feindbild und vorbild bemerkungen zur städtischen

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121 Feindbild und Vorbild Bemerkungen zur städtischen Wahrnehmung des Adels Von Klaus Graf Hans Sachs, der Nürnberger Schuhmachermeister und Poet, erzählt in dem mit der Jahreszahl 1562 versehenen Schwank „Von dem frommen adel" fol- gende Geschichte: Ein junger Straßenräuber wurde in Frankfurt zum Tode verurteilt. Als er auf dem Weg zur Hinrichtung an einem Wirtshaus vorbeige- führt wurde, wo der Adel über einen Vertrag mit der fränkischen Ritterschaft verhandelte, hatten die dort Versammelten Mitleid mit dem Schicksal des kaum Zwanzigjährigen, der von guter höflicher gestalt war, und sie baten, ohne zu wissen, welches Verbrechen er begangen hatte, um sein Leben. Der Rat erklärte sich bereit, den jungen Mann zu begnadigen. Als die Adligen er- fuhren, für wen sie gebeten hatten, waren sie entsetzt: Wie? Hat geraubet diserjung Die kauffleut schon auff dem Spessart, Und er ist doch nicht edler art? Das hob wir nicht gewüst vorhin, Derhalb nur eylents mit ihm hin Und last ihm nur sein kopff abschlagen! Wolt der bawrenknecht in den tagen Sich mit raub auff dem Spessart nehm, Welches doch nur zusteht mit ehrn Dem frommen adel aller-massen, Den kauffleuten in busen blassen, Das ihn die gülden herauß-stieben? Der fromme Adel zog seine Fürbitte zurück, und der Straßenräuber konnte hingerichtet werden. Hans Sachs kommentiert den Vorfall sarkastisch: Die Kaufleute könnten jetzt froh sein, daß der Adel nunmehr die Straßen sichere und keine Räuber mehr zulasse, es sei denn solche adligen Geschlechtes. Wer jetzt durch den Spessart ziehe und Gold auf seinem Haupte trüge, würde nicht um einen Birnenstiel erleichtert. Hans Sachs hat den Stoff, den er bereits 1546 einmal behandelt hatte, nicht selbst erfunden. Seine Quelle war die 1533 gedruckte Schwanksammlung „Schimpf und Ernst" von Johannes Pauli, in der die Geschichte unter dem Ti- tel „Wie man ein Strassenräuber außfieret" enthalten ist 1 . 1 Hans Sachs, hg. von E. Goetze Bd. 17 (Tübingen 1888), S. 276- 279; Johannes Pauli, Schimpf und Ernst, hg. von Johannes B o 1t e Bd. 2 (Berlin 1924), S. 5 f. c. 697. - Die Erzählung erscheint nach einem Sagenbuch des 19. Jh. (wenn auch mit Angabe der Urquelle Hans Sachs) unter den „Raubritter- sagen" in: Historische Sagen, hg. von Leander Petz ol dt Bd. 2 (München 1977), S. 170f.Nr.477.

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Feindbild und VorbildBemerkungen zur städtischen Wahrnehmung des Adels

VonKlaus Graf

Hans Sachs, der Nürnberger Schuhmachermeister und Poet, erzählt in demmit der Jahreszahl 1562 versehenen Schwank „Von dem frommen adel" fol-gende Geschichte: Ein junger Straßenräuber wurde in Frankfurt zum Todeverurteilt. Als er auf dem Weg zur Hinrichtung an einem Wirtshaus vorbeige-führt wurde, wo der Adel über einen Vertrag mit der fränkischen Ritterschaftverhandelte, hatten die dort Versammelten Mitleid mit dem Schicksal deskaum Zwanzigjährigen, der von guter höflicher gestalt war, und sie baten,ohne zu wissen, welches Verbrechen er begangen hatte, um sein Leben. DerRat erklärte sich bereit, den jungen Mann zu begnadigen. Als die Adligen er-fuhren, für wen sie gebeten hatten, waren sie entsetzt:

Wie? Hat geraubet diserjungDie kauffleut schon auff dem Spessart,Und er ist doch nicht edler art?Das hob wir nicht gewüst vorhin,Derhalb nur eylents mit ihm hinUnd last ihm nur sein kopff abschlagen!Wolt der bawrenknecht in den tagenSich mit raub auff dem Spessart nehm,Welches doch nur zusteht mit ehrnDem frommen adel aller-massen,Den kauffleuten in busen blassen,Das ihn die gülden herauß-stieben?

Der fromme Adel zog seine Fürbitte zurück, und der Straßenräuber konntehingerichtet werden. Hans Sachs kommentiert den Vorfall sarkastisch: DieKaufleute könnten jetzt froh sein, daß der Adel nunmehr die Straßen sichereund keine Räuber mehr zulasse, es sei denn solche adligen Geschlechtes. Werjetzt durch den Spessart ziehe und Gold auf seinem Haupte trüge, würde nichtum einen Birnenstiel erleichtert.

Hans Sachs hat den Stoff, den er bereits 1546 einmal behandelt hatte, nichtselbst erfunden. Seine Quelle war die 1533 gedruckte Schwanksammlung„Schimpf und Ernst" von Johannes Pauli, in der die Geschichte unter dem Ti-tel „Wie man ein Strassenräuber außfieret" enthalten ist1.

1 Hans Sachs, hg. von E. Goetze Bd. 17 (Tübingen 1888), S. 276- 279; Johannes Pauli, Schimpfund Ernst, hg. von Johannes B o 1t e Bd. 2 (Berlin 1924), S. 5 f. c. 697. - Die Erzählung erscheint nacheinem Sagenbuch des 19. Jh. (wenn auch mit Angabe der Urquelle Hans Sachs) unter den „Raubritter-sagen" in: Historische Sagen, hg. von Leander Petz ol dt Bd. 2 (München 1977), S. 170f.Nr.477.

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1580 wunderte sich der französische Reisende Montaigne über die ausge-klügelten Vorsichtsmaßnahmen, mit denen der nächtliche Einlaß an denStadttoren Augsburgs verbunden war. Jean Delumeau, der in seiner Ge-schichte der abendländischen kollektiven Ängste die Reflexionen Montaignesals Einstieg in die Problematik benutzt2, mißt den Mechanismen, mit denensich Augsburg vor Eindringlingen schützte, Symbolcharakter zu. Man könntediesen Gedanken auf die gesamten Verteidigungsaufwendungen der spätmit-telalterlichen Städte, insbesondere auf die enormen Ausgaben für die Errich-tung von Stadtmauern, übertragen3. Stadtmauern dürfen nicht nur als stolzesZeugnis städtischen Selbstbewußtseins gewertet werden, sie müssen auch alsTeil eines Angst-Syndroms verstanden werden, das Überfälle und Anschlägebefürchtete und die Freiheit der Stadt durch Fürsten und Adlige ständig be-droht sah. Doch so sehr die Städte sich auch panzern, sie bleiben verletzlich,da ihnen auch der Schutz ihrer handeltreibenden Bürger obliegt, die jederzeitBeute adliger Straßenräuber werden können.

In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts war der adlige Straßenraub kei-ne echte Bedrohung des Handelsverkehrs mehr, und auch die Augsburger An-strengungen, die Stadt nachts gegen unliebsame Überraschungen zu schützen,wirken einigermaßen anachronistisch. Doch noch am Ende des Alten Reichesschikanierte die Ulmer Obrigkeit Reisende durch das penible Verschließenvon drei der fünf Stadttoren nach Einbruch der Dunkelheit. Ein aufklärerischgesinnter Theologiestudent beklagte sich 1790 bitter über das Absurde dieserherkömmlichen Sitte, [...] von der sich so ganz kein vernünftiger Grund an-geben läßt. In einem Aufsatz über die Reichsstadt Goslar, der 1796 in derZeitschrift „Deutschland" des Berliner Aufklärers Johann Friedrich Reichardtwiederabgedruckt wurde, versuchte der Hamburger Publizist Jonas Ludwigvon Heß eine Erklärung dieser und anderer befremdlicher reichsstädtischerEigenheiten zu liefern: Die Chroniken, die Traditionen, die Volkssagen undWiegenlieder der Reichsstädter sind die Belege und Register der ungeheurenSühnopfer, welche ihre Vorfahren auf dem Altar der nimmersatten Habsucht- gemeint ist die Habsucht der Fürsten - darbringen mußten, um das kostbar-ste Gut, Freiheit, auf ihre Enkel zu vererben. - Daher der hohe Freiheitssinnder Reichsstädter, daher die oft ins kleinliche fallende Eifersüchtelei; dieseltsame Schutzgebung, die hartnäckige Beibehaltung vieler uns lächerlichscheinender Gebräuche und Gewohnheiten, deren Entstehung überhaupt sich

2 Jean Delumeau, Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14.bis 18. Jahrhunderts Bd. l (Reinbek bei Hamburg 1985), S. 9 f.

3 Vgl. dazu jüngst die Beiträge von Heinrich Koller (Die mittelalterliche Stadtmauer als Grund-lage städtischen Selbstbewußtseins, S. 9-25), Ulf D irlmeier und Gerhard Fouquet in dem Sam-melband: Stadt und Krieg, hg. von Bernhard Kirchgässner/ Günter Scholz (Sigmaringen 1989).

4 Friedrich A.. Köhler, Eine Albreise im Jahre 1790 zu Fuß von Tübingen nach Ulm, hg. vonEckart Frahm/Wolfgang Kaschuba/ Carola Lipp (Bühl-Moos 1984), S. 171.

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m die erste Vorsorge zur Gründung und Bewahrung der Freiheit verliert5.Die reichsstädtische Freiheitsideologie6, die in Gedenktagen, gegenständli-chen Erinnerungszeichen und historischen Traditionen ihren Ausdruck fand,ist von Heß durchaus treffend erkannt worden.

Der Sprung vom 16. ins 18. Jahrhundert sollte plausibel machen, daß Tra-ditionen, warnende Exempla, Überlieferungen und Erinnerungen, aber auchso einprägsame Geschichten wie der eingangs angeführte Straßenräuber-Schwank, nicht nur am Rand berücksichtigt werden dürfen, wenn es darumgeht, nach der Wahrnehmung des Adels im städtischen Diskurs zu fragen.Solche Erzählungen lassen erkennen, wie sich Vorurteile und Negativ-Stereo-typen bildeten, verfestigten und ausbreiteten7. Wenn auch die Männer, dieGeschichte machten, einerseits „sehr berechnende, nüchterne Staatsmännerund Kaufleute" waren8, so konnten sie sich andererseits in ihrem politischenHandeln nicht von den verbreiteten Meinungen und Einstellungen, von denÄngsten und traditionellen Stereotypen über die jeweils andere „Partei" lö-sen. Dies gilt sowohl für das Spätmittelalter als auch, wenn auch in abge-schwächter Form, für die Frühe Neuzeit, da die zu erörternden Stereotypen zuden Phänomenen langer Dauer zu rechnen sind. Zu beschreiben ist ein „Be-ziehungsproblem", das aufs engste mit Problemen der Kommunikation undVerständigung verknüpft ist9. Einerseits werden Gerüchte und „Zweckerzäh-lungen" über die jeweils andere Partei tradiert, die zur Verfestigung der ne-gativen Einschätzung beitragen; andererseits unterbleiben „vertrauens-bildende Maßnahmen", die zu einer Verständigung führen, die die Eskalationabbauen und das gegenseitige Mißtrauen ausräumen könnten - man verhan-

5 Zitiert nach der von Gerda Heinrich hg. Auswahlausgabe: Deutschland. Eine Zeitschrift.Herausgegeben von Johann Friedrich Reichardt (Leipzig 1989), S. 115-125, hier S. 119.

