswig-Holstein: Abt. 127.21, FA A Nr. 32,2.8 Rüdiger Finsterwalder, „Genauigkeit und Herkunft der Ortspositionen im mitteleuropäi-

schen Raum zu Beginn des 16. Jahrhunderts“. Kartographische Nachrichten, 47, 1997, S. 98f.

13

nung ist für Steinburg demnach eine geographische Länge von 17°36’ östlich

von Toledo (26°40’–9°4’) anzusetzen.

Dasypodius hat die Häusergrenzen nach dem Verfahren Regiomontans sphä-

risch-trigonometrisch berechnet. Hätte er eine Häusertafel benutzt, würde

man auf volle Grade gerundete, gegenüber einer Nachrechnung stärker ab-

weichende Angaben vorfinden.

Es handelt sich um eine Nachtgeburt, bei der alle Planeten (mit Ausnahme der

Venus, deren Ort noch eben über dem Horizont liegt) unter dem Horizont ste-

hen. Das Horoskop weist folgende Aspektbeziehungen auf:

Sonne in Konjunktion mit Saturn,Venus in Konjunktion mit Jupiter,Saturn im Sextil zu Merkur,Mond im Sextil zu Jupiter,[S. 20] Venus im Sextil zu Merkur und zum Mond,Merkur in Konjunktion zum Mond.

Die Sonne ist im Zeichen, wo ihre Erhöhung (Exaltation, d.i. 19° Widder) liegt.

Mars ist in seinem Nachthaus (Widder), desgleichen Venus (Stier). Die Aspek-

te sind außer der Konjunktion von Sonne und Saturn im Widder günstig. Mit

Ausnahme des rückläufigen Merkur sind alle Planeten von direkter und ra-

scher Bewegung, d.h. großer Wirkungsmächtigkeit.

Zum astrologischen Befund dieser Himmelskonfiguration wäre noch manches

zu sagen; hier jedoch möge die Feststellung genügen, daß Dasypodius eine

überaus günstige Ausdeutung vornahm, die sowohl der gesellschaftlichen

Stellung als auch den wissenschaftlichen Ambitionen seines Klienten gerecht

wurde. Wie wichtig das Geburtshoroskop für Heinrich Rantzau war, läßt sich

daraus ersehen, daß es in mehreren, unter Verwendung unterschiedlicher Pa-

rameter durchgerechneten Versionen, die im Auftrag des Statthalters entstan-

den, überliefert ist.

Das Horoskop ziert auch die Innenseite einer goldenen Dose, die der von

Heinrich Rantzau protegierte Hamburger Goldschmied Jacob Mores d. Ä. sei-

nem Gönner im Jahre 1582 schenkte. Mit dieser sehr persönlichen Gabe über-

reichte er Heinrich Rantzau sein in einem Kleinod geborgenes Schicksal.

14

Mit der Erstellung des Grundhoroskops (auch Radixhoroskop genannt), das

Rückschlüsse auf Dispositionen und Charakter der jeweiligen Persönlichkeit

zuließ, war es allerdings nicht getan. Die eigentliche Arbeit des Astrologen be-

stand in der Prognose von Ereignissen, der Erstellung von Jahreshoroskopen

und der Zeitwahl zur Ausführung oder Unterlassung bestimmter Handlun-

gen. Es sind vier Verfahrensweisen zu unterscheiden:

