gabriel, christoph (2013): “guglielmo tell und les noces du figaro: einzelsprachliche prosodie und...

15
59 Guglielmo Tell und Les Noces du Figaro: Einzelsprachliche Prosodie und Textvertonung in der italienischen und französischen Oper Christoph Gabriel (Hamburg) Abstract Während das Italienische einen festen Wortakzent und eine Tendenz zur Pänultimabetonung aufweist, ist das prosodische System des Französischen phrasenbasiert und durch tonale Prominenzen gekenn- zeichnet, die mit den Rändern prosodischer Einheiten assoziiert sind. Bei der Textvertonung schlägt sich die einzelsprachliche Prosodie in Melodiebildung und rhythmischer Gestaltung nieder, was bei fremdsprachlichen Bearbeitungen maßgebliche Veränderungen erfordern kann. Anhand der italieni- schen Fassung von Rossinis Guillaume Tell zeige ich, dass bei der Übertragung von Rezitativen durchaus wesentliche Änderungen im Notentext vorgenommen werden, während bei Arien das Be- wahren der ursprünglichen musikalischen Gestalt im Vordergrund steht. Die französische Übersetzung von Mozarts Figaro macht deutlich, dass die Nutzung von prosodischen Mustern, die in gesprochener Sprache als markiert gelten, dabei ein flexibles Anpassen des zielsprachlichen Texts an die Musik ermöglicht. 1. Einleitung Es ist unstrittig, dass Sprache und Musik grundlegende menschliche Ausdrucksformen dar- stellen, die sich in einem Punkt gleichen: Jeweils liegt ein akustisches Kontinuum vor, das nach bestimmten analysierbaren Prinzipien gegliedert ist. Diese Gliederung bezieht sich zum einen auf die syntaktische Ebene, wobei mit Blick auf die Sprache die hierarchische Organisa- tion sprachlicher Grundbausteine zu nennen ist, die nach universalen Prinzipien des Phrasen- baus zu immer komplexeren Einheiten kombiniert werden. Ähnlich ist auch Musik durch wiedererkennbare Strukturprinzipien charakterisiert, wenn auch weniger durch universale, als durch kulturkreis- und epochenspezifische. Für die europäische Musik der Neuzeit lassen sich hier etwa das Kompositionsprinzip der Fuge, der musikalische Periodenbau oder die formale Gestaltung größerer Einheiten wie die ABA-Form der barocken da capo-Arie oder die für das 19. Jahrhundert typische Zweiteilung der italienischen Opernarie in Cavatina und Cabaletta anführen. Die zweite, lautliche Gliederungsebene, um die es hier gehen soll, betrifft das akus- tische Material und dessen zeitliche Organisation, also den Rhythmus, sowie den Einsatz von (in der Sprache relativen und in der Musik i. d. R. absoluten) Tonhöhenkontrasten, sprich die Intonation (F0-Verlauf) bzw. Melodie. Dass ein Zusammenhang zwischen den Ausdrucksformen Sprache und Musik besteht, ist offensichtlich, und die These, dass rhythmische und melodische Beschaffenheit instrumen- taler Musik sprachlicher Beeinflussung unterliege, ist auch nicht neu. Dies gelte, so der Cem- balist Ralph Kirkpatrick, insbesondere für das Französische, dessen Sprachduktus er in der Melodiebildung bei französischsprachigen Komponisten wiederzuerkennen glaubt: «Both Couperin and Rameau, like Fauré and Debussy, are thoroughly conditioned by the nuances

Upload: uni-mainz

Post on 18-Jan-2023

1 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

59

Guglielmo Tell und Les Noces du Figaro: Einzelsprachliche Prosodie und Textvertonung in der italienischen und französischen Oper Christoph Gabriel (Hamburg)

Abstract Während das Italienische einen festen Wortakzent und eine Tendenz zur Pänultimabetonung aufweist, ist das prosodische System des Französischen phrasenbasiert und durch tonale Prominenzen gekenn-zeichnet, die mit den Rändern prosodischer Einheiten assoziiert sind. Bei der Textvertonung schlägt sich die einzelsprachliche Prosodie in Melodiebildung und rhythmischer Gestaltung nieder, was bei fremdsprachlichen Bearbeitungen maßgebliche Veränderungen erfordern kann. Anhand der italieni-schen Fassung von Rossinis Guillaume Tell zeige ich, dass bei der Übertragung von Rezitativen durchaus wesentliche Änderungen im Notentext vorgenommen werden, während bei Arien das Be-wahren der ursprünglichen musikalischen Gestalt im Vordergrund steht. Die französische Übersetzung von Mozarts Figaro macht deutlich, dass die Nutzung von prosodischen Mustern, die in gesprochener Sprache als markiert gelten, dabei ein flexibles Anpassen des zielsprachlichen Texts an die Musik ermöglicht.

1. Einleitung Es ist unstrittig, dass Sprache und Musik grundlegende menschliche Ausdrucksformen dar-stellen, die sich in einem Punkt gleichen: Jeweils liegt ein akustisches Kontinuum vor, das nach bestimmten analysierbaren Prinzipien gegliedert ist. Diese Gliederung bezieht sich zum einen auf die syntaktische Ebene, wobei mit Blick auf die Sprache die hierarchische Organisa-tion sprachlicher Grundbausteine zu nennen ist, die nach universalen Prinzipien des Phrasen-baus zu immer komplexeren Einheiten kombiniert werden. Ähnlich ist auch Musik durch wiedererkennbare Strukturprinzipien charakterisiert, wenn auch weniger durch universale, als durch kulturkreis- und epochenspezifische. Für die europäische Musik der Neuzeit lassen sich hier etwa das Kompositionsprinzip der Fuge, der musikalische Periodenbau oder die formale Gestaltung größerer Einheiten wie die ABA-Form der barocken da capo-Arie oder die für das 19. Jahrhundert typische Zweiteilung der italienischen Opernarie in Cavatina und Cabaletta anführen. Die zweite, lautliche Gliederungsebene, um die es hier gehen soll, betrifft das akus-tische Material und dessen zeitliche Organisation, also den Rhythmus, sowie den Einsatz von (in der Sprache relativen und in der Musik i. d. R. absoluten) Tonhöhenkontrasten, sprich die Intonation (F0-Verlauf) bzw. Melodie.

