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Hannah Arendts Moralphilosophie

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Hannah Arendts Moralphilosophie

Lukas Verlag

Eva von Redecker

Gravitation zum GutenHannah Arendts Moralphilosophie

© by Lukas VerlagErstausgabe, 1. Au!age 2013Alle Rechte vorbehalten

Lukas Verlag für Kunst- und GeistesgeschichteKollwitzstraße 57D–10405 Berlinwww.lukasverlag.com

Umschlag und Satz: Lukas VerlagDruck: Hubert & Co, Göttingen

Printed in GermanyISBN 978–3–86732–166–2

Faksimile auf dem Umschlag: Hannah Arendt: Brief von Hannah Arendt an Mary McCarthy vom 20. August 1954 (Manuskript, Detail) © by Vassar College Libraries Archives & Special Collections, Poughkeepsie, NY

Inhalt

Vorwort 7

Einleitung: Sokratisches Denken gegen parodierte Philosophie 11

Eichmann in Jerusalem: Gewissenhaftigkeit, »Gaunersprache« und ein Gegenbeispiel 22Die Physiognomie der Gewissenhaftigkeit 25Die Phraseologie der Gedankenlosigkeit 30Der Sinn des Gegenbeispiels 39

Vorlesungen zur Moralphilosophie: Der Vorrang des Guten 44Der Zusammenbruch und seine Ausnahmen 45Der Status moralischer Sätze 49Gewissen als Selbstumgang 56

Das Denken: Phänomenologie als (De-)Montage 63Schein und Erscheinung 64Veranschaulichungen des Unsichtbaren: Metapher, Ort, Anlass 68Der Modellfall Sokrates 75

Das Urteilen: Abstecher zur Pluralität 84Das Desiderat 86Aspekte der Urteilsbildung: Einbildungskraft, erweiterte Denkungsart 92Exemplarität und Zugehörigkeit 98

Zusammenfassung: Konzertierte Geistestätigkeit 103Die Befreiung des Urteils durch das Denken 103Das Gewissen als Erscheinungsraum 108Zusammenleben 114

Bibliographie 121Primärtexte 121Sekundär- und sonstige Literatur 122Siglen 126

7Vorwort

Vorwort

Dieses Buch war zunächst eine Magisterarbeit, noch dazu eine, deren Abfassung vier Jahre zurückliegt. Einer der ersten Sätze, den ich aus dem Manuskript streichen musste, war die Behauptung, Arendts Spätwerk stelle einen »weißen Fleck« in der Arendt-Forschung dar. Nicht nur erscheint mir die kolonialistische Metapher inzwischen problematisch, sondern der Tatbestand hat sich geändert. Wenn es in der Arendt-Forschung, anders als auf dem Globus, tatsächlich unerschlossenes Gebiet gab, so ist inzwischen das Interesse an Vom Leben des Geistes und insbesondere der Urteilstheorie stark gestiegen.

Ein Buch, dass ich auch 2009 schon hätte entdecken können, ist Linda Zerillis wunderbare Relektüre des Feminismus von Arendts Urteilslehre aus.1 Auch Oliver Marchart geht in seinem Buch zum Revolutionsbegri" ausgerechnet von Arendts Konzeption des Denkens aus.2 Jennifer Culbert denkt von Arendts #eorie her das juristische Urteil neu.3 Und in ihrem jüngsten Buch erarbeitet sich Judith Butler aus Arendts Verknüpfung von Pluralität und Denken eine andere Facette ihrer a$rmativen #eorie der – nun diasporisch gewendeten – Selbstenteignung.4 Es war unter anderem auch diese intensivierte Diskussion, die mich ermutigte, meine eigenen Überlegungen nicht für mich zu behalten.

Gleichzeitig schien der spezielle Fokus meiner Arbeit einigermaßen zu rechtfertigen, sie auch angesichts dieses neuen Diskussionsstandes nur recht ober!ächlich zu überarbeiten. Nicht zuletzt durch die institutionelle Situierung weiter Teile der Arendt-Forschung in der Politikwissenschaft lesen auch die neuen Arbeiten zu Arendts Urteilstheorie diese vorwiegend auf politische Fragestellungen hin. Was ich jedoch zu zeigen versuche, ist, dass Arendts Bezug auf das Urteilsvermögen zumindest auch dazu dient, bestimmte moralphilo-sophische Hypothesen einzulösen, die Arendt zunächst ausgehend vom Begri" des Denkens in den Raum gestellt hatte. Unter Hinzunahme der vorzüglich edierten Denktagebücher lässt sich zeigen, dass Arendt aus dem Zusammen-spiel von Denken und Urteilen einen revidierten Gewissensbegri" konzipiert,

1 Linda Zerilli, Feminismus und der Abgrund der Freiheit, Wien 2010.2 Oliver Marchart, Neu Beginnen. Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung,

Wien 2005.3 »#e Jurisprudence of Hannah Arendt« lautet der Arbeitstitel des Buches, mit dem Jennifer

Culbert 2011 als Fellow an der American Academy in Berlin war.4 Judith Butler, Parting Ways. Jewishness and the Critique of Zionism, New York 2012.

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in dem gerade nicht das Denken für die Moral und das Urteil für die Politik zuständig sind, sondern Denken und Urteilen so ineinandergreifen, dass sie Handelnde mit einem Gewissen ausstatten können.

Dieser Arbeit haftet etwas sonderbar Freischwebendes an, das ihr vielleicht als Buch eher zugute kommt denn als Magisterarbeit. Obwohl ich zum Zeit-punkt der Abfassung gerade so etwas wie eine erste akademische Heimat am Lehrstuhl Christoph Menkes in Potsdam gefunden hatte, ist meine Arbeit eher auf eigene Faust binnen sechs Monaten »auf Reisen« entstanden. Zunächst in Cambridge und dann in Baltimore habe ich mich vielleicht zu sehr auf die Arendt in meinem Gepäck konzentriert, um sie von vornherein systematisch in die Debatten der Moralphilosophie einzufügen. Im Nachhinein sehe ich durchaus den Nutzen, den es zum Beispiel gebracht hätte, mit sehr viel gröberen exegetischen Pinselstrichen die Arendt Zerillis und Dischs zu übernehmen und so stark zu machen, dass sie sich entgegen dessen eigene Bedenken in Albrecht Wellmers Wittgensteinianische Variante der Diskursethik hätte integrieren lassen.5 Andererseits hätte diese Konstellierung vielleicht gerade verhindert, dass das Ergebnis einer breiteren Leserschaft entgegenkommt. Wie die Dinge liegen, lässt sich das Buch nun auch recht voraussetzungslos von allen lesen, die sich für Arendts Moralphilosophie interessieren. Es fördert in einiger Breite zu Tage, was Arendt dazu im Verlauf ihres Werks zu sagen hatte, und verfolgt gleich doppelt die titelgebende »Gravitation zum Guten«. Werkgeschichtlich war es mein Anliegen, nachzuweisen, dass Arendt nach der Analyse einer be-stimmten Facette des Bösen in Eichmann in Jerusalem im Grunde neu ansetzt und ihr ganzes Spätwerk hindurch nach den Bedingungen guten Handelns fragt. Systematisch lässt sich als »Gravitation zum Guten« die geradezu un-widerstehliche Tendenz zum moralisch richtigen Handeln beschreiben, die nach Arendts Phänomenologie der Geistestätigkeiten dort entsteht, wo tatsächlich gedacht und geurteilt wird. Aber dazu mehr in den folgenden Kapiteln.

Das »Freischwebende« stimmt natürlich schon in Bezug auf die Magisterarbeit nicht ganz. Abgesehen von der großzügigen und vertrauensvollen Betreuung durch Christoph Menke haben mir zwei lange Unterhaltungen mit Juliane Rebentisch und Jennifer Culbert ganz entscheidend geholfen. Zudem war und ist Judith Mohrmann eine wunderbare Gesprächspartnerin (u.a.) in Sachen Arendt.

5 Albrecht Wellmer, Ethik und Dialog, Frankfurt a.M. 1983.

Vorwort

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Erst recht für die Entstehung des Buchmanuskripts kann ich nun gar nicht genug betonen, was ich meiner derzeitigen institutionellen und freundschaft-lichen Eingebundenheit verdanke. Es ist eine große Ehre – und auch Freude! –, mit der Verö"entlichung in der Lukas-Verlag-Reihe nicht nur dem Rat, sondern auch dem Beispiel meiner Doktormutter und Che%n Rahel Jaeggi folgen zu dürfen. Für sein Zutrauen und seine professionelle Unterstützung danke ich ganz herzlich dem Verleger Frank Böttcher. Tobias Matzner hat das gesamte Manuskript gelesen und kommentiert. Es ist ein großes Glück, in ihm einen befreundeten Kollegen zu haben, mit dem ich mir in Bezug auf Arendts Werk über so viele Dinge einig bin, dass wir uns richtig gut über Details auseinander-setzen können. Ohne die Adleraugen meiner Schwester Sophie von Redecker wären mir viele Fehler und Unstimmigkeiten im Manuskript entgangen und die Korrekturen ein sehr viel geringerer Spaß gewesen. Schließlich haben viele meiner Studentinnen und Studenten mit ihren herausfordernden Fragen und klugen Ideen dazu beigetragen, meine Beschäftigung mit Arendt stets neu au!eben zu lassen.

Meine tiefste Dankbarkeit gilt, und keineswegs nur als Arendtianerin, Elisabeth Young-Bruehl. Für die Ermunterung, Elisabeth dieses Buch zu widmen, bin ich ihrer Witwe Christine Dunbar verp!ichtet.

What good is thinking and judging without cherishment.For Elisabeth Young-Bruehl (3.3.1946 – 1.12.2011).

Vorwort

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Einleitung: Sokratisches Denken gegen parodierte Philosophie

&olitisch scheint 'okrates geglaubt zu haben( dass nicht )issen als solches( sondern )issen darüber( wie man denkt( die *thener besser machen werde( fähiger( dem +yrannen zu widerstehen usw,-

Hannah Arendt

Im Spätsommer 1954 wandte sich die amerikanische Schriftstellerin Mary McCarthy an ihre Freundin Hannah Arendt, von deren philosophischer Expertise sie sich Aufklärung über ein Phänomen versprach, das sie gerade literarisch erschuf. Eine Figur ihres aktuellen Romans konfrontierte McCarthy mit einer so penetrant zur Schau getragenen moralischen Indi"erenz, dass es die Autorin selbst beunruhigte.

.ber ein damit zusammenhängendes &roblem( das der /ohemiens und der dogmatischen 0gnoranz( möchte ich unbedingt mit 1ir reden, 234 5)oher weißt 1u das67 – mit dieser 8rage quittiert eine der 8iguren eintönig alle +atsachenaussagen oder ästhetischen 9rteile, /ei moralischen 8ragen lautet der entsprechende :efrain; 5)arum nicht67 5)arum sollte ich meine <roßmutter nicht umbringen( wenn ich das will6 =enne mir einen vernünftigen <rund,7 234 1ieses &seudo>8ragen( diese dümmliche 5=ach>denklichkeit7 breitet sich in der modernen <esellschaft immer mehr aus( %nde ich? der 1urchschnittsmensch( mißtrauisch und schlau( ist so etwas wie ein 0ntellektueller

– aber was für einer, @r zweifelt( wie eine &arodie eines &hilosophen,A

6 Hannah Arendt, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, hg. v. Jerome Kohn, ü. v. Ursula Ludz, München 2003, S.B155; im Folgenden im Text als Sigle »ÜB« mit Seitenzahl zitiert.

7 Hannah Arendt/Mary McCarthy, Im Vertrauen. Briefwechsel 1949–1997, hg. v. Carol Brightman, München 1995 [im Folgenden zitiert als: »Arendt/McCarthy, Vertrauen«], S.B69. Was ich hier nicht berücksichtige, ist, dass McCarthy auch nach der Genealogie dieses Zweifels fragt: »Ich sehe das und versuche, es zu beschreiben, aber was ich nicht weiß – und darüber möchte ich mit Dir reden –, ist, wie und wann das entstanden ist, historisch. […] Wann begann dieser ritualisierte Zweifel zuerst in die Philosophie und dann ins alltägliche Denken einzudringen?« Die Antwort, die Arendt daraufhin im nächsten Brief skizziert, enthält in nuce bereits das ganze Schlusskapitel von Vita activa, das den Beginn der neu-

Einleitung

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McCarthy spekuliert also darüber, inwieweit die routinisierte Skepsis ihrer Roman%gur ein allgemeines gesellschaftliches Phänomen darstellt. ›Durch-schnittsmenschen‹ würden zu Karikaturen oder auch zu Karikaturisten der Philosophie. Arendt zeigt sich in ihrer Antwort begeistert von McCarthys scharfem Urteil – »Ich stimme Dir vollkommen zu, daß alle diese Leute sich wie Parodien von Philosophen au"ühren«8 – und macht sich an die von ihr erwartete Klärungsarbeit, indem sie mögliche Antworten auf die Frage der provozierenden Roman%gur durchspielt. Historisch wären Gründe dafür, warum man seine Großmutter nicht töten solle, wenn man Lust dazu hätte, entweder von der Religion oder vom common sense, dem gesundem Menschen-verstand, geliefert worden:

1ie schwachsinnige =achdenklichkeit oder nachdenkliche 'chwachsinnigkeit der 0ntellektuellen – 1ein /eispiel; )arum sollte ich meine <roßmutter nicht töten( wenn ich das will6 'olche und ähnliche 8ragen wurden in der Cergangenheit einerseits von der :eligion( andererseits vom Dommon sense beantwortet, 1ie religiöse *ntwort ist; )eil 1u zur Eölle fahren und in ewiger Cerdammnis sein wirst? die Dommon>sense>*ntwort ist; )eil 1u selbst nicht ermordet werden willst,F

Arendt ist jedoch überzeugt, dass diese Bezugsrahmen ihre Wirksamkeit ein-gebüßt und dem Misstrauen des schlauen Gasts einer %ktionalen Dinner-Party nichts entgegenzusetzen hätten.

/eide *ntworten funktionieren nicht mehr( und das nicht nur wegen dieser spezi%schen *ussagen – keiner glaubt mehr an die Eölle( keiner ist sich mehr so sicher( ob er nicht getötet werden will oder ob der +od( selbst der gewaltsame +od( wirklich so schlimm ist –( sondern wegen der 9rsprünge; 1er <laube einerseits und die Dommon>sense 9rteile andererseits sind nicht mehr sinnstiftend,GH

Daraufhin führt sie versuchsweise die Philosophie selbst gegen den Parodie-Philosophen ins Feld.

zeitliche Weltentfremdung mit dem Aufkommen neuer Beobachtungsmethoden in der Naturwissenschaft einsetzen lässt; vgl.: »Die Vita activa und die Neuzeit«, S.B318–416 in: Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002 (Erstverö"entlichung 1958) [im Folgenden zitiert als: »Arendt, Vita activa«].

8 Arendt/McCarthy, Vertrauen, S.B74.9 Arendt/McCarthy, Vertrauen, S.B73; auf dem Umschlag dieses Buches %ndet sich ein Aus-

schnitt des betre"enden Briefs im Faksimile.10 Arendt/McCarthy, Vertrauen, S.B73.

Einleitung

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1ie philosophische *ntwort wäre die des 'okrates; 1a ich mit mir selbst leben muß( ja in der +at die einzige &erson bin( von der ich mich niemals trennen kann( deren <esellschaft ich für immer zu ertragen habe( will ich kein Iörder werden? ich will mein Jeben nicht in <esellschaft eines Iörders verbringen,GG

Weil man der eigenen Gesellschaft nicht ent!iehen könne, solle man sich vor-sehen, ein Verbrecher zu werden – wer lebte schon gern mit einem Verbrecher zusammen. Arendt selbst traut jedoch ihrer originellen und suggestiven Antwort nicht vollkommen. Heutzutage lebe sowieso kaum jemand mit sich selbst zu-sammen – wer allein sei, sei einsam, bezieht sie sich indirekt auf ihre in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft verö"entlichte Analyse der kontaktlosen und entwurzelten Individuen in modernen Massen rück.12 Schließlich macht sie die Einschränkung noch allgemeiner – eigentlich habe diese »sokratische« Antwort nie so recht funktioniert, weil sie auf der Lebensform des Denkers beruhe. Arendt widerruft somit letztlich ihren Vorschlag, gekoppelt mit einem melancholischen Lob der verloren geglaubten sokratischen Haltung.

1ie 'okratische *ntwort hat niemals wirklich funktioniert( weil dieses Jeben durch sich selbst( auf das sie gegründet ist( das Jeben des 1enkers par excellence ist; 0n der +ätigkeit des 1enkens bin ich mit mir selbst zusammen – weder mit anderen Ienschen noch mit der )elt als solcher,GK

McCarthy reagiert auf Arendts Brief euphorisch – »Dein Brief war eine Wonne, ein Akt der Großzügigkeit«14 –, auch wenn sie die Zweifel ihrer Figur nicht für ausgeräumt hält, selbst wenn diese sich auf den sokratischen Umgang mit sich selbst einließe:

@inen &unkt in 1einem /rief würde ich anzweifeln( nämlich 'okratesL *ntwort auf die 8rage( warum man seine <roßmutter nicht umbringen sollte; )eil ich nicht den :est meines Jebens mit einem Iörder verbringen will, 0st dies nicht im <runde eine petitio principi6 1er von mir postulierte moderne Iensch würde 'okrates achselzuckend entgegnen; 5)arum6 )as ist denn 'chlimmes an einem Iörder67 9nd 'okrates wäre wieder da( wo er an%ng,GM

11 Arendt/McCarthy, Vertrauen, S.B73.12 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus,

totale Herrschaft, München 2001 (i. Folg. zit. als: »Arendt, Elemente«), S.B657–702, bes. 682f. u. 697.

13 Arendt/McCarthy, Vertrauen, S.B74.14 Arendt/McCarthy, Vertrauen, S.B80.15 Arendt/McCarthy, Vertrauen, S.B80.

Sokratisches Denken gegen parodierte Philosophie

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Sie verweist als eine weitere Option auf Kants Moralphilosophie, die ihr un-widerlegbar erscheint, wäre da nicht die Ausgangsüberzeugung vom Wert der Ethik, und diesen, sagt sie, wolle ihr »Clown des 20.BJahrhunderts« bewiesen haben – laut McCarthy ein unmögliches Unterfangen.16

Gut zwanzig Jahre später gab Mary McCarthy aus dem Nachlass ihrer Freundin – Arendt war am 4. Dezember 1975 gestorben – deren letztes Werk Vom Leben des Geistes heraus.17

Dort %ndet sich an zentraler Stelle ein vertrauter Gedanke:

8ür 'okrates bedeutet das Nwei>in>einem 2des denkenden 'elbstgesprächs4 lediglich dies( daß wer denken möchte( darauf achten muß( daß die beiden gesprächsführenden 0nstanzen gut in 8orm sind( daß die &artner Freunde sind, 1er &artner( der lebendig wird( wenn man hellwach und allein ist( ist der einzige( dem man nie entrinnen kann

– es sei denn( man hörte auf zu denken, @s ist besser( 9nrecht zu leiden als 9nrecht zu tun( weil man der 8reund eines Jeidenden bleiben kann? doch wer möchte 8reund eines Iörders sein6 =icht einmal ein anderer Iörder, OJ< GP-Q

Also doch? Hatte Arendt den »Clown des 20. Jahrhunderts« vergessen? Hatte sie ihre Meinung zur geistigen Haltung des modernen Individuums geändert? Hielt sie sich an der sokratischen Tugend fest, ohne auf deren Anwendbarkeit unter Bedingungen der Gegenwart zu ho"en?

Arendt erweiterte ihren im Briefwechsel wenig optimistisch erprobten Ansatz einer auf »sokratischem Denken« basierenden Ethik um entscheidende Aspekte: das Prinzip der Widerspruchsfreiheit, das McCarthy so für Kant eingenommen hatte; die Funktion der Urteilskraft, über die unter anderem der verloren ge-glaubte Gemeinsinn wieder zugänglich wurde; die Betonung der Vorstellungs-kraft, ohne deren Vergegenwärtigungsleistungen moralische Phänomene gar nicht erst erscheinen würden; und die Einsicht, dass es zum »Zusammenleben mit sich selbst« keiner speziellen Lebensform bedürfe, sondern bloß der Be-tätigung des Denkvermögens, einer geistigen Aktivität, die prinzipiell allen Menschen o"enstünde.18 Im Rahmen ihres Spätwerks kommt Arendt somit zu

16 »Mir erscheint Kants Argumentation (in der Praktischen Vernunft) stichhaltig, so weit sie reicht, aber natürlich setzt sie den Wert der Ethik schon voraus; und genau das will der Clown des 20.BJahrhunderts bewiesen haben, was unmöglich ist.« (Arendt/McCarthy, Ver-trauen, S.B80.)

17 Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen, hg. v. Marc McCarthy, ü. v. Hermann Vetter, München 1998; im Folgenden als Sigle »LG« mit Seitenzahl im Text zitiert.