6 Vgl. dazu jüngst ausführlich Klaus Schreiner, lura et libertates. Wahrnehmungsformen undAusprägungen „bürgerlicher Freyheiten" in Städten des Hohen und Späten Mittelalters, in: Bürgerin der Gesellschaft der Neuzeit, hg. von Hans-Jürgen Puhle (Göttingen 1991), S. 59-106 und bei Joa-chim Knape, Dichtung, Recht und Freiheit (Baden-Baden 1992), S. 432 ff., 445 ff., 459 ff. die ein-dringliche Interpretation von Sebastian Brants Straßburger „Freiheitstafel".

7 Zur Methode vgl. Frantisek Graus, Pest - Geissler - Judenmorde. 2. Aufl. (Göttingen 1988),S. 378, 548 und passim. Der Sammelband: Feindbilder. Die Darstellung des Gegners in der politi-schen Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit, hg. von Franz Bosbach (Köln/Weimar/Wien1992) lag mir noch nicht vor.

8 Ich wandle hier ein Argument ab, mit dem Johan Huizinga, Der Herbst des Mittelalters (Stutt-gart "1975), S. 126 für die Berücksichtigung ritterlicher „Träume" in der Geschichte einer Kulturplädiert.

9 Ich lege die Kommunikationstheorie von Paul W a tzlawick zugrunde, vgl. etwa D er s. /JanetH. Beavin/Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation (Wien 71985); Paul Watzlawick,Wie wirklich ist die Wirklichkeit? (München/Zürich 1976), S. 7 geht davon aus, daß „die sogenannteWirklichkeit das Ergebnis von Kommunikation ist". Zu anderen Ansätzen des Kommunikationsbe-griffs vgl. den Sammelband: Die Bedeutung der Kommunikation für Wirtschaft und Gesellschaft,hg. von Hans P o hl (Stuttgart 1989).

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delt, ohne wirklich miteinander zu reden. Für das Spätmittelalter spricht Fran-tisek Graus davon, ein „reges Mißtrauen vor allem gegenüber benachbartenAdeligen" sei in den Städten „geradezu die Regel" gewesen10. Es wird zu zei-gen sein, daß auch das andere Lager tiefsitzende Aversionen hegte.

Da einschlägige Untersuchungen zur Wahrnehmung des Adels aus städti-scher Sicht fehlen11, kann ich das Thema im folgenden nur ausschnitthaft an-gehen. Ich werde mich zunächst mit der Situation der oberdeutschenReichsstädte in der Mitte des 15. Jahrhunderts beschäftigen (I), um anschlie-ßend einen Blick auf die „Raubritter" Frage und die Traditionsgeschichte des„Raubritter"-Stereotyps zu werfen (II). Der zweite Teil soll der Verbindlich-keit des Werts „Adel" gelten: dem Selbstverständnis von Städten als „adlig",der Verteidigung der Adelsqualität des „Stadtadels" sowie der Attraktivitäteines „adligen Herkommens", eines adligen Ursprungs der Stadt, für das städ-tische Geschichtsbild des 16. Jahrhunderts (IV). Abschließend soll kurz dasTugendadel-Konzept gewürdigt werden, das zwar keine spezifische städti-sche Position formulierte, aber doch geeignet war, ideologische Brücken zwi-schen Adligen und Nicht-Adligen zu bauen (V). Manche interessanteFragestellung, etwa die Frage der Nobilitierung von Stadtbürgern oder dieAneignung höfisch-adliger Lebensformen in den Städten, werde ich ausklam-mern müssen'

I.

Die Vorgeschichte des oberdeutschen Städtekriegs von 1449/50, den manwohl mit Recht als grundsätzliche Auseinandersetzung über die Macht derStädte in der politischen Ordnung des Reichs wertet13, schildert ein anonymerAugsburger Chronist so: Bei dem neu gewählten König Friedrich III. beklag-ten sich etliche Edelleute, daß sie zu Zeiten König Sigmunds, von dem derAutor sagt, er habe die Städte liebgehabt, von den Reichsstädten geschädigt

10 Graus (wie Anm. 7), S. 443.1 ' So auch ebd., S. 443 für das 14. Jh.12 Ergänzend darf ich auf die anderen Beiträge der Brettener Tagung, aber auch auf das Diskussi-

onsprotokoll Nr. 319 der Arbeitsgemeinschaft für geschichtliche Landeskunde am Oberrhein e.V.verweisen. Einwände gegen meine in Bretten vorgetragenen Ausführungen können dort S. 46-49nachgelesen werden.

13 Eine neuere Darstellung mit Edition der Quellen ist ein Desiderat. Zur Deutung vgl. immer nochTheodor von Ke rn, Der Kampf der Fürsten gegen die Städte in den Jahren 1449 und 1450[1866],wieder in: D e r s., Geschichtliche Vorträge und Aufsätze (Tübingen 1875), S. 102-137. Ältere Li-teratur zum Markgrafenkrieg verzeichnet Albert Werminghoff, Ludwig von Eyb der Ältere(1417- 1502) (Halle a. S. 1919), S. 461 Anm. 36. Für die schwäbischen Vorgänge ist man immernoch auf Christoph Friedrich von Stäl in , Wirtembergische Geschichte Bd. 3 (Stuttgart 1856),S. 473-491 angewiesen. Eine gute Quellenzusammenstellung gibt Heinrich Witte in den Regestender Markgrafen von Baden und Hachberg 1050- 1515 Bd. 3 (Innsbruck 1907), Nr. 6958 ff. (künftig:RMB). Ergänzungen aus Haller Quellen: Gerd Wunder, Beiträge zum Städtekrieg 1439-1450, in:Württembergisch Franken 42 (1958), S. 59-83.

Feindbild und Vorbild 125

und ihre Schlösser gebrochen worden seien. Die Städte wurden verurteilt, et-liche der Burgen zu bezahlen und etliche wiederaufzubauen. Für den Chroni-sten war das wider got und des richs recht. Sydher gewann des richs straß nieguten frid und ist der rauber nie dann vor. Owe fürstlich er und gerechtikaitdes wirdigen adels, wol druckst du dich und verhengst das groß übel zu nydden richstetten. Ein Bund der Fürsten, Herren und Edle habe die Städte vonMeer zu Meer, von Aufgang der Sonne bis zum Untergang der Sonne unrecht-mäßig bekriegt. König Friedrich, der als unvernünftig gescholten wird, habedas gegen alles Recht zugelassen14. Allgemeine Zeitklage, das Empfinden, inungetreuen, geschwinden und bösen Zeitläuften zu leben, und Fürstenangstverschmelzen auch bei dem Augsburger Burkhard Zink, der die Einnahme derReichsstadt Donauwörth durch Herzog Ludwig den Reichen von Bayern-Landshut 1460 so kommentiert: o der großen falschhait und untreu, und alleposhait hat Überhand genommen und reichsnot überall15.

Nicht nur in den deutschen Städtechroniken läßt sich das mit den Stichwor-ten „Fürstenangst" oder „Adelshaß" beschriebene Phänomen fassen16. Dietraumatisierende Wirkung des Städtekriegs von 1449/50 sollte dabei nicht un-terschätzt werden. Beispielsweise schrieb die Reichsstadt SchwäbischGmünd 1450 unter Berufung auf eine vernichtenden Niederlage im Städte-krieg an Nördlingen, die Stadt sei in große Schulden geraten und benötigedringend 2000 Gulden. Die Niederlage wird als Anschlag auf die reichsstäd-tische Ehre gesehen: Ohne den Kredit wäre die Stadt dem Spott und derSchande preisgegeben und könne nicht erlich an dem hailigen reiche be-

14 Augsburger Fortsetzung der „Gmünder Kaiserchronik", Niedersächsische Staats- und ÜB Göt-tingen Cod. Ms. theol. 293, f. 106ra-106rb; vgl. Klaus Graf, Exemplarische Geschichten. ThomasLirers „Schwäbische Chronik" und die „Gmünder Kaiserchronik" (München 1987), S. 200 f.

15 Die Chroniken der deutschen Städte Bd. 5 (Leipzig 1866), S. 220; vgl. Heinrich S ch midt, Diedeutschen Städtechroniken als Spiegel des bürgerlichen Selbstverständnisses im Spätmittelalter(Göttingen 1958), S. 32. Die von Karl Schnith, Das Bild Bayerns in der reichsstädtischen Ge-schichtsschreibung des Spätmittelalters, in: Land und Reich. Stamm und Nation, hg. von AndreasKraus Bd. l (München 1984), S. 465-477 versuchte Relativierung der Befunde Schmidts muß selbstrelativiert werden, vgl. Dieter Web er, Geschichtsschreibung in Augsburg (Augsburg 1984), S. 90-103. Die Fürstenangst kann nicht einfach als „Sicht des kleinen Mannes" (Schnith, S. 476) hingestelltwerden.

16 Vgl. Schmidt (wie Anm. 15), S. 76: „Adelshaß und Fürstenangst brechen in den Annalen undChroniken der deutschen Reichsstädte immer wieder auf und sind bezeichnend für das politischeSelbstverständnis der Bürger". Eberhard Isenmann, Reichsstadt und Reich an der Wende vomspäten Mittelalter zur frühen Neuzeit, in: Mittel und Wege früher Verfassungspolitik, hg. von JosefEngel (Stuttgart 1979), S. 9-223, hier S. 15 spricht von der „bei den Stadtchronisten fast manisch ge-steigerte[n] Fürstenangst". Belege zur städtischen Sicht von Fürsten und Adel finden sich auch in derArbeit von Wilhelm Theremin, Beitrag zur öffentlichen Meinung über Kirche und Staat in derstädtischen Geschichtsschreibung von 1349-1415 (Berlin 1909), S. 78 ff., 90 ff. Hier kaum einschlä-gig ist dagegen die Arbeit von Andrea Dirsch- Weigand, Stadt und Fürst in der Chronistik desSpätmittelalters (Köln/Wien 1991).

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steenn. Diese Furcht vor der Entfremdung vom Reich trifft man in der Argu-mentation der Reichstädte sehr häufig an.