1. Die Vorhersage von Ereignissen mittels sog. Direktionstechniken ist ein sehrkompliziertes, in ihrer historischen Entwicklung noch nicht genügend er-forschtes Gebiet. Bei den Primärdirektionen wird das Radixhoroskop als fest-stehend gedacht. Einer der wirkungsmächtigen Horoskopfaktoren (üblicher-weise Aszendent, die Himmelsmitte, Sonne, Mond oder der Glückspunkt), dersogenannte Promissor (Versprecher), wird durch die Erddrehung auf einen an-deren Horoskopfaktor, den Signifikator (Bedeuter) geführt (dirigiert). Der Bo-gen, der bis zum Eintreten einer Direktion durchlaufen und auf dem Him-melsäquator als Differenz in Rektaszension gemessen wird, muß mittels einesProportionalitätsfaktors, des Direktionsschlüssels, in Zeit umgerechnet werden,d.h. es wird berechnet, wann ein durch das Zusammentreffen der beiden Ho-roskopfaktoren bewirktes Ereignis eintreten wird. „Klassisch“ war der vonPtolemäus verwendete Direktionsschlüssel, nach dem 1°=1 Lebensjahr gesetztwurde, doch fanden im 16. Jahrhundert auch andere UmrechnungsfaktorenVerwendung, so beispielsweise die von Valentin Naibod vorgeschlagene mitt-lere tägliche Sonnenbewegung. Bei ihm entsprechen 59’8’’ einem Lebensjahr.Diese Rechenoperationen waren mit erheblichem [S. 21] Aufwand verbunden,ließen sich aber, wenn man bereit war, ungenauere Resultate in Kauf zu neh-men, mit einem Himmelsglobus leicht ausführen.

2. Unter der Revolution wird die Rückkehr der Sonne an den Ort verstanden,den sie zum Zeitpunkt der Geburt innehatte. An jedem Geburtstag wurde fürdie geographische Breite des Geburtsortes ein neues Horoskop berechnet undzum Radixhoroskop in Beziehung gesetzt.

3. Das fortschreitende (progressive) Horoskop beruht auf der Annahme, daßdie Konstellation eines jeden Tages einem Lebensjahr entspreche. So würdeman beispielsweise aus dem Horoskop des 10. Tages nach der Geburt die Ein-flüsse der Sterne im 10. Lebensjahr herauslesen.

4. Dem Verfahren der Profektion liegt die astrologische Hypothese zugrunde,wonach in Analogie zur Sonnenbewegung jeder Punkt (Signifikator) der Ek-liptik im Lauf eines Jahres in der Reihenfolge der Zeichen weiterrückt und al-so nach 12 Jahren wieder an denselben Ort kommt, den er zum Zeitpunkt derGeburt innehatte.

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Die von Heinrich Rantzau beschäftigten Astrologen – dies waren in der

Hauptsache Adrian Vossenhol, Wilhelm Misocacus und Georg Ludwig Fro-

benius – hatten demnach reichlich zu tun, wovon zahlreiche handschriftlich

überlieferte Berechnungen Zeugnis ablegen. Zum Geburtstag des Statthalters

war das jährliche Revolutionshoroskop zu errichten. Außerdem mußten alle

wichtigen Direktionen ermittelt und die Eintrittszeiten berechnet werden.

Heinrich Rantzau hat diesen Ausführungen oft Anmerkungen über seine all-

täglichen Erlebnisse, Verrichtungen und körperliche Befindlichkeit hinzuge-

setzt. Diese Quellen zeigen anschaulich, wie sehr die Astrologie zur Selbstbe-

obachtung anregte und sämtliche Lebensäußerungen mit dem Himmel in

Verbindung gebracht wurden.