18 Vgl.: LG 23: »Wenn etwas Richtiges an dem oben von mir geäußerten Gedanken sein sollte, daß die Fähigkeit, Recht und Unrecht zu unterscheiden, etwas mit dem Denkvermögen zu

Einleitung

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einem komplexeren Gewissensbegri" als dem eingangs skizzierten sokratischen Selbstumgang. Da dies in der Literatur bislang unbeachtet geblieben ist – so wie überhaupt Vom Leben des Geistes nur sehr zögerlich in die Arendt-Rezeption einzugehen beginnt19 – soll in dieser Arbeit rekonstruiert werden, wie Arendt über mehrere ›Stationen‹ ihre Moralphilosophie entwickelte und zunehmend mehr in der Phänomenologie der Geistestätigkeiten fundierte.

Ein Umstand, der meiner Meinung nach den Blick auf Arendts moralphilo-sophische Überlegungen teilweise verstellt hat, ist die Fixierung auf die Eich-mann-Kontroverse, deren Frontlinien noch immer den Rahmen der Forschungs-debatte abgeben.20 Arendts Äußerungen zur Moral bis hin zu Vom Leben des Geistes werden häu%g wie Fußnoten oder Ergänzungen zu ihrem kontroversen Befund der »Banalität des Bösen« gelesen.21 So bilanziert zum Beispiel Seyla Benhabib, dass Arendts spätere moralphilosophische Re!exionen die Probleme zu lösen versuchten, »vor die der Prozeß gegen Eichmann sie gestellt hatte« – und dies, laut Benhabib, ohne Erfolg.22 Auch Jerome Kohn schlägt als Schlüssel zu Vom Leben des Geistes vor, dass Arendt dort ihre langjährigen Überlegungen zum Bösen auf einer tieferen »inneren« Ebene zu lösen versuche.23

tun habe, dann müßten wir ihre Anwendung von jedem normalen Menschen ›verlangen‹ können, gleichgültig, wie gebildet oder unwissend, intelligent oder dumm er zufällig ist.«

19 Einen der wenigen Versuche einer Rekonstruktion des gesamten Projekts stellt folgender sehr hilfreicher Aufsatz von Elisabeth Young-Bruehl dar: Elisabeth Young-Bruehl, »Re!ections on Hannah Arendt’s Life of the Mind« [i. Folg. zit. als: »Young-Bruehl, Re!ections«], S.B277–305 in: Political !eory, Vol.B10, Nr.B2, Mai 1982.

20 Zur Kontroverse um Arendts Eichmann in Jerusalem s.: Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Arendt. Leben, Werk, Zeit. Frankfurt a.M. 1991 [i. Folg. zit. als: »Young-Bruehl, Arendt«], S.B 477–486. Der jüngsten Stand der Debatte und ihrer Bilanzierungsversuche %ndet sich in der Aufsatzsammlung: Gary Smith (Hg.), Hannah Arendt Revisited: ›Eichmann in Jerusalem‹ und die Folgen, Frankfurt a.M. 2000 [i. Folg. zit. als: »Smith, Revisited«].

21 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 2004 [Erstverö"entlichung 1964]; im Folgenden im Text mit Sigle »EJ« und Seitenzahl zitiert.

So wählen auch nahezu alle Einzelstudien zu #emen aus Arendts Spätwerk Eichmann in Jerusalem als Ausgangspunkt. Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt Richard Bernstein dar, der darauf hinweist, dass Arendt schon in Rahel Varnhagen kritisch am Begri" des Denkens – dort als romantischer Re!exion – gearbeitet habe. S.: Richard J. Bernstein, »Arendt on #inking« (i. Folg. zit. als: »Bernstein, #inking«), S.B277–292 in: Dana R. Villa (Hg.), Cambridge Companion to Hannah Arendt, Cambridge 2000 [i. Folg. zit. als: »Villa, Companion«], S.B277.

22 Seyla Benhabib, »Identität, Perspektive und Erzählung in Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem« [i. Folg. zit. als: »Benhabib, Identität«], S.B95–119 in: Smith, Revisited, S.B108.

23 Vgl.: Jerome Kohn, »Evil and Plurality: Hannah Arendt’s Way to !e Life of the Mind, I«,

Sokratisches Denken gegen parodierte Philosophie

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Im Gegensatz dazu gehe ich in dieser Arbeit davon aus, dass Arendts Ana-lyse des Bösen in Eichmann in Jerusalem gerade ihren Schlusspunkt %ndet. An seinem Beispiel hat sie sozusagen den Aspekt verstanden, den sie vorher nicht zu fassen vermochte – was womöglich, wenn man der Darstellung in Young-Bruehls Biogra%e und Arendts Selbstauskünften zur Funktion des Verstehens folgt, zu einer Art Versöhnung mit der Welt, in der solche radikal bösen Verbrechen möglich sind, geführt hat.24

Im zweiten Kapitel »Gewissenhaftigkeit, ›Gaunersprache‹ und ein Gegen-beispiel« soll Arendts Bericht über den Eichmann-Prozess aus dieser Perspektive betrachtet werden. Arendt führt anhand von Eichmanns Verhörprotokollen den gängigen Gewissensbegri" ad absurdum – denn Eichmann sei bei all seinen Taten der Stimme seines Gewissens gefolgt – und stellt eine alter-native Hypothese dazu auf, wo genau sein moralisches De%zit wurzele. Sie konkretisiert dieses in einer minutiösen Analyse von Eichmanns Sprachge-brauch als »Gedankenlosigkeit«. Gleichzeitig greife ich auf die theodizeeische Lesart des Eichmann-Buches zurück25 und versuche zu zeigen, dass sich die Fokusverschiebung vom Rätsel des »Bösen« zur Frage nach dem »Guten« bereits in Arendts Beschreibung des außergewöhnlichen Verhaltens von Anton Schmidt, einem Wehrmachts-Feldwebel, der Juden zur Flucht verhalf, abzeichnet. Arendts Interesse nach Eichmann in Jerusalem richtet sich, wie sie selbst unmissverständlich formuliert, vor allem auf jene Gestalten, die auch das Personal von Menschen in "nsteren Zeiten ausmachen26: positive Aus-

S.B147–178 in: Jerome Kohn/Larry May (Hg.), Hannah Arendt: Twenty Years Later, Cam-bridge (Mass.) 1996 [i. Folg. zit. als: »Kohn/May, Twenty Years«], S.B157.

24 »Verstehen […] ist eine nicht endende Tätigkeit, durch die wir Wirklichkeit […] begreifen und uns mit ihr versöhnen, das heißt, durch die wir versuchen, in der Welt zu Hause zu sein. […] Verstehen ist nicht endend und kann daher keine Endergebnisse hervorbringen; es ist die spezi%sch menschliche Weise, lebendig zu sein, denn jede einzelne Person muss sich mit jener Welt versöhnen, in die sie als Fremder hineingeboren wurde und wo sie im Maße ihrer klar bestimmbaren Einmaligkeit immer ein Fremder bleiben wird. […] In dem Ausmaß, in dem das Heraufkommen totalitärer Regime das Hauptereignis unserer Welt ist, heißt den Totalitarismus verstehen nicht irgendetwas entschuldigen, sondern uns mit einer Welt, in welcher diese Dinge überhaupt möglich sind, versöhnen.« (Hannah Arendt, »Verstehen und Politik«, S.B110–127 in: Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zu-kunft: Übungen im Politischen Denken#I, hg. v. Ursula Ludz, München 1994 [i. Folg. zit. als: »Arendt, Zwischen«], S.B110). S. auch: Young-Bruehl, Arendt, S.B438".

25 Biogra%sch bei Young-Bruehl, systematisch bei Neiman; vgl.: Young-Bruehl, Arendt, S.B438–450; sowie Susan Neiman, Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie, Frankfurt a.M. 2004 [i. Folg. zit. als: »Neiman, Böse«], bes. S.B436".

26 Hannah Arendt, Menschen in "nsteren Zeiten, München 2001 [i. Folg. zit. als: »Arendt, Menschen«].

Einleitung

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nahmen von der Regel des moralischen Zusammenbruchs im Totalitarismus. Darin besteht, werkgeschichtlich gesehen, die zum Titel erhobene Figur der »Gravitation zum Guten«.27

Ich verstehe die nachfolgenden Schriften und Vorlesungen zur Moralphilo-sophie, die ich im dritten Kapitel »Der Vorrang des Guten« zusammenfasse, als Arendts Versuch, theoretisch zu fassen, was diejenigen, die auch unter totalitären Bedingungen ihre moralische Integrität wahrten, zum Widerstand befähigte. Arendt ist der Überzeugung, dass moralische Sätze »selbstverständ-lich« sein müssen, um wirksam zu sein. Angesichts des konstatierten Verlusts von Religion und common sense ist ihr Desiderat ein alternativer Kontext, der die Selbstverständlichkeit moralischer Sätze garantieren würde. Sie skizziert dabei einen ersten revidierten Gewissensbegri", der auf dem episodischen, dialogischen »Zusammenleben« der Denkenden mit sich selbst basiert. Wer sich qua Denktätigkeit selbst Gesellschaft leiste, würde Taten scheuen, die es unmöglich machten, diesen Umgang fortzusetzen.

Diese #esen, die in Grundzügen ja bereits in dem Brief an McCarthy auf-tauchten und deren elaborierteste Version sich in dem 1971 verfassten Essay »Über den Zusammenhang von Denken und Moral« %ndet28, sind allerdings nur eine Zwischenstation in Arendts Überlegungen zur Ethik. Dass sie in der Forschungsliteratur durchweg als Arendts abschließende Position diskutiert werden, erklärt zum Teil die durchgängige Verwerfung des moralphilo-sophischen Teils von Arendts Werk selbst von Seiten ihrer Bewunderer.29

Mit dem Anliegen, der breiteren Fundierung nachzugehen, die Arendt für ihren Ansatz bietet, stelle ich im folgenden Kapitel »Phänomenologie als (De-)Montage« Arendts Phänomenologie des Denkens dar, wie sie sie in Vom Leben des Geistes ausgearbeitet hat. Daraus ergibt sich zunächst der Eindruck, als machten die zusätzlichen Informationen über die Eigenschaften des

27 Arendt selbst benutzt diese Wendung an einer Stelle in den Vorlesungen zur Moralphilo-sophie, wo sie erwägt, ob sich eine Tendenz zum Guten als »Gravitation zur Glückseligkeit« bestimmen ließe; s.: ÜB 127.

28 Hannah Arendt, »Über den Zusammenhang von Denken und Moral« [im Folgenden zit. als: »Arendt, Zusammenhang«], S.B128–155 in: Arendt, Zwischen.

29 Richard Bernsteins Resümee fällt ebenso skeptisch aus wie Benhabibs: »Arendt’s most novel and striking thesis – that there is an intrisic connection between our ability or inability to think and evil – depends on discriminating the thinking that may prevent catastrophes from the thinking that does not. And I do not think that Arendt ever gave a satisfactory answer to this question.« (Bernstein, #inking, S.B291.)

Sokratisches Denken gegen parodierte Philosophie

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Denkvermögens die Hypothese, dass es die Moral fundiere, eher weniger plausibel.

Dieses Bild verändert sich jedoch entscheidend, wenn man eine begriRiche und phänomenologische Verschiebung berücksichtigt, die Arendt im Laufe der Spezi%zierung ihrer #esen vornimmt. Um ihre vorläu%gen, auf dem Denken basierenden Forderungen einholen zu können, müssen Arendts Ausführungen zum Urteilen, die ich im Kapitel » Abstecher zur Pluralität« darstelle, in die Rekonstruktion integriert werden. Besonderes Gewicht fällt dabei auf die Aspekte, von denen sich Arendt ein Korrektiv für die heiklen Tendenzen des »reinen Denkens« verspricht und die sie in früheren Texten oft in einem Atemzug mit dem Denken au"ührte: »erweiterte Denkungsart« zu praktizieren und seine Vorstellungskraft für moralische Dinge zu benutzen. Als eigentliche Funktion des Denkens rückt indessen dessen »zersetzende«, »au!ösende« Kraft in den Vorder-grund. Als Überprüfung, Besinnung und Demontage gewinnt das Denken überhaupt erst jene Distanz zu vorgefertigten Verhaltens- und Sprachmustern

– denen Eichmann so restlos verfallen war –, die für das Urteilen unabdingbar ist. Die Einhelligkeit mit sich selbst, die nach Arendt notwendige Bedingung des Denkens ist, ist somit nicht ihr einziger Ansatz zur Reformulierung des moralischen Gewissens. Das fragmentarische Spätwerk ist darauf angelegt, den moral-fundierenden E"ekt der drei Geistestätigkeiten (Denken, Wollen und Urteilen) aus deren idealem Zusammenspiel abzuleiten.30

Mehrere Kritiker sind zu dem Schluss gekommen, dass Arendt die avisierte Vermittlung zwischen Denken und Urteilen nicht gelinge, entweder, weil sie ihre Forderung, dass »das Denken das Urteilen befreie«, nicht plausibilisiere31, oder, weil sie, in Benhabibs Lesart, die Urteilskraft für politische Gegenstände reserviere und Moral auf eine Angelegenheit des einheitlichen Selbst einenge, so dass sich in der Politik ein »normativer Hohlraum« bilde und moralische Gültigkeit den »Idiosynkrasien der individuellen Psyche« ausgeliefert werde.32

30 Während Bethania Assy in ihrer Studie zu Arendts Ethik den normativen Implikationen aus der Erscheinungshaftigkeit, für die Verantwortung übernommen werden solle, nach-geht, scheint es mir zunächst wichtig zu rekonstruieren, wie Arendt als »Philosophin der Bedingungen« (Tobias Matzner, Vita variabilis. Handelnde und ihre Welt nach Hannah Arendt und Ludwig Wittgenstein, Würzburg 2013, S.B213) überhaupt erst deren Hervorbringung durch die Geistestätigkeiten konzipiert und darin einen Index in Richtung des Guten am Werke sieht. Vgl.: Bethania Assy, Hannah Arendt – An Ethics of Personal Responsibility, Frankfurt a.M. 2008 [i. Folg. zit. als: »Assy, Ethics«].

31 Vgl.: Richard J. Bernstein, Hannah Arendt and the Jewish Question, Oxford 1996 [i. Folg. zit. als: »Bernstein, Question«], S.B173f.

Einleitung

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Diese Spannungen in Arendts Konzeption werden zudem häu%g als Echo des angeblich ihr Gesamtwerk durchziehenden Hauptwiderspruchs zwischen Philosophie und Politik, Zuschauer und Akteur verstanden, oder aber als Symptom eines paradoxen Denkstils zu den Akten gelegt.33 Während letztere ›Lösung‹ zumindest unbefriedigend erscheint, beruhen die anderen beiden Einwände auf einer sehr engen Lesart von Arendts Begri" der Urteilskraft und auf einer Unterschätzung der Rolle der Vorstellungskraft. Es ist dieses Vermögen, sich Abwesendes zu vergegenwärtigen, das das Urteil herausfordert, und zwar auch mit Gegenständen, »von denen nur ich weiss«34, also den im engeren Sinne moralischen Fragen. Auch wenn Arendt zweifellos darauf be-steht, dass Denken und Handeln zwei völlig verschiedene Modi sind und schon Denken und Urteilen je ihrer Eigengesetzlichkeit folgen35, scheint mir doch gerade die Untersuchung ihrer Moralphilosophie der Debatte einige wichtige Di"erenzierungen hinzufügen zu können. Dass sich die eine Tätigkeit nicht kausal aus der anderen herleiten lässt, impliziert keine völlige Unvermitteltheit. Arendts lakonisches Zugeständnis – »Es ist die selbe Person, die denkt und die handelt« – ist höchst folgenreich, wenn man berücksichtigt, wie stark gerade »die Person« bei Arendt erst durch ihre Urteile, Handlungen und Willensakte konstituiert wird.36

32 Seyla Benhabib, »Judgment and the Moral Foundations of Politics in Hannah Arendt’s #ought« [i. Folg. zit. als: »Benhabib, Foundations«], S.B183–204 in: Ronald Beiner/Jennifer Nedelsky, Judgment, Imagination, and Politics. !emes from Kant and Arendt, Oxford 2001 [i. Folg. zit. als: »Beiner/Nedelsky, Judgment«], bes. S.B185 u. 199; sowie: Seyla Benhabib, !e Reluctant Modernism of Hannah Arendt, #ousand Oaks 1996 [i. Folg. zit. als: »Benhabib, Modernism«], bes. S.B190–193.

33 Canovan benutzt Arendts Metapher vom Denken als dem sich selbst au!ösenden Gewebe der Penelope, um den Gedankengang zu charakterisieren, der ihrer Meinung nach »ultimately unresolved« bleibe; Bernstein beruft sich auf die »Verwirrung« (»perplexity«) in die das Denken mitunter münde. Vgl.: Margaret Canovan, »Socrates or Heidegger? Hannah Arendt’s Re!ec-tions on Philosophy and Politics«, S.B135–165 in: Social Research, Vol.B57, Nr.B1 (Frühjahr 1990) [i. Folg. zit. als: »Canovan, Socrates«], S.B135; sowie: Richard J. Bernstein, »Judging – the Actor and the Spectator«, S.B221–237 in: Richard J. Bernstein, Philosophical Pro"les. Essays in a Pragmatic Mode, Cambridge 1986 [i. Folg. zit. als: »Bernstein, Pro"les«], S.B235.

34 Hannah Arendt, Denktagebuch. 1950 bis 1973. Zweiter Band, hg. v. Ursula Ludz u. Ingeborg Nordmann, München 2002 [i. Folg. Zit. als: »Arendt, Denktagebuch II«], S.B657 (Januar 1966).

35 Vgl.: Jerome Kohn, »#inking/Acting«, S.B 105–134 in: Social Research, Vol.B 57, Nr.B 1 (Frühjahr 1990) [i. Folg. zit. als: » Kohn, #inking/Acting«]. Besonderen Nachdruck auf die Unabhängigkeit des Handelns vom Denken legt Villa: Dana R. Villa, »#e Banality of Philosophy: Arendt on Heidegger and Eichmann«, S.B179–196 in: Kohn/May, Twenty Years.

36 Die Diskussion um Arendts Begri" des Selbst besteht hauptsächlich aus der recht polemischen Kontroverse zwischen Jacobitti, die bei Arendt ein weitgehend souveränes

Sokratisches Denken gegen parodierte Philosophie

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Was der Fokus auf den Gewissensbegri" leisten kann, ist die Dynamisierung der Positionen von Zuschauerin und Handelnder, aus der sich eine Integration der Urteilsaspekte in den moralischen Kontext ergibt. Im letzten Kapitel, gestützt vor allem auf späte Einträge in Arendts erst kürzlich ediertem Denk-tagebuch, soll gezeigt werden, wie Arendt das Gewissen als vom Denken ge-stifteten Erscheinungsraum konzipiert, in dem die Vorstellungskraft moralische Phänomene so vergegenwärtigt, dass sie zum Urteilsgegenstand werden. Es ist diese Verschränkung von Denken und Urteilen im Leben des Geistes, von der Arendt sich die »Selbstverständlichkeit« moralischen Verhaltens verspricht. Zudem verheißt ihr neues und erweitertes Gewissensverständnis auch, die rein negative Funktion der vorläu%gen Konzeption zu überwinden. Die dem Geschmack analoge Urteilskraft entscheidet nicht nur, was für sie nicht in Frage kommt, sondern auch, was ihr zusagt. Die Überzeugung, dass bei Rück-sicht auf die Harmonie der Selbstbeziehung und Mitteilbarkeit der eigenen Position gegenüber anderen ein solches Urteil »gut« gefällt würde, macht auf systematischer Ebene die »Gravitation zum Guten« aus, die für Arendts Ethik charakteristisch ist.

Dem »Clown des 20. Jahrhunderts« würden somit keine Gründe geliefert, die den Wert der Moral bewiesen, sondern ein Potential geistigen Selbstumgangs und situativer Vergegenwärtigung unterstellt, das ihm vor Augen führte, dass

Subjekt ausmacht, und Honig, die vertritt, Arendt habe eine #eorie des »fragmentarischen« Selbst. Keine der beiden Autorinnen versucht konsequent, Arendts Verlegung des Charakters an die performative »Ober!äche« auszuwerten. Vgl.: Suzanne Duvall Jacobitti, »Hannah Arendt and the Will«, S.B53–76 in: Political !eory. Vol.B16, Nr.B1 (Februar 1988); Bonnie Honig, »Arendt, Identity, and Di"erence«, S.B77–98 in: Political !eory. Vol.B16, Nr.B1 (Februar 1988); Suzanne Duvall Jacobitti, »#inking about the Self«, S.B199–220 in: Jerome Kohn/Larry May (Hg.), Hannah Arendt: Twenty Years Later, Cambridge (Mass.) 1996.