Aus den städtischen Korrespondenzen in den Jahren vor dieser kriegeri-schen Auseinandersetzung, vor allem aus den besonders reichhaltigen Nörd-linger Missiven18, läßt sich eine Atmosphäre der ständigen Angst erschließen,die sich im wesentlichen aus Gerüchten und Übertreibungen nährte und nachdem Losschlagen der Fürstenkoalition geradezu hysterische Züge an-nahm19. In der einen Stadt wird der Besuch eines württembergischen Büch-senmeisters registriert - bereitet er etwa eine Belagerung vor20? In anderenStädten weiß man von verdächtigen Truppenansammlungen auf dem Land.Die Städtefeinde sind allgegenwärtig, und der sich neutral gebende Adel umdie Stadt ist natürlich ihr heimlicher Bundesgenosse21. Man könnte mituntersogar von einer wahnhaft verzerrten Wahrnehmung sprechen. Politische Ge-schichte und Mentalitätsgeschichte, verstanden als Geschichte kollektiverEinstellungen und Stereotype, sind hier aufs engste miteinander verknüpft.Wenn ich die damals stattfindende Auseinandersetzung zwischen Städten undAdel - durchaus anachronistisch - einen „Kalten Krieg" nennen möchte, sokommt es mir bei diesem (notwendigerweise hinkenden) Vergleich auf fol-gende Kennzeichen eines kalten Kriegs an:

- das Block- und Lagerdenken mit ideologischer Polarisierung- ein festes Feindbild (Stereoytp) vom jeweils anderen Lager, dem man

das Schlimmste zutraut

17 Stadtarchiv Nördlingen Missiven 1450, Bl. 353. Meine Quellennachweise zur Niederlage derGmünder bei Waldstetten, vgl. Klaus Graf, Gmünder Chroniken im 16. Jahrhundert (SchwäbischGmünd 1984), S. 205 f., sind zu ergänzen durch RMB 3 Nr. 7002, 7004. Vgl. auch Klaus Graf,Gmiind im Spätmittelalter, in: Geschichte der Stadt Schwäbisch Gmünd (Stuttgart 1984), S. 87-184,564-590, hier S. 94-96.

18 Leider fehlen Akteneditionen, die Werte und Einstellungen in den städtischen Korresponden-zen hinreichend erkennen lassen. Wer nur Regesten oder Auswahleditionen in der Art der Reichs-tagsakten liest, denen vor allem der Ablauf der Ereignisse und die große Politik wichtig ist, muß zueiner Fehleinschätzung hinsichtlich der städtischen Wahrnehmung der eigenen Gegenwart kommen.Wer „irrationale" Momente wie Gerüchte und larmoyante Zeitklagen wegfiltert, wird denn auch kei-ne Probleme haben, den städtischen Obrigkeiten zu attestieren, sie hätten „die Absichten der jewei-ligen Gegenpartei und die eigenen Möglichkeiten kühl einzuschätzen" gewußt und „nicht nur aus ei-nem starren Freund-Feind-Denken heraus" gehandelt, so Schnith (wie Anm. 15), S. 476 (fürAugsburg, das aber nicht in den Städtekrieg involviert war).

19 Man vergleiche die Bemerkung Wittes in den RMB 3 Nr. 6958, jede Stadt, „die sich mehroder weniger in ihrer einbildung durch eine belagerung bedroht glaubte", habe bei den anderen Städ-ten Hilfe angefordert. Die Atmosphäre des Mißtrauens und der Furcht in den Jahren um 1440 wirdsehr deutlich durch die Arbeit von Harro Blezinger, Der schwäbische Städtebund in den Jahren1438-1445 (Stuttgart 1954). Das Orientierungsdefizit und das Mißtrauen geht beispielsweise aus ei-nem ebd., S. 41 zitierten Schreiben Donauwörths an Nördlingen 1442 hervor: Die Welt sei so be-schaffen, daz wir nicht wissen, wem wir trawen oder wes wir uns halten sullen.

20 Aalen an Nördlingen, Stadtarchiv Nördlingen Missiven 1447 II, Bl. 93.21 Aalen an Nördlingen, Stadtarchiv Nördlingen Missiven 1449,B1. 106-108. Vgl. auch den Be-

richt über einen Anschlag einiger Reiter auf Aalen, ebd. 1464, Bl. 160.

Feindbild und Vorbild 127

- die Aufrüstung beider Lager (ideologisch und real)- Eskalation durch unzureichende Kommunikation, durch wechselseitiges

Mißtrauen und Mißverständnisse.Zu den Rüstungsaufwendungen sei nur auf ein Frankfurter Zeugnis hinge-

wiesen. 1489 thematisierte die Stadt Frankfurt gegenüber den adligen Ganer-ben von Lindheim den Zusammenhang von Rüstungsausgaben und dadurchbedingter Verarmung und Gefährdung der Reichszugehörigkeit. Die Stadtwarf den Ganerben vor, sie hätten nichts anderes im Sinn als sie in swerer uf-rustunge zu halten, dadurch sie die lengde in armut und von dem heiligen ri-che in andere wege gedrungen werden sollen22. Die Aufwendungen derStädte für die Stadtverteidigung und die Sicherung des Handels durch kriege-rische Aktionen gegen adlige „Raubunternehmer", die das Plündern vonKaufleuten als mehr oder minder einträgliches Geschäft betrieben, verschlan-gen in der Tat große Summen, und die städtische „Außenpolitik" war zu ei-nem großen Teil Friedenspolitik, um den Handel zu ermöglichen23.

Aus dem kostenträchtigen und zermürbenden „Kleinkrieg" der notorischenStädtefeinde, der die Reichsstädte ständig in Atem hielt, entwickelte sich inden Jahren um 1440 eine grundsätzliche Konfrontation zwischen Fürsten undRittern einerseits und den Reichsstädten andererseits24. Die Städte fürchtetennun einen fundamentalen Anschlag auf ihre Reichsfreiheit, den Verlust ihrerAutonomie. 1444 waren Gerüchte im Umlauf, Kaiser Friedrich III., ohnehinmehr den Fürsten als den Städten zugeneigt, wolle die Städte mit Gewalt zumGehorsam zwingen25. Überfälle auf städtische Bürger hatten nun noch mehrals bislang eine „politische" Bedeutung, da sie dem adligen Lager als Ganzeszugerechnet wurden, und der adlige Städtefeind konnte sich nach der Fehde-erklärung aller Reichsstett feindt nennen26.

Sicher hatte man in den 1440er Jahren auf der städtischen Seite nicht ver-gessen, was sich über ein Jahrzehnt früher ereignet hatte. Der Reichserbkäm-

22 Frankfurter Chroniken und annalistische Aufzeichnungen des Mittelalters, bearb. von RichardFroning (Frankfurt a. M. 1884), S. 357; vgl. Elsbet Orth,Die Fehden der Reichsstadt Frankfurtam Main im Spätmittelalter (Wiesbaden 1973), S. 119.

23 Vgl. dazu ausführlich Isenmann (wie Anm. 16), S. 48 ff. Zu den Rüstungskosten vgl. ebd.,S. 75 und die in Anm. 3 angegebene Literatur. Zum Militärhaushalt Kölns vgl. die instruktive Studievon Brigitte Maria Wübbeken, Das Militärwesen der Stadt Köln im 15. Jahrhundert (Stuttgart1991).

:4 Blezinger (wie Anm. 19), S. 60.25 Ebd., S. 108.:6 So nennt Blicker (XIV.) Landschad von Steinach seinen Vater Dieter (III.), der Feind der

Reichsstädte wegen Wolf Horneck, dem die stett fast Unrecht thetten, geworden war, vgl. die Editionder Aufzeichnungen Blickers bei Friedhelm Langendörfer, Die Landschaden von Steinach(Diss. Heidelberg 1971), S. 187. Auch die chronikalischen Aufzeichnungen Michel Schreibers überdie Taten Graf Heinrichs (VI.) von Fürstenberg nennen diesen aller rychstet vynd, FürstenbergischesUrkundenbuch Bd. 3, bearb. von Siegmund R i e z l e r (Tübingen 1878), S. 276 Nr. 371.

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merer Konrad von Weinsberg, ein enger Vertrauter König Sigmunds, hatte1428, um den Widerstand der auf ihre Freiheiten pochenden und mit demSchwäbischen Städtebund verbündeten Stadt Weinsberg zu brechen, zu demMittel der Fehde gegriffen und in einer aufsehenerregenden Aktion in Sins-heim zahlreiche Kaufleute gefangengenommen, die sich auf dem Zug zurFrankfurter Messe befanden. Dieses Unternehmen hat Konrad von Weinsbergjedoch nur wenig eingebracht und sein Verhältnis zu Sigmund schwer belastet- man kann sich vorstellen, welchen verheerenden Eindruck die Selbsthilfe ei-nes der einflußreichsten Reichspolitiker auf die Städte gemacht haben muß,wenn selbst im Adel die Unternehmung als anrüchig galt. Ein sicheres Indizdafür ist die in einer Aufzeichnung über seine Dienste für die Pfalz enthalteneErinnerung Friedrichs von Flersheim an eine Begebenheit am Königshof inUngarn. Als die Nachricht vom Überfall eintraf, behauptete der Überbringer,der Pfalzgraf sei dafür verantwortlich. Der Flersheimer wollte daraufhin denbösswicht für diese Verleumdung im Kampf zur Rechenschaft ziehen, dannich wüst wol, das mein gnediger herr Pfaltzgrave zu fromb darzu wehre21.

Nicht nur die Geschichtsschreibung hielt die Erfahrungen an städtefeindli-che Aktionen, an Überfälle und Anschläge auf die städtische Freiheit zu „ewi-gem Gedächtnis" fest. Bis ins 18. Jahrhundert beging man in Nördlingen Jahrfür Jahr die Erinnerung an einen Überfall der benachbarten Grafen von Öttin-gen (wenn man will: der „Erzfeinde" der Reichsstadt), der Anfang 1440 ge-plant gewesen sein soll, der sich möglicherweise aber nur in der Einbildungder Nördlinger Ratsherrn abgespielt hat. Bei der aus diesem Anlaß angeord-neten jährlichen Predigt an das Stadtvolk, die im 18. Jahrhundert „Saupre-digt" hieß, weil ein Schwein die Stadt gerettet haben soll, wurden diestädtischen Grundwerte beschworen und das Banner der städtischen Freiheithochgehalten. Es ließen sich aus den deutschen und Schweizer Städten nochzahlreiche andere Beispiele für solche Schlachtengedenktage beibringen, dieim Medium des jährlich wiederkehrenden Ritus einprägsam an Überfälle aufdie Stadt und Niederlagen des städtischen Aufgebots erinnerten und so zu ei-nem tiefen Mißtrauen gegenüber Fürsten und Adel beitrugen28. Solche Ge-denktage beschränkten sich nicht auf die oberdeutschen Reichsstädte, auch

27 Die Flersheimer Chronik, hg. von Otto W alt z (Leipzig 1874), S. 110. Zum Sinsheimer Über-fall vgl. Dieter K a rasek, Konrad von Weinsberg (Diss. Erlangen-Nurnberg 1967), S. 110 ff.; FranzIrsigler, Konrad von Weinsberg (etwa 1370-1448), in: Württembergisch Franken 66 (1982), S.59-80, hier S. 69 f.