Dass ein Zusammenhang zwischen den Ausdrucksformen Sprache und Musik besteht, ist offensichtlich, und die These, dass rhythmische und melodische Beschaffenheit instrumen-taler Musik sprachlicher Beeinflussung unterliege, ist auch nicht neu. Dies gelte, so der Cem-balist Ralph Kirkpatrick, insbesondere für das Französische, dessen Sprachduktus er in der Melodiebildung bei französischsprachigen Komponisten wiederzuerkennen glaubt: «Both Couperin and Rameau, like Fauré and Debussy, are thoroughly conditioned by the nuances

60

and inflections of spoken French» (zit. n. Abraham 1974: 83). Auch wurden formal-linguistische Modelle für die Analyse musikalischer Strukturen nutzbar gemacht. Ein promi-nentes Beispiel ist Lerdahl & Jackendoffs Generative Theory of Tonal Music (1983); in jün-gerer Zeit hat der Syntaktiker David Pesetsky (2008, cf. auch Katz & Pesetsky 2009) diesen Ansatz im Minimalistischen Rahmen wiederbelebt. Es liegen bislang jedoch nur wenige Stu-dien vor, die den Einfluss sprachlicher Prosodie auf Musik genauer beleuchten. Eine Aus-nahme bilden die Arbeiten von Patel und Kollegen, die die rhythmisch-melodische Beschaf-fenheit instrumentaler Musik in den Blick genommen haben (cf. Daniele & Patel 2003, Patel et al. 2006, Patel 2008). Hier wird die These aufgestellt, dass sich sprachlicher Rhythmus in-sofern in Musik widerspiegele, als in Kulturen mit akzentzählenden Sprachen wie Englisch, die zwischen den akzentuierten Silben tendenziell ebenmäßige Zeitintervalle aufweisen, vor-nehmlich Musik hervorgebracht werde, die gleichfalls als stress-timed zu beschreiben sei: Längere Notenwerte werden hier tendenziell auf schweren Zählzeiten platziert; dazwischen sind jeweils kleinere Notenwerte in stark schwankender Anzahl angeordnet. Dagegen lasse sich in französischer und italienischer Musik die Silbenisochronie der (traditionell als sylla-

ble-timed charakterisierten) Muttersprachen der Komponisten nachweisen: Es bestehe eine starke Tendenz zur regelmäßigen Abfolge gleicher Notenwerte, wobei schwere Zählzeiten («Akzente») leer bleiben können (Daniele & Patel 2003). Dieser Ansatz soll hier aus zwei Gründen nicht weiter vertieft werden: Zum einen werden – bei allen Schwierigkeiten, die eine solche Dichotomisierung birgt1 – die romanischen Sprachen mit Ausnahme des Europäischen Portugiesisch zum silbenzählenden Typ gerechnet; zum anderen möchte ich mich hier mit der Vokalmusik auf diejenige Gattung konzentrieren, die Patel von der Betrachtung ausschließt, da hier der Zusammenhang zwischen einzelsprachlicher Prosodie und rhythmisch-melodischer Beschaffenheit der Musik allzu offensichtlich sei. Es würde allerdings zu kurz greifen, wollte man Vokalmusik weitgehend auf das bloße Nachbilden der jeweiligen gespro-chenen Varietät reduzieren. Vielmehr werden bei der Textvertonung bestimmte Strategien genutzt, die einzelsprachlichen Mustern auf den ersten Blick entgegenzustehen scheinen, die sich bei genauerem Hinsehen jedoch als Phänomene erweisen, die in den nicht-gesungenen Varianten der jeweiligen Sprachen lediglich mehr oder minder markierte Formen darstellen. Im Folgenden geht es mir vornehmlich um das «Wie» des Zusammenhangs, wobei einzel-sprachliche Besonderheiten im Vordergrund stehen, die bei in Musik gesetzter Sprache deut-licher hervortreten als es in den gesprochenen Standardvarietäten der Fall ist. Nach einer pro-sodischen Charakterisierung des Italienischen und des Französischen (Abschnitt 2), diskutiere ich dies anhand eines Fallbeispiels aus Rossinis letzter Oper Guillaume Tell (Paris 1829, Li-

1 Dauer (1983) hat gezeigt, dass die Isochroniehypothese der Überprüfung durch entsprechende Dau-ermessungen nicht standhält, und dafür argumentiert, den Unterschied zwischen silben- und akzent-zählenden Sprachen als Oberflächenreflex phonologischer Eigenschaften wie Silbenstruktur und Vo-kalreduktion aufzufassen (z. B. weisen akzentzählende Sprachen komplexere Silbenstrukturen und eine stärkere Tendenz zur Vokalreduktion auf als silbenzählende). In der neueren Rhythmusforschung werden v. a. der vokalische Gesamtanteil im Sprachsignal sowie der Grad von Dauervariabilität voka-lischer und konsonantischer Intervalle in den Blick genommen (cf. u. a. Grabe & Low 2002: White & Mattys 2007). Für einen Überblick zu den romanischen Sprachen cf. Dufter (2003); zum Zusammen-hang zwischen einzelsprachlicher Prosodie und Metrik cf. Aouri (2009).

61

bretto: Victor-Joseph Etienne de Jouy und Hippolyte Louis Florent Bis), die der Komponist selbst für die italienische Premiere (Lucca 1831) bearbeitet hat (Guglielmo Tell, Abschnitt 3.1.).2 In einem weiteren Schritt wird mit einer Arie aus Mozarts Le nozze di Figaro (Wien 1786, Libretto: Lorenzo da Ponte) der Fall einer nicht durch den Komponisten selbst erfolgten Übertragung aus dem Italienischen ins Französische in den Blick genommen. Der Beitrag schließt mit einigen zusammenfassenden Bemerkungen und einem Ausblick auf Desiderata für weitere Forschungen (Abschnitt 4).

2. Prosodische Muster: Italienisch vs. Französisch Wiewohl als Nachfolger des (Vulgär-)Lateinischen genealogisch eng verwandt, ähneln sich das Italienische und das Französische in Bezug auf ihre prosodischen Charakteristika deutlich weniger als etwa das Italienische und andere romanische Sprachen wie Spanisch oder Rumä-nisch. Das Französische nimmt vor allem durch sein nicht wort-, sondern phrasenbasiertes Akzentsystem eine Sonderstellung ein. Im Folgenden werde ich wesentliche prosodische Cha-rakteristika der beiden hier im Fokus stehenden Sprachen zusammenfassend darstellen.