Das Jahr 1582 brachte für Heinrich Rantzau eine schwere Anfechtung in astro-

logicis. Sein jüngster, 1566 geborener Sohn Johann starb völlig überraschend in

Heidelberg an der Pest. Wie allen seinen Kindern, so hatte Rantzau auch ihm

das Horoskop gestellt und eine lange Lebensdauer berechnet. Der Tod würde

nach einer langwährenden Krankheit eintreten. Dieses aus dem Horoskop

nicht ersichtliche Unglück beunruhigte Heinrich Rantzau sehr und er trat 1583

mit dem friesischen Arzt Sixtus Hemminga (1533–1584) in Kontakt, dessen

Widerlegung der Astrologie soeben erschienen war. Anhand der Untersu-

chung der Horoskope von 30 bekannten Persönlichkeiten (darunter auch der

Autor selbst) suchte Hemminga die Unsicherheit und Nichtigkeit der Astrolo-

gie zu beweisen, wobei an ätzender Kritik nicht gespart wurde. Auch das Ho-

roskop des dänischen Statthalters gelangte in dem Buch buchstäblich unter

das Seziermesser.9

[S. 22] In der Diskussion mit dem in astrologischen Dingen wohlbewanderten

Hemminga standen astronomisch-mathematische Probleme im Vordergrund,

und zwar insbesondere die ungenauen Angaben der Planetenörter in den

Ephemeriden sowie unsichere Ortsangaben. Als Ursache für Fehlprognosen

wurden auch widersprüchliche astrologische Lehrmeinungen (Häusereintei-

lung und Direktionslehren) in aller Breite erörtert. Bei aller Kritik an der zu

seiner Zeit praktizierten Astrologie bezweifelte auch Hemminga nicht, daß der

9 Sixtus ab Hemminga, Astrologiae, ratione et experientia refutatae, liber: Continens brevem quan-dam Apodixin de incertitudine et vanitate Astrologica, et particularium praedictionum exempla tri-ginta: nunc primum in lucem editus contra Astrologos; Cyprianum Leovitium, Hieronymum Car-danum; et Lucam Gauricum, Antwerpen 1583, S. 197–200.

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Himmel den Menschen etwas zu sagen habe, nur war er der Ansicht, daß man

seine Sprache nicht zureichend verstehen und interpretieren könne. Alle Ar-

gumente verfingen jedoch nicht, Heinrich Rantzau von seinem Standpunkt

abzubringen. Im November 1584 schrieb er an Justus Lipsius sein Resumé der

Diskussion:

„Sixtus von Hemminga freilich hat eine ziemlich scharfsinnige, den Schätzen und Ge-heimnissen der Kunst selbst entnommene Widerlegung der astrologischen Vorhersa-gen veröffentlicht [...]. Das eine aber konnte er nicht erreichen, daß ich meine Festung,die ich einmal zu verteidigen unternommen hatte, verließ. Ich habe nämlich bei allenvon ihm herausgegebenen Direktionen gesehen, daß, wenn nur einige wenige Minutenhinzugefügt oder weggenommen werden, sie mit den Dingen übereinstimmen. Daherbleibt bei mir jener Satz fest: Die Kunst ist vollkommen, wir aber, die sie ausüben,sind unvollkommen [...]. Zu dieser Überzeugung habe ich sogar Sixtus selbst ge-bracht, wie er in seinem Brief an mich durch folgende Worte bezeugt: Der Himmel,ausgebreitet und mit unzähligen Lichtern geschmückt, bietet uns das Bild des Buchesder Ewigkeit, aber seine Buchstabenlesung und sein Verständnis haben wir nicht voll-kommen. An der Wirkung der Sterne auf die Elemente und auf das, was aus den Ele-menten besteht, zweifeln wir zu recht nicht, wovon wir aber nur den kleinsten Teil be-greifen.“10

Auch die politischen Geschäfte Heinrich Rantzaus sind nachweislich durch

astrologische Erwägungen beinflußt worden. Er berichtete über die aktuellen

Machtkonstellationen und militärischen Kräfteverhältnisse in über 1000 Rela-

tionen, die er zwischen 1555 und 1598 an drei dänische Könige schrieb. Die

Relationen gaben dem Statthalter die Möglichkeit, seine persönliche Einschät-

zung der Lage zu äußern und den König zu beraten. Hierbei spielte die Astro-

logie eine gewisse Rolle, wie gelegentliche Bemerkungen und Verweise auf

eingetroffene Prognosen belegen.11

[S. 23] Bei politischen Unterhandlungen und überhaupt im Umgang mit An-

gehörigen des eigenen Standes dürfte es für Heinrich Rantzau von Wichtigkeit

gewesen sein, die Horoskope des Königs und Persönlichkeiten des holsteini-

schen Adels zu kennen. Entsprechende Aufstellungen sind jedenfalls erhalten.

10 Heinrich Rantzau an Justus Lipsius (O. O., 14.11.1584; Schleswig, Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 127.21, Ms. 293, S. 280f. [Übers. d. Vf.].