28 Klaus Graf, Schlachtengedenken in der Stadt, in: Stadt und Krieg (wie Anm. 3), S. 83-104, zuNördlingen S. 101. Vgl. auch Der s., Schlachtengedenken im Spätmittelalter. Riten und Medien derPräsentation kollektiver Identität, in: Feste und Feiern im Mittelalter. Paderborner Symposium desMediävistenverbands, hg. von Detlef Altenburg/Jörg Jarnut/Hans-Hugo Steinhoff (Sigmaringen1991), S.63-69; Karljosef Krete r, „...für die Freiheit und die Verteidigung unserer Stadt" - FrühesSchlachtengedenken in Hannover, in: Leben abseits der Front (Hannover 1992), S. 15-31; Heinz-Dieter Heimann, Städtische Feste und Feiern, in: Vergessene Zeiten. Mittelalter im RuhrgebietBd. 2 (Essen 1990), S. 171-176.

Feindbild und Vorbild 129

niederdeutsche Kommunen und Territorialstädte pflegten diese Tradition.Aus dem badischen Raum sei ein im 16. Jahrhundert bezeugtes Jahresge-dächtnis im damals kurpfälzischen Mosbach herausgegriffen. Allerdingswußte man damals jedoch nicht mehr, auf welches geschichtliches Ereignissich das alt herkommen zw gedechtnus etlicher, dye die Stadt gewarnet undbewaret, als sy uff ein zeit solt veruntrewt worden seyn29, bezog. Die Erinne-rung galt somit nicht einem bestimmten Vorkommnis, sondern einer „arche-typischen" Konstellation von Bedrohung und Rettung.

Nichts wäre verfehlter, als das städtische Mißtrauen gegenüber den Fürstenals reines Wahngebilde darzustellen. Mitunter waren die Städte wohl auchnicht mißtrauisch genug. Pfalzgraf Friedrich der Siegreiche, der sich als Städ-tefreund gerierte und auf städtischer Seite geradezu als Alternative zu demuntätigen Friedrich III. betrachtet wurde, plante 1466 insgeheim die Unter-werfung der Reichsstadt Speyer, der damit ein ähnliches Schicksal gedrohthätte wie der Stadt Mainz, die 1462 in die Abhängigkeit des Mainzer Erzbi-schofs zurückgezwungen wurde30.

Den mehr oder minder „wahnhaften" Ängsten und den mehr oder minderbegründeten Befürchtungen auf städtischer Seite läßt sich im anderen Blockeine ebenso unnachgiebige Städtefeindschaft gegenüberstellen. EinseitigeSchuldzuweisungen sind daher abzulehnen. Kennzeichnend für einen kaltenKrieg ist ja auch die aus der ideologischen Hochrüstung und Polarisierung re-sultierende Eskalation der Konfrontation. Durch das wechselseitige Unter-stellen feindseliger Absichten und Einstellungen kann sich ein Konflikt leicht„hochschaukeln". Jede Seite ist durch das Bild, das sich die andere Seite vonihr macht, in ihrer Ehre verletzt und daher auch nicht geneigt, nachzugeben.Rochus von Liliencron bemerkte zum Städtekrieg von 1449/50: Daß „es einenPrincipienkampf auszufechten galt, dessen waren sich alle Theile bewußt,und das ist der wahre Grund, um dessen willen [...] die unbeugsame Hartnäk-kigkeit beider Theile den Frieden immer wieder vereitelte"31. Für MarkgrafAlbrecht von Brandenburg, den Hauptinitiator des Städtekriegs, waren dieStädte der Inbegriff des Bösen. In einer Propagandarede legte er im Jahr 1450

29 Jacob Renz, Vorträge über die Geschichte der Stadt Mosbach (Mosbach o.J., 1912-1930),S. 100.

30 Vgl. Maximilian Buchner, Die Stellung des Speierer Bischofs Mathias Ramung zur Reichs-stadt Speier..., in: ZGO NF 24 (1909), S. 29-82, 259-301, hier S. 54, 58; vgl. auch Klaus Graf, Die'Speyrer Chronik1. Protokoll (wie Anm. 12) Nr. 309 vom 28.8.1991, S. 15. Das jämmerliche Bild, dasdie Städte nach dem Fall von Mainz abgaben, erhellt übrigens auch aus den erhaltenen Schriftstückenüber den in Speyer 1462 geplanten Städtetag, Stadtarchiv Speyer l A 238/1/1. Zu einem Gerücht,man wolle Frankfurt erobern wie Mainz vgl. Frankfurts Reichscorrespondenz, hg. von JohannesJanssen Bd. 2 (Freiburg i.Br. 1872), S. 235.

31 Rochus von Liliencron, Die historischen Volkslieder der Deutschen Bd.l (Leipzig 1865),S. 412. Die „Wendung ins Grundsätzliche" konstatiert auch Jörn Reichet, Der Spruchdichter HansRosenplüt (Stuttgart 1985), S. 199, vgl. auch ebd., S. 198 ff., 204, 214, 221.

130 Klaus Graf

seine Kriegsziele dar. Es gehe ihm auch um die Unterstützung des gemeinenAdels und der Geistlichkeit, die von den Städten seit langer Zeit gewalttätigund hochmütig unterdrückt und geschädigt würden. Er unterstellte den Städ-ten, sie wollten durch ihre Gleichmacherei die Ständeordnung zerstören unddie ding dartzu bringen, das der fürst dem burger und der maist dem minstenglich wurd32. Besonders verbreitet war im Adel die Furcht vor dem „Ver-schweizern" der Städte. 1444 verwahrten sich die Reichsstädte gegen denVorwurf, die stette weren schwitzer und wolten den adel vertriben33. Für denniederadligen Dichter Hermann von Sachsenheim steht in seiner 1453 vollen-deten „Mörin" fest, daß Städte und Eidgenossen gemeinsam an einem Seil-spinnen, um dem Adel zu schaden34.

Die Zeitgenossen führten den Haß des Adels auf die Stadtbürger wieder-holt auf die als bedrohlich empfundene ökonomische Überlegenheit der Städ-te zurück. Mit einer Welt, in der das Geld der Bürger und nicht ritterlich-höfische Tugenden regierten, mochten sich viele Adlige nicht abfin-den35. 1480 konstatiert ein Augsburger Gesandter: nu ist es ain alter haß, dasder adel dem reichthum in stetten widerwertig ist36, und noch 1520 zeigt sichPfalzgraf Friedrich, dem später der Beiname „der Weise" beigelegt wurde, ineiner städtefeindlichen Denkschrift davon überzeugt, daß die Städte teglichgedenken uns fursten zu vertilgen31, eine Äußerung, die sicher vornehmlichauf die großen Handelsgesellschaften gemünzt war. Wenig später kritisiertJohannes Agricola die Haltung einiger Fürsten, die den Städten allen Besitznehmen wollten und sie am liebsten in Fischteiche verwandelt sähen: Soll dasfreüntlich sein /und zumfride dienen /oder gehorsam erwecken bei den un-

Isenmann (wie Anm. 16), S. 51 f. Anm. 131; RMB 3 Nr. 7075

Blezinger (wie Anm. 19), S. 112, 160.34 Hermann von Sachsenheim, Die Mörin, hg. von Horst Dieter Seh l o s s er (Wiesbaden 1974),

S.182 Verse 4172 ff.; vgl. Jürgen Glocker, ritter - minne - trüwe (Diss. Tübingen 1986, Münster1987), S. 225. Zur Schweizerfurcht vgl. auch Guy P. Marchal, Die Antwort der Bauern, in: Ge-schichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter, hg. von Hans Patze (Sigmarin-gen 1987), S. 757-790, hier S. 764. Bei Christian Tubingius, Burrensis Coenobii Annales, hg. vonGertrud Brösamle (Stuttgart 1966), S. 240 heißen die Gmünder in der Schlacht bei Waldstetten1449 Suitenses (Tubingius hat das falsche Datum 1348).

35 Vgl. exemplarisch das Lied Oswalds von Wolkenstein Kl. 25, vgl. Die Lieder, hg. von KarlKurt Klein, (Tübingen 21975), S. 88-93, in dem ein Bürger seine finanzielle Potenz beim Liebes-werben gegen einen Hofmann ausspielt.

36 Isenmann (wie Anm. 16), S. 16 Anm. 28. Vgl. auch die Bemerkung Friedrichs von Bezold,Die „armen Leute" und die deutsche Literatur des späteren Mittelalters, wieder in: D e r s., Aus Mit-telalter und Renaissance (München/Berlin 1918), S. 49-81, hier S. 55 über den „furchtbaren Haß undSpott", den die adlige Publizistik über Bürger und Bauern ausgoß.

37 Deutsche Reichstagsakten. Jüngere Reihe Bd. 2, bearb. von Adolf Wrede (Gotha 1896), S.120 Z. 10 f.; vgl. Heinz Scheible, Fürsten auf dem Reichstag, in: Der Reichstag zu Worms von1521, hg. von Fritz Reuter (Worms 1971), S. 369-398, hier S. 381.

Feindbild und Vorbild 131

derthonen /daß sie eynen Herren haben dem sie zinß / schoß und rendt geben/der da wolle / daß sie all im moer legen?38

Suspekt war dem Adel nicht zuletzt die bürgerliche Gleichheit und dasHandwerkerregiment der Städte, das im Zuge der Zunftkämpfe an die Stelleder Herrschaft des Stadtadels, dem man sich von adliger Seite doch mehr ver-bunden wußte, getreten war39. Beispielsweise ging die von Karl V. eingeführ-te Regimentsänderung in den Reichsstädten, die sogenannten „Hasenräte",die das aristokratische Element stärken und die Zunftverfassung abschaffenwollten, dem konservativen Adelstheoretiker Graf Reinhard von Solms offen-sichtlich nicht weit genug. Er forderte in seiner um 1562 entstandenen Poli-zeiordnung, daß der Kaiser an die Spitze der Stadtregierungen einen adligenHauptmann und einen adligen Schultheißen setzen und die Zünfte verbietensollte40. Im gleichen Jahr 1562 forderte anäßlich der Unterwerfung der trieri-schen Landstadt Koblenz der dortige Ritterrat, ein Relikt aus dem Anfang derbürgerlich-ministerialischen Selbstverwaltung, eine stärkere Beteiligung amStadtregiment, obwohl sich der dazu berechtigte Adel längst auf seine Land-schlösser zurückgezogen hatte. Auch sollten die Handwerker nach dem Wil-len des Adels nur noch gelegentlich zum Rat hinzugezogen werden41.