Rahel Jaeggi hingegen untersucht Arendts Begri" der Person ausführlicher und kritisiert schließlich, dass Arendt soziale Beziehungen nicht fundamental ansetze und durch die Abspaltung eines privaten Kerns der Person sowie durch eine Reduktion des Innenlebens ihr Konzept der Entstehung personaler Identität »atomisiere«. Meiner Meinung nach ändert sich dieses Bild, wenn man Arendts Überlegungen zum Denken und Urteilen, die jeweils auf dem Selbstbezug vorausgehende Alterität rekurrieren, miteinbezieht. Eine interessante alternative Lösung vertritt systematisch sehr überzeugend Tobias Matzner, der Arendts Vita activa mit dem späten Wittgenstein zu einer nicht-essentialistischen Subjekt- und Handlungstheorie ausbaut. Vgl.: Rahel Jaeggi, Welt und Person. Zum anthropologischen Hintergrund der Gesellschaftskritik Hannah Arendts, Berlin 1997, bes. S.B72". u. 81f.; sowie Tobias Matzner, Vita variabilis. Handelnde und ihre Welt nach Hannah Arendt und Ludwig Wittgenstein, Würzburg 2013.

Einleitung

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wohl auch sein moralischer Geschmack im Zweifelsfall die Gesellschaft eines guten Freundes der eines Mörders vorziehen würde.37

Falls dem in diesem Einzelfall nicht so wäre, würde Arendt darin allerdings noch keinem Scheitern ihrer #eorie gegenüberstehen. Wenn sich meiner Meinung nach in ihrem Werk auch in zweierlei Hinsicht eine »Gravitation zum Guten« ausmachen lässt, war Arendt doch davon überzeugt, dass ein Hauptfehler traditioneller Moralphilosophien darin bestünde, keinen Raum für das Böse – und sogar für glückliche Böse – zu lassen (ÜBB123f.).

37 Arendt nimmt an, man könne nicht ernsthaft mit einem Mörder befreundet sein wollen. Wenn der »Clown« keine »Parodie eines Philosophen«, sondern ein waschechter Anarchist wäre, könnte die Antwort natürlich anders ausfallen. So argumentiert etwa Gustav Landauer sehr eindrucksvoll, dass es dem Status der Freundschaft nichts anhaben könne, wenn ein Freund einen Mord begehe; vgl.: Gustav Landauer, »Etwas über Moral«, S.B197–202 in: Gustav Landauer, Die Botschaft der Titanic. Ausgewählte Essays, hg. v. Wolfgang Fähnders u. Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Berlin 1994, S.B201. Die Bejahung eines Mords vor diesem Hintergrund wäre dann natürlich alles andere als gedankenlos.

Sokratisches Denken gegen parodierte Philosophie

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Eichmann in Jerusalem: Gewissenhaftigkeit, »Gaunersprache« und ein Gegenbeispiel

*us dieser Cer!achung kommt das 9nheil – und nicht aus der +iefe( die wir verloren haben,KP

Hannah Arendt

Arendts Prozessbericht über das Verfahren gegen Adolf Eichmann39, das vom 11.BApril bis zum 15.BDezember 1961 in Jerusalem stattfand, wird für gewöhnlich als der Ausgangspunkt gewählt, von dem her ihre späteren moralphilosophischen Schriften gelesen und ausgelegt werden. Obwohl auch diese Untersuchung so einsetzt, möchte ich vorschlagen, den werk-geschichtlichen Bogen nicht ganz so gradlinig anzusetzen, weil dabei wichtige Aspekte verloren gehen. Es ist mehr die Debatte um Arendts Werk, die nach Eichmann auf den Begri" des Bösen und Arendts für mehr oder weniger skandalös erachtete Attributierung dessen als »banal« %xiert blieb, als ihre eigene Arbeit.40 Arendts spätere moralphilosophische Grundannahme, dass die moralische Qualität von Handlungen und Urteilen vom denkenden Selbstverhältnis abhinge, ist ihr nicht erst als Umkehrschluss aus Eichmanns Gedankenlosigkeit zugefallen. Wie der Exkurs in den Briefwechsel mit Mary McCarthy zeigte, hat sie das Projekt einer »sokratischen« Fundierung von Ethik in der Denktätigkeit schon zehn Jahre zuvor beschäftigt. Der Nexus von Moral und gelingendem Selbstverhältnis, wobei letzteres jeweils in Gestalt einer »richtigen Denkweise« gefasst ist, ließe sich sogar noch weiter

38 Arendt, Denktagebuch II, S.B622 (1963/1964).39 Der Bericht erschien Anfang 1963 zunächst in fünf Teilen in !e New Yorker und wurde

anschließend leicht erweitert als Buch herausgegeben.40 So erschienen zum Beispiel ihre Vorlesungen zur Moralphilosophie, von ihr selbst auf

englisch als »Some Questions of Moral Philosophy« bzw. »Basic Moral Propositions« be-titelt, auf deutsch unter dem eher irreführenden Titel Über das Böse, zudem versehen mit einem Nachwort von Franziska Augstein, das einen weiteren, moderat Arendt-kritischen Beitrag innerhalb der Kontroverse um Eichmanns Banalität darstellt und auf eigentümliche Weise unbezogen auf den in dem betre"enden Band editierten Text bleibt. Vgl.: Franziska Augstein, »Taten und Täter«, S.B177–195 in: ÜB.

Eichmann in Jerusalem

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rück datieren.41 So %ndet sich in Arendts Rahel-Varnhagen-Biographie eine scharfe Kritik des spezi%sch romantischen »reinen Denkens«, dessen Rückzug in die Re!exion und Introspektion zum weltlosen Verlust von Verantwortung führt.42 In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ist es hingegen die »Selbst-losigkeit« der proto-totalitären Massen, die diese widerstandslos – und sogar begeistert – in der nationalsozialistischen Bewegung aufgehen lässt.43 Arendt hat die »Gedankenlosigkeit« – ein von Kant entlehnter Begri"44 – nicht erst an Eichmann entdeckt. Er lieferte ihr vielmehr endlich das ›Anschauungs-material‹, um ihre Hypothesen überprüfen und fundieren zu können. Dies gilt in noch stärkerem Maße hinsichtlich des eigentlichen Reizwortes in der Eichmann-Debatte, der Banalität. Dieser Begri" ist keine Innovation, die ihr erst angesichts des »Gespensts in der Glaskiste«45 aufgegangen wäre. In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft bezeichnet Arendt die Mörder als »subjektiv unschuldig«, »weil sie keineswegs aus ›mörderischen‹ Motiven handelten«46, und im Briefwechsel mit Jaspers fällt die Wendung 1946 wörtlich.47

Arendts exemplarische Fallstudie verfolgt eine ganze Reihe argumentativer Ziele. Sie will ihr eigenes Urteil, warum mit Eichmann die Erde nicht geteilt werden könne, fundieren, da sie seine Todesstrafe gern anders begründet ge-

41 Hierauf hat inzwischen auch hingewiesen: Steve Buckler, Hannah Arendt and Political !eory. Edinburgh 2011, S.B14.

42 Hannah Arendt, Rahel Varnhagen: Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München 1983, S.B21f.

43 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 2001 [im Folgenden zit. als: »Arendt, Elemente«], S.B679; darauf weist auch Bernstein hin: Richard J. Bernstein, Radical Evil. A Philosophical Interrogation, Oxford 2002 [i. Folg. zit. als: »Bernstein, Evil«], S.B214.

44 Immanuel Kant, »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen«, S.B243–300 in: Immanuel Kant. Werke II. Vorkritische Schriften, hg. v. Ernst Cassirer u. Artur Buchenau, Hildesheim 1912 [i. Folg. zit. als: »Kant, Beobachtungen«], S.B246.

45 Hannah Arendt/Heinrich Blücher, Briefe. 1936–1968, hg. v. Lotte Köhler, München 1996 [i. Folg. zit. als: »Arendt/Blücher«], S.B521 (20.04.1961).

46 Arendt, Elemente, S.B945.47 Hannah Arendt/Karl Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, hg. v. Lotte Köhler u. Hans Saner,

München 2001, S.B99 (19.10.1946). Diese Betrachtungen lassen sich natürlich nur retro-spektiv gewinnen, da inzwischen z.B. dieser Briefwechsel vorliegt. Der Punkt ist rein werkgeschichtlich; es geht nicht darum, die zeitgenössische Debatte eines (weiteren) Miss-verständnisses zu überführen.

Diner verwendet das angeführte Zitat und einige Stellen aus dem Arendt-Blücher-Brief-wechsel, um Arendts umstrittene Formulierung der »Banalität des Bösen« in einem mehr als fragwürdigen Verteidigungsmanöver auf den »schlechten Ein!uss« ihrer Gesprächspartner zurückzuführen. Vgl.: Dan Diner, »Hannah Arendt Reconsidered: Über das Banale und das Böse in ihrer Holocaust-Erzählung«, S.B120–136 in: Smith, Revisited, S.B130".

Gewissenhaftigkeit, »Gaunersprache« und ein Gegenbeispiel

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sehen hätte als im Urteil der Richter.48 Sie hinterfragt dabei die Basis westlichen Moral- und Rechtsverständnisses, indem sie das Böse nicht proportional zu den Intentionen des Täters bemisst.49 In einem anderen, eher ›unterirdischen‹ Strang, der nur einmal explizit im Text hervorbricht, be%ndet sie, dass – trotz und gerade angesichts Eichmanns – »dieser Planet ein Ort bleibt, wo Menschen wohnen können« (EJB347). Arendts zentraler Befund, dass unter den Bedingungen der Moderne Gedankenlosigkeit und nicht Gewissenlosig-keit die bedrohlichste Prädisposition zum Bösen darstelle, versieht sie in ihrem Porträt Eichmanns mit einer entscheidenden Pointe, die hier im Mittelpunkt stehen soll – nämlich, dass am Beispiel Eichmanns deutlich werde, dass der herkömmliche Gewissensbegri" obsolet sei.50 In zwei Durchgängen durch Arendts phänomenologisches Portrait soll zunächst die Charakterisierung von Eichmanns Gewissen anhand der Kriterien von Strebsamkeit, Normali-tät, Konsequenz und Abhärtung nachgezeichnet werden.51 Der heuristisch interessante zweite Schritt besteht darin, dass Arendt diese Konditionen auf Eichmanns Sprachgebrauch abbildet. Es ist die Übernahme der totalitären Amtssprache, so ihre #ese, durch die das Gewissen jedwede moralische

48 Ihrer Meinung nach hätte für den Tatbestand die neue Kategorie »Verbrechen gegen die Menschheit« heißen sollen, da sich in Eichmanns Taten das Bestreben ausdrücke, die Erde mit einer bestimmten Bevölkerungsgruppe nicht teilen und damit ihre Pluralität in Frage stellen zu wollen. Vgl. dazu: Benhabib, Identität, bes. S.B112".

49 Vgl.: Bernstein, Evil, S.B214: »#roughout Western thought, the very ›grammar‹ of evil has involved the idea of evil intentions.«

50 Villa erklärt die Frage nach dem Gewissen sogar zum »Hauptthema« des Buchs, das sonst eher im Begri" des Bösen (Bernstein) oder im Urteils(un)vermögen (Young-Bruehl) gesehen wird. Vgl.: Dana R. Villa, »Das Gewissen, die Banalität des Bösen und der Gedanke eines repräsentativen Täters« [i. Folg. zit. als »Villa, Gewissen«], S.B231–263 in: Smith, Revisited, S.B239; sowie: Bernstein, Question, S.B155".

51 Christian Volk schlägt vor, Arendts Charakterisierung Eichmanns, die er auf die vier Schlüsselbegri"e »Realitätsferne«, »innere Leere«, »unerbittliche P!ichttreue« und »Ver-antwortungslosigkeit« bringt, zu einer »Physiognomie der Moderne« auszuweiten. Obwohl ich die Charakteristika Eichmanns ebenfalls schematisiere, will ich keineswegs einer solchen Verallgemeinerung zuarbeiten, zumal ich hier ein sehr viel bescheideneres, rein Arendt-exegetisches Anliegen verfolge. Eichmann nimmt in Arendts Werk zwar die Stellung eines Modellfalls ein, aber er »repräsentiert« nicht »die Moderne«. Seine Partikularität muss gewahrt bleiben. Vgl.: Christian Volk, Urteilen in dunklen Zeiten. Eine neue Lesart von Hannah Arendts ›Banalität des Bösen‹, Berlin 2005, bes. S.B17f. Zudem kann nicht genug betont werden, was auch bei Volk unterzugehen droht: Dass es sich bei solchen Charakteristika allerhöchstens um Bedingungen für das Böse handeln kann; nicht Banalität oder Gedankenlosigkeit standen in Jerusalem unter Anklage, sondern das Organisieren des Holocausts. Hier werden sie ohnehin zur Kritik eines bestimmten Gewissensbegri"s, nicht zur Verurteilung Eichmanns verwendet.

Eichmann in Jerusalem

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Kraft eingebüßt habe. Diese Kritik oder Demontage stellt den entscheidenden Ausgangspunkt für die weitere Untersuchung dar, denn in Arendts späterer Moralphilosophie geht es in erster Linie darum, einen alternativen Gewissens-begri" aufzutun, der solcher Übernahmen widerstünde und auf genau jenen Elementen basiert, die bei Eichmann nicht zu %nden waren.

Die Physiognomie der Gewissenhaftigkeit

Arendt selbst betont die zentrale Stellung der Frage nach Eichmanns Gewissen in dem Verfahren gegen ihn. »Nahezu jedem Beobachter dieses Prozesses« dränge sich die Frage auf, »ob der Angeklagte ein Gewissen habe« (EJB184). Die naheliegenden Antworten auf diese Frage lauten entweder, dass Eichmann, der als Leiter des Reichssicherheitshauptamts die Deportation der Juden aus fast allen von den Deutschen besetzten Ländern nach Auschwitz organisierte, kein Gewissen hatte, oder, dass er zwar eines hatte, aber nicht darauf hörte. Arendt vertrat jedoch die Ansicht, dass Eichmann sehr wohl ein Gewissen ge-habt habe und dass das Problem gerade darin bestünde, dass er diesem auch gefolgt sei. Sie beharrte entgegen der den Prozess dominierenden Stimmung auf Eichmanns »Normalität« in dieser Hinsicht, die ihm auch von Psychologen, deren Urteil Arendt allerdings notorisch misstraute, attestiert worden war. Den Richtern war ihrer Meinung nach entgangen, was sie für »das schwerste moralische Problem des Falles« hielt, da sie sich dafür entschieden hätten, Eichmann eher für einen gewissenlosen Lügner zu halten, der seine wahren, bösen Motive verschwieg, als zuzugestehen, dass sich das »normale« Gewissen so weit entstellen ließe, »dass ein durchschnittlicher, ›normaler‹ Mensch, der weder schwachsinnig noch eigentlich verhetzt, noch zynisch ist, ganz außer-stande sein soll, Recht von Unrecht zu scheiden« (EJB99).

Für Arendt wurde der ›Fall Eichmann‹ dagegen zum Lehrstück darüber, wie sich die Gleichschaltung eines Gewissens abspielt. Ihre eigene Diagnose bezüglich der Existenz von Eichmanns Gewissen lautet folgendermaßen:

1ie *ntwort schien klar; Sa( @ichmann hatte ein <ewissen( sein <ewissen hat un>gefähr vier )ochen lang so funktioniert( wie man es normalerweise erwarten durfte? danach kehrte es sich gleichsam um und funktionierte in genau der entgegengesetzten )eise, O@SBGPTQ

Diesen Übergang zum Sanktionsorgan für Massenmord macht sie an Eichmanns Verhalten bei Beginn der Vernichtungspolitik fest. Als er im September 1941 anstatt wie bislang die Enteignungen und Zwangsausbürgerungen nun die

Gewissenhaftigkeit, »Gaunersprache« und ein Gegenbeispiel

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Deportation mit dem Ziel der Vernichtung zu organisieren hatte, dirigierte er die ersten Züge entgegen seiner Befehle nicht auf russisches Gebiet, sondern ins Ghetto von Lodz, wo zwar schreckliche Bedingungen herrschten, die Menschen aber nicht sofort exekutiert wurden. Zudem reagierte er mit Entsetzen und Übelkeit auf die Demonstration eines Vergasungswagens bei einer Dienstreise ins polnische Todeslager Kulmhof (EJB174). Für einen kurzen Moment schien sich also so etwas wie eine »normale« Gewissensregung – und auch nicht mehr als eine Regung – bei Eichmann gezeigt zu haben. Bereits drei Wochen später schlug er jedoch bei einem Tre"en mit Heydrich vor, die für russische Kommunisten eingerichteten Vernichtungslager auch für Juden zu verwenden. Die »Umpolung« seines Gewissens wurde schließlich besiegelt, als Eichmann der Zustimmung seines Umfelds zu den Beschlüssen der Wannseekonferenz gewahr wurde. Entgegen den Befürchtungen von Hitler, Heydrich und Müller hatten die dort am 20.BJanuar 1942 versammelten Staatssekretäre – also die höchsten Mitglieder der zivilen Verwaltung – den Vernichtungsplänen nichts entgegenzusetzen. Im Gegenteil: Sie überboten sich mit »Lösungsvor-schlägen« bei der Diskussion der »technischen Durchführung«, deretwegen das Tre"en angesetzt war. Eichmann, der das Protokoll zu schreiben hatte, war anschließend mit »Pilatusscher Zufriedenheit« erfüllt und seiner anfäng-lichen Skrupel enthoben. Arendt präsentiert diesen Moment in einer dichten Collage aus Eichmanns Selbstauskunft, Beschreibung der Konstellation und ergänzendem Subtext:

Setzt sah er mit eigenen *ugen und hörte mit eigenen Uhren( dass nicht nur Eitler( nicht nur Eeydrich und die 5'phinx7 Iüller( nicht allein die '' und die &artei( sondern daß die @lite des guten alten 'taatsbeamtentums sich mit allen anderen und untereinander um den Corzug stritt( bei dieser 5gewaltsamen7 *ngelegenheit in der vordersten Jinie zu stehen, 50n dem *ugenblick hatte ich eine *rt &ilatusscher Nufriedenheit in mir verspürt( denn ich fühlte mich bar jeder 'chuld,7 Wer war er, sich ein Urteil anzumaßen? Con solcher 5*rroganz7 war er ganz frei, 5)as soll ich als kleiner Iann mir <edanken darüber machen67 O@SBVHMQ

Dies Zitat ist auch in Hinblick auf Arendts Gesamtwerk aufschlussreich. Die Aussage Eichmanns – »Was soll ich als kleiner Mann mir Gedanken darüber machen?« –, die sie mit dem Subtext »Wer war er, sich ein Urteil anzumaßen? Von solcher ›Arroganz‹ war er ganz frei« versieht, bildet den entscheidenden Nullpunkt, die negative Kontrastfolie ihrer Urteilstheorie. Den Vorwürfen, dass ihre Forderung nach Urteil unter allen Umständen »Anmaßung«, »Willkür« und »Arroganz« bekunde, steht hier entgegen, dass die so tugendhaft daher-

Eichmann in Jerusalem

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kommende »Bescheidenheit« im Urteil womöglich ein weitaus größeres Risiko birgt – die Übereinstimmung mit der Umwelt, das Intaktlassen ihrer selbstredenden Übereinstimmung und ihres Funktionierens, selbst wenn es sich um ein System zur Verwirklichung des absolut Bösen handelt. Arendts unfertig gebliebener Urteilstheorie ist der Antrieb dieses »Alles,-nur-das-nicht!« durchaus anzusehen.

Die Übereinstimmung mit seiner Umgebung genügte Eichmann also anscheinend, um sein Gewissen zu beruhigen. Was sich jedoch im weiteren Verlauf des Prozesses zeigte, war, dass Eichmann sein Gewissen eben nicht nur betäubt oder gar ausgeschaltet, sondern tatsächlich umgestellt hatte. Er behauptete selbst, sich sein Leben lang nach dem kategorischen Imperativ gerichtet zu haben, den er zu Arendts o"ensichtlicher Verblü"ung auch zitieren konnte (EJB232) – nur dass er darin ab einem gewissen Zeitpunkt eine Änderung vorgenommen hatte. Das allgemeine Gesetz war nunmehr der Führerwille: »Handle so, daß der Führer, wenn er von deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde.«52 Damit ist natürlich von der kantischen Autonomie und Selbstgesetzgebung nichts mehr übriggeblieben, allerdings das formale Prinzip – die Identi%kation des eigenen Willens mit der gesetzgebenden Instanz und das Fernhalten jedweder »Neigungen« – auf ge-spenstische Weise aufrechterhalten. Solcherart mit einer Orientierung versehen, empfand Eichmann nach eigenem Bekunden sein Leben sogar als »sinnvoll« und prüfte seine Handlungen gewissenhaft auf ihre Ordnungsmäßigkeit.