Das Italienische weist einen freien und lexikalisch kontrastiven Wortakzent auf, wobei eine der drei letzten Silben den Ton trägt. Dabei sind gut drei viertel der Wörter und Wort-formen pänultimabetont (perdonare ‘entschuldigen’, perdono ‘ich entschuldige’), während Proparoxytona mit 21 % (perdono ‘die Entschuldigung’) deutlich seltener vorkommen und Oxytona (perdonò ‘er entschuldigte’) nur 3 % ausmachen (Krämer 2009: 161).3 Rhythmisch lässt sich das Italienische als Sprache mit trochäisch-daktylischen Füßen charakterisieren, wobei auf die metrisch starke Silbe eine oder zwei unbetonte Silben folgen ((Fuß σσ), (Fuß

σσσ)). Diesem Grundmuster stehen die endbetonten Wörter entgegen, was wiederum zur An-

nahme defektiver Füße Anlass gegeben hat: (Fuß (σ per)(σ do))(Fuß (σ nò)(º)). Auf höherer pro-sodischer Ebene dienen die Tonsilben als Ankerpunkte für die Intonationskontur (F0), die sich als Sprachmelodie über das geäußerte Lautkontinuum legt. Pro lexikalisches Wort (ω) wird von einer (und nur einer) solchen metrisch starken Silbe ausgegangen (cf. Unterstrei-chungen in (1)). Die pränuklearen Akzenttöne sind hier gemäß der Notationskonvention des Autosegmental-Metrischen Modells als steigende Tonakzente L+H* (low - high) notiert, die den Tonhöhengipfel i. d. R. im Rahmen der metrisch starken Silbe erreichen (angezeigt durch den Asterisk, D’Imperio 2002). Der Satz- oder Nuklearakzent wird im Italienischen dialekt-übergreifend fallend realisiert (H+L*), zumindest bei nicht-emphatischer Redeweise. Weitere tonale Elemente wie der optionale, einen hohen Stimmeinsatz symbolisierende hohe initiale Grenzton (%H), der (obligatorische) finale Grenzton (hier: L%) sowie der Phrasen- oder in-termediäre Grenzton (hier: L-) markieren die Ränder intonatorischer Phrasen (IP «Intonati-onsphrase» bzw. ip «Intermediärphrase») und sind entsprechend mit höheren Ebenen der pro-sodischen Hierarchie assoziiert (Ladd 1996). Alle zugrunde liegenden Töne werden auf einer

2 Zu den französisch-italienischen Umarbeitungen von Verdis Opern verweise ich auf Giger (2008). 3 Bei Verbformen kann auch die viertletzte Silbe den Ton tragen, z. B. immaginano ‘sie stellen sich (etwas) vor’ (Krämer 2009: 157).

62

von der prosodischen Hierarchie unabhängigen, autonomen Tonschicht repräsentiert; die kon-kret realisierte F0-Kontur ergibt sich durch phonetische Interpolation zwischen den so defi-nierten tonalen Zielpunkten (tonal targets).

(1)

Immer wenn Sprache künstlerisch verarbeitet wird, sei es, dass sie in Verse gefasst oder in Musik gesetzt wird, treten Erfordernisse zutage, die in den gesprochenen Varietäten nicht oder zumindest nicht in vergleichbarem Maße virulent sind: Die Verteilung sprachlichen Ma-terials auf eine bestimmte Anzahl von Notenwerten bzw. dessen Organisation im Rahmen eines Versmaßes erfordert ein höheres Maß an rhythmischer Flexibilität. Im Italienischen wird dies u. a. durch bestimmte phonologische Prozesse sowie durch morphologische Al-ternanzen ermöglicht. Zu nennen ist hier zunächst das sog. troncamento, wobei ein pänulti-mabetontes Wort durch Tilgung des unbetonten, auf einen Sonoranten (Nasal oder Liquid) folgenden Auslautvokals zum Oxytonon wird, z. B. andare > andar, cantiamo > cantiam etc. In bestimmten Kontexten erfolgt die Trunkierung obligatorisch, so beim Infinitiv mit enkliti-schen Pronomina (rivederlo); neuere Korpusauswertungen haben gezeigt, dass sie auch im gesprochenen umgangssprachlichen Register produktiv ist (Meinschaefer 2009a). Interessant ist nun, dass mit der Silben-Epenthese auch ein gegenteiliger Prozess vorliegt: So können etwa in der in Grosseto (Toskana) gesprochenen Varietät oxytone Wörter aus rhythmischen Gründen mittels eines ne-Appendix zu Paroxytona ergänzt werden (z. B. perché → perchene, cf. Rohlfs 1966: 469, Sluyters 1990: 75). Auf den ersten Blick vergleichbar ist die Erweite-rung von Wörtern wie città oder pietà durch die unbetonte Endsilbe -de zu paroxytonen For-men wie cittade und pietade, die in gebundener Sprache und v. a. im Libretto des 19. Jahr-hunderts häufig auftreten. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um spontane Epenthesen, son-dern vielmehr um Langformen diachron trunkierter Wörter (z.B. CIVITATE(M) > cittade > ci-

ttà), die den heutigen Sprechern in der Regel nur noch wenig präsent sind. Betrachten wir zwei Beispiele aus Verdis Rigoletto (Venedig 1851, Libretto: Francesco Maria Piave):

63

(2) a. SPARAFUCILE: Soglio in cittade uccidere oppure nel mio tetto (I, 7).

[tʃi.t…a.d(e)u.t…ʃi.de.re] … CV.CV.CV.CV.CV.CV

b. GILDA : Né la cittade ho ancor veduta… (I, 9).