Für das einfache Weltbild großer Teile des Adels, der nur Edelleute oderBauern kannte, gehörten die Städter zu den Bauern. Ein Sprichwort behaup-tete einprägsam: Burger und bawer / scheydet nichts denn die mawer42. Einaus Anlaß des Städtekrieges entstandenes Lied wandte sich gegen die Selbst-bezeichnung der Städte als das Reich. Diese nennen sich das römisch reichund sind sie doch nurpauren. In Julius Wilhelm Zinkgrefs 1626 publizierter

38 Johannes Agricola, Die Sprichwörtersammlungen, hg. von Sander L. G i Im an Bd. l (Berlin/New York 1971), S. 323. Die Erstausgabe erschien 1529.

" Knut Schulz, Stadtadel und Bürgertum vornehmlich in oberdeutschen Städten im 15. Jahr-hundert, in: Stadtadel und Bürgertum in den italienischen und deutschen Städten des Spätmittelalters,hg. von Reinhard Elze/Gina Fasoli (Berlin 1991), S. 161-181, hier S. 173 beobachtet seit dem Endedes 14. Jh. ein „neuartiges Selbstverständnis im Bürgertum [...]. Es war mit dem des Adels nicht inÜbereinstimmung zu bringen und wurde von diesem in mancher Hinsicht als bedrohlich und - ange-sichts der wirtschaftlichen Expansion des Bürgertums in dieser Zeit - vielfach als existenzgefährdendangesehen".

* Friedrich Uhlhorn, Reinhard Graf von Solms Herr zu Münzenberg 1491-1562 (Marburg1952), S. 157. Zu den „Hasenräten" Karls V. vgl. die Quellenedition von Eberhard N a uj o k s, Kai-ser Karl V. und die Zunftverfassung (Stuttgart 1985).

' Klaus Eiler, Stadtfreiheit und Landesherrschaft in Koblenz (Wiesbaden 1980), S. 329.4; Agricola (wie Anm. 38) Bd. l, S. 190 f. Nr. 244. Agricola nimmt dem Sprichwort die polemi-

sche Spitze, indem er es auf den Hochmut der Städter gegenüber den Bauern bezieht. Vgl. auch ErichKleinschmidt, Stadt und Literatur in der frühen Neuzeit (Köln/Wien 1982), S. 58 Anm. 176 mitweiteren Nachweisen und dem Hinweis auf einen Kommentar Luthers zu dem Sprichwort: Civitateslantum sunt contra latrocinia nobilium. darumb so seindt die vom adel nicht gut stetisch, D. MartinLuthers Werke. Tischreden Bd. 3 (Weimar 1914), S. 382 Nr. 3534 A vom Jahr 1537.

11 Liliencron (wie Anm. 31) Bd. l, S. 417.

132 Klaus Graf

Sammlung bemerkenswerter Aussprüche findet sich eine Anekdote, die daslange andauernde gegenseitige Ressentiment zu illustrieren vermag: Einbayerischer Herr ward im Durchreisen durch eine vornehme Reichsstadt vondem Rat daselbst, alles Schauwürdige zu besehen, um und unter anderemauch auf den Wall geführet, der sprach: Ihr Bäuerlein, ihr Bäuerlein, ihr habteinen starken Zaun um euer Dorf gemacht. Der Stättmeister antwortet be-hend: Billig, Gnädiger Herr, damit ihn nicht eine jede Sau umwühle"14.

In Samuel Pufendorfs 1667 erschienener Schrift über die Verfassung desdeutschen Reiches heißt es im Abschnitt über die Gegensätze der Stände, derWohlstand der Städte errege den Neid der Fürsten, der Adel verachte die Bür-ger und einige Fürsten erblickten in der städtischen Freiheit gleichsam einenVorwurf gegen ihre Herrschaft: So entstehen überall Neid, Verachtung, Krän-kungen, Argwohn und verborgene Ränke45. Modisch formuliert: Negativ-Ste-reotype führen auf Dauer zu gesellschaftlich dysfunktionalen Kommunika-tionsstörungen.

Meine These lautet daher: Das negative Adelsbild der Städte, das im Land-adel und den Fürsten Räuber und Angreifer der städtischen Freiheit sah, demein negatives Bild der Städte im adligen Lager gegenüberstand, resultiert zu-mindest zum Teil aus der polarisierenden Weltsicht des Kalten Krieges undseiner ideologischen Hochrüstung. Auch wenn dieses Bild in der Regel über-lagert war von einem pragmatischen, ja freundschaftlichen Umgang mit demAdel, so ließ es sich doch immer wieder aktivieren. Wer bei der Beurteilungdes Verhältnisses von Stadt und Adel die gegenseitigen Stereotypen, Vorur-teile und Ressentiments außeracht läßt, verkennt die Bedeutung, die derwechselseitigen Wahrnehmung und der Kategorie „Mißtrauen", besonders inkritischen Situationen, für das politische Handeln zukommen konnte.

II

Das Problem der spätmittelalterlichen „Raubritter"46 oder „Raubunterneh-mer"47 kann hier nicht ausführlich diskutiert werden, doch mögen einigeSchlußfolgerungen aus den vorangegangenen Ausführungen zur Frage deradligen Disposition „Städtefeindschaft" gestattet sein. Der empirische Gehalt

44 Zitiert nach der normalisierten Auswahlausgabe: Julius Wilhelm Zinkgref, Der Teutschenscharfsinnige kluge Spruch, hg. von Karl- Heinz Klingenberg (Leipzig 1982), S. 132.

45 Samuel Pufendorf, Die Verfassung des deutschen Reiches, übers, von Horst Denier(Stuttgart 1976), S. 120 (Kap. 7 § 9).

46 Die neueste Forschung setzte mit dem Aufsatz von Werner Rösen er, Zur Problematik desspätmittelalterlichen Raubrittertums, in: Festschrift Berent Schwineköper, hg. von Helmut Maurer/Hans Patze (Sigmaringen 1982), S. 469-488 ein und wurde vor allem durch zwei Monographien ge-fördert: Regina Görner, Raubritter (Münster 1987) und UlrichAndermann, Ritterliche Gewaltund bürgerliche Selbstbehauptung (Frankfurt a.M. usw. 1991). Dort finden sich jeweils auch Anga-ben zur Forschungsgeschichte,

Feindbild und Vorbild 133

von Formulierungen, „ein wirtschaftlich unterhöhlter und sozial deklassierterAdel und ein notorisches Strauch- und Raubrittertum" habe sich „mitunterverzweifelt" aus Fehden und Straßenraub zu alimentieren versucht48, ist äu-ßerst fraglich. Es genügt für den vermeintlichen Zusammenhang zwischenspätmittelalterlicher Agrarkrise und einer allgemeinen Verarmung des Adels,die zum Raubrittertum geführt habe, auf die Widerlegung dieser bis heute ein-flußreichen Meinung durch Kurt Andermann hinzuweisen49. Aussagekräfti-ge Selbstzeugnisse von Städtefeinden, die über Gründe und Motive ihrerStädtefeindschaft Auskunft geben könnten, wurden von der Forschung bis-lang nicht vorgelegt. Allgemein gehaltene Aussagen des Inhalts, das ritterli-che Ethos sei nicht mehr zeitgemäß gewesen, treten in der Forschung allzu oftan die Stelle konkreter Belege. Wie aber kam der bereits im 14 . Jahrhundertfeststellbare erbitterte Haß auf die Städte50, der sich in Fehden und Kaufleu-teüberfällen zeigte, zustande?

Neben den ökonomischen sollten die politischen Motive, die gegen dasMachtstreben oder den angeblichen Rechtsmißbrauch der Städte gerichtetwaren, und die Dynamik der wechselseitigen Stereotype und Schuldzuwei-sungen nicht übersehen werden. Daß die oben skizzierte Konfrontation deroberdeutschen Reichsstädte mit dem Adel kein singulärer Fall war, mag einSeitenblick auf die Verhältnisse in der Mark Brandenburg zur Zeit des Jost

47 Ausgangspunkt der Diskussion war die Beurteilung der Fehden des Götz von Berlichingen. Dervon Helgard Ulmschneider in Anlehnung an den Begriff der adligen militärischen Unternehmersgebrauchte Begriff „Raubunternehmer" wurde von Volker Press, Götz von Berlichingen (ca. 1480-1562) - vom „Raubritter" zum Reichsritter, in: ZWLG 40 (1981), S. 305-326, hier S. 310 akzeptiert.Götz sei ein „relativ moderner Adeliger" gewesen (ebd., S. 326). Dagegen wandte sich Frank Gött-mann, Götz von Berlichingen - überlebter Strauchritter oder moderner Raubunternehmer, in: Jb. fürfränkische Landesforschung 46 (1986), S. 83-98, der für die erste Alternative seines Titels plädierte,mit dem abschließend servierten Klischee von den „deklassierten Kleinadeligen", die die politischenund sozialen Umwälzungen „sozial und mental" nicht bewältigt hätten, jedoch alles andere als eineüberzeugende Alternative anbot. Zuletzt machte Markus Bittmann, Kreditwirtschaft und Finan-zierungsmethoden (Stuttgart 1991), S. 96-110 an Hegauer Beispielen plausibel, daß unter dem Ge-sichtspunkt wirtschaftlicher Rationalität Krieg und Fehde „ein Verlustgeschäft" waren (ebd., S.110). Dies demonstriert auch der Sinsheimer Überfall Konrads von Weinsberg, vgl. Irs igle r (wieAnm. 27).

48 So Isenmann (wie Anm. 16), S. 50. Vgl. auch den wenig ergiebigen Artikel Raubritter vonA. Erler, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Bd. 4 (Berlin 1990), Sp. 191-193.

49 Kurt Andermann, Grundherrschaften des spätmittelalterlichen Niederadels in Südwest-deutschland, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 127 (1991), S. 145-190. Zur herrschendenLehre vgl. noch den Katalog von Volker R ö d e l : Krieger / Ritter / Freiherr (Koblenz 1988), S. 115f. Belege aus der Historiographie vom Ende des 18. Jh. bis zur Gegenwart zitiert U. Andermann(wie Anm. 46), S. 16-20.

50 So erklärte (nach Aussage eines Überläufers) 1395 ein Adliger, wenn er denen von Rothenburgbegegne, wolle er sie alle niederstechen, sie aufhängen und keine Gefangenen machen, vgl. HeinrichSchmidt, Die Beziehungen zwischen Rothenburg ob der Tauber und dem ostfränkischen Neckar-raum zur Zeit Heinrichs Topplers 1380-1408, in: Württembergisch Franken 43 (1959), S. 173-194,hier S. 186.