234 so kann man nur zu dem 'chluß kommen( dass @ichmann sich durchaus im :ahmen der geforderten 9rteilsfähigkeit gehalten hat; er hat im 'inne der :egel ge>handelt und die an ihn ergangenen /efehle auf ihre 5o"ensichtliche7 :echtmäßigkeit( nämlich :egularität hin geprüft, O@SB-KQMK

Seine »Konsequenz« und sein »P!ichtbewusstsein« brachte Eichmann zudem selbst mit einer Haltung in Zusammenhang, die er für die menschlich groß-

52 Diese Variante war ursprünglich von Hans Frank, der Generalgouverneur im besetzten Polen war, propagiert worden.

53 Arendt argumentiert an anderer Stelle, dass eben deshalb die Kategorie des »Befehlsnot-stands« nicht greift; s. Hannah Arendt, »Was heißt persönliche Verantwortung unter einer Diktatur?«, S.B81–97 in: Hannah Arendt, Nach Auschwitz. Essays und Kommentare 1, hg. von Eike Geisel u. Klaus Bittermann, Berlin 1989 [i. Folg. zit. als: »Arendt, Nach Auschwitz«], S.B88. Siehe auch in EJ: »Was er getan hatte, war nur im Nachhinein ein Verbrechen; er war immer ein gesetzestreuer Bürger gewesen, Hitlers Befehle, die er nach bestem Vermögen befolgt hatte, besaßen im Dritten Reich ›Gesetzeskraft‹.« (EJB97).

Gewissenhaftigkeit, »Gaunersprache« und ein Gegenbeispiel

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artigste hielt: »Idealismus«. Ähnlich wie vom kategorischen Imperativ hatte sich Eichmann auch vom Idealismus eine spezi%sche Variante zurechtgelegt. Arendt hatte bei Eichmanns Kant-Bezug vom »kategorischen Imperativ für den Hausgebrauch des kleinen Mannes« gesprochen (EJB233) – nun ist es der für den nationalsozialistischen »Hausgebrauch« spezi%zierte Idealismus, dessen Konturen sie nachzeichnet:

9m seinen Corstellungen von einem 50dealisten7 zu entsprechen( genügte es nicht( an eine 50dee7 zu glauben( nicht zu stehlen und keine /estechungen anzunehmen( obwohl diese Wuali%kationen unerläßlich waren, 50dealist7 war jemand( der für seine 0dee lebte – daher konnte er keinen anderen /eruf haben – und der bereit war( seiner 0dee alles und insbesondere alle zu opfern, )enn @ichmann im &olizeiverhör sagte( dass er seinen eigenen Cater in den +od geschickt hätte( wenn das von ihm verlangt worden wäre( so wollte er damit nicht nur hervorheben( in welch hohem Iaße er von /efehlen abhängig und zum <ehorchen bereit war? er wollte auch demonstrieren( was für ein 50dealist7 er immer gewesen war, =atürlich hatte auch ein 50dealist7 wie jedermann seine persönlichen =eigungen und @mp%ndungen( doch würde er nie sein Eandeln von <efühlen beein!ussen lassen( die mit seiner 50dee7 in Xon!ikt stünden, O@SBGG-Q

Mit diesem »Idealismus«, der nun sein Gewissen strukturierte, setzte Eich-mann sich bei Kriegsende sogar in o"enen Gegensatz zu Himmler. Als dieser im Herbst 1944 befahl, die Deportationen zu stoppen und Spuren möglichst zu verwischen, widersetzte sich Eichmann und schickte weitere Todeszüge nach Auschwitz. Ausnahmen und Rückzieher waren in seinem System der gewissenhaften P!ichterfüllung nicht vorgesehen, sie hätten bewiesen, dass er noch anderen Faktoren als »der Idee« Rechnung trug.

1iese kompromißlose Ealtung bei der Cerrichtung seiner mörderischen &!ichten be>lastete ihn natürlich in den *ugen des <erichts mehr als alles andere( vor sich selbst aber fühlte er sich gerade durch sie gerechtfertigt( und es ist kein Nweifel( dass das /ewußtsein( *usnahmen nicht geduldet zu haben( in ihm( was immer an <ewissen bei ihm noch übriggeblieben sein mochte( zum 'chweigen brachte, Xeine *usnahmen( keine Xompromisse – das war der /eweis dafür( dass er stets gegen die 5=eigung7 – <efühle oder 0nteressen – der &!icht gefolgt war, O@SBVKKf,Q

Auf diesem moralischen Vorrang der P!ichterfüllung vor Gefühlen und Neigungen baute auch ein psychologischer Mechanismus, eine spezi%sche Konditionierung zum Morden, die Arendt als »Abhärtung« analysiert. Wie bereits skizziert, war das »Gewissen« der Täter relativ leicht auf die Seite

Eichmann in Jerusalem

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der Macht zu bringen, dennoch war es für die Mehrheit, die von Haus aus weder sadistisch noch mordlüstern war, noch keine Selbstverständlichkeit zu morden. Dagegen wurde von den NS-Ideologen eine Verkehrung der Rolle von Opfer und Täter propagiert, die suggerierte, dass die Mörder bei ihrer Arbeit heroisch leiden müssten und sich folglich mit aller Kraft gegen die Versuchungen menschlichen Mitleids zu wappnen hätten. Arendt beschreibt diese Strategie wie folgt:

Ian hatte es also mit normalen Ienschen zu tun( und das &roblem war nicht so sehr( wie man mit ihrem 5normalen <ewissen7 fertigwerden könne( als wie man sie von den :eaktionen eines gleichsam animalischen Iitleids 5befreien7 konnte( das normale Ienschen beim *nblick physischer Jeiden nahezu unweigerlich befällt, 1er von Eimmler( der anscheinend besonders anfällig für solche instinktiven :eaktionen war( angewandte +rick war sehr einfach und durchaus wirksam? er bestand darin( dies Iitleid im @ntstehen umzukehren und statt auf andere auf sich selbst zu richten, 'o dass die Iörder( wenn immer sie die 'chrecklichkeit ihrer +aten über%el( sich nicht mehr sagten; )as tue ich bloßY( sondern; )ie muss ich nur leiden bei der @rfüllung meiner schrecklichen &!ichten( wie schwer lastet diese *ufgabe auf meinen 'chulternY O@SBGFTf,Q

Diese Verkehrung von Gut und Böse konnte ihre Suggestionskraft paradoxer-weise auf eine lange christliche und moralphilosophische Tradition stützen, in der das Gute stets als das, was einer Anstrengung bedarf, vorgestellt wird und das Böse als Versuchung oder spontaner Reiz auftritt.54 Der große Irrtum in der Strategie der Anklage gegen Eichmann lag laut Arendt darin, zu verkennen, dass die totalitären Praktiken diese Terminologie komplett auf den Kopf gestellt und zur Erfassung des spezi%sch Bösen von Tätern im Verwaltungsmassen-mord unbrauchbar gemacht hatten, so dass Staatsanwalt Hausner mit seinen erfolglosen Versuchen, Eichmann sadistischer Züge oder des eigenhändigen Mordes an auch nur einem einzigen Juden zu überführen, den Kern von dessen neuartiger Verbrechernatur und -gewissen gar nicht berührte. So insistiert Arendt, abermals mit charakteristischer Ironie:

0m 1ritten :eich hatte das /öse die @igenschaft verloren( an der die meisten Ienschen es erkennen – es trat nicht mehr als Cersuchung an den Ienschen heran, Ciele 1eutsche und viele =azis( wahrscheinlich die meisten( haben wohl die Cersuchung gekannt( nicht zu morden( nicht zu rauben( ihre =achbarn nicht in den 9ntergang ziehen zu lassen

54 Arendt diskutiert dies Problem ausführlicher in ÜBB53f.

Gewissenhaftigkeit, »Gaunersprache« und ein Gegenbeispiel

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234 und nicht( indem sie Corteile davon hatten( zu Xomplizen all dieser Cerbrechen zu werden, *ber sie hatten( weiß <ott( gelernt( mit ihren =eigungen fertig zu werden und der Cersuchung zu widerstehen, O@SBVTFQ

Arendts Zusammenfassung von Eichmanns Charakter hebt schließlich als eigentliche Motivation, sein Amt auszuführen, lediglich ein überdurchschnitt-liches Karrierestreben hervor:

@ichmann war nicht Sago und nicht Iacbeth( und nichts hätte ihm ferner gelegen( als mit :ichardB 000 zu beschließen( 5ein /ösewicht zu werden7, *ußer einer ganz ungewöhnlichen /e!issenheit( alles zu tun( was seinem 8ortkommen dienlich sein konnte( hatte er überhaupt keine Iotive? und auch diese /e!issenheit war an sich keineswegs kriminell( er hätte bestimmt niemals seinen Corgesetzten umgebracht( um an dessen 'telle zu rücken, O@SBM-Q

Paradoxerweise war es dasselbe von konsequenter P!ichterfüllung geleitete Gewissen, das ihm verboten hätte, einen Vorgesetzten umzubringen, das ihn dazu anhielt, die Befehle zur Organisation des Massenmordes so gewissenhaft wie möglich zu befolgen.

Die Phraseologie der Gedankenlosigkeit

Ein bedenkenswerter Einwand gegen Arendts #ese von Eichmanns Banali-tät lautet, sie habe sich von dem theatralischen Setting des Prozesses – das sie im ersten Kapitel des Buches so einprägsam beschreibt – täuschen lassen und nicht genügend berücksichtigt, dass selbst Hitler höchstpersönlich hinter Plexiglas und Aktenordnern auf der Anklagebank, aller Macht und deren Aura beraubt, »banal« gewirkt hätte.55 Dagegen erscheint es mir wichtig zu betonen, dass ihr Urteil über Eichmanns reichlich banale Charakteristika – Karrieredenken, extreme Konformität und Konsequenz sowie eine spezi%sche »Abhärtung« – eben gerade nicht allgemein auf den Eindruck, den die Figur

55 »Er [Eichmann] sei ›nicht einmal unheimlich‹, schreibt sie an Heinrich Blücher. Außerdem hatte er einen Schnupfen und nieste in seinem Glaskasten: ein ›Hanswurst‹. Schon zu diesem Zeitpunkt hätte sie es besser wissen können. Hitler selbst hätte unter solchen Voraussetzungen keine bessere Figur abgegeben. Ihrer Macht beraubt, auf der Anklage-bank sitzend, wirken die meisten Tyrannen und Massenmörder jämmerlich oder banal. War Hannah Arendt in diesem frühen Stadium vielleicht ein Opfer dessen, was man als ›physiognomischen Trugschluß‹ bezeichnen könnte?« (Amos Elon, »Hannah Arendts Ex-kommunizierung«, S.B17–32 in: Smith, Revisited, S.B20).

Eichmann in Jerusalem

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Eichmann erweckte, bezogen ist, sondern sich einer eingehenden Auswertung seiner Ausdrucksweise verdankt.

Während Arendts vielfach beklagter Tonfall in Eichman in Jerusalem in vieler Hinsicht zum Rezeptionshindernis geworden ist, ermöglicht er den Nachvollzug dieser sprachkritischen #ese ausgesprochen gut. Trotz der weit-verbreiteten Ansicht, dass Arendts Stil sie zumindest indirekt verantwortlich für die ruinösen Missverständnisse mache, die ihr Buchs hervorrief, liegt bislang nicht eine einzige detaillierte rhetorische Analyse des Texts vor. Die einhellig wiederholten Vorwürfe sind sehr allgemein gehalten. Arendt schreibe ironisch, sarkastisch und herrisch.56 Letzterer Kritikpunkt, von Amos Elon zusätzlich als »voller Professorenherrlichkeit« getadelt57, scheint mir unter Anderem auf der fragwürdigen Erwartung zu beruhen, dass Arendt »als Frau« besonders für Feinfühligkeit und »Herzenstakt« (den zu ermangeln ihr Gerhard Scholem in dem berühmten Briefwechsel vorwarf58) verantwortlich gehalten wird. Ein Teil des Unbehagens scheint schon daher zu rühren, dass sie sich überhaupt dezidierte Urteile zutraute und »professoral« sprach – was doch schließlich ihr Beruf war. Ein Ansatz zur Analyse der von Arendt verwendeten Ironie %ndet sich bei Hans Mommsen. Er bringt den psychologischen Gesichts-punkt an, dass gerade der sarkastische Ton dem unfassbar Schrecklichen Rechnung trage und übergroße Betro"enheit verberge.59 Arendt selbst äußert sich dazu in ihrer Moralphilosophie-Vorlesung ähnlich, allerdings mit stärker ästhetischer Gewichtung. Wo die einzig angemessene emotionale Reaktion sprachlose Fassungslosigkeit sei, würde jede Gefühlsbekundung zu Kitsch und Sentimentalität und sei daher in der Darstellung zu vermeiden (ÜBB19). Mein Eindruck ist, dass es sich bei den »ironischen« Passagen und Kommentaren weitgehend um Arendts widerstrebende Pastiche von Eichmanns Sprech- und Denkweise handelt. In ihrem Bemühen um Verständnis stellt sie die Sprache

56 Benhabib, Identität, S.B95f.; Bernstein, Jewish Question, S.B159; Young-Bruehl, Arendt, S.B464 u. 497.

57 Amos Elon, »Hannah Arendts Exkommunizierung«, S.B17–32 in: Smith, Revisited.58 Vgl.: Gerhard Scholem an Hannah Arendt, Brief vom 23.06.1963, S.B63–70 in: Hannah

Arendt, Nach Auschwitz, S.B65. Dank auch an Aurélie Herbelot, die diese Beobachtungen bekräftigte.

59 »Die wenigsten nehmen wahr, daß die Schilderung des schlechthin Grauenhaften, wenn sie nicht in moralisierender Wehleidigkeit ersticken oder durch eine abschreckende Aneinander-reihung von Szenen tiefster menschlicher Erniedrigung nur Instinkte des Sichabwendens auslösen will, notgedrungen zu Ironie und Sarkasmus Zu!ucht nehmen muß, hinter denen sich tiefste Betro"enheit verbirgt.« (Hans Mommsen, »Hannah Arendt und der Prozeß gegen Adolf Eichmann«, S.B9–48 in: EJ, S.B32.)

Gewissenhaftigkeit, »Gaunersprache« und ein Gegenbeispiel

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des Täters aus, übertreibt zur Verdeutlichung zugrundeliegende Denkmuster und Annahmen, wie etwa in der bereits zitierten Passage, in der sie Eichmann souRiert »Wer war er, sich ein Urteil anzumaßen? Von solcher ›Arroganz‹ war es ganz frei.« Trotz sorgfältiger Apostrophierung ist das Buch mithin stark ge-prägt von solch makabren Subtexten, deren Unfassbarkeit Arendt vermutlich für keines weiteren Kommentars bedürftig hielt.60

Arendts minutiöse Analyse des Eichmann’schen Sprachgebrauchs ist es auch, die sie schließlich auf die Spur dessen bringt, was ihm o"enbar abgeht: Denk- bzw. Vorstellungsvermögen. Ihr Material stellten dazu nicht nur jene Aussagen Eichmanns vor Gericht dar, die sie mitverfolgte, sondern vor allem eine sechsbändige Dokumentation von Verhören und Interviews, die sie in Briefen an Blücher ironisch »Eichmanns gesammelte Werke« nennt.61

Zunächst macht sie ein eklatantes Unvermögen aus, dem sie eine spezi%sche Komik abgewinnt:

8ür einen &sychologen könnte der deutsche +ext des auf /and aufgenommenen &olizeiverhörs( das vom VF,BIai GF-H bis zum GA,BSanuar GF-G datiert( 'eite für 'eite von @ichmann korrigiert und sinniert( eine wahre 8undgrube von @insichten bilden, 0n @ichmanns Iund wirkt das <rauenhafte oft nicht einmal mehr makaber( sondern ausgesprochen komisch, Xomisch ist auch @ichmanns heldenhafter Xampf gegen die deutsche 'prache( in dem er regelmäßig unterlag – so( wenn er immer wieder von Zge>!ügelten )orten[ sprach( aber :edensarten oder 'chlagworte wie zum /eispiel Eimm>lers =eujahrsparolen meinte 234, Xomisch sind auch die endlosen 'ätze( die niemand verstehen kann( weil sie ohne alle 'yntax :edensart auf :edensart häufen, O@SBGVTQ

Eichmanns Ausdrucksweise nimmt also dem Grauenhaften seine eigentliche Dimension, ist von Fehlanwendung bestimmter Begri"e geprägt und zudem nicht durch korrekte Grammatik, sondern Redensart-Sequenzen strukturiert.

60 Während ein Teil der verstörenden Wirkung des Texts auf das Publikum sicher in einer solchen Analyse und methodologischen Erhellung besser nachvollzogen werden könnte, scheint es mir andererseits nicht ausreichend, den Skandal um Eichmann in Jerusalem allein dem »Ton« des Buches zuzuschreiben. Dass Arendt die Organisationsstruktur der jüdischen Gemeinden für die Zahl der Opfer mitverantwortlich erklärt (EJB218), ist ja nicht nur wegen ihres Tonfalls kontrovers.

61 Arendt/Blücher, S.B535. Ich habe Arendts Schlussfolgerungen für diese Arbeit nicht anhand dieses Quellenmaterials überprüft. Wenn ich ihre Diagnose im folgenden zu plausibilisieren versuche, kann das nur Gültigkeit als moralpsychologischer Typus beanspruchen, der allerdings philosophisch folgenreich wäre, selbst wenn ausgerechnet Eichmann ihm nicht entspräche.

Eichmann in Jerusalem

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Diese ›Ungereimtheiten‹ durchkreuzen die Erwartungen an die Kommunikation auf komische Weise.62 Arendt schildert, wie auch der vorsitzende Richter diesen Umstand ankreidete, woraufhin Eichmann auf charakteristische Weise reagierte:

*ls Jandau ihm sagt( dass es so nicht weiterginge( spürte er wohl dunkel einen 1efekt 234( wie einen milden 8all von *phasie –( und entschuldigt sich; 5*mtssprache ist meine einzige 'prache,7 1och diese *mtssprache war eben gerade deshalb seine 'prache geworden( weil er von Eaus aus unfähig war( einen einzigen 'atz zu sagen( der kein Xlischee war,7 O@SBGVf,Q

Die Richter hielten Eichmanns Festhalten an der Amtssprache für eine Strategie. Arendt dagegen sah darin den genauen Ausdruck seiner geistigen Verfassung. Einerseits habe er seine Selbstpräsentation zu konsequent durchgehalten, andererseits erschien ihr die Kompilation von Klischees ein zu grundlegendes Organisationsprinzip auch von Eichmanns Psyche und Erinnerung zu sein, als dass sie sich zur rhetorischen Verteidigungstaktik reduzieren ließe:

1ie :ichter hatten zwar recht( als sie dem *ngeklagten bei der 9rteilsverkündung sagten( alles( was er vorgebracht habe( sei 5leeres <erede7 gewesen( aber sie glaubten – zu 9nrecht( dass diese Jeere vorgetäuscht war und dass der *ngeklagte dahinter <edanken zu verbergen wünschte( die zwar abscheulich( aber nicht leer waren, 1agegen spricht schon die verblü"ende Xonsequenz( mit der @ichmann trotz seines eher schlechten <edächtnisses )ort für )ort die gleichen &hrasen und selbsterfundenen Xlischees wiederholte Owenn es ihm einmal gelang( einen wirklichen 'atz zu konstruieren( wiederholte er ihn so lange( bis ein Xlischee daraus wurdeQ( wann immer die :ede auf 1inge oder @reignisse kam( die ihm wichtig waren, O@SBGVMQ

Dieser Befund wird zum Ausgangspunkt für Arendts weitere Interpretation. Die Phrasen und Redewendungen, die die zentralen Bausteine von Eichmanns Äußerungen bildeten, hatten für ihn jeweils eine persönliche, emotionale Funktion. Insofern erschienen Arendt jene Momente selektiver Erinnerung bei Eichmann, die die Richter an seiner Glaubwürdigkeit zweifeln ließen, als allzu plausibel – etwa als es um die Wannsee-Konferenz ging und Eichmann sich kaum zu den gefassten Entschlüssen äußern konnte, aber in leuchtenden

62 Diese Beschreibung ist dezidiert nicht von Herablassung auf ungelehrte Sprache diktiert. In ihren Essays zur Literatur wird Arendt nicht müde, die Poetik und Aussagekraft gerade von Kinder- und Umgangssprache zu preisen. Vgl. bes.: »Robert Gilbert«, S.B284–291 in: Arendt, Menschen, S.B285f.

Gewissenhaftigkeit, »Gaunersprache« und ein Gegenbeispiel

34

Farben schilderte, mit welchem der »hohen Herren« er später einen Kognak habe trinken dürfen (EJB204).