11 Otto Brandt, Heinrich Rantzau und seine Relationen an die dänischen Könige: Eine Studie zur Ge-schichte des 16. Jahrhunderts, München/Berlin 1927, S. 33f.

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Ratione – Autoritate – Experientia: mit dieser Bemerkung Tycho Brahes könnte

man das Verhältnis Heinrich Rantzaus zur Astrologie auf drei Schlagworte

zusammenziehen. Die Astrologie war für ihn auf mathematische und astro-

nomische Fundamente gegründet. Althergebrachte Autoritäten – an erster

Stelle Ptolemäus – hatten die Lehre ausgestaltet. Die Erfahrung in der Ge-

schichte und seine eigene Vita bestätigten ihre Richtigkeit.

Am Beispiel Heinrich Rantzaus konnte gezeigt werden, daß sich die astrono-

misch-mathematischen Grundlagen eines Horoskops rekonstruieren und auf-

grund der guten Quellenlage auch in gewissem Rahmen interpretieren lassen.

Wie die Interpretation eines Horoskops im einzelnen zustande kam, läßt sich

in der Regel kaum mehr nachvollziehen. Selbst wenn der Historiker sich tief in

die astrologische Literatur der Zeit versenken würde, dürfte es nur in Aus-

nahmefällen gelingen, Einblick in diesen Prozeß zu gewinnen, denn jenseits

aller Traditionen und Deutungsschemata spielte dabei auch eine gewisse In-

tuition und die Routine des astrologischen Praktikers, der seine Klienten ein-

zuschätzen wußte, eine Rolle. Hier sind der Aufdeckung des „Dokument-

sinns“ eines Horoskops wohl gewisse Grenzen gesetzt.

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ANHANG

Interpretationsschema historischer Horoskope

I. Äußere Gestalt, astronomisch-mathematischer Inhalt

I.1 Datum

I.2 Zeit

I.3 Geographische Koordinaten (Länge, Breite)

I.4 Planetenörter (Art der verwendeten Tafel, Bezugsmeridian)

I.5 Häusersystem (Ekliptikale Systeme, Raumsysteme, Zeitsysteme)

II. Astrologische Ausdeutung des astronomischen Befundes

II.1 Zugrundeliegende Texte

II.2 Traditionszusammenhang

[S. 24]

III. Gehalt oder „Dokumentsinn“

Weltanschaulicher Stellenwert, den der Urheber des Horoskops und/odersein Klient der Astrologie beimaßen

19

Abb. 3 Das Horoskop für Heinrich Rantzauim Ptolemäus-Kommentar des Conrad Dasypodius, Basel 1578;

Umzeichnung d. Vf. im ekliptikalen Runddiagramm

20

ANGABEN DES VON CONRAD DASYPODIUS

FÜR HEINRICH RANTZAU ERSTELLTEN HOROSKOPS

Sonntag, 11.03.1526 jul., 10.31 p.m. wahrer SonnenzeitBreite 54°44’, Länge 17°36’ östlich Toledo

[S. 25]

PLANETENÖRTER

(angegeben sind die ekliptikalen Längen [Grade; Minuten] mit den lateini-schen Abkürzungen der Tierkreiszeichen)

Quelle Nachrechnung(Alfonsinische Tafeln)

Sonne 0;52 Ar 0;52 ArMond 16;28 Pi 16;09 PiSaturn 7;34 Ar 7;33 ArJupiter 15;34 Ta 15;34 TaMars 21;52 Ar 22;37 ArVenus 16;52 Ta 16;50 TaMerkur 16;03 Pi rückläufig 15;59 PiKnoten 18;30 Cp, 18;30 Ca 18;30 Cp, 18;30 Ca

HÄUSER

Quelle Nachrechnung

X 6;57 Vi 6;48 ViXI 7;00 Li 7;07 LiXII 27;06 Li 27;20 Li

I 16;03 Sco 15;59 ScoII 10;04 Sa 10;24 SaIII 20;16 Cp 20;18 Cp