134 Klaus Graf

von Mähren am Anfang des 15. Jahrhunderts zeigen. Der Adel und die mär-kischen Städte befanden sich in unterschiedlichen politischen Lagern. Be-zeichnend ist nun, daß sich in den städtischen Quellen ein dezidierterAdelshaß beobachten läßt. Für den städtisch gesinnten Chronisten EngelbertWusterwitz waren die märkischen Adligen nur aufgeblasene und hochmütigeStraßenräuber. Sie sind so feige, behauptet Wusterwitz, daß sie den Deutsch-herren nur zu Hilfe kommen wollen, wenn die dortigen Schlösser aus Weich-käse wären51. Dieses Beispiel wirft einmal mehr die allgemeine Frage auf, obNegativ-Stereotype das Resultat (bzw. das Instrument) politischer Konflikteoder ob umgekehrt solche Auseinandersetzungen von bestehenden Antago-nismen und Ressentiments determiniert waren52. Es dürfte klar sein, daß eine„einfache" Antwort im Sinn einer platten Instrumentalisierungsthese - be-rechnende Nutzung verbreiteter Stereotypen durch Machtpolitiker - ebensozu kurz greifen würde wie eine Position, die nur auf den gleichsam „natürli-chen" Antagonismus zwischen den Städten und dem Adel abheben wollte. InRechnung zu stellen sind vielmehr starke Rückkopplungseffekte durch kom-munikative Prozesse, die wiederum durch die Wahrnehmung sozialen undökonomischen Wandels beeinflußt werden konnten.

Warnen möchte ich vor der vordergründigen Überschätzung ökonomischerMotive. Für die Kriegsereignisse im Hegau in den 1440er Jahren sieht MarkusBittmann keinen Grund, ausschließlich wirtschaftliche Ursachen verantwort-lich zu machen: „Politische Provokation und die Aussicht auf eine willkom-mene schnelle Bereicherung sind hier nicht zu trennen"53. Ebensowenig wieman im 16. Jahrhundert die konfessionelle Option des Einzelnen schlüssig er-klären kann, wird man auch die politische Entscheidung, sich einer Gruppevon Städtefeinden anzuschließen, aus groben sozioökonomischen Rahmenda-ten ableiten können. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Familienver-band mag dabei ebenso eine Rolle gespielt haben wie Dienstverhältnisse oderdie Mitgliedschaft in einer bestimmten Rittergesellschaft. Wichtig war auch,

51 Wolfgang Ribbe, Die Aufzeichnungen des Engelbert Wusterwitz (Berlin 1973), S. 119. -Nicht eingehen kann ich auf die Traditionsgeschichte des Räuber-Stereotyps, das im hohen Mittel-alter geistlichen Autoren als Instrument der Adelskritik wohl vertraut war. Wenn es in der Arenga ei-ner Stiftung an den Deutschen Orden durch Euphemia von Taufers, die Witwe des Andras von Ho-henlohe-Brauneck, 1324 heißt, die irdischen Burgen, die zu Raubhäusern gemacht werden, seien einVorwerk der Hölle im Gegensatz zu jenen, die dem Gottesdienst einverleibt werden, so ist das alsadlige Conversio-Topik zu verstehen, Franz Machilek, Frömmigkeitsformen des spätmittelalter-lichen Adels am Beispiel Frankens, in: Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter, hg. von KlausSchreiner (München 1992), S. 157-189, hier S. 163.

52 Ein vergleichbares methodisches Problem, die Frage nach der Verschränkung politischer undunpolitischer Faktoren, habe ich am Beispiel der „Stammeszugehörigkeit" des Kraichgaus erörtertin: Der Kraichgau. Bemerkungen zur historischen Identität einer Region, in: Die Kraichgauer Ritt-erschaft in der frühen Neuzeit, hg. von Stefan Rhein (erscheint Sigmaringen 1993). Vgl. dazu auchKlaus Graf, Das „Land" Schwaben im späten Mittelalter, in: Regionale Identität und soziale Grup-pen im deutschen Mittelalter, hg. von Peter Moraw (Berlin 1992), S. 127-164.

53 Bittmann (wie Anm. 47), S. 105.

Feindbild und Vorbild 135

daß sich ein Städtefeind auf die adlige Solidarität und in der eigenen Gruppeauf ein „weitausgreif ende [s] Netz von Stützpunkten"54 verlassen konnten. Sowenig man den gesamten Niederadel einer Region mit der wohl eher begrenz-ten Gruppe der notorischen Städtefeinde und Fehdeführenden identifizierendarf55, so wenig drohte den Städtefeinden die völlige Isolation und sozialeÄchtung durch die Fürsten und den übrigen Adel, zumal es neben den kom-promißlosen Gesinnungstätern ein breites Mittelfeld an Sympathisanten undGelegenheitstätern gegeben haben dürfte56.

Will man die notorischen Städtefeinde als „Unternehmer" bezeichnen,sollte man den Begriff der „moralischen Unternehmer" verwenden57, da sieihr Geschäft einigermaßen professionell und fanatisch (wenngleich häufignicht besonders erfolgreich und effizient58), vor allem aber - jedenfalls in ih-rer subjektiven Einschätzung - im Dienst einer guten Sache, von Recht undEhre, betrieben. Behauptete oder tatsächliche Verletzungen adliger Rechteoder Ansprüche, seien es eigene, seien es solche befreundeter Adliger, durchstädtische Maßnahmen konnten als Anschläge auf die Standesehre aufgefaßtwerden59. Man macht es sich zu einfach, wenn man das „leidenschaftlicheRechtsgefühl"60 des Adligen nur als leicht durchschaubare Verbrämung ma-terieller Interessen abtut61. Die Kriminalisierung der adligen Fehde durch dieStädte62 und der „kurze Prozeß", den die Städte mit gefangenen Fehde-gegnern machten, waren mit dem Rechts- und Ehrverständnis des Adels nichtvereinbar.

Während die Städte „schwarze Listen" ihrer Feinde, Acht- und Verfe-stungs- und Fehdebücher führten63, denen sie bei Bedarf warnende Beispiele

54 Hermann Eh m er, Der Gleißende Wolf von Wunnenstein (Sigmaringen 1991), S. 148.55 Dies zeigtBittmann (wie Anm. 47), S. 106.56 Wenn Glocker (wie Anm. 34), S. 230 behauptet, Hermann von Sachsenheim kanzle das

„Raubrittertum" ab, so wird das vom Textbefund der „Mörin" nicht gedeckt (wie Anm. 34, Verse4252 ff.). Wer Klöster und Spitäler ausraube, verdiene den Strang, sagt Hermann - von Kaufleutenist nicht die Rede.

57 Günter Jerouschek, Die Hexen und ihr Prozeß (Esslingen 1992), S. 272 mit Anm. 11 hatdiesen Begriff von H. S. Becker entlehnt, um damit die fanatischen Hexenjäger und Verfolgungs-befürworter zu kennzeichnen.

58 Vgl. oben Anm. 47.59 Zur entsprechenden Selbstdarstellung des Götz von Berlichingen vgl. Göttmann (wie Anm.

47), S. 94 f.60 Von Otto Brunner, Land und Herrschaft (Nachdruck der 5. Aufl. Darmstadt 1984), S. 109

als wesentlicher Hintergrund der Fehde und, durchaus zeitgebunden, als „eine der stärksten sittlichenKräfte alles gesellschaftlichen Lebens" ausgemacht.

61 So Göttmann (wie Anm. 47), S. 95 für Götz.62 Vgl. dazu U . A n d e r m a n n (wie Anm. 46), passim.63 Zur städtischen Schriftlichkeit in diesem Bereich vgl. ebd., S. 105 ff.

136 Klaus Graf

entnehmen konnten, und Stadtchroniken in Exempla narrativ vergegenwärtig-te historische Erfahrungen aufbewahrten, mangelt es auf adliger Seite anQuellen, die über die (zumeist wohl mündliche) Tradierung und Weitergabeder einschlägigen Erfahrungen mit der städtischen Fehdepraxis und Strafju-stiz Auskunft geben könnten. Daß Erinnerungen an frühere Ereignisse undBegebenheiten auch auf adliger Seite eine wichtige Rolle gespielt haben, gehtaus dem Umstand hervor, daß mitunter eine Generation zwischen dem Anlaßund dem Ausbruch der Fehde lag64. Wenn in einer Chronik zum Jahr 1340 be-richtet wird, die Reichsstädte hätten bei einem Feldzug gegen Brenztalburgenauf einer Burg nur einen jungen Edelmann im Alter von 16 Jahren mit zweiKnechten angetroffen, die sie enthauptet hätten, worauf sie mit eren wiedernach Hause gezogen seien65, so ist das mit eren wohl nur bittere Ironie. In derkollektiven Erinnerung adliger Kreise dürften solche und ähnliche Geschich-ten aufbewahrt und beim Weitererzählen vielleicht auch in der Art einer„Greuelpropaganda" ausgeschmückt worden sein.

In unserem Jahrhundert hat sich die im rezenten Erzählgut spiegelnde öf-fentliche Meinung jedoch längst auf die andere Seite geschlagen, und die„Raubrittersagen" haben fast durchweg „antifeudalen" Charakter66. In einer1970 aufgezeichneten Erzählung aus Oberwittstadt im Bauland heißt es lapi-dar: „Die Ritter waren böse Menschen. Sie fluchten, tranken, peinigten ihreUntertanen und zogen auf Raub aus". Zur gleichen Zeit wußte man in Senn-feld von einem Raubritter, der alle Menschen, die den Wald betraten, gefan-gengenommen, ihnen den Kopf abgeschlagen und sich in ihrem Blut dieHände gewaschen habe67. Treffend bemerkt Regina Görner: „Deutsche Sa-gensammlungen quellen über von Erzählungen, in denen Raubnester und böseRitter eine Hauptrolle spielen"68.

64 Vgl. Frankfurter Chroniken (wie Anm. 22), S. 340: Anlaß 1413, Ausbruch 1444. Die Editiongibt ebd., S. 314-392 einen höchst schätzenswerten Einblick in das Fehdeschriftgut. Auch Heilmannvon Praunheim machte 1477 geltend, Frankfurt habe einen seiner Vorfahren um 350 Gulden geschä-digt. Die Stadt erwiderte, darüber sei niemandem etwas bekannt und die ganze Angelegenheit ohne-hin verjährt (ebd., S. 349).

65 Deutsche Übersetzung der Flores temporum, Stadtarchiv Augsburg Schätze Nr. 121, Teil II, f.191 (Abschrift 15. Jh.). Wiedergabe des Eintrags bei Klaus Graf, Beiträge zur Adelsgeschichte desHeubacher Raums, in: Heubach und die Burg Rosenstein (Schwäbisch Gmünd 1984), S. 76-89,405-409, hier S. 406 Anm. 23. Zur Quelle vgl. Graf (wie Anm. 14), S. 192 f.