In (2a) ergibt sich durch die Präsenz der Langform eine gleichmäßige CV-Struktur, aufgrund der Resyllabierung und der Vokalkontraktion jedoch keine höhere Silbenzahl. In (2b) erklärt sich die Verwendung von cittade durch die parallele Melodieführung: (3)

Auch die Verwendung pronominaler Alternativformen im folgenden Beispiel aus Rossinis La

scala di Seta (Venedig 1812, Libretto: Giuseppe Maria Foppa) ist rhythmisch bedingt: (4) DORVIL: Bramo l’istante e il temo (Atto unico, 6). Die Setzung von il anstelle der standarditalienischen Form lo ermöglicht bei Kontraktion der adjazenten Vokalsegmente /e/ und /i/ die einsilbige Realisierung von e il und bringt somit die für die künstlerische Verwendung der Formen notwendige Flexibilität ins Spiel: Je nach den entsprechenden melodischen bzw. metrischen Erfordernissen kann der zu vertonende Text (e

‘und’ + dir. Objektklitikon, Sg. m.) einsilbig (e • il ) oder zweisilbig (e lo) realisiert werden. Die alternierenden Formen lassen sich aus der Diachronie erklären (Vanelli 1992) und haben sich dialektal mit variierenden Vokalen erhalten, so etwa im Lombardischen (Artikel ul, ol, Objektklitikon al).

Im Gegensatz zum Italienischen ist das Französische durch einen lexikalisch nicht-kontrastiven Akzent charakterisiert, der im Normalfall die letzte volle Vokalsilbe einer tradi-

64

tionell als groupe rythmique bezeichneten Akzentphrase (AP) trifft.4 Neben der tonalen Mar-kierung ist im Französischen insbesondere die Dauer als Oberflächenkorrelat des Akzents relevant (Längung phrasenfinaler Silben, sog. allongement final). Hierzu kann fakultativ ein Initialakzent treten, der meist auf der ersten oder zweiten Silbe des ersten Inhaltswortes reali-siert wird; Silbenlängung spielt hierbei keine nennenswerte Rolle. Galt der Initialakzent frü-her als ein Zeichen von Emphase, so hat Welby (2002, 2003) überzeugend nachgewiesen, dass der zusätzliche Initialakzent auch in nicht-emphatischer Rede auftritt und dann vor allem eine grenzmarkierende Funktion aufweist. Traditionell wird das rhythmische Grundmuster des Französischen als jambisch-anapästisch analysiert ((Fuß σσ), (Fuß σσσ)), auch wenn die auf Phrasenebene regelmäßige Endbetonung durch die potenzielle Realisierbarkeit eines auslau-tenden Schwa durchkreuzt wird. Will man die Annahme rechtsköpfiger Füße beibehalten, muss man die so hinzukommende Silbe als (extrametrischen) Appendix analysieren. Jedoch bietet gerade gebundene und insbesondere gesungene Sprache gute Gründe, auch für das Französische ein trochäisches Grundmuster anzusetzen, da hier auslautendes Schwa durchge-hend realisiert wird;5 eine Ausnahme bildet nur die vorvokalische Position innerhalb einer prosodischen Phrase. Betrachten wir hierzu die folgenden Beispiele aus dem Tell-Libretto:

(5) a. RODOLPHE: Tant d’audace, seigneur, me le fait reconnaître ; C’est Guillaume [ɡijom´] Tell, c’est ce traître (III, 17).

b. GUILLAUME : Qu’on me rende mes armes, Je suis Guillaume [ɡijom´] Tell enfin ! (III, 18).

c. CHŒUR DES SUISSES: La pomme est enlevée, Guillaume [ɡijom] est triomphant (III, 18).

Während der Vorname des Titelhelden in (5a, b) aufgrund der vorkonsonantischen Schwa-

Realisierung drei Silben umfasst ([ɡijom´́́́]), liegt in (5c) die zweisilbige Realisierung vor. Dies spiegelt sich in der musikalischen Umsetzung wie folgt wider:

4 Aufgrund des Fehlens eines lexikalischen Wortakzents hat Rossi (1980) das Französische als langue sans accent charakterisiert; Fónagy (1980) spricht dagegen von einem accent probabilitaire, der sich durch seine Vagheit auszeichne. 5 Cf. Meinschaefer (2009b), die für das Französische ebenfalls trochäische Füße ansetzt. Die durchge-hende Endbetonung wird in ihrem Ansatz durch das Konzept der Katalexe (cf. griech. κατάληξις ‘frühzeitiges Aufhören’) modelliert, wobei der wortfinalen metrischen Position kein Lautelement ent-spricht.

65

(6)

Das Französische verfügt damit also – ähnlich wie das Italienische und das français du Midi – auch über nicht-endbetonte Wörter und damit über den Kontrast von sog. «männlichen» und «weiblichen» Endungen. Diese können dann, ähnlich wie die Lang- vs. (trunkierten) Kurz-formen des Italienischen, gezielt eingesetzt werden. Für die phonologische Modellierung stellt sich die Frage, ob man für das Französische eine Gesangsvarietät annehmen will, in der das auslautende Schwa kein sog. floater ist, also kein latenter Vokal, der in der Segmentschicht nicht fest verankert ist und der nur unter besonderen Bedingungen an der Oberfläche erscheint (Gabriel & Meisenburg 2009). Die Analyse des Schwa als fester Vokal impliziert dann zwar eine obligatorische Tilgungsregel, die phrasenintern in vorvokalischer Position zur Anwen-dung kommt, was aus Frequenzgesichtspunkten für die hier zur Diskussion stehende Ge-sangsvarietät jedoch plausibler erscheint.

Das Fehlen eines distinktiven, im Lexikon festgeschriebenen Wortakzents hat zur Fol-ge, dass die französische Intonation anders modelliert werden muss als die des Italienischen. Metrisch starke Silben, die in den übrigen romanischen Sprachen als Ankerpunkte für die F0-Kontur dienen, stehen hier nur nach postlexikalischer, phrasenbezogener Akzentzuweisung zur Verfügung (Post 2000), was eine höhere Flexibilität in Bezug auf die realisierten F0-Konturen zur Folge hat. Ausgehend von potenziell möglichen Oberflächenkonturen (cf. Ta-belle 8) lässt sich sagen, dass der finale Phrasenakzent mit hoher Regelmäßigkeit auftritt und dass zusätzlich hierzu (und keineswegs nur in emphatischen Sprechstilen) eine initiale Ton-bewegung zu verzeichnen ist, die tendenziell die erste, manchmal auch die zweite Silbe eines Inhaltswortes trifft. Jun & Fougeron (2000, 2002) haben deshalb vorgeschlagen, keine einzel-nen Akzenttöne anzunehmen, sondern ein zugrunde liegendes Tonmuster /LHiLH*/ anzuset-zen, welches aus zwei Paaren von Tief- und Hochton besteht. Während die zweite steigende Tonbewegung (LH*) den (postlexikalisch zugewiesenen) finalen Phrasenakzent tonal reali-siert, entspricht LHi dem fakultativen Initialakzent, der bezüglich seiner Platzierung variabel ist und eher mit dem linken Rand der Akzentphrase (AP) als mit einer konkreten Silbe assozi-iert ist. Um der Tatsache gerecht zu werden, dass auch der finale Tonhöhenanstieg eine grenzmarkierende Funktion hat, nehmen Jun & Fougeron (2002) an, dass dieser sowohl mit der Silben- als auch mit der AP-Ebene assoziiert ist. Die in (7) gegebene Grafik zeigt das Modell der französischen Intonation nach Jun & Fougeron (2000, 2002).