)esentlich ist( dass er nicht eine einzige der &hrasen vergessen hatte( die ihm in der einen oder anderen 'ituation ein 5erhebendes <efühl7 verscha"t hatten, )enn nun die :ichter im Xreuzverhör versuchten( sein <ewissen anzusprechen( tönten ihnen diese 5erhebenden <efühle7 entgegen( und es entsetzte sie( ebenso wie es sie verwirrte( als sie entdeckten( dass der *ngeklagte ein spezielles erhebendes Xlischee für jeden *bschnitt seines Jebens und für jede der +ätigkeiten( die er ausgeübt hatte( parat hatte, O@SBGKGQ

Ein weiteres Indiz dafür, dass sich hinter dieser Selbstdarstellung keine authen tischere Dimension verborgen hielt, war laut Arendt, dass Eichmann generell eine spezi%sche Unfähigkeit an den Tag legte, für seine Äußerungen alter native Ausdrucksweisen zu %nden. Er verfügte über keine Paraphrasen für seine Phrasen. Genauso wenig, wie ihm auf Nachfrage des Richters, dem diese deutsche Wendung aus dem Kartenspiel nicht vertraut war, partout kein Synonym zu »kontra geben« ein%el (EJB125), war es ihm auch unmöglich, sich auf seine Handlungen zur Zeit des Nationalsozialismus anders als den damaligen Sprachregelungen gemäß zu beziehen:

@r brauchte bloß zu hören; 5''7( 5Jaufbahn7 oder 5Eimmler7 Odem er stets seinen langen o$ziellen +itel gab; :eichsführer '' und Dhef der 1eutschen &olizei( ob>wohl er ihn ganz und gar nicht bewunderteQ oder was ihn sonst in die Cergangenheit zurückversetzen mochte( und ein Iechanismus war ausgelöst( der absolut zuverlässig funktionierte, O@SBGVAQ

Diese eindimensionale Sprechweise in Klischees deckt sich nun laut Arendt mit der nationalsozialistischen Manipulation der Sprache per »Sprachregelungen«. Pseudowissenschaftliche und technokratische Floskeln suggerierten Objektivi-tät und Notwendigkeit der getro"enen Entscheidungen – wie etwa der Begri" der »Endlösung der Judenfrage«. Eichmann selbst kam im Prozess immer wieder darauf zu sprechen, dass diese in erster Linie ein »Transportproblem« gewesen sei, um sich dann in Länge über logistische Details auszulassen, in denen nirgends mehr vorkam, dass das »Transportgut« Menschen waren, ge-schweige denn, welchem Leid sie ausgesetzt waren und was sie nach Ankunft erwartete. Laut Arendt war Eichmanns klischeedurchsetzte Ausdrucksweise bestens geeignet, solche Sprachregelungen reibungslos zu integrieren.

0m @nde"ekt sollte dieses 'ystem von 'prachregelungen die Cernichtungsexperten nicht etwa blind machen für die =atur ihrer +ätigkeit( wohl aber verhindern( dass

Eichmann in Jerusalem

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sie sie mit ihren alten( 5normalen7 Corstellungen von Iord und Jüge gleichsetzten, @ichmanns große *nfälligkeit für 'chlagworte und &hrasen und seine 9nfähig>keit( sich normal auszudrücken( machten ihn natürlich zu einem idealen Ubjekt für 5'prachregelungen7, O@SBGAGQ

Die erwähnten Merkmale von Eichmanns Gewissen lassen sich nun allesamt als Symptome dieses Sprachgebrauchs einordnen. Die Lügen, die Eichmann aus Geltungssucht und zur Erleichterung seiner Karriere verbreitete, fügten sich in das Netz systematischer Propagandalügen ein, dessen Funktion Arendt in ihrem Aufsatz »Wahrheit und Politik« eingehend beschreibt.63 Die Macht eines totalitären Regimes, zumindest für einige Zeit die Aussagen seiner Ideo-logie retroaktiv zu »beweisen«, spiegelt sich noch darin, dass die hanebüchenen Auskünfte, die Eichmann über seinen Lebenslauf abgab, so lange gültig waren, wie er ein hohes Amt in der NS-Hierarchie innehatte.64

Eichmanns Anpassungsfähigkeit, die unheimliche Leichtigkeit, mit der er innerhalb von vier Wochen sein Gewissen entsprechend der neuen Maßgaben seiner Umgebung »umkehrte«, verdankt sich eben jener »Anfälligkeit für Schlagworte«, die Arendt beschreibt. Er war so daran gewöhnt, stets das jeweils passende – und passend heißt hier, ihm ein »erhebendes« oder erleichterndes Gefühl verscha"ende – Klischee zu verwenden, dass die Übernahme neuer Sprachregelungen und Parolen nahezu automatisch funktionierte.

Die von Eichmann als »Idealismus« bezeichnete fanatische Konsequenz wiederum lässt sich eher auf der Ebene der ideologischen Pseudo-Logik ver-ankern, die Arendt bereits in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft heraus-gearbeitet hatte.65 Dort de%nierte sie als eines der bestimmenden Merkmale totalitärer Ideologie die Inanspruchnahme eines »deduktiven Selbstzwanges«, den legitimerweise nur die Logik auf das menschliche Denken ausübe. Indem

63 Hannah Arendt, »Wahrheit und Politik«, S.B327–370 in: Arendt, Zwischen, bes. S.B354".64 »Die Berufsangabe, die auf seinen sämtlichen o$ziellen Dokumenten erscheint – Maschinen-

bauingenieur –, hatte ungefähr ebensoviel mit der Wirklichkeit zu tun wie die Behauptung, dass er in Palästina geboren sei und !ießend hebräisch und jiddisch spräche – blanke Lügen, die Eichmann seinen SS-Kameraden, aber auch seinen jüdischen Opfern mit Vorliebe erzählte.« (EJB102)

An diesem Beispiel lässt sich auch noch einmal di"erenzieren, inwiefern Arendt Eichmann für glaubwürdig hielt. Sie war der Meinung, dass er sich vor Gericht nicht verstellte und keine moralische oder psychologische »Rolle« vorspielte. Das widersprach sich nicht mit dem Befund, dass er einzelne Lügen vortrug, so wie er eben sein Leben lang Meriten vor-getäuscht hatte.

65 Arendt, Elemente, S.B963–970.

Gewissenhaftigkeit, »Gaunersprache« und ein Gegenbeispiel

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die »Logik« einer Idee zur Prämisse einer umfassenden Weltsicht erhoben wird, ersetzen die Maßgaben dieses »Systems« die Urteilskraft der Einzelnen in jedem konkreten Fall. Ausnahmen, Spontaneität und Neuanfänge würden mithin undenkbar.

)orauf die totalitären Eerrschaftssysteme sich verlassen für die begrenzte Iobilisierung sich verhaltender Ienschen( deren selbst sie nicht( oder noch nicht( entraten können( ist dieser Nwang( durch den wir uns selbst zwingen( weil wir uns fürchten( uns sonst in )idersprüchen zu verlieren, 1ie +yrannei des zwangsläu%gen 'chlußfolgerns( die unser Cerstand jederzeit über uns selbst loslassen kann( ist der innere Nwang( mit dem wir uns selbst in den äußeren Nwang des +errors einschalten und uns an ihn gleichschalten,--

Schon in jenem Text hatte Arendt als mögliches Antidot zu dieser inneren Gleichschaltung an die Schlussmuster einer totalitären Bewegung das er-fahrungsgeleitete Denken angeführt, dessen Spontaneität dem ›Kadaver-gewissen‹ womöglich entgegenarbeiten könnte. Eichmanns Aussagen im Prozess lieferten ihr das nötige Anschauungsmaterial, um diese Sprache ohne Spontaneität und Produktivität zu studieren. Seine Phraseologie überzeugte sie davon, dass die Hilfe eines quasi-logischen Zwangs selbst ohne tiefe ideo-logische Motive die nötige Konsequenz gewährt, mit der Eichmann »idealistisch« alle Ausnahmen und Kompromisse ausschloss und gerade daraus sein ›gutes Gewissen‹ bezog.67

Auch die »Abhärtung« hat ein diskursives Pendant, das etwaigem Mitleid nicht durch psychologische, sondern durch semantische Umleitung ›vor-beugt‹. Die neu kreierten, euphemistischen oder völlig inadäquaten Begri"e halten die eigentliche Natur der Taten von den Tätern fern und verbuchen sie lediglich als notwendige Routinen. Noch im Jerusalemer Prozess gab Eich-manns Verteidiger Robert Servatius dafür ein lebendiges Beispiel ab, indem er wiederholt und trotz Einspruch der Richter die Vergasungen als »medizinische Angelegenheiten« bezeichnete (EJB151). Eben diese »Sachlichkeit« war laut

66 Arendt, Elemente, S.B969.67 Zu Arendts veränderter Einschätzung der Ideologie nach dem Eichmann-Prozess vgl. auch:

Arendt/McCarthy, Vertrauen, S.B234f.; sowie Young-Bruehl, Arendt, S.B504. Young-Bruehl führt in einem jüngeren Aufsatz den Gedankengang weiter und beschreibt, dass nach Arendts späteren Überzeugungen bereits das »Image-Making« und nicht eine umfassende Ideologie ausreichten, um die Urteilskraft außer Stand zu setzen; s.: Elisabeth Young-Bruehl, »Die Kunst des Alarms«, S.B123–135 in: Wolfgang Heuer/Irmela von der Lühe, Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste, Göttingen 2007 [i. Folg. zit. als: »Heuer/Lühe, Dichterisch«].

Eichmann in Jerusalem

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Arendt auch die charakteristische Disposition der höheren Verantwortlichen im Nationalsozialismus:

1iese 5objektive7 /etrachtungsweise – für Xonzentrationslager 8achausdrücke der 5)irtschaft7 zu verwenden – war typisch für die Ientalität der ''( auf die sich @ich>mann noch während des &rozesses viel zugute tat, 1urch ihre 5'achlichkeit7 unter>schied sich die '' von solchen 5<efühlsduseln7 wie 'treicher( den @ichmann einen 5unrealistischen =arren7 nannte, O@SBGTFf,Q

Ingeborg Bachmann, die Arendt sich als Übersetzerin für ihr Eichmann-Buch gewünscht hatte68, hat in ihrer Prosa das Wort »Gaunersprache« geprägt, um sich auf die jeden noch so ungeheuerlichen Umstand glättende und somit kontinuierlich gewalttätige Sprache derer, die jeden Alltag fraglos »meistern«, zu beziehen.69 Bei Bachmann hält nur die utopische Ho"nung auf eine gänzlich »andere« Sprache dem Entsetzen über Phrasen und Klischees die Waage, Arendt hingegen – mit ihrem herrlichen Diktum, sie halte selbstverständlich an der Muttersprache fest, schließlich sei es ja wohl nicht die deutsche Sprache gewesen, die verrückt geworden ist70 – kommt in einer eingehenden Analyse von Eichmanns Jargon zu der Einsicht, dass hinter dem Defekt ein Mangel an Vorstellungskraft stehe, der aus der Aufgabe einer grundlegenden menschlichen Tätigkeit resultiere: zu denken. Die entscheidende Stelle für diese Überlegung lautet:

Se länger man ihm zuhörte( desto klarer wurde einem( dass diese 9nfähigkeit( sich auszudrücken( aufs engste mit einer 9nfähigkeit zu denken verknüpft war, 1as heißt hier( er war nicht imstande( vom <esichtspunkt eines anderen Ienschen aus sich irgend etwas vorzustellen, Cerständigung mit @ichmann war unmöglich( nicht weil er log( sondern weil ihn der denkbar zuverlässigste 'chutzwall gegen die )orte und gegen die <egenwart anderer( und daher gegen die )irklichkeit selbst umgab; ab>soluter Iangel an Corstellungskraft, O@S GV-Q

68 S.: #omas Wild, »Kreative Konstellationen – Hannah Arendt und die deutsche Literatur der Gegenwart«, S.B 162–173 in: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, Heft 166/167 (September 2005), S.B163.

69 Ingeborg Bachmann, »Das dreißigste Jahr«, S.B78–121 u. »Alles«, S.B122–142 in: Ingeborg Bachmann, Gedichte, Erzählungen, Hörspiel, Essays, München 1999, bes. S.B104". u. 127. S. dazu auch: Ingeborg Bachmann, »Interview mit Ekkehard Rudolph, 23.BMärz 1971«, S.B81–92 in: Ingeborg Bachmann, Wir müssen wahre Sätze "nden. Gespräche und Interviews, hg. v. Christine Koschel u. Inge von Weidenbaum, München 1983.

70 »Fernsehgespräch mit Günter Gaus (Oktober 1964)« [i. Folg. zit. als.: »Arendt, Fernseh-gespräch«], S.B46–72 in: Hannah Arendt, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, hg. u. ü. v. Ursula Ludz, München 1996 [i. Folg. zit. als.: »Arendt, Selbstauskünfte«], S.B61.

Gewissenhaftigkeit, »Gaunersprache« und ein Gegenbeispiel

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Während Arendt also zu dem Schluss kam, dass Eichmann durchaus jenes Organ besaß, das wir gewöhnlich Gewissen nennen, deckt sie einen alter-nativen Mangel auf, von dem ihrer Meinung nach sein moralisches Unver-mögen eigentlich abhängig war. »Er hatte sich nur, um in der Alltagssprache zu bleiben, niemals vorgestellt, was er eigentlich anstellte.« (EJB56), schreibt sie mit kursivem Nachdruck.

Dana Villa weist darauf hin, dass Arendt an Eichmanns Fall »das Schicksal des Gewissens als einer moralischen Kraft inmitten eines allgemeinen ›moralischen Zusammenbruchs‹« vor Augen führe – nämlich, dass es sich pervertieren lasse: »Es sagt dem Individuum nicht mehr, was richtig und falsch ist, aber es wird auch nicht völlig zum Schweigen gebracht, denn es fährt fort, Menschen wie Eichmann zu sagen, was ihre ›P!icht‹ ist.«71 In ihrer Analyse geht Arendt noch einen entscheidenden Schritt weiter. Ihr Befund, dass man Eichmann ein Gewissen im herkömmlichen Sinne nicht absprechen könne, bereitet bereits ihre Revision des moralphilosophischen Vokabulars vor. Sie beginnt an einer anderen Stelle nach dem Grund für seine moralische Unfähigkeit zu suchen:

@s war gewissermaßen schiere <edankenlosigkeit – etwas( das mit 1ummheit keines>wegs identisch ist –( die ihn dafür prädisponierte( zu einem der größten Cerbrecher jener Neit zu werden, 9nd wenn dies 5banal7 ist und sogar komisch( wenn man ihm nämlich beim besten )illen keine teu!isch>dämonische +iefe abgewinnen kann( so ist es darum doch noch lange nicht alltäglich, O@SBMAQ

Dass Eichmann o"enbar ein Gewissen hatte, kann nur bedeuten, dass mit dem Gewissensbegri" etwas nicht in Ordnung ist, dass er in dieser Fassung unhaltbar und leer wird. Arendts Auswertung des gedankenlosen Sprach-gebrauchs deutet die Richtung an, von der sie sich die Fundierung eines revidierten Gewissensbegri"s erho"t, wie sie ihn später in ihrer Moralphilo-sophie entwickelt. Bevor ich mich selbiger zuwende, möchte ich aber noch auf das eingehen, was ich den Perspektivenwechsel genannt habe, der sich im Eichmann-Buch vollzieht. Nicht zuletzt an diesem zeichnet sich ab, dass in Arendts Sicht über das »Schicksal des Gewissens« doch noch nicht ent-schieden ist.

71 Villa, Gewissen, S.B239.

Eichmann in Jerusalem

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Der Sinn des Gegenbeispiels

Etwas über ein Jahr nach Erscheinen des Berichts über Eichmann in Jerusalem, auf dem Höhepunkt der erbitterten Kontroverse, machte Arendt in einem Brief an McCarthy ein erstaunliches Bekenntnis:

234 – nämlich( daß ich dies /uch in einem merkwürdigen Nustand der @uphorie schrieb, 9nd daß ich mich seitdem in der ganzen *ngelegenheit – nach zwanzig Sahren – unbeschwert fühle,AV

Dieser Erleichterung entspricht laut Young-Bruehl ein grundlegender Wechsel in Arendts Stil und Einstellung. Es sei die Einsicht in die Wurzellosigkeit des Bösen angesichts Eichmanns gewesen, die Arendt erlaubt habe, zu einer Haltung der amor mundi zu %nden.

1er theoretische 'tandpunkt *rendts verschob sich( und sie benutzte positive @lemente( um ihrer radikalen Xritik :ichtung zu geben, *ber die tiefste 'aite in *rendts Ealtung gegenüber der )elt wurde erst wieder zum Xlingen gebracht( als sie einen Iaßstab der Cersöhnung fand, 'ie durchlief( was sie eine cura posterior nannte 234, 1as ö"entliche Neichen dieser Xur war ihre 0nfragestellung des radikal /ösen in dem /uch Eichmann in Jerusalem 234,AK

Susan Neiman überbietet diese Darstellung noch, indem sie das Eichmann-Buch als #eodizee liest. Arendt würde mit der Diagnose der Gedanken-losigkeit keineswegs Eichmann verteidigen – dessen Verantwortlichkeit zu beweisen ja gerade ein zentrales Anliegen ist –, sondern die Welt, die ihn enthalte. »Keinen besseren Versuch, eine #eodizee zu schreiben,« habe, so Neiman, »die Nachkriegsphilosophie zu bieten.«74 Die vielzitierte Replik Arendts an Gershom Scholem, dass das Böse niemals radikal, sondern nur extrem sei, die den Höhepunkt dieser Bekehrung zu einem optimistischen Weltbild darzustellen scheint, ist nichtsdestotrotz missverständlich.75 Wie Bernstein überzeugend darlegt, hat Arendt mit der Beschreibung von Eichmanns Banalität ihren früheren Begri" des radikal Bösen keineswegs

72 Arendt/McCarthy, Vertrauen, S.B260.73 Young-Bruehl, Arendt, S.B366. Ich habe die Übersetzung dem englischen Original an-

geglichen. Die dort verwendete Formulierung »her questioning of radical evil« scheint mir unzutre"end durch »ihre Beschäftigung mit dem radikal Bösen« wiedergegeben. Vgl. Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Arendt. For Love of the World, New Haven 1982, S.B261f.

74 Neiman, Böse, S.B437.75 »Hannah Arendt an Gershom Scholem«, S.B71–80 in: Arendt, Nach Auschwitz, S.B78.

Gewissenhaftigkeit, »Gaunersprache« und ein Gegenbeispiel

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aufgegeben.76 Beide Begri"e sind vielmehr vollkommen kompatibel und be-ziehen sich auf verschiedene Aspekte – einmal auf das strukturelle Ziel der nationalsozialistischen Politik, einmal auf die charakteristische Motivlage eines Schreibtischtäters. Insofern würde ich einen etwaigen Paradigmenwechsel in Arendts Werk nicht an der Entdeckung der Banalität des Bösen festmachen wollen – die sich, wie eingangs skizziert, womöglich auch vordatieren ließe. Wenn das Eichmann-Buch für Arendt zum Wendepunkt wurde, so scheint sich das eher in einem gewandelten Verständnis der Grenzen als der Substanz des Bösen abzuzeichnen. Während Benhabib die Vorstellung geprägt hat, dass Arendts narrative Methodologie auf einer »erlösenden Kraft des Erzählens« basiere77, wird besonders im Eichmann-Buch deutlich, dass eine so emphatische Funktion nur bestimmten Geschichten zukommt.78 Arendt betont, wie »schwer es ist, eine Geschichte zu erzählen, daß es hierzu – jedenfalls außerhalb jener Verwandlung, welche der Dichtung eignet – einer Reinheit der Seele, einer ungespiegelten und unre!ektierten Unschuld des Herzens und Geistes bedarf« (EJB343). Aber darüber hinaus kommt es vor allem auf den Inhalt beziehungs-weise den Sinn der Geschichte an. Von einem an Erlösung grenzenden Szenario berichtet Arendt nur in Hinblick auf eine Zeugenaussage, in der die Geschichte von Anton Schmidt zur Sprache kam, einem deutschen Feldwebel der Wehr-macht, der bei seinem Streifendienst in Polen mit gefälschten Papieren und Wehrmachtsfahrzeugen jüdischen Partisanen geholfen hatte, bis er verhaftet und hingerichtet wurde.

)ährend der wenigen Iinuten( die Xovner 2der Neuge4 brauchte( um über die Eilfe eines deutschen 8eldwebels zu erzählen( lag 'tille über dem <erichtssaal? es war( als habe die Ienge spontan beschlossen( die üblichen zwei Iinuten des 'chweigens zu @hren des Iannes *nton 'chmidt einzuhalten, 9nd in diesen zwei Iinuten( die wie ein plötzlicher Jichtstrahl inmitten dichter( undurchdringlicher 8insternis waren(

76 Richard J. Bernstein, »Did Hannah Arendt Change Her Mind?: From Radical Evil to the Banality of Evil«, S.B127–146 in: Kohn/May, Twenty Years.

77 Seyla Benhabib, »Hannah Arendt und die erlösende Kraft des Erzählens« [i. Folg. zit. als: »Benhabib, Kraft d. Erzählens«], S.B150–174 in: Dan Diner (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a.M. 1988.

78 Geschichten haben nach Arendt stets den Sinn, Geschehnisse »menschlich« zu machen, indem sie mitteilbarer Bestandteil der gemeinsamen Welt werden, außerdem verhelfen sie zu einem Verständnis von Geschehnissen, mit denen man sich, wenn sie in die Form einer Geschichte gebracht sind, ab%nden oder gar versöhnen könne. Generell von »Erlösung« zu sprechen scheint mir aber eine Retheologisierung mit sich zu bringen, die sich mit Arendts Werk schwer vereinbaren lässt.