66 Es gibt aber auch Erzählkomplexe, die Raubritter positiv zeichnen, etwa die Geschichten überden Feind der Nürnberger Eppelein von Gailingen, die ihn, wie es in einem populären Sagenbänd-chen heißt, „als ideen- und listenreichen, kühnen, originellen und humorbegabten Ritter" zeichnen,Hans H. Schlund, Eppelein von Gailingen (Leutershausen 1987), S. 14.

67 Weiße Schwarze Feurige, hg. von Peter Assi on (Karlsruhe 1972), S. 171 Nr. 202 und S. 162Nr. 182. Vgl. auch die Bemerkungen zu den „antifeudalen Sagen" ebd., S. 64 und zur Problematikder Qualifizierung als „Volkstradition" ebd., S. 72. - Auch in der Westeifel konnte Matthias Zen-der um 1930 etliche Raubrittererzählungen aufzeichnen, D er s., Sagen und Geschichten aus derWesteifel (Bonn 31986), S. 30 ff. u. Register s.v. Raubritter.

68 Görner (wie Anm. 46), S. 5.

Feindbild und Vorbild 137

Die dazu wohl am ehesten berufene volkskundliche Erzählforschung hatsich mit diesen Raubrittersagen bislang nicht hinreichend auseinanderge-setzt69. Diese Forschungslücke kann hier zwar nicht geschlossen werden,doch führt die Frage nach der „Vorgeschichte" der in den Sagensammlungendes 19. Jahrhunderts versammelten Raubritter-Erzählungen durchaus nichtvom Thema ab, wenn es gilt, die Traditionsgeschichte des Raubritter-Stereo-typs zu beleuchten, das noch die heutige wissenschaftliche Diskussion bela-stet70. Sowohl die Sagen als auch die wissenschaftliche Raubritter-Forschungdes 19. Jahrhunderts wurzeln in aufklärerischen Anschauungen des 18. Jahr-hunderts, als es das Wort „Raubritter" zwar noch nicht gab, das Thema einergebildeten Öffentlichkeit jedoch durch historische und literarische Beiträgewohlvertraut war.

Die bislang in der Forschung vertretenen Ansichten über das Aufkommendes Worts Raubritter sind unzutreffend, da der fast ausschließlich zu Rate ge-zogene Artikel des Grimmschen Wörterbuches mit dem Hinweis auf Fried-rich Chr. Schlossers Weltgeschichte (1847) keinen Erstbeleg liefert71.Übersehen wurde, daß bereits die einflußreichen „Deutschen Sagen" der Brü-der Grimm, deren Erstausgabe 1816/18 erschien, das Wort „Raubritter" ent-

69 Vgl. etwa Hildegunde Prütting, Das Geschichtsbild des Volkes nach den Sagen der Pfalz(Diss. masch. Kiel 1948), S. 238-240, die Raubrittersagen als „Sekundär-Sagen" allzu kursorisch mitdem romantischen Burgeninteresse erklärt und auf eine nähere Erörterung verzichtet. Zur Problema-tik des Konzepts „historische Sage" bzw. „Sage" vgl. Klaus Graf, Thesen zur Verabschiedung desBegriffs der 'historischen Sage1, in: Fabula 29 (1988), S.21-47; Ders., Sagensammler vor dem 18.Jahrhundert? Anmerkungen zum Sagenbegriff, in: Beiträge zur Volkskunde in Baden-Württemberg4 (1991), S. 295-304; Wolfgang Seidenspinner, Sage und Geschichte, in: Fabula 33 (1992),S. 14-38.

70 Soll man den Begriff „Raubritter" im wissenschaftlichen Gespräch gebrauchen? Kurt Ander-mann sagt: Nein (Protokoll, wie Anm. 12, S. 48). Richtig ist, daß „Raub" heute und auch im Mit-telalter eine festgelegte juristische Bedeutung hat und daß man eine saubere Grenze zwischen Raubund „rechtmäßiger Fehde" aus heutiger Sicht vergeblich suchen wird (überzeugend dazu U. An-dermann [wie Anm. 46], S. 55 f.). Wer den moralisierenden Ton des Tribunals schätzt, mag auchweiterhin von Raubrittern sprechen. Ich gestehe zu, daß der Begriff Raubritter durchaus ein der Ver-ständigung dienliches, eingeführtes und griffiges Etikett darstellt, habe aber oben versucht, stattdes-sen von „Städtefeinden" zu sprechen, was mir im Hinblick auf die Dynamik der Eskalation, die ein-seitige Schuldzuweisungen ausschließt, und die politische Dimension des Konflikts angemessenererscheint.

71 Vgl. Deutsches Wörterbuch Bd. 8 (Leipzig 1893), Sp. 233; Rösener (wie Anm. 46), S. 469;Görner (wie Anm. 46), S. 3 mit Anm. 23; Erler (wie Anm. 48), Sp. 191. Unzutreffend ist es,wenn Werner Bornheim gen. Schilling, Rheinische Höhenburgen (Neuss 1964), S. 311Anm. 44 nach dem Grimmschen Wörterbuch davon ausgeht, Schlosser habe den Begriff geprägt.Vgl. auch ebd., S. 15: die französische Revolution habe bei dem Raubrittergbegriff Pate gestandenund er beginne sich erst nach 1848 breiter durchzusetzen. Ebd., S. 298 wird der Schauer vor demRaubrittertum mit dem jungen Sozialismus in Verbindung gebracht. V. Andermann (wie Anm.46), S. 14 bringt einen 1857 gedruckten Aufsatz Johann Martin Lappenbergs bei, der schon 1827/28ausgearbeitet gewesen sei.

138 Klaus Graf

halten72. Der erste mir bekannte Beleg liegt jedoch noch einige Jahre früher.In der ausführlichen historischen Einleitung zum ersten Band seines vielgele-senen Sammelwerks „Die Ritterburgen und Bergschlösser Deutschlands"schreibt Friedrich Gottschalck 1810 über Karl IV.: „Auch mehrern sächsi-schen Städten ertheilte Karl die Erlaubniß, gegen die Wegelagerungen undBefehdungen der Raubritter vom Sattel und Stegreif (Steigbügel), welche hierbesonders schaarenweise wie Raubvögel in den unzugänglichsten Feisenne-sten horsteten, einen eigenen Bund zu schließen"73. Auch wenn es noch etwasältere Nachweise geben sollte, was nicht ausgeschlossen werden kann - be-sondere Bedeutung dürfte dem genauen Zeitpunkt der ersten Verwendungkaum zukommen. Das griffige Schlagwort, das die moralisierende Einschät-zung adliger Städtefeinde als Räuber mit dem sonst eher positiv bewertetenRitterbegriff verband, lag damals gleichsam „in der Luft". Bereits im Vossi-schen Musenalmanach 1776 war Gottfried August Bürgers Ballade „DerRaubgraf" (entstanden 1773) erschienen. Sie erzählt von einem räuberischenGrafen von Rips, den das benachbarte Städtchen durch eine Hexe entführenläßt und in einen Käfig sperrt, wo er sich selbst verspeist74.

In welcher Weise nach der Französischen Revolution ein aufklärerisch ge-sinnter Autor für die Städte und gegen den räuberischen Adel des MittelaltersPartei nahm, soll der eingangs bereits zitierte Aufsatz über Goslar in der Zeit-schrift „Deutschland" von 1796 demonstrieren. Heß stellt den mittelalterli-chen Adelsherrschaften die Reichsstädte als freie Gemeinwesen mitblühender Industrie gegenüber und meint: „Hätte dieser Keim weitergewur-zelt, hätte der träge Raubsinn gepanzerter Tagelöhner nicht jene Mittel ver-achtet, sein Brot im Schweiße des Angesichts zu essen", so wäre Deutschlandvor anderen Ländern frei geworden. (In ähnlicher Weise kontrastierte die auf-

72 Vgl. künftig Jakob und Wilhelm Grimm, Deutsche Sagen, hg. von Hans-Jörg Uther (er-scheint München 1993), Nr. 185 (Rosenstein), Nr. 573 (Nidda). Herrn Dr. Uther, Enzyklopädie desMärchens Göttingen, habe ich für seine Hilfsbereitschaft, mit der er mir die von ihm ermitteltenQuellennachweise zu den Grimmschen Raubrittersagen (Nr. 129-133, 166, 185, 235, 283, 313, 332,507, 573) zur Verfügung stellte, sehr zu danken.

73 Friedrich Gottschalck, Die Ritterburgen und Bergschlösser Deutschlands Bd. l (Halle1810), S. XVIII; in der zweiten Auflage Halle 1815, S. 18. Das Wort finde ich auch in weiteren Bän-den des Werks, z.B. 1. Aufl. Bd. 4 (1818), S. 119; 2. Aufl. Bd. 4 (1826), S. 133. Ganz selbstverständ-lich spricht Dillenius ebd. 1. Aufl. Bd. 6 (1825), S. 206 hinsichtlich der Raubritter des Rosensteinsvon der „Zeit des Raubritterwesens" und S. 216 vom „Raubritterthume". Ich benutzte Exemplare derLB Karlsruhe.

74 Gottfried August Bürger, Sämtliche Werke, hg. von Günther und Hiltrud H an t z sehet (Mün-chen/Wien 1987), S. 188-192. Bezeichenderweise erscheint der Stoff von Bürgers Ballade nach ei-nem Sagenbuch von 1866 als „Raubrittersage" in: Historische Volkssagen aus dem 13. bis 19. Jahr-hundert, hg. von Gisela Griepentrog (Berlin [Ost] 1975), S. 46 Nr. 48. Die literarischeAbhängigkeit ist eindeutig. Ein etwas älteres Gedicht über ein schwäbisches Spukschloß („durchRauben groß") von 1769 von Hanns Robert ist wiederabgedruckt in: Bänkelsang und Singspiel vorGoethe, hg. von Fritz Brüggemann (Leipzig 1937, Nachdruck Darmstadt 1967), S. 64-67.

Feindbild und Vorbild 139

klärerische Despotismuskritik75 adligen Müßiggang und bürgerlichen Fleiß.)Anhand historischer Beispiele stellt Heß die Reichsstädte als ständige Beutehabgieriger Fürsten und adliger Taugenichtse vor, die ernten ohne gesät zuhaben: „Oft vereinigte zwei hadernde oder zum Kampf geharnischte Heldender fromme Entschluß, vor die nächste Reichsstadt zu ziehen und sie zubrandschatzen"76.

Das Bild von der Ernte ohne Saat findet sich beispielsweise auch in derböhmischen Erzählung „Die Blutnelken" (aus einer Sagensammlung von1893): „Auf dem Herrschelsberge bei Nixdorf soll in alten Zeiten eine Burggestanden haben, worin ein Raubritter sein Unwesen trieb und die ganze Ge-gend belästigte. Unablässig wurden die armen Bürger und Bauern geplagtund geplündert von einem Bösewichte, der überall erntete, wo er nicht gesäethatte"77. Schließlich erhoben sich die Unterdrückten und stürzten denRaubritter von seiner Burg in einen Abgrund, wo aus seinem Blut zahlreicheBlutnelken entsprossen.