66

(7)

IP Intonationsphrase ip Intermediärphrase AP Akzentphrase Wf Funktionswort Wc Inhaltswort σ Silbe T- interm. Grenzton (hoch o. tief) T% Grenzton (hoch o. tief)

´ finale Schwasilbe

Je nach Sprechgeschwindigkeit und Beschaffenheit der in einer AP zusammengefassten Funk-tions- und Inhaltswörter (Wf, Wc) werden entweder alle oder nur ein Teil der im zugrunde liegenden Muster enthaltenen Töne overt realisiert. Hieraus ergeben sich nach Jun & Fouge-ron (2000) die in (8) angeführten Oberflächenkonturen; eine Anwendung des Modells auf konkretes sprachliches Material erfolgt in Abschnitt 3.

(8) /LHiLH*/

a. [LHiLH*]

b. [LH*]

c. [LLH*]

d. [LHiH*] (selten)

e. [HiLH*]

f. [LHiL*] 6

Im Folgenden wird es darum gehen, vor dem Hintergrund des Gesagten exemplarisch auf die Besonderheiten der Vertonung französischer und italienischer Textvorlagen einzugehen, um auf diese Weise der rhythmisch-prosodischen Spezifik der jeweiligen Gesangsvarietäten nä-herzukommen.7

3. Fallbeispiele Wie machen sich nun die prosodischen Charakteristika des Italienischen und des Französi-schen bei der Textvertonung bemerkbar? Der Kontrast zwischen beiden Sprachen wird vor allem dann deutlich, wenn von ein und demselben Werk Fassungen in beiden Sprachen vor-liegen. Dabei kann es sich um Eigenbearbeitungen durch den Komponisten selbst (Abschnitt 3.1) oder um später angefertigte Übersetzungen durch Dritte handeln (Abschnitt 3.2).

6 Die Oberflächenkontur (f) ist zu verstehen als kombinatorische Variante von Tonmuster (d) in der Position vor Tonmuster (e): Um das Aufeinanderfolgen dreier Hochtöne zu vermeiden ([(d)LHiH* ][ (e)HiLH*]), wird in (d) der hohe Akzentton (H*) durch einen tiefen ersetzt (L*). 7 Zu lexikalisch-stilistischen Aspekten von Gesangsvarietäten, insbesondere zur italienischen Libretto-sprache des 17. bis 19. Jahrhunderts cf. Overbeck (2011).

67

3.1. Ein französisches Rezitativ auf Italienisch: Guillaume wird zu Guglielmo Tell Auf musikalischer Ebene ergibt sich aus der französischen Oxytonie eine Bevorzugung auf-taktiger Strukturen, wobei der finale Phrasenakzent mit demjenigen Notenwert zusammen-fällt, der die schwere Zählzeit «1» erreicht. Betrachten wir hierzu den Beginn eines Rezitativs aus Rossinis Guillaume Tell (I/4) und danach die Parallelstelle aus der fünf Jahre später in Lucca aufgeführten italienischen Fassung. Um die Passage inhaltlich einzuordnen, sei hier kurz der Kontext erläutert: Das Stichwort, auf welches der Tenor Arnold, ein für das Genre der sog. Grand opéra typischer «schwankender Held» (Gerhardt 1992: 93ss.), hier reagiert, ist l’hymen ‘Vermählung’, eingebracht von seinem Vater Melcthal, der sich mit Blick auf eine im Dorf stattfindende Mehrfachhochzeit um die Lebensplanung seines noch unverheirateten Sohnes sorgt. Dessen Situation ist wiederum durch den Konflikt zwischen Pflicht und Nei-gung bestimmt, ist er doch im Geheimen mit Mathilde, einer prominenten Repräsentantin der habsburgischen Gewaltherrschaft, liiert. Legt man das Intonationsmodell nach Jun & Fouge-ron (2000, 2002) zugrunde (cf. Grafik 7 und Tabelle 8) und nimmt eine an der Sprechsprache orientierte mögliche Segmentierung in Akzentphrasen (AP) vor, ergibt sich die in (9) skizzier-te Gliederung: ● Der finale Phrasenakzent LH* korreliert weitgehend mit der schweren Zählzeit «1» (dit-il ,

le mien, taire à, à moi-même, fatal objet); der fakultative Initialakzent LHi fällt oft auf die halbschwere Zählzeit «3».

● Die für das Französische typische phrasenfinale Silbenlängung findet in tendenziell länge-

ren Notenwerten bzw. in der finalen Schwa-Realisierung wie bei moi-même [mwa."mɛ.m´] ihren Widerhall.

● Die in der Sprechsprache am Schluss der AP steigende Kontur LH* wird in der Melodie teils durch ansteigende, teils aber auch durch absteigende Diastematik repräsentiert. Aus-schlaggebend ist also eher ein Tonhöhenkontrast in Form eines wahrnehmbaren An- oder Abstiegs als ein genaues Nachbilden der sprachlichen durch die musikalische Melodie.

● Die verschiedenen Oberflächenrealisierungen des als zugrunde liegend angenommenen Tonmusters /LHiLH*/ entsprechen musikalischen Phrasen von unterschiedlicher Länge und melodischer Kontur.