Eichmann in Jerusalem

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zeichnete ein einziger <edanke sich ab( klar( unwiderlegbar( unbezweifelbar; wie voll>kommen anders alles heute wäre( in diesem <erichtssaal( in 0srael( in 1eutschland( in ganz @uropa( vielleicht in allen Jändern der )elt( wenn es mehr solcher <eschichten zu erzählen gäbe, O@SBKTMQ

Aber die Szene, die Arendt auch den »dramatischen Höhepunkt« des Ver-fahrens nennt (EJB 343), grenzt lediglich an Erlösung. Die Option ist im Konjunktiv gehalten, und das eigentliche Geschehen wird mehr in Topoi eines O"enbarungserlebnisses erzählt, mit plötzlichem Innehalten, Einbruch eines »Lichtstrahls« und Erfassung einer unbezweifelbaren Einsicht. Den »Höhepunkt« des Prozesses gegen Eichmann und die nationalsozialistischen Verbrechen in dieser beiläu%gen Erwähnung eines deutschen Widerstandsakts auszumachen, ist zumindest ein sonderbarer dramaturgischer Kommentar von Arendt. Er verweist auf das Ausmaß, in dem ihr Buch, dessen Berichtcharakter sie selbst stets so vehement behauptete79, von prinzipiellen philosophischen und existentiellen Fragen durchzogen ist. Anlässlich der Erwähnung Anton Schmidts, aber auch im Zusammenhang mit der herausragenden Politik Däne-marks, dank derer nahezu alle dänischen Juden gerettet wurden, bricht eine solche philosophische Unterströmung im Text hervor. Von Neiman leicht para-dox als »weltliche #eodizee« identi%ziert, zielt sie darauf ab, zu rechtfertigen, dass die Welt ein Platz bleibe, »wo Menschen wohnen können.« Nach Arendt hängt diese Erkenntnis voll und ganz an der Existenz von Gegenbeispielen, und nachdem sie im vorigen Zitat noch die ungenügende Anzahl solcher Ausnahmen beklagt hatte, wagt sie am Schluss des Kapitels doch, folgende Konsequenz zu ziehen:

1enn die Jehre solcher <eschichten ist einfach( ein jeder kann sie verstehen, 'ie lautet( politisch gesprochen( dass unter den /edingungen des +errors die meisten Jeute sich fügen( einige aber nicht, 'o wie die Jehre( die man aus den Jändern im 9mkreis der 5@ndlösung7 ziehen kann( lautet( dass es in der +at in den meisten Jändern 5geschehen konnte7( aber dass es nicht überall geschehen ist. Ienschlich gesprochen ist mehr nicht vonnöten und kann vernünftigerweise mehr nicht verlangt werden( damit dieser &lanet ein Urt bleibt( wo Ienschen wohnen können, O@SBKTAQ

Die Bedingung, die dieser hymnischen Schlussfolgerung vorausgeht, diskutiert Arendt im Zusammenhang mit den Memoiren eines deutschen Militärarztes, der beschreibt, wie totalitäre Systeme ihren Gegnern selbst die Möglichkeit

79 Arendt/McCarthy, Vertrauen, S.B240.

Gewissenhaftigkeit, »Gaunersprache« und ein Gegenbeispiel

42

zum Märtyrertod nehmen, weil er unbemerkt und damit nutzlos bliebe – eine #ese, die Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft selbst vertreten hatte.80 Dieses Bild von der lückenlosen Macht der totalen Herrschaft hält sie aber nun für einen »Irrtum« (EJB346). So wenig wie es gelungen sei, die Spuren der Konzentrationslager zu beseitigen, so wenig könnten alle Anstrengungen der Gegner in stumme Anonymität verbannt werden. Auf Dauer, so Arendt, könne nichts »praktisch nutzlos« bleiben, und dies verdanke sich allein der rettenden Kraft des Geschichtenerzählens:

'o tief ist keine Cersenkung( daß alle 'puren vernichtet werden könnten( nichts Ienschliches ist so vollkommen? dazu gibt es zu viele Ienschen in der )elt( um Cergessen endgültig zu machen, @iner wird immer bleiben( um die <eschichte zu erzählen, O@SBKT-Q

Arendts politischer Leitbegri", die Pluralität81, wird somit zum Garanten für die Bewahrung der Geschichten, die die Bewohnbarkeit der Erde rechtfertigen. Diese Geschichten von den Ausnahmen, auf die es ankommt, zeigen die Grenzen des Bösen auf. Wenn, dann ist es dieser Perspektivwechsel, in dem sich Arendts cura posterior abzeichnet. Während sich die Spur eines solchen »erlösenden« Gegenbeispiels schon in das Eichmann-Buch selbst hineinzieht, wird der Fokus auf die Ausnahmen zum expliziten Anliegen von Arendts Porträtsammlung Menschen in "nsteren Zeiten. Im 1968 verfassten Vorwort formuliert Arendt die ihre narrative Methodologie leitende Überzeugung folgendermaßen:

234 daß wir selbst dann( wenn die Neiten am dunkelsten sind( das :echt haben( auf etwas @rhellung zu ho"en( und daß solche @rhellung weniger von +heorien und /e>gri"en als von jenem unsicheren( !ackernden und oft schwachen Jicht ausgehen könnte( welches einige Iänner und 8rauen unter beinahe allen 9mständen in ihrem Jeben und ihren )erken anzünden und über der ihnen auf der @rde gegebenen Jebenszeit leuchten lassen – diese .berzeugung bildet den unausgesprochenen Eintergrund für die hier vorgelegten &ersönlichkeitspro%le,PV

80 Peter Bamm, Die unsichtbare Flagge. Ein Bericht, München 1952; sowie: Arendt, Elemente, S.B929.

81 Margaret Canovans maßgeblicher Analyse zufolge stellt »Pluralität« den zentralen Begri" dar, den Arendts Werk dem politischen Denken hinzugefügt habe. Vgl.: Margaret Canovan, Hannah Arendt. A Reinterpretation of Her Political !ought, Cambridge 1992 [i. Folg. zit. als: »Canovan, Reinterpretation«], S.B280f.

82 Arendt, Menschen, S.B9f.

Eichmann in Jerusalem

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Und obwohl Arendt den exemplarischen Figuren mehr traut als »#eorien und Begri"en«, so haben doch ihre philosophischen Texte aus jener Periode ebenso zum Anliegen, die Konsequenzen aus der Möglichkeit von moralischen Ausnahmen auszubuchstabieren. Der überwältigenden Korrumpierung durch totalitäre Ideologie und »Gewissensumkehrung« ebenso wie der einebnenden Gewalt jeglicher »Gaunersprache« setzt Arendt nun eine Anrede-Struktur ent-gegen, die sie im Denken ausmacht und mit dem rätselhaften Vermögen des »moralischen Geschmacks« in Zusammenhang bringt. In einer Rezension von Natalie Sarrautes Fruit d’Or, die Arendt ebenfalls 1964, dem Jahr, in dem sie McCarthy ihre »Euphorie« gestanden hatte, schrieb, %ndet sich ein ähnliches Bild. Arendts neuer Optimismus hinsichtlich der Grenzen des Bösen spiegelt sich darin, dass sie der anonymisierenden und entfremdenden Macht einer von Misstrauen und Neid gekennzeichneten Gesellschaft wiederum aus einer einzigen Dialogstruktur heraus ein Gegengewicht verleiht:

1ie Cerlogenheit des intellektuellen 5Ian7 ist umso peinlicher( als sie eines der emp%ndlichsten und gleichzeitig unentbehrlichsten @lemente menschlichen Nu>sammenlebens betri"t( das @lement gemeinsamen <eschmacks( für das es in der +at keinen 5)ertmaßstab7 gibt, 1enn der <eschmack ist nicht nur für das *ussehen der )elt bestimmend( sondern auch für die 5)ahlverwandtschaft7 derer( die in dieser )elt zusammengehören, 1ie 5geheimen Neichen7( an denen wir einander erkennen – was besagen sie anderes als dies; 5)ir sind /rüder( nicht wahr3 ich biete dir etwas von diesem heiligen /rot an, 0ch heiße dich an meiner +afel willkommen,7 1ieses <efühl natürlicher Cerwandtschaft ist inmitten einer )elt( zu der wir alle als 8remde kommen( heillos verkrüppelt in der <esellschaft der 8einen( Cerfeinerten( die aus der gemeinsamen )elt von <egenständen +alismane( Iittel zur gesellschaftlichen Urganisation( gemacht haben, *ber ist es ihnen tatsächlich gelungen( jene )elt der <emeinsamkeit zu vernichten6 Xurz vor @nde des /uches kehrt =athalie 'arraute von dem 5Ian7 und dem 50ch7 zum 5)ir7 zurück( dem alten )ir von *utor und Jeser, @s ist der Jeser( der spricht; 5)ir sind so hinfällig und sie sind so stark, Uder vielleicht3 daß wir( du und ich( die 'tärkeren sind( selbst jetzt,7PK

83 »Nathalie Sarraute«, S.B292–303 in: Arendt, Menschen, S.B302.

Gewissenhaftigkeit, »Gaunersprache« und ein Gegenbeispiel

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Vorlesungen zur Moralphilosophie: Der Vorrang des Guten

*ls erstes( meine ich( ist zu folgern( dass niemand( der seine fünf 'inne beisammen hat( weiterhin behaupten kann; 1as Ioralische versteht sich von selbst – eine *nnahme( mit der die <eneration( zu der ich gehöre( noch aufgewachsen ist,PT

Hannah Arendt

In der wüsten Kontroverse um Eichmann in Jerusalem hat Arendt sich selbst kaum zu Wort gemeldet und nahezu nie direkt auf ihre Kritiker geantwortet. Wenn sie in den folgenden Jahren über moralphilosophische Fragen sprach, über Probleme der Verantwortung und des Urteilens, bezog sie sich allerdings meist in einführenden Worten auf den Prozess zurück und bekannte in der Kant’schen Formulierung, dass sie sich mit der »Banalität des Bösen« in den Besitz eines Begri"es gesetzt habe, von dem sie sich vergewissern müsse, mit welchem Recht sie ihn gebrauche.85 Diese quaestio juris ging sie aber nicht direkt an, indem sie etwa das Phänomen des banalen Bösen ausführlicher analysiert oder ihre diesbezügliche Argumentation im Fall Eichmann weiter untermauert hätte.86 Es schien ihr vielmehr darum zu gehen, herauszu%nden, wie sich dieser Begri" bewährte, ob er im Zusammenhang weiterreichender Überlegungen haltbar bliebe und weiterhin Sinn ergäbe. Was sie tat, war also, den Gedankengang fortzusetzen87, und zwar mit Blick auf eine neue Frage, die sie nun, da sie mit Eichmann abgeschlossen hatte, viel stärker interessierte,

84 ÜB 26.85 Arendt, Zusammenhang, S.B130.86 Sie versuchte auch nicht, sie auf andere Fälle auszuweiten, indem sie weitere »Schreibtisch-

täter« analysierte. Vielmehr wendet sie sich anlässlich der Frankfurter Auschwitz-Prozesse in »Auschwitz on Trial« einer anderen Tätergruppe zu und diskutiert eine völlig andere Form des Bösen, Sadismus, der aber kein neues und deshalb besonders bedenkenswertes Phänomen darstelle, allerdings auch, wie sie in »Some Questions of Moral Philosophy« erläutert, von Teilen der moralphilosophischen Tradition nicht richtig erfasst werde. Vgl.: Hannah Arendt, »Auschwitz on Trial«, S.B227–256 in: Arendt, Responsibility & Judgment; sowie ÜBB42 u. 59.

87 Margaret Canovan beschreibt ausführlich Arendts Denkstil in »thought trains«; s.: Canovan, Reinterpretation, S.B5".

Vorlesungen zur Moralphilosophie

45

nämlich die nach den »erlösenden« Ausnahmen, die auch in »%nsteren Zeiten« ein gewisses Maß an moralischer Integrität bewahrten. Die Gelegenheit dazu boten ihr insbesondere zwei Vorlesungen zur Moralphilosophie, die Arendt 1965 an der New School for Social Research und im Jahr darauf in Chicago hielt88, sowie verschiedene Vorträge und Reden.89 Arendt vergewissert sich in ihnen vor allem der Bedingungen, die eine #eorie der Moral ihrer Meinung nach zu erfüllen habe, und bietet einen ersten Neuansatz zum Verständnis des Gewissens an.

Der Zusammenbruch und seine Ausnahmen

Arendts Analyse des Totalitarismus hatte unter anderem den »totalen moralischen Zusammenbruch« unter dieser Herrschaftsform zum Gegen-stand. Es geht um eine Situation, in der eben nicht nur, wie sie mit Brecht formuliert, »Finsternis herrscht«90, sondern diese so ausufernd wird, dass sie über die Ö"entlichkeit hinaus auch das Privatleben, selbst das Denken der Menschen vereinnahmt. In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft hatte Arendt gezeigt, wie totalitäre Herrschaftsmethoden »Unschuld« unmöglich machen und sogar die Opfer zur Mittäterschaft zwingen91, ein #ema, das im Eichmann-Buch an den Stellen wieder auftaucht, die sich mit der Rolle der Judenräte befassen. Am anderen Ende der Skala moralischer Korruption stehen die völlig »freiwilligen« Gleichschaltungen, das, »was die Freunde taten«, wie Arendt im Interview mit Günther Gauss äußerte: »Was damals in der Welle von Gleichschaltung, die ja ziemlich freiwillig war, jedenfalls noch nicht unter dem Druck des Terrors vorging: das war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete.«92 Diese Erfahrungen veranlassten Arendt zu einer grundlegenden Infragestellung des Moralischen. Die Annahme, dass es sich bei moralischen Prinzipien um relativ stabile Phänomene handele, sei, so Arendt, mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus »ohne große Vorwarnung über Nacht«

88 Die New Yorker Vorlesung hieß »Some Questions of Moral Philosophy«, in Chicago hielt Arendt eine nur leicht abgewandelte Form unter dem Titel »Basic Moral Propositions«.

89 Diese Texte sind in dem aus dem Nachlass edierten Band Responsibility and Jugdment zu-sammengefasst. Da es sich ohnehin um stark überarbeitete und »verenglischte« Manuskripte handelt, zitiere ich, soweit sie vorliegen, aus den deutschen Übersetzungen. Vgl.: Jerome Kohn, »A Note on the Text«, S.Bxxxi–xxxvii in: Arendt, Responsibility & Judgment.

90 Arendt, Menschen, S.B8.91 Arendt, Elemente, S.B930f.92 Arendt, Fernsehgespräch, S.B58.

Der Vorrang des Guten

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zusammengebrochen – das moralische Verhalten eines Volkes hatte sich so mühelos auswechseln lassen, als handele es sich um Tischmanieren (ÜBB11).93 Die Annahme, dass jeder Mensch mit einem Gewissen ausgestattet sei, das ihm ermöglicht, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, schien sich endgültig als Trug herausgestellt zu haben. Für diesen Zusammenbruch der Moral gab die allzu plötzliche Rückkehr zur ›Normalität‹ in Deutschland nach ’45 in Arendts Sicht nur zusätzliche Evidenz ab (ÜBB17).94

Für gewöhnlich ist es ein Rückgri" auf den antiken Wortgebrauch, mit dessen Hilfe Arendt sich den Sinn eines vom Traditionsbruch entstellten Gegenstands vor Augen führt.95

Anders als in vielen politischen Fragen scheint der etymologische Ursprung von »Moral« und »Ethik« – »mores« bzw. » «, also Sitte oder Gewohn-heitB– ihr Problem aber eher zu unterstreichen als zu lösen:

)ie unheimlich und wie erschreckend schien es plötzlich zu sein( daß ausgerechnet die /egri"e( die wir für diese 1inge gebrauchen – 5Ioral7 mit dem lateinischen 9rsprung( 5@thik7 mit dem griechischen –( niemals etwas anderes gemeint haben sollten als <ebräuche und <ewohnheitenY 9nd auch( daß zweitausendfünfhundert Sahre des 1enkens( wie es sich in der Jiteratur( der &hilosophie und der +heologie niedergeschlagen hat( kein anderes )ort hervorgebracht haben sollten( trotz all der hoch!iegenden :ede( all der /ehauptungen und &redigten über die @xistenz eines <ewissens( das mit gleicher 'timme zu allen Ienschen spricht, )as war geschehen6 'ind wir schließlich aus einem +raum erwacht6 O./BGGQ

Vor der Überprüfung, ob wir es tatsächlich mit dem bösen Erwachen aus moralischem Schlummer zu tun haben, ist noch ein anderer Aspekt zu er-

93 Auch Tischmanieren lassen sich natürlich nicht »mühelos« austauschen. Arendt geht es vermutlich mehr um die Art und Weise des drastischen Wandels, der nahelegte, dass Moral ebenso eine Konditionierung darstelle wie reine Manieren oder Konventionen, und nicht, wie man annehmen sollte, durch tiefere Gründe und Überzeugungen verankert war.

94 Vgl. dazu auch: Hannah Arendt, Besuch in Deutschland, ü. v. Eike Geisel, Berlin 1993 (1950).

95 Nicht, weil die attische Polis etwa eine ideale Gesellschaftsordnung darstelle, sondern weil die Begri"e der politischen und philosophischen Terminologie zumeist tatsächlich griechischen oder römischen Ursprungs sind und Arendt in ihrer phänomenologischen Sprachphilosophie davon ausgeht, dass stets konkrete historische Erfahrungen zur Prägung eines Begri"s führten und dieser seinen eigentlichen Sinn verliere, wenn der Erfahrungs-kontext aus dem Blick gerät. Vgl.: LGB108: »Alle philosophischen Termini sind Metaphern, gewissermaßen erstarrte Analogien, deren eigentlicher Sinn sich erschließt, wenn man ihren ursprünglichen Kontext aufsucht, der ja dem ersten Philosophen, der sie gebrauchte, lebhaft vor Augen gestanden haben muss.«

Vorlesungen zur Moralphilosophie

47

läutern. Etwas, das die Konsultation der antiken Polis laut Arendt allerdings deutlich macht, ist eine wichtige Di"erenzierung des Wortgebrauchs, nämlich die Unterscheidung zwischen politischer und persönlicher Ethik. Diese Unter-scheidung betri"t das Evaluationskriterium, nach dem Handlungen beurteilt werden. Im ersten Fall stellt das »die Welt«, im zweiten »das Selbst« dar. In der einen Perspektive wird gefragt, ob die zur Debatte stehende Handlung für die politische Gemeinschaft, für ihre Ordnung und ihr Wohlergehen, von Vor-teil oder Nachteil ist, in der anderen, ob die »Seele« des Handelnden Schaden nimmt. Dabei fällt das Urteil über Verbrechen natürlich normalerweise in beiden Fällen negativ aus; nur in Grenzfällen, wenn zum Beispiel sowieso ein Mord geschieht, ist es, wie Arendt ausführt, aus Sicht der Welt egal, ob ich ihn begehe oder erleide.

Con der Nikomachischen Ethik bis zu Dicero wurde @thik als ein +eil der &olitik an>gesehen( in dem es nicht um 0nstitutionen( sondern um die /ürger ging( und alle +ugenden in <riechenland oder :om waren folglich dezidiert politische +ugenden, 1ie 8rage lautet dort nie( ob ein 0ndividuum gut ist( sondern ob sein Cerhalten gut für die )elt ist( in der es lebt, )enn wir über moralische 8ragen( einschließlich der 8rage nach dem <ewissen( sprechen( meinen wir etwas gänzlich anderes( etwas wofür wir in der +at überhaupt keinen feststehenden /egri" besitzen,F-

Der Unterschied lässt sich mit gewissen Einschränkungen auch auf die Gegen überstellung von Tugend- und Gewissensethik übertragen, wobei Tugend ethiken ihren Ort auch meist in kommunitaristischen #eorien haben, die vom Wert der Gemeinschaft ausgehen. Für Arendt entscheidet das jeweilige Umfeld über die Angemessenheit des einen oder des anderen Modells – ohne das ihnen entsprechende politische Gemeinwesen würden Tugenden zu reinen Gewohnheiten, die umerzogen werden könnten, so dass ein individuelles Gewissen unverzichtbar würde. Wenn Arendt sich hingegen herablassend auf apolitische Konzentration auf das Wohl des eigenen Selbst bezieht – etwa in ihrer Beschreibung der frühchristlichen Weltabkehr97 – so geschieht das nicht aus der Überzeugung, normative Fragen hätten in der Politik nichts zu suchen (oder es ginge in der Politik einzig um die Norm der »Größe«), sondern als Forderung, dass sie dort anders gestellt werden

96 Hannah Arendt, »Collective Responsibilty«, S.B147–158 in: Arendt, Responsibility & Judg-ment, S.B151 [Übersetzung EvR].

97 S.: »Natur und Geschichte«, S.B54–79 in: Arendt, Zwischen, S.B90".98 Es ist somit nicht ganz zutre"end, Arendt vorzuwerfen, sie konstruiere den politischen

Raum als a-moralisch, wie etwas Seyla Benhabib es tut. Vgl.: Benhabib, Modernism, S.B193.