Raubrittersagen sind alles andere als uraltes Volksgut, das von Generationzu Generation weitergegeben wurde und in dem sich im „Gedächtnis des Vol-kes"78 Erinnerungen an mittelalterliche Herrschafts- und Konflikterhältnisseerhalten haben. Für die Gruppe der von der marxistischen Forschung „anti-feudale Sagen" genannten Erzählungen, zu der die Raubrittersagen ebensowie Geschichten über Tempelherren und das (in Wirklichkeit nirgends nach-weisbare) „Jus primae noctis" gehören, stellte Matthias Zender fest, sie seien„nicht das Spiegelbild der Feudalzeit, sondern ein Spiegelbild der Meinung,die sich eine spätere Welt von der Vergangenheit machte, einer Meinung, inder Richtiges und Falsches, Fabeln und Übertreibungen mit wirklichen Erin-nerungen zusammenflössen"79. Folgerichtig müssen die Erzählungen überRaubritter in den Sammlungen der sogenannten Volkssagen ebenso wie dasgelehrte Raubritter-Bild des frühen 19. Jahrhunderts eingebettet werden indie Anschauungen und Meinungen vom Mittelalter, wie sie in den Journalen,vor allem aber in den historischen Erzählungen und „Ritterromanen" derzweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weitverbreitet waren.

75 Vgl. dazu etwa Klaus Gert eis, Bürgerliche Absolutismuskritik im Südwesten des Alten Rei-ches vor der Französischen Revolution (Trier 1983).

76 Heß (wie Anm. 5), S. 116 f.77 Zitiert nach der marxistischen Sammlung von Griepentrog (wie Anm. 74), S. 41 Nr. 40.

Ebd., Nr. 28-55 findet man einen Strauß von Raubrittersagen aus verschiedenen deutschen Land-schaften.

78 Vgl. dazu zurecht kritisch Wolfgang Seidenspinner, Sagen als Gedächtnis des Volkes?, in:Erinnern und Vergessen, hg. von Brigitte Bönisch-Brednich/Rolf W. Brednich/Helge Gerndt (Göt-tingen 1991), S. 525-534.

79 Matthias Zender, Volkserzählungen als Quelle für Lebens Verhältnisse vergangener Zeiten,wieder in: D er s., Gestalt und Wandel (Bonn 1977), S. 414-454, hier S. 421.

140 Klaus Graf

Die außerordentliche Beliebtheit der „Ritterromane" um 1800 ist hinrei-chend bekannt80. Als Heinrich von Kleist eine Würzburger Leihbücherei be-suchte, wußte man, wie er in einem Brief am 14. September 1800 notierte,keine Werke von Schiller und Goethe vorzuweisen, sondern gab auf die Fragenach dem Buchbestand die Auskunft: „Rittergeschichten, lauter Ritterge-schichten, rechts die Rittergeschichten mit Gespenstern, links ohne Gespen-ster, nach Belieben"81. Welche motivischen und inhaltlichen Abhängigkeitendie literarischen Produkte des 18. Jahrhunderts mit den späteren Sagentextenverbinden, müßte auf breiter Materialbasis genauer untersucht werden. Hiermuß ein einziger Hinweis genügen. In den Grimmschen Deutschen Sagen(Nr. 185) wird von der Beiswanger Kapelle, die von den Raubrittern auf demRosenstein (bei Heubach im Ostalbkreis) beraubt worden sein soll, anmer-kungsweise gesagt, sie sei von Friedrich mit dem Biß in der Wange gestiftetworden. Wie kam der im 13. Jahrhundert regierende Wettinerfürst Friedrichder Freidige dazu, eine ostschwäbische Kapelle zu errichten? Es handelt sichdabei sicher um eine literarische Kombination, die wohl aufgrund der Kennt-nis des 1787/88 in Leipzig herausgekommenen Ritterromans von FriedrichSchlenkert „Friedrich mit der gebissenen Wange" vorgenommen wurde. Alsihr Urheber kann vorerst der Verfasser der Quelle der Grimmschen Sagenfas-sung gelten, also jener Jakob Grimme, der in einem Almanach auf das Jahr1800 ein Gedicht „Der Herrgotts Tritt, auf dem Rosenstein bei Heubach. Einewirtembergische Volkssage" veröffentlichte82. Für die Zeit um 1800 darf daserst durch die Grimmsche Sammlung (1816/18) paradigmatisch definierteKonzept der getreu aufzuzeichnenden „Volkssage" noch nicht von dem lite-rarischen Konzept der „Sage der Vorzeit", wie die sich im Anschluß an VeitWebers (d.i. Leonhard Wächter) „Sagen der Vorzeit" (1787 ff.) entwickelndeGattung bezeichnet werden kann83, getrennt werden. „Sage" meint in beiden

80 Leider durchziehen die literaturwissenschaftliche Forschung zum „trivialen" historischen Ro-man besserwisserische Urteile über die „dichterischen Unzulänglichkeiten" in Verbindung mit einernicht weiter reflektierten Eskapismus-These. So z.B. noch die wichtige und materialreiche Darstel-lung von Manfred Grat z, Das Märchen in der deutschen Aufklärung (Stuttgart 1988), S. 226 ff. zurGeburt des Ritterromans, etwa S. 228: „Zweifellos liegt der Sucht nach den Ritterromanen die Sehn-sucht nach einer idealisierten Vergangenheit zugrunde, und je komplexer dem Leser seine Gegen-wart erscheint, desto eher flüchtet er sich in die naive Traumwelt des Romans". Vgl. etwa auch Ma-rion Beaujean, Der Trivialroman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Bonn 1964), S. 97ff.; PeterNusser, Trivialliteratur (Stuttgart 1991), S. 83 f., 91.

81 Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Helmut Sembdner 8. Aufl. Bd. 2(München 1985), S. 563.

82 Den Nachweis der Quelle verdanke ich Herrn Dr. U t he r: Taschenbuch für häusliche und ge-sellschaftliche Freuden auf das Jahr 1800, hg. von Ludwig Lang (Frankfurt a. M. 1800), S. 129-136(Exemplar LB Karlsruhe). Zu den Rosensteinsagen vgl. Gerhard M. Kolb, Heubach und die BurgRosenstein im Mittelalter, in: Heubach (wie Anm. 65), S. 31-75,400-405, hier S. 48 f. Zu Schlenkertvgl. etwa Beaujean (wie Anm. 80), S. 118.

83 Walther Pantenius, Das Mittelalter in Leonhard Wächters (Veit Webers) Romanen (Diss.Leipzig 1904), S. 127. Zum Konzept „Sage" bei Wächter vgl. ebd., S. 6.

Feindbild und Vorbild 141

Kontexten die literarische Verarbeitung einer historisch nicht verbürgtenÜberlieferung.

Auch wenn es sich bei den meisten „Raubrittersagen" um aufklärerischoder romantisch motivierte Erfindungen handelt, die von den Sagensammlernals vermeintliche „Volkspoesie" in das Bildungsbürgertum, aus dem sie her-vorgegangen sind, zurückgeholt wurden, sollte nicht ganz übersehen werden,daß sie auf ältere Überlieferungen zurückgreifen konnten84. Nach dem Endeder spätmittelalterlichen Konfrontation wurden die der Gegenwart verpflich-teten Zweckerzählungen über adlige Räuber zum Traditionsgut85. Vor alleman Burgen und Burgruinen konnte sich, mit oder ohne historischen Kern, dieÜberlieferung anlagern, die Anlage sei einst ein Raubschloß gewesen86. Bei-spielsweise weiß ein Bericht aus dem Jahr 1660, eine Äbtissin des KlostersWaldkirch, eine Markgräfin von Baden, habe ihre Verwandten wegen der sichauf dem Schloß Heidburg befundenen Räuber um Hilfe angerufen, dafür ih-nen das Prechtal geschenkt*1. In der Mitte des 16. Jahrhunderts kennt derSchwäbisch Haller Chronist Johann Herolt die Überlieferung (wie ich von deneltern bericht), vor dreihundert Jahren habe der Kaiser einen deutschen Vogtverordnet, der in Deutschland von Reichsstadt zu Reichsstadt gezogen sei undwo ime ein raubschlosz angezeigt unnd kundtbar gemacht, so hatt er mit hilffder nechsten reichstett dasselbig schlosz zerprochenm. Über die Zerstörungder Burg Klingenfels 1381 erzählte man sich damals in Hall (die alten sagen),sie sei durch eine List gewonnen worden89. Der spätmittelalterliche Konfliktzwischen dem Adel und den Städten ist, vermittelt durch schriftliche odermündliche Tradition, zum Erzählgut geworden, das sowohl Deutungen fürzerstörte Schlösser in der Umgebung der Stadt zu liefern als auch bei Bedarfdas Mißtrauen gegenüber dem Adel wachzuhalten vermochte.

84 Für die Raubrittersagen der Grimmschen Deutschen Sagen konnte U t he r (wie Anm. 72) Vor-lagen des 17. und 18. Jahrhunderts ermitteln. Ich greife die älteste Quelle heraus: Mylius 1621 zu Nr.507 „Schreckenwalds Rosengarten". Vgl. dazu die instruktive Zusammenstellung in dem Katalog:Die Kuenringer (Wien 1981), S. 370-374. Nicht berücksichtigt wird dort, daß Benedikte Naubert inihrem Roman „Brunhilde" (1790) nach Anregung von Fugger-Birken 1668 die Tochter eines hinge-richteten Raubritters Küenring auftreten läßt, vgl. Kurt Schreinert, Benedikte Naubert (Berlin1941), S. 82 f.

85 Vgl. zu diesem „Tempuswechsel" allgemein vorläufig meine Bemerkungen in: Arbitrium 1991,S. 41-45, bes. S. 43 f. Ein weiteres Beispiel für die Verwandlung von Progagandaerzählungen in Tra-ditionsgut sind die weitverbreiteten Geschichten über die Templer, vgl. etwa Zender (wie Anm.79), S. 405, 416 und schon die Reformatio Sigismundi, Reformation Kaiser Siegmunds, hg. vonHeinrich Koller (=MGH Staatsschriften des späteren Mittelalters 6, Stuttgart 1964), S. 176, 178.

86 David Wolleber weiß um 1590, das Schloß Remseck sei einst ein Raubschloß gewesen, Wil-helm Glässner, Waiblingen in Chroniken des 16. Jahrhunderts (Waiblingen 1978), S. 32.

87 Hermann Rambach, Vom Wahrheitsgehalt Elztäler Volkssagen (Waldkirch 1983), S. 25.88 Johann Herolt, Chronica, hg. von Christian Kolb, Württ. Geschichtsquellen Bd. l (Stuttgart

1894), S. 89.89 Ebd., S. 89.

142 Klaus Graf