(9) L Hi L H* L HiLH* L Hi L H* LHi L H* LHiLH*

1 3 1 3 1 3

L Hi L H* L Hi L H* 3 1 3

68

Inwiefern unterscheidet sich nun die italienische Fassung vom französischen Original? Be-trachtet man zunächst nur den Schluss des ersten Verses in (9) jamais, jamais le mien !, dann würde sich bei wörtlicher Übersetzung ins Italienische mit dem pänultimabetonten starken

Possessivum mio [ "mi.o] anstelle der aufgrund des Fehlens eines auslautenden Schwa obliga-torisch oxytonen Struktur des Französischen ein sog. «weiblicher» Versschluss ergeben, wo-bei nach der schweren Zählzeit noch ein weiterer, unbetonter Notenwert folgen müsste: (10)

Derartige notwendige, wenn auch geringfügige Änderungen sind bei der Übertragung rezita-tivischer Passagen in andere Sprachen häufig. Während bei der Bearbeitung durch Dritte oft nur die unbedingt notwendigen Retuschen vorgenommen werden, kommt es, wenn der Bear-beiter der Komponist selbst ist, oft zu Umarbeitungen auf Text- und Musikebene bis hin zu genuinen Neukompositionen. Diese Umarbeitungen sind, zumindest zum Teil, klar durch die unterschiedlichen prosodischen Systeme von Ausgangs- und Zielsprache determiniert. In (11) sind die französische und die italienische Fassung in Auszügen einander gegenüber gestellt: (11)

Bei der italienischen Bearbeitung des zur Diskussion stehenden Rezitativs ist auffällig, dass die schweren Zählzeiten fast ausschließlich, dem rhythmischen Muster des Italienischen ent-sprechend, mit «weiblichen» Endungen versehen sind. Mehr diesbezügliche Einheitlichkeit wird dadurch hergestellt, dass giammai, ein Wort, das sowohl zweisilbig mit Endbetonung als auch dreisilbig realisiert werden kann, in der letztgenannten Variante auftritt, nämlich mit einer unbetonten Silbe nach der Tonstelle und damit in der Musik mit einer unbetonten Ach-telnote nach der halbschweren Zählzeit «3». Das kurze Beispiel zeigt, dass es offensichtlich unproblematisch ist, in unterschiedlichen Sprachen zu singen und dabei der jeweiligen Spra-

69

che gerecht zu werden, solange deren prosodische Grundmuster berücksichtigt werden. Beim Rezitativ ist es, wie gezeigt, vergleichsweise einfach, durch kleinere oder größere Verände-rungen, einzelsprachlich angemessene Versionen zu erstellen. Bei geschlossenen Formen wie Arien hingegen steht der Bearbeiter jedoch oft vor dem Problem, dass entweder so viel in der Melodiebildung geändert werden muss, dass eigentlich auch eine neue Arie geschrieben wer-den könnte (was in der Tat bei Originalbearbeitungen durch die Komponisten auch oft ge-schieht). Wird ein Libretto jedoch bloß für ein fremdsprachliches Publikum übersetzt, liegen die Dinge etwas anders: Der Bearbeiter vermeidet in der Regel allzu starke Eingriffe in die musikalische Faktur, vor allem bei den Arien, was bedeutet, dass sich die Sprache dem vor-gegebenen Melodieverlauf soweit als möglich anpassen muss. Im Folgenden wird es um das Beispiel einer solchen Übertragung durch Dritte gehen, und zwar um den umgekehrten Fall des ins Französische übertragenen italienischen Originals.

3.2. Eine italienische Arie auf Französisch: Le nozze di wird zu Les noces du Figaro In einer kleinen Studie zur Sangbarkeit verschiedener Sprachen hat Schafroth (2002) das Ori-ginal einer Arie aus Mozarts Le nozze di Figaro mit einer französischen Übersetzung kontras-tiert.8 Ich verwende die dort diskutierte Passage aus der den ersten Akt beschließenden Arie des Figaro (I/8, Nr. 9, Takte 43-47), um das in Abschnitt 3.1. anhand der freieren Form des Rezitativs Besprochene auf den Kontext der musikalisch geschlossenen Form der Arie aus-zuweiten. Wie in (12) gezeigt, behält die von Schafroth besprochene französische Fassung die rhythmische und melodische Beschaffenheit der Originalkomposition strikt bei:

(12)

Schafroth kritisiert, der französische Text klinge unnatürlich, da dieser nicht der sprech-sprachlichen Akzentuierung tu vas partir pour la guerre entspreche; zudem sei die Libretto-übersetzung nur aufgrund der im gesprochenen Register des Standardfranzösischen unübli-chen Realisierung finaler Schwa-Laute möglich. Während letzteres, wie in Abschnitt 2 disku-tiert, eine Besonderheit künstlerischer Sprachverwendung darstellt, ist die beanstandete Unna-türlichkeit der durch die Verteilung schwerer und leichter Zählzeiten vorgegebenen prosodi-schen Gestaltung auf den ersten Blick mit Sicherheit unbestreitbar, denn der Akzentton LH* fällt auf die erste Silbe des Inhaltswortes partir (cf. 13a). Wenn man sich jedoch die bereits diskutierte Variabilität tonaler Oberflächenrealisierungen des von Jun & Fougeron (2000)

8 Ich möchte die viel und kontrovers diskutierte Frage nach der Sangbarkeit unterschiedlicher Spra-chen nicht weiter vertiefen (für einen Überblick cf. Overbeck 2008) und schließe mich der von Stam-merjohann (in diesem Band) vertretenen Auffassung an, dass die lautlichen Charakteristika einzelner Sprachen grundsätzlich kein Hindernis für den Gesang darstellen, wohl aber unterschiedliche Verto-nungsmuster zeitigen.

70

vorgeschlagenen Tonmusters /LHiLH*/ vor Augen hält, erscheint die durch den musikali-schen Rhythmus vorgegebene prosodische Struktur nicht mehr ganz so abwegig. Schließlich ist, wie in (13b) gezeigt, neben der Aufteilung in zwei groupes rythmiques auch die Realisie-rung in einer einzigen Akzentphrase möglich, wobei der fakultative Initialakzent (LHi) erwar-tungsgemäß die erste Silbe des ersten Inhaltswortes partir trifft. (13)

Durch die Platzierung der Silben par(tir) bzw. gue(rre) auf der halbschweren Zählzeit «3» bzw. auf der schweren Zählzeit «1» wird die vollständige Oberflächenrealisierung [LHiLH*] des zugrunde liegenden Tonmusters musikalisch realisiert. Selbst wenn man davon ausgeht, dass es sich hierbei um eine markierte Kontur handelt, die einem emphatischen Stil entspricht, so ist dies durch die spezielle Situation der Szene durchaus gerechtfertigt: Cherubino, der am Schluss des ersten Aktes vom eifersüchtigen Grafen zu den Soldaten geschickt wird, erhält vom gleichfalls eifersüchtigen Figaro in Form der bekannten Arie einige gute Ratschläge mit auf den Weg.