Der Vorrang des Guten

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müssten.98 Dazu muss aber Politik überhaupt möglich sein, was gemäß Arendts »widerstrebendem« oder »melancholischem« Blick auf die Moderne ja mehr als fraglich ist.99

Diese politische Moral, für die Arendt zweifelsohne große Nostalgie hegt, steht und fällt mit der Verfassung des jeweiligen Gemeinwesens. Oder besser: Sie macht überhaupt nur Sinn im Kontext eines Gemeinwesens, dessen Wohl von allen Bürgern als ihr Anliegen betrachtet wird und dessen grundsätzliche Existenzberechtigung außer Frage steht. In dem Moment, wo berechtigte Zweifel an deren Einrichtung besteht, wird das Wohl dieser Welt als Maßstab für individuelles und kollektives Handeln unbrauchbar. Und ohne die Möglichkeit, im ö"entlichen Raum das Wohl des Gemeinwesens zu verhandeln, ohne die »Polis« in ihrer antiken oder räte-revolutionären modernen Form, gibt es für Arendt weder »Politik« im eigentlichen Sinne noch, dem entsprechend, eine durchweg »politische Ethik«. Was übrigbleibt, ist der Bezug aufs Selbst und die Funktion des persönlichen Gewissens nach Kriterien die wir, zu Arendts Unbehagen, nach wie vor »Moralität« nennen.

Nun hat sich aber am Beispiel Eichmanns bereits erwiesen, dass dieses Gewissen im Zweifelsfall sogar zum Komplizen der totalen Herrschaft werden kann, dass es die Handlungen des Selbst gegebenenfalls auch auf ihre Übereinstimmung mit dem Führerwillen hin überprüft und auf Konsequenz und Kompromisslosigkeit verp!ichtet. Die persönliche Ethik hat sich also als katastrophal unzulänglich herausgestellt, gerade in dem Moment, wo eine »gute Polis« ferner denn je war. »Niemand, der seine fünf Sinne beisammen hat«, folgert Arendt, könne weiterhin behaupten: »Das Moralische versteht sich von selbst« (ÜBB26).

Insofern sind es gerade die wenigen positiven Ausnahmen im allgemeinen moralischen Zusammenbruch, die einer Erklärung bedürfen und Arendts phänomenologisches Interesse wecken. In ihren Vorlesungen und Vorträgen wendet sie sich diesen »Lichtblicken« zu, um von ihren Beispielen Aufschluss über etwaige alternative Grundlagen für »das Moralische« zu erhalten.

99 Villa betont zurecht Arendts übergreifendes Narrativ vom Untergang des ö"entlichen Raums und des ihm entsprechenden Handlungsbegri"s, das der Übersetzung ihres Begri"s von Urteilskraft in eine Praxis der Diskursethik entgegensteht. S.: Dana R. Villa, »#inking and Judging«, S.B9–28 in: Joke J. Hermsen/Dana Villa (Hg.), !e Judge and the Spectator. Hannah Arendt’s Political Philosophy, Leuven 1999 [i. Folg. zit. als: »Hermsen/Villa, Judge«], S.B21.

Vorlesungen zur Moralphilosophie

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@s gibt immer ein paar Ienschen( bei denen das 2der 1ruck( sich jenen *nderen in der =azi><esellschaft anzupassen( @v:4 nicht funktioniert, 9nd mit diesen beschäftigen wir uns in dieser Corlesung, )as hinderte sie daran( so zu handeln wie alle *nderen6 0hre noble =atur Owie &laton vorschlagen würdeQ6 )orin besteht diese Cornehmheit6 )ir folgen &lato und erkennen sie als diejenigen( für die bestimmte moralische 'ätze selbstverständlich sind, *ber warum6 Nunächst( wer waren sie6 O./ GMTQ

Die Beispiele, die Arendt anbringt – deren erstes im Eichmann-Buch in der Person von Anton Schmidt auftrat –, sind im Folgenden selten solche ausgesprochenen »Helden«. Vielmehr geht es ihr um Charaktere, die sich eine gewisse Integrität bewahrt haben, für die das Böse gar nicht erst »eine Versuchung« darstellte.100 So diskutiert sie im Aufsatz »Was heißt persönliche Verantwortung unter einer Diktatur?« die »innere Emigration«, die für sie im Rahmen einer unverantwortbaren Welt, der gegenüber man ohnmächtig ist, eine verantwortliche Haltung darstellt.101 Und in den Vorlesungen betont sie, dass es wenn, dann »gewöhnliche Menschen und gewöhnliche Ereignisse« sein müssen, von denen Aufschluss für ihre Fragen zu erwarten ist:

Sene( die )iderstand leisteten( konnte man in allen Jebensbereichen %nden( unter armen und vollkommen ungebildeten Ienschen ebenso wie unter den Iitgliedern der guten und angesehenen <esellschaft, 234 )ir beschäftigen uns also mit dem Cerhalten von gewöhnlichen Ienschen( nicht von =azis oder überzeugten /olschewiken( nicht von Eeiligen und Eelden( und nicht von geborenen Cerbrechern, 1enn wenn es so eine 'ache überhaupt gibt wie die( welche wir( mangels eines besseren /egri"s( Ioralität nennen( dann bezieht sie sich mit 'icherheit auf solche gewöhnlichen Ienschen und gewöhnliche @reignisse, O./ GMTQ

Der Status moralischer Sätze

Die konkrete Frage, der Arendt in den Vorlesungen zur Moralphilosophie nachgeht, lässt sich folgendermaßen formulieren: Was ist der Status von moralischen Sätzen nach dem Verlust der Kontexte, in denen sie selbstver-

100 In Bezug auf Jaspers spricht sie von dessen »Unantastbarkeit, das heißt nicht die selbstver-ständliche Tatsache, daß er inmitten der Katastrophe fest blieb, sondern – was viel weniger selbstverständlich war – daß all dies für ihn niemals auch nur zu einer Versuchung werden konnte«. (»Laudatio auf Karl Jaspers«, S.B83–92 in: Arendt, Menschen, S.B88).

101 Arendt, Nach Auschwitz, S.B93.

Der Vorrang des Guten

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ständlich sind? Dass eine Antwort darauf überhaupt möglich ist, lassen die erwähnten Beispiele ho"en. Gemäß Arendts Gegenwartsdiagnose gilt es aber zunächst noch deutlicher zu machen, welche Art von Antworten nicht in Frage kommen.

Als »grundlegende moralische Sätze« führt Arendt die gängigsten und allgemeinsten ethischen Formeln an (ÜB 48):(a) Liebe Deinen nächsten wie Dich selbst.(b) Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem Anderen zu.(c) Handle so, dass die Maxime deines Handelns ein allgemeines Gesetz für

alle vernünftigen Wesen werden kann.

Kontexte, in denen solche Sätze selbstverständlich waren, sind nach Arendt Religion und »gesunder Menschenverstand«. Letzterer hat ihrer Einschätzung zufolge die Entstehung der modernen Massengesellschaft nicht überlebt. Der Verlust des Gemeinsinns ist für Arendts Analysen eine nahezu ebenso wichtige, wenn auch sehr viel weniger beachtete Rahmenerzählung wie die vom Unter-gang des ö"entlichen Raumes. Arendt verwendet Gemeinsinn, gesunden Menschenverstand und common sense nahezu gleichbedeutend. Dieser »sechste Sinn« hat sowohl eine erkenntnistheoretische als auch eine politische Seite und lässt sich am besten als »Realitätssinn« beschreiben, der einerseits die der Re!exion nie evidente Existenz der sinnlich erfahrenen Objekte bestätigt (LG 61), andererseits durch Erfahrungswerte die Kontingenz der Wirklichkeit dem scheinlogischen Zwang einer ideologisch-%ktiven Welt vorzuziehen in der Lage ist.102 In Vita activa führt Arendt die spezi%sche Weltentfremdung und Cartesianische Wendung zur Selbstre!exion bis zum Beginn der Neu-zeit, nämlich auf die Erschütterung des Vertrauens in die Sinneserfahrung durch neue naturwissenschaftliche Beobachtungsmethoden und -instrumente zurück.103 Der spezi%schere Gemeinsinn, den Arendt dann im Rückgri" auf Kants sensus communis als Basis der Urteilskraft rekonstruiert (vgl. das Kapitel »Abstecher zur Pluralität«), wird schließlich in ihrer #eorie eine prekäre, aber auch re!ektiertere Stellvertreterrolle für den selbstverständlichen Realitätssinn übernehmen.

Den Verlust der Religion hält Arendt in ihrem Jahrhundert ebenfalls für eine unbestreitbare Tatsache und »als solche nicht mehr Bestandteil der ›Ideengeschichte‹, sondern unserer politischen Geschichte, der Geschichte der

102 Arendt, Elemente, S.B736–766.103 Arendt, Vita activa, S.B355–366.

Vorlesungen zur Moralphilosophie

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Welt.« (LG 207). In einer Diskussion mit Hans Jonas äußerte sie sich dazu folgendermaßen:

0ch bin ganz sicher( dass diese ganze totalitäre Xatastrophe nicht eingetreten wäre( wenn die Jeute noch an <ott oder vielmehr die Eölle geglaubt hätten( das heißt( wenn es noch letzte &rinzipien gegeben hätte, @s gab aber keine, 9nd 'ie wissen so gut wie ich( dass es keine letzten &rinzipien gab( an die man mit *ussicht auf @rfolg hätte appellieren können, Ian konnte niemanden anrufen,GHT

Die Art und Weise, in der im religiösen Kontext die Selbstverständlichkeit von moralischen Sätzen garantiert wird, weist einen Aspekt auf, dessen implizite Übernahme Arendt für einen Kardinalfehler von Moralphilosophie hält. Die o"enbarten Gebote werden nämlich zusammen mit einer jenseitigen Drohung installiert. Auch an Beispielen aus Platons Dialogen weist sie nach, wie er moralische Sätze durch Mythen und Bestrafungsszenarien »zwingend« zu machen versucht, so dass die Philosophie den Rahmen jenseitiger Sanktion und Grati%kation nicht verlässt.

0ch bin näher auf die &latonische Jehre eingegangen( um 0hnen zu zeigen( wie die 1inge stehen – oder sollten wir sagen; standen6 –( wenn 'ie nicht auf das <ewissen vertrauen, O./B-PQ

Wenn das Gewissen, das ja in einer noch näher zu bestimmenden Weise als Operationsort für die moralischen Sätze verstanden wird, von solchen »Drohungen« abhängig sei, so mutmaßt Arendt, könnte sich herausstellen, dass sowohl die Moral als auch unser Rechtssystem bereits ausgehöhlt sind, überholte Institutionen, die den Verlust der sie begründenden Prinzipien noch eine Weile überleben.

9nsere <eneration ist die erste seit dem *ufkommen des Dhristentums im *bendland( in der die Iassen( und nicht nur eine kleine @lite nicht mehr an künftige Nustände Oan 5future states7( wie es bei den <ründenden Cätern 2der *merikanischen :epublik4 immer noch hießQ glauben und die deshalb Owie es scheintQ das <ewissen als ein Urgan begreift( das ohne Eo"nung auf /elohnung reagiert und ohne 8urcht vor /estrafungen, Ub die Ienschen immer noch glauben( dieses <ewissen erhalte seine /otschaften von einer göttlichen 'timme( ist( um es ganz vorsichtig auszudrücken( zweifelhaft, 1ie +atsache( daß all unsere :echtsinstitutionen( sofern sie mit 'traftaten befaßt sind( sich noch immer auf ein solches Urgan verlassen( welches jeden Ienschen( auch wenn er

104 Hannah Arendt, »Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto (November 1972)«, S.B73–115 in: Arendt, Selbstauskünfte, S.B88.

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mit den <esetzbüchern nicht vertraut sein mag( über :echt und 9nrecht unterrichtet( ist kein /eweis für dessen @xistenz, Uft überleben 0nstitutionen für lange Neit die grundlegenden &rinzipien( auf denen sie gegründet wurden, O./B-FQ

Aber auch ohne die Inanspruchnahme »künftiger Zustände« sieht Arendt die säkularen Begründungsversuche von Moral Irrtümern ausgesetzt, die darauf beruhen, sich das Gewissen weiterhin so vorzustellen, wie es im meta-physischen Kontext angelegt war: als Empfänger von »Botschaften«. Bereits in der Imperativform der moralischen Sätze sieht Arendt ein Relikt theologischen Gewissensverständnisses, demzufolge das Gewissen das Organ wäre, das das göttliche Gebot erhält und dann, wiederum in Imperativform, dem Willen weiterreicht, der schließlich seinerseits eine entsprechende Handlung »be-%ehlt«. Für Arendt ist es aber vielmehr die Urteilskraft, die über Handlungs-prinzipien zu be%nden hat, so dass die moralischen Grundsätze eigentlich in Aussageform zu erscheinen hätten – wie der Titel der Vorlesung »Basic Moral Propositions« anzeigt.

Am Beispiel von Kants kategorischem Imperativ demonstriert sie ent-sprechend, dass es sich um einen »uneigentlichen« Imperativ handele, dessen Gehalt auch im Indikativ formuliert werden könne. Nämlich als die allgemeine Aussage, »daß die moralische Tat eine Tat ist, die ein allgemein gültiges Gesetz aufstellt« (ÜBB37f.). Die Verp!ichtung, die über die Imperativform gewonnen werden soll, hält Arendt für irreführend, da es sich bei dem »Freiheitsgesetz« ja gerade nicht um ein Naturgesetz, vor dem man sowieso keine Wahl hat, oder das Gesetz eines Landes, dem zu gehorchen einen dessen Exekutive nötigen kann, handele. Der Zwang, der von der Vernunft ausgeht und aus dem Kant die Gültigkeit des Kategorischen Imperativs ableitet, sollte aber wiederum keines Appells bedürfen. »Keiner kann jemandem sagen: Du sollst sagen, daß zwei und zwei gleich vier ist!« (ÜBB40). Der Imperativ ist also an den Willen adressiert, worin Arendt die ihrer Meinung nach grundfalsche Au"assung einer Hierarchie der geistigen Vermögen wittert, der gemäß die Vernunft die Macht hätte, dem Willen zu befehlen.

1ie Cernunft kann dem )illen nur sagen; Cernunftgemäß ist das gut? wenn du es erreichen willst( musst 1u entsprechend handeln, )as in Xants /egri"en eine *rt hypothetischer 0mperativ wäre( oder überhaupt kein 0mperativ 234, )enn wir die )idersprüche beiseite lassen und uns nur an das halten( was Xant sagen wollte( dann hat er o"enbar an einen <uten )illen als den )illen gedacht( der 5Sa( ich will7 antwortet( wenn ihm gesagt wird; 51u sollst7, 9nd um diese /eziehung zwischen den

Vorlesungen zur Moralphilosophie

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zwei menschlichen Cermögen( die eindeutig nicht gleichzusetzen sind und von denen eindeutig nicht das eine automatisch das andere bestimmt( zu beschreiben( hat er die 8orm des 0mperativs gewählt und den /egri" des <ehorsams sozusagen durch die Eintertür wieder eingeführt, O./BTHf,Q

Arendt will die Moralphilosophie indessen nicht nur von »Befehlen« und »Ge-horsam« freihalten, sondern auch von dem alternativen Versuch, die moralischen Sätze »zwingend« zu machen, nämlich dem Projekt, sie zu begründen. Dieses Unternehmen wäre nach Arendt doppelt zum Scheitern verurteilt. Erstens würde man ohnehin der Moral einer Person, die nach einem Grund für diese Gebote fragt, nicht recht über den Weg trauen (ÜBB129), und zweitens seien moralische Sätze per se unbeweisbar. Arendt spricht moralischen Wahrheiten axiomatischen Status zu, womit sie aber nicht im strikten Sinne meint, dass sie zur Grundlage für alle weiteren Schlüsse würden. Mit dem späten Wittgenstein könnte sie also auch von »grammatischen Sätzen« sprechen.105

Ioralische 'ätze sind immer für selbstverständlich gehalten worden( und schon sehr früh entdeckte man( daß sie nicht bewiesen werden können( daß sie axiomatisch sind, 1araus würde folgen( dass eine Cerp!ichtung – das 51u sollst7 oder 51u sollst nicht7( der 0mperativ – unnötig ist( und ich habe zu zeigen versucht( daß es geschichtliche <ründe für Xants kategorischen 0mperativ gibt( der ebensogut eine kategorische /e>hauptung hätte sein können, O./BMHf,Q

Damit moralische Sätze als solche wirksam sein können, müssen sie also für selbstverständlich gehalten werden, und weder Verp!ichtungen noch Begründungen können diese Selbstverständlichkeit erzeugen oder ersetzen. Arendts Diagnose, dass das Vertrauen auf diese Selbstverständlichkeit »dem Sturm der Zeit nicht standgehalten hat«, läuft darauf hinaus, »daß die ur-sprünglichen Begri"e für diese Dinge (›mores‹ und ›ethos‹), die beinhalten, daß es sich um nichts als Manieren, Sitten und Gewohnheiten handelt, in einem gewissen Sinne angemessener sein mögen, als die Philosophen gedacht haben« (ÜBB48). Zumindest ein Philosoph wäre davon natürlich nicht überrascht ge-wesen, und Arendt spricht denn auch Nietzsche den Verdienst zu, »daß er zu zeigen wagte, wie schäbig und bedeutungslos Moral geworden war« (ÜBB13).

105 Zur Konzeption ethischer Prinzipien als grammatischer Sätze s.: Matthias Kiesselbach, »Zwischen Partikularismus und Generalismus. Ethische Probleme als Grammatische Spannungen«, S. 45–66 in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Vol.B32, Nr.B1 (Februar 2010).

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Kohn weist darauf hin, dass Arendt damit nicht zugestehe, Nietzsche hätte gezeigt, was Moral eigentlich ist, und distanziert ihr Projekt von seinem, da sie weder geglaubt habe, dass moralische Prinzipien austauschbar seien, noch dass das Gewissen eine bloße späte Begleiterscheinung der Genealogie der Moral sei.106 Diese Beschreibung stimmt zwar in gewisser Hinsicht, spielt aber andererseits die Radikalität von Arendts Neuansatz herunter. Zum einen hielt sie das Gewissen ganz dezidiert für ein Epiphänomen – und zwar des Denkens – und den konventionellen Gewissensbegri" erst recht für gänzlich überholt und verzichtbar. Zum anderen hielt sie die Austauschbarkeit so eindeutig für eine unbestreitbare Tatsache, dass Kohn sich vermutlich nur auf ihre Haltung demgegenüber bezieht. Wenn Arendt die Austauschbarkeit moralischer Prinzipien also bedauerte, dann bezog sich ihr Unbehagen dabei mehr auf den Umstand, dass durch den Austausch die Prinzipienhaftigkeit nicht überwunden würde. Auch Nietzsche selbst wirft sie in diesem Sinne vor, mit dem »Wert des Lebens« lediglich eine neue Wertordnung installiert zu haben (ÜBB12f.). In dem Gespräch mit Hans Jonas, der vorschlug, dass man der säkularen Situation angemessene, neue »letzte Prinzipien« formulieren müsse, um Moral fundieren zu können, macht Arendt deutlich, dass sie in dieser Ordnungshaftigkeit selbst die größte Gefahr sehe:

9nd wenn 'ie verallgemeinern wollen( dann können 'ie sagen( dass diejenigen( die noch sehr fest an die sogenannten alten )erte glaubten( am ehesten bereit waren( ihre alten )erte gegen eine neue )ertordnung einzutauschen( vorausgesetzt( man gab ihnen eine, 9nd ich fürchte mich davor( weil ich glaube( dass in dem Ioment( in dem 'ie jemandem eine neue )ertordnung – oder jenes berühmte 5<eländer7 geben( dieses sofort ausgetauscht werden kann, 1as einzige nämlich( woran der /ursche sich gewöhnt( ist( ein 5<eländer7 zu haben und eine )ertordnung( ganz gleich( welche, 0ch glaube nicht( dass wir diese 'ituation( in der wir uns seit dem GA,BSahrhundert be%nden( irgendwie stabilisieren können,GHA

Es ist also nicht die Stabilisierung von Werten, die Arendt anstrebt – im Gegen-teil, sie verspricht sich eine Überwindung des moralischen Zusammenbruchs von der Radikalisierung eines seiner Aspekte, nämlich der kontinuierlichen

106 Jerome Kohn, »Introduction by Jerome Kohn«, S.vii–xxx in: Arendt, Responsibility & Judgment, S. xviii".; eine gründliche Analyse von Arendts Nietzscheanismus bietet: Dana R. Villa, »Beyond Good and Evil. Arendt, Nietzsche, and the Aestheticization of Political Action«, S.B151–185 in: Political !eory, Vol.B20, Nr.B2 (Mai 1992).

107 Hannah Arendt, »Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto (November 1972)«, S.B73–115 in: Arendt, Selbstauskünfte, S.B88.

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Destabilisierung von Wertordnungen, die ihrer Meinung nach das Denken ausmacht.

Diese Betonung der Instabilität scheint im Widerspruch zu der obigen Forderung zu stehen, dass moralischen Sätzen axiomatische Selbstverständ-lichkeit zukommen solle – wie lässt sich also Arendts Frage nach dem Status moralischer Sätze dann noch beantworten, ohne paradox zu werden? Jeder Versuch, die verlorenen Kontexte, in denen Moral sich von selbst verstand, zu restaurieren, würde auf eben jenen Dogmatismus hinauslaufen, der Arendts Meinung nach viel zu anfällig ist, gegen die schlimmsten neuen Varianten eingetauscht zu werden. Die prekäre Selbstverständlichkeit, in der Moralität sich bei manchen positiven Ausnahmen erhalten habe, zeigt laut Arendt, dass die Vorstellung vom Gewissen selbst einer gründlichen Revision bedarf, bevor der Status moralischer Sätze zu bestimmen wäre.