4. Schlussbemerkungen und Ausblick Einzelsprachliche Metrik, wie sie sich in der Dichtung herausgebildet hat, beruht auf den pro-sodischen Strukturen der jeweiligen Sprache. Die künstlerische Überformung lässt dabei die rhythmischen Eigenschaften der betreffenden Sprachen oft stärker hervortreten, als es in den jeweiligen gesprochenen Varietäten der Fall ist. Hieraus ergeben sich wichtige Hinweise auf grundlegende prosodische Muster: So treten etwa die Fußstrukturen in gebundener Sprache deutlich zutage, während sie in den entsprechenden gesprochenen Varietäten in der Regel von größeren prosodischen Einheiten, etwa der Intonationsphrase, überlagert werden. Schließlich trägt in gesprochener Sprache nicht jede (potenziell) metrisch starke Silbe einen Akzentton, so etwa bei postfokaler Deakzentuierung; zudem dienen Nebenakzentpositionen in vielen Sprachen, wie etwa im Italienischen oder auch im Spanischen, nur in emphatischen Sprachsti-len als Ankerpunkte für die an der Oberfläche realisierte F0-Kontur. Im gesprochenen Stan-dardregister des Französischen schließlich wird die von mir als zugrunde liegend angenom-mene trochäische Fußstruktur durch die Nicht-Realisierung zugrunde liegender finaler Schwa-Laute überschattet. Wird Sprache in Musik gesetzt, sind die Verhältnisse insofern um-so interessanter, als hierbei eine weitere, von der Sprache prinzipiell unabhängige Ebene hin-

71

zukommt. Wie wir gesehen haben, verhalten sich Rezitativ und gebundene Form bei der Textvertonung unterschiedlich: Ersteres ist als handlungsvermittelnder Sprechgesang stärker am Sprachduktus orientiert, während geschlossene Formen stärker durch vorwiegend musika-lische Parameter determiniert sind. Beim Anpassen der Sprache an musikalische Erfordernis-se wird ausgiebig Gebrauch von all dem gemacht, was das jeweilige einzelsprachliche System in Bezug auf lautliche (und auch morphologische) Variabilität bietet, wobei im Einzelfall Me-chanismen zum Tragen kommen, die im gesprochenen Register nicht bzw. nicht mehr präsent sind. Beispiele sind die Alternanzen bei den Determinanten und die Verwendung nicht-trunkierter Formen im Italienischen oder die französische Schwa-Realisierung.

Interessant ist insbesondere der Vergleich von Original und fremdsprachlicher Bearbei-tung. Mit Blick auf ein abendfüllendes Werk wie Guillaume Tell sind die Änderungen einer-seits kultur- und theatergeschichtlich begründet: Man denke hier an das in der französischen Oper obligatorische Ballett, welches in der italienischen Fassung teils entfällt, an die größere Bedeutung des Chores oder an bestimmte Rollenstereotypen (cf. Gerhardt 1992). Solche Än-derungen betreffen die dramaturgische Gesamtkonzeption des Werks. Deutlich wurde jedoch auch, dass der unterschiedliche Sprachrhythmus tiefgreifende Veränderungen im musikali-schen Rhythmus und in der Melodiebildung erfordert: So wird bei der Bearbeitung eines ori-ginal französischen Rezitativs für einen italienischen Text der Notentext nachhaltig verändert (cf. Abschnitt 3.1). Bei der fremdsprachlichen Bearbeitung geschlossener Formen wie Arien gilt es hingegen, zumindest wenn es sich um Bearbeitungen durch Dritte handelt, den ur-sprünglichen Notentext so weit als möglich beizubehalten. Dies kann sprachliche Anpassun-gen nach sich ziehen, die teils auf den ersten Blick kontraintuitiv wirken, oft aber nur mar-kierten Varianten entsprechen. Andernfalls müssen tiefgreifende musikalische Änderungen in Kauf genommen werden, und nicht umsonst sind die französisch-italienischen bzw. italie-nisch-französischen Doppelwerke von Komponisten wie Rossini oder Verdi eher grundlegen-de Umarbeitungen oder gar Teil-Neukompositionen.

Ein Großteil des Gesagten lässt sich auch aus der Metrik begründen, denn in gebunde-ner (und nicht vertonter) Sprache applizieren ähnliche Mechanismen. Trotzdem lohnt eine intensivere Betrachtung musikspezifischer Aspekte: Interessant wäre es beispielsweise, ge-nauer zu untersuchen, in welchen Kontexten der AP-finale Akzentton /LH*/ des Französi-schen bei der Vertonung nicht durch einen diastematischen Anstieg, sondern durch einen Fall wiedergegeben wird (cf. Abschnitt 3.1.), wann also musikalische Mittel eingesetzt werden, die die sprachliche F0-Kontur zwar tonal umkehren, die rhythmische Grundgestalt jedoch beibehalten. Zusätzlich zur Verwendung von als diachron und/oder emphatisch markiert emp-fundenen Varianten (cf. 2) kann die künstlerische Überformung von Sprache bei der Verto-nung also deutlich über die standardsprachliche Prosodie hinausgehen. Würde man solche Besonderheiten auf größerer Datenbasis systematisieren, könnte man zu kultur- und epochen-spezifischen Grammatiken gesungener Varietäten gelangen. Dies konnte im gegebenen Rah-men jedoch nicht geleistet werden.

72

Literaturverzeichnis Aouri, Jean-Louis. 2009. Introduction: Proposals for metrical typology. In Jean-Louis Aouri & Andy

Arleo (eds.), Towards a Typology of Poetic Forms: From Language to Metrics and Beyond, 1-39. Amsterdam: Benjamins.

Abraham, Gerald. 1974. The Tradition of Western Music. Berkeley: U. C. Press.

Daniele, Joseph R. & Aniruddh D. Patel. 2003. Stress-Timed vs. Syllable-Timed Music? A Comment on Huron and Ollen (2003). Music Perception 21. 273-276.

Dauer, Rebecca. 1983. Stress-timing and syllable-timing reanalyzed. Journal of Phonetics 11. 51-62.

D’Imperio, Mariapaola. 2002. Italian Intonation: An Overview and Some Questions. Probus 14. 37-69.

Dufter, Andreas. 2003. Typen sprachrhythmischer Konturbildung. Tübingen: Niemeyer.

Fónagy, Ivan. 1980. L’accent français : Accent probabilitaire (Dynamique d’un changement proso-dique). In Ivan Fónagy & Pierre R. Léon (eds.), L’accent en français contemporain, 123-233. Ottawa: Didier.

Gabriel, Christoph & Trudel Meisenburg. 2009. Silent Onsets? An Optimality-theoretic Approach to French h aspiré Words. In Frank Kügler, Caroline Féry & Ruben van de Vijver (eds.), Variation and Gradience in Phonetics and Phonology, 163-184. Berlin: de Gruyter.

Gerhardt, Anselm. 1992. Die Verstädterung der Oper. Paris und das Musiktheater des 19. Jahrhun-derts. Stuttgart: Metzler.

Giger, Andreas. 2008. Verdi and the French aesthetic verse, stanza, and melody in 19th-century opera. Cambridge: Cambridge University Press.

Grabe, Esther & Ee Ling Low. 2002. Durational Variability in Speech and the Rhythm Class Hypothe-sis. In Natasha Warner & Carlos Gussenhoven (eds.), Papers in Laboratory Phonology 7, 515-546. Cambridge: Cambridge University Press.

Jun, Sun-Ah & Cécile Fougeron. 2000. A Phonological Model of French Intonation. In Antonis Bo-tinis (ed.), Intonation. Analysis, Modelling, and Technology, 209-242. Dordrecht: Kluwer.

Jun, Sun-Ah & Cécile Fougeron. 2002. Realizations of Accentual Phrase in French Intonation. Probus 14. 147-172.

Katz, Jonah & David Pesetsky. 2009. The Recursive Syntax and Prosody of Tonal Music. Talk given at Recursion: Structural Complexity in Language and Cognition, 27 May 2009. Amherst [http://web.mit.edu/jikatz/www/RecursionHandout.pdf].

Krämer, Martin. 2009. The Phonology of Italian. Oxford: Oxford University Press.

Ladd, D. Robert. 1996. Intonational Phonology. Cambridge: Cambridge University Press.

Lerdahl, Fred & Ray Jackendoff. 1983. A Generative Theory of Tonal Music. Cambridge, MA: MIT Press.

Meinschaefer, Judith. 2009a. Lexical exceptionality in Florentine Italian troncamento. In Frank Kügler, Caroline Féry & Ruben van de Vijver (eds.), Variation and Gradience in Phonetics and Phonology, 215-245. Berlin: de Gruyter.

Meinschaefer, Judith. 2009b. Metrical microvariation and catalexis in Romance. Talk given at Going Romance 2009, 3 December 2009. Nice.

Overbeck, Anja. 2008. «S’il y a en Europe une langue propre à la musique, c’est certainement l’Italienne». Reflexionen über das Italienische als Sprache der Musik. In Steffen Buch, Álvaro Ceballos & Christian Gerth (eds.), Selbstreflexivität. Beiträge zum 23. Nachwuchskolloquium der Romanistik, 141-155. Bonn: Romanistischer Verlag.

73

Overbeck, Anja. 2011. Italienisch im Opernlibretto. Quantitative und qualitative Studien zu Lexik, Syntax und Stil. Berlin: de Gruyter.

Patel, Aniruddh D. 2008. Music, Language, and the Brain. Oxford: Oxford University Press.

Patel, Aniruddh D., John R. Iversen & Jason C. Rosenberg. 2006. Comparing the rhythm and melody of speech and music: The case of British English and French. Journal of the Acoustic Society of America 119. 3035-3047.

Pesetsky, David. 2008. The Syntax of Music Syntax is the Syntax of Language. Talk given at Universiteit Utrecht, 22 May 2008 [http://web.mit.edu/linguistics/people/faculty/pesetsky/ Pe-setsky_music_handout.pdf].

Post, Brechtje. 2000. Tonal and Phrasal Structures in French Intonation. Den Haag: LOT.

Rohlfs, Gerhardt. 1966. Grammatica storica della lingua italiana e dei suoi dialetti. I: Fonetica. Tori-no: Enaudi.

Rossi, Mario. 1980. Le français, langue sans accent ? In Ivan Fónagy & Pierre R. Léon (eds.), L’accent en français contemporain, 13-51. Ottawa: Didier.

Schafroth, Elmar. 2002. Sprache und Musik. Sprachwissenschaftliche Beobachtungen zur Opera Buffa «Le nozze di Figaro» und ihrer deutschen und französischen Fassung. In Sabine Heinemann, Gerald Bernhard & Dieter Kattenbusch (eds.), Roma et Romania. Festschrift für Gerhard Ernst zum 65. Geburtstag, 287-304. Tübingen: Niemeyer.

Sluyters, Willebrord. 1990. Length and Stress Revisited: A metrical Account of Diphthongization, Vowel Lengthening, Consonant Gemination and Word-final Vowel Epenthesis in Modern Ital-ian. Probus 2. 65-102.

Vanelli, Laura. 1992. De «lo» a «il»: Storia dell’articolo definito maschile singolare nell’italiano e nei dialetti settentrionali. Rivista italiana di dialettologia 16. 29-66.

Welby, Pauline. 2002. The realization of early and late rises in French intonation: A production study. In Bernard Bel & Isabelle Marlien (eds.), Speech Prosody 2002, 695-698. Aix-en-Provence: Université de Provence.

Welby, Pauline. 2003. The slaying of Lady Mondegreen, being a study of French tonal association and alignment and their role in speech segmentation. Columbus: Ohio State University, Ph. D. Dissertation [http://www.ling.ohio-state.edu/~welby/DISS/welby-diss-2003.pdf].

White, Laurence & Mattys, Sven L. 2007. Calibrating rhythm: First language and second language studies. Journal of Phonetics 35, 501-522.