)enn 'ie sich die )enigen( die sehr )enigen( die im moralischen Nusammenbruch von =azi>1eutschland vollkommen heil und schuldlos blieben( näher ansehen( werden 'ie entdecken( daß diese nie so etwas wie einen großen moralischen Xon!ikt oder eine <ewissenskrise durchgemacht haben 234, Iit anderen )orten( sie fühlten keine Cerp!ichtung( sondern handelten im @inklang mit etwas( das für sie selbstverständlich war( auch wenn es für diejenigen um sie herum nicht mehr selbstverständlich war, 0hr <ewissen( wenn es das denn war( hatte keinen zwingenden Dharakter? es sagte; 51as kann ich nicht tun7 anstelle von; 51as darf ich nicht tun,7

Die Formulierung »Ihr Gewissen, wenn es das denn war« deutet darauf hin, dass Arendt auf der Suche nach einer anderen Lokalisierung von Moral war. Die grundlegenden moralischen Sätze sollten nicht als Gebote im Gewissen stehen – und dort womöglich die Struktur einer austauschbaren Wertordnung annehmen –, sondern auf andere Weise aktualisiert werden. Nachdem deut-lich wurde, dass es für Arendt ohnehin keine akzeptable »Begründung« von Moral geben kann, lautet die Frage also, was moralische Sätze selbstverständ-lich machen kann, ohne sie in Prinzipien einer feststehenden Wertordnung zu überführen. Welche Praktik erzeugt jene prekäre Selbstverständlichkeit, in der moralische Sätze sich von Dogmen, Drohungen oder Manieren unter-scheiden?

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Gewissen als Selbstumgang

Ein weiteres Indiz auf der Suche danach, was den Status moralischer Sätze ausmacht, entdeckt Arendt in ihnen selbst. Alle Grundformeln der Moral nehmen Bezug auf das Selbst als Maßstab – etwa für die Nächstenliebe oder für die Behandlung anderer.108

In diesem Selbstbezug, in dem Zwiegespräch mit sich selbst, das die grundlegenden moralischen Sätze zu verlangen scheinen, vermutet Arendt einen geeigneteren Kandidaten für die Funktionen, die der herkömmliche Gewissensbegri" ihrer Meinung nach so unzulänglich erfüllt. Es ist zunächst wiederum die Etymologie, die ihre Intuition bestätigt. Der Begri" für »Ge-wissen« leitet sich in vielen Sprachen von »(Selbst)bewusstsein« her, »Sich-mit-sich-zu-wissen« scheint darin eine spezi%sche moralische Konnotation angenommen zu haben:

0n allen 'prachen ist ursprünglich mit 5<ewissen7 nicht eine 8ähigkeit des @rkennens und 9rteilens in bezug auf :echt und 9nrecht gemeint( sondern das( was wir heute 5/ewusstsein7 nennen( das heißt die 8ähigkeit( mit deren Eilfe wir uns selbst kennen und wahrnehmen, 0m Jateinischen und <riechischen wurde das )ort für /ewußtsein genommen( um zugleich <ewissen zu bezeichnen? im 8ranzösischen wird das gleiche )ort O5conscience7Q für beides( die kognitive und die moralische /edeutung( be>nutzt? und im @nglischen hat das )ort 5conscience7 erst vor kurzem seine besondere moralische /edeutung angenommen, O./BTFQ

Um detaillierteren Aufschluss über diese moralische Dimension des Bewusst-seins – und die Frage, was sie aktiviert – zu erhalten, wendet sich Arendt gezielt zwei Äußerungen Sokrates’ zu. Sie begründet die Wahl mit der Ausnahme-stellung, die er in der Tradition des westlichen Denkens einnehme. Sokrates

– und Arendts Sokrates ist dezidiert nicht-platonisch – sei als einer der wenigen gänzlich über den Verdacht metaphysischer Trugschlüsse und Systembauten

108 Arendt geht kurz darauf ein, dass dies zunächst der Intuition widerspräche, dass es in der Moral um »den Anderen« gehen solle (ÜBB35 u. 49). Georg Kateb zum Beispiel verwirft Arendts Projekt der sokratischen Moral als von Grund auf »egoistisch«. Dabei entgeht ihm erstens, dass in Arendts Konzeption des dyadischen Selbst der Anspruch »des Anderen« bereits in der eigenen Identität verankert ist – bzw. ihr vorausgeht – und dass »Selbst-interesse« nicht notwendig mit »Altruismus« im Widerspruch steht. Wie im Schlusskapitel zu zeigen sein wird, trägt Arendt in ihrem Begri" der Vorstellungskraft auch gerade der Tatsache Rechnung, dass in vielen Fällen die betro"enen anderen im »modernen Bösen« der Täterin gar nicht erscheinen. Vgl.: Georg Kateb, Hannah Arendt. Politics, Concience, Evil, Oxford 1983 [i. Folg. zit. als: »Kateb, Concience«], S.B103f.

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erhaben, da er sich bekanntermaßen selbst nicht im Besitz der Wahrheit wähnte und auch keine feststehende »Lehre« anzubieten hatte. Es kann nicht übersehen werden, dass die Wahl von Sokrates als Denker par excellence bei Arendt unter anderem durch Jaspers’ Sokratesporträt in »Die großen Philo-sophen« inspiriert ist109, noch stärker aber durch die Schlüsselfunktion, die er in den Philosophiekursen Heinrich Blüchers einnahm. Blücher benutzte Sokrates als Paradebeispiel, um den Studenten in seinen Einführungskursen die Prinzipien des kritischen Denkens und den Vorrang der menschlichen Beziehungen als Denkgegenstand nahezulegen:

Cielleicht hätten wir unsere *ufmerksamkeit auf die Wualitäten konzentrieren sollen( die man für die wesentlich menschlichen und humanen +ätigkeiten braucht; &hilosophie oder die /eziehung des Ienschen zu sich selbst( @rotik oder die /eziehung von Iensch zu Iensch( &olitik oder die /eziehung der Ienschen zur ganzen Ienschheit,GGH

Insofern kann Vom Leben des Geistes mit dem zentralen Entwurf der Sokrates%gur, »nachdem er die Pforte des Paradieses passiert hat«111, mindestens ebenso sehr als Hommage an Heinrich Blücher gelesen werden, wie, entsprechend der gängigen Einordnung, als späte Rückkehr zu Heidegger.112

Arendt hält Sokrates’ Äußerungen in ihrem moralphilosophischen Zu-sammenhang auch deshalb für bemerkenswert, weil sie in einem Kontext, in dem eigentlich die weltbezogene, politische Moral gängig war, bereits eine auf das Selbst bezogene Alternative entwerfen (ÜBB89).113 Die beiden Äußerungen,

109 Karl Jaspers, »Sokrates«, S.B105–127 in: Karl Jaspers, Die Großen Philosophen, München 1957, bes. S.B124".

110 Heinrich Blücher, »Eine Vorlesung aus dem Common Course«, S.B567–580 in: Arendt/Blücher, S.B576.

111 Arendt erläutert ihre eigene Verwendung historischer Figuren als Idealtypen mit einem Zitat aus der Dante-Forschung. Dante sei, so heißt es da, in der göttlichen Komödie seinen Figuren insofern treu geblieben, als er sie nur von Eigenschaften befreit habe, die sie ohne-hin an der Pforte des Paradieses hätten abgeben müssen. Vgl.: Arendt, Zusammenhang, S.B137. Der Rolle von »Idealtypen« in Arendts Werk widmet sich meines Wissen nur: Tuija Parvikko, »Commited to #ink, Judge and Act: Hannah Arendt’s Ideal-typical Approach to Human Faculties«, S.B111–130 in: Hermsen/Villa, Judge.

112 Blücher, der als leidenschaftlicher Autodidakt Philosophie lehrte, aber nie niederschrieb, wird von Arendt selbst in Briefen gelegentlich mit Sokrates verglichen und scheint auch von seinen Studenten so gesehen worden zu sein. Im Juni 1961 berichtet Blücher in einem Brief: »Einer meiner besten Studenten je hat das beste senior project je ge-schrieben. Über Kafka […]. Auf einer leeren Seite ganz klein unten in der Ecke [steht] ›To the Gad!y. Bitten; I am grateful.‹« (Arendt/Blücher, S.B548). S. auch: Young-Bruehl, Arendt, S.B589".

113 Das macht ihn gerade nicht, wie vielfach vorausgesetzt, zum idealtypischen Bürger.

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die ihre weiteren Überlegungen leiten, stammen aus dem Dialog Gorgias und lauten:(d) »Es ist besser Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun.« (ÜBB59)(e) »Und ich wenigstens … bin der Meinung, daß lieber auch meine Lyra

verstimmt sein und mißtönen möge oder ein Chor, den ich anzuführen hätte, und die meisten Menschen nicht mit mir einstimmen, sondern mir widersprechen mögen, als daß ich, der ich Einer bin, mit mir selbst nicht zusammenstimme, sondern mir widersprechen müßte.« (ÜBB70)114

Zu seinen moralischen Einsichten ist er nun laut Arendt als »Denker par excellence« gelangt. Denn an den sokratischen Formulierungen ließe sich, deutlicher als an Volksmund, Kant und Bibel, nicht nur der Rückbezug des moralischen Urteils aufs Selbst, sondern seine Entstehung aus dem Denk-prozess nachvollziehen. »Es war ja wirklich die Philosophie oder besser die Erfahrung des Denkens, die Sokrates zu diesen Aussagen veranlasste.«115 Es ist wichtig, schon hier die Ableitungsrichtung im Blick zu behalten, weil die Kritik an Arendts Moraltheorie sich oft auf eine stärkere #ese richtet, die sie nirgends explizit vertritt. Sie sagt nicht, dass, wo Denken statt%ndet, notwendig gutes moralisches Urteil gefällt würde, sondern erklärt lediglich das Denken zur notwendigen Bedingung von (nicht-religiöser, Mehr-als-Gewohnheits-)Moral. Das Denken ist laut Arendt deshalb die Erfahrung, die einen zu der Überzeugung führe, lieber mit anderen als mit sich selbst in Unstimmigkeit zu sein und lieber Übel zu leiden als zu tun, weil man sich in dieser Tätigkeit selbst begegne. Mit einer Wendung von Platon de%niert Arendt das Denken als »stummes Gespräch zwischen mir und mir selbst«116, und es ist dieser Modus, in dem Sokrates’ scheinbar paradoxes Bild von der Uneinigkeit dessen, der Eins ist, zum Tragen kommt. Sobald man denke, spalte sich das Selbst, das in der Welt immer als »Eines« erscheint, nämlich in die Pole eines Zwiegesprächs. Da es aber die Stimmen des gleichen Ichs sind, die das Denken orchestrieren, sind sie, bei Nichtaufgabe des Denkens, unentrinnbar. Aus dieser »Zwangsgemein-schaft« mit sich selbst im Denken leitet Arendt nun eine dem Denkprozess inhärente Tendenz zur Harmonie ab.

114 Die Übersetzung bei Schleiermacher heißt im Wortlaut »ich allein mit mir selbst«; Arendt bezieht sich auf das » « des Originals aber stets als »ich, der ich Einer bin«. Vgl.: Platon, »Gorgias«, S.B197–283 in: Platon, Sämtliche Werke. 1, hg. v. Walter F. Otto u. Ernesto Grassi, ü. v. Friedrich Schleiermacher, Hamburg 1957, S.B238 (482b,c).

115 Arendt, Zusammenhang, S.B148.116 Platon, »#eaitetos«, S.B103–244 in: Platon, Sämtliche Werke. 4, hg. v. Walter F. Otto u.

Ernesto Grassi, ü. v. Friedrich Schleiermacher, Hamburg 1957, S.B157 (189e).

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)enn ich mit anderen Ienschen nicht übereinstimme( kann ich weggehen? aber von mir selbst kann ich nicht weggehen( und deshalb emp%ehlt es sich für mich( zunächst mit mir selbst in .bereinstimmung zu kommen zu suchen( bevor ich alle anderen in die /etrachtung mit einbeziehe, 1er 2zitierte4 'atz enthüllt auch den <rund( warum es besser ist( 9nrecht zu leiden( als 9nrecht zu tun; )enn ich 9nrecht tue( bin ich dazu verdammt( in unerträglicher 0ntimität mit einem 9nrechttuenden zusammen>zuleben? ich kann ihn nie loswerden, O./BAHQ

Mit einem anderen sokratischen Bild bezeichnet Arendt die Situation des Denkenden auch als die von jemanden, den bei der Rückkehr »nach Hause« stets ein Geselle erwarte, der ihn nach seinen Taten befrage.117 Arendt trennt deutlich zwischen Denken und Handeln – handelnd, unter anderen und in der Welt, be%ndet man sich nicht im Modus des Denkens, sondern ganz anderen Ansprüchen und Adressierungen ausgesetzt. Wenn man allein ist (oder sich gezielt von der Umwelt abwendet und in sich selbst zurückzieht), %ndet man sich aber wiederum in einer solchen Bezogenheit, nun aber als Verhältnis interner Ansprache. »Jemand wendet sich an jemanden anderes, und diese An-redestruktur bildet die rhetorische und linguistische Bedingung des Denkens und des Gewissens zugleich. […] Aber es muss jemand zu Hause sein, um angetro"en werden zu können«.118 Es ist die Beziehung zu diesem »jemand«, wenn er denn »zuhause« ist, die Arendt als »Denken« fasst, um zu erproben, ob sich daraus ein revidierter Gewissensbegri" gewinnen lässt. Dieses Gewissen wäre dann nicht mehr nach dem theologischen Modell geformt, das Gebote von außerhalb empfängt:

/ei 'okrates wird kein spezi%sches Urgan benötigt( weil 'ie in sich selbst bleiben( und kein transzendenter Iaßstab( wie wir sagen würden? oder nichts außerhalb 0hrer selbst( das mit den *ugen des <eistes empfangen würde( unterrichtet 'ie davon( was :echt und 9nrecht ist, O./BAGQ

Ein weiterer Vorteil des »sokratischen« Gewissens besteht darin, dass es nicht allen Menschen »angeboren« wäre, sondern aus der inneren Fortsetzung einer geteilten sozialen Praxis – »die Dinge durchzusprechen« – erwächst. Dieses Gewissen ist kein allgemeines »Organ«, dessen Fehlen bei manchen Menschen an seiner Existenz überhaupt zweifeln lässt, sondern eine episodische Praktik,

117 Arendt, Zusammenhang, S.B152.118 Judith Butler, Parting Ways. Jewishness and the Critique of Zionism, New York 2012, S.B170

[Übersetzung EvR].

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deren Manifestation bei manchen Menschen immerhin die Ho"nung weckt, dass es sich um die Aktivierung eines Vermögens handelt, über das alle Menschen verfügen könnten.

=ach allem( was wir über den geschichtlichen 'okrates wissen( scheint es wahrschein>lich( daß er( der seine +age auf dem Iarktplatz verbrachte 234( geglaubt haben muß( daß die Ienschen alle keine eingeborene 'timme des <ewissens besitzen( sondern das /edürfnis haben( die 1inge durchzusprechen? daß alle Ienschen mit sich selbst sprechen, Uder( um es fachmännischer auszudrücken( daß alle Ienschen Nwei>in>@inem sind( nicht nur im 'inne der /ewußtheit und 'elbstbewußtheit Obei allem( was immer ich tue( bin ich dessen( daß ich es tue( irgendwie gewahrQ( sondern in dem sehr spezi%schen und aktiven 'inne dieses stummen 1ialogs( dieses ständigen 9mgangs mit sich selbst( des Iit>sich>selbst>'prechens, O./BAKQ

Dieses »Mit-sich-selbst-Sprechen« etabliert nach Arendt auch nicht jene »stabilen Wertordnungen«, die dann Gefahr laufen »über Nacht« gegen andere ausgetauscht zu werden, sondern bleibt unabgeschlossen:

0m :eich der )orte( und alles 1enken als &rozeß ist ein &rozeß des 'prechens( werden wir nie eine eiserne :egel %nden( mit deren Eilfe wir mit 'icherheit festlegen können( was :echt und was 9nrecht ist, O./B-MQ

Bezüglich des Prinzips, das diesem Gespräch im Bewusstsein seine moralische Qualität verleiht, changiert Arendt zwischen einer mehr formalen und einer eher existentiellen Variante. Einerseits ist sie der Meinung, dass das kantische Prinzip der widerspruchsfreien Verallgemeinerbarkeit von Handlungsmaximen seine Gültigkeit aus jener Situation des Selbstgesprächs gewinnt, in der man sich im Denken be%ndet. Um Denken zu können, müsse man dafür sorgen, dass die Partner »Freunde bleiben«, und wenn sie von zwei unvereinbaren Prinzipien eingenommen wären, würde ein unerträglicher Widerstreit entstehen. Dieses Szenario bleibt aber etwas schwach, denn es ließe sich ja – erst recht bei Arendts eigenem starken Begri" der Freundschaft als einer Beziehung, die auch um der Wahrheit willen nicht aufgegeben werden sollte119 – zumindest vorstellen, dass eben diese fortgesetzte Debatte das Denken ausmachen würdeB– warum nicht unendlich darüber debattieren, ob eine Tat Recht oder Unrecht war? Das Streben zur Harmonie als dem Denken selbst inhärente Tendenz müsste dann durch zusätzliche Annahmen begründet werden, etwa, dass das

119 Vgl.: »Gedanken zu Lessing: Von der Menschlichkeit in %nsteren Zeiten«, S.B11–42 in: Arendt, Menschen, S.B36f.

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Denken nicht an ein #ema gefesselt bleiben wolle, aber zugleich ein #ema nicht ruhen lassen könne, wenn dort ein Widerspruch kla"t. Andererseits lädt Arendt ihre Konzeption der Denk-Beziehung metaphorisch als »Zu-sammenleben« auf und bringt somit ein Kriterium des Geschmacks mit ins Spiel. Es seien weniger die zwei widersprüchlichen Stimmen, von denen eine beharrt »Mord ist Unrecht«, während die andere das Prinzip ihrer Handlung als allgemeines Gesetz vertreten muss und z.B. proklamiert »Wenn man sehr hungrig ist, darf man einen Lagerwächter erwürgen«, als eine »unerträgliche Intimität«, die zwischen beiden bestehe:

)enn 'ie mit 0hrem 'elbst uneins sind( ist das so( als wenn 'ie gezwungen wären( täglich mit ihrem eigenen 8eind zu leben und zu kommunizieren, 1as kann sich keiner wünschen, O./BAGQ

In dem »das kann sich keiner wünschen« klingt bereits an, was Arendt als Merkmal der moralischen Ausnahmen beschrieben hatte, dass ihnen ihr Gewissen nämlich nicht P!ichten oder Befehle erteile, sondern angesichts bestimmter Optionen unmittelbar be%ndet: »das kann ich nicht tun«. Das Ge-spräch zwischen mir und mir selbst, so lautet Arendts Arbeitshypothese, bildet also die Grundlage des Gewissens, oder besser: das Gewissen ist nichts anderes als das denkende Selbstverhältnis. Wenn, dann gewinnen die grundlegenden moralischen Sätze in diesem Kontext ihre Selbstverständlichkeit – weil ich mit dem Täter meiner Taten zusammenleben und alles durchsprechen muss, kann ich nicht zum Täter von Taten werden, die ich selbst nicht erfahren will.

In ihrem Aufsatz »Über den Zusammenhang von Denken und Moral«, den Arendt 1971 verö"entlichte, fasst sie diese Perspektive zusammen:

Xönnte vielleicht das 1enken als solches – die <ewohnheit( alles zu untersuchen( was sich begibt oder die *ufmerksamkeit erregt( ohne :ücksicht auf die @rgebnisse und den speziellen 0nhalt – zu den /edingungen gehören( die die Ienschen davon ab>halten oder geradezu dagegen prädisponieren( /öses zu tun6 O1as )ort 5<e>wissen7 selbst 2engl,; 5con>science74 deutet jedenfalls darauf hin( denn es bedeutet ja 5bei sich wissen7( was bei jedem 1enkvorgang der 8all ist,QGVH

Diese programmatische Passage wird, ungeachtet des mehr als rhetorischen Fragezeichens, häu%g als die Quintessenz der Arendt’schen Moralphilosophie zitiert – und kritisiert. Arendt übernahm sie in das Vorwort von Von Leben des Geistes und gliederte auch den Rest des Aufsatzes, der die sokratische Position

120 Arendt, Zusammenhang, S.B129.

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ausführt, in »Das Denken« ein. Ob und vor allem wie das Denken dagegen prädisponiert, Böses zu tun, erschien Arendt nicht beantwortbar, ohne über eine umfassende Phänomenologie dieses Vermögens zu verfügen. Diese soll im nächsten Kapitel nachvollzogen werden.

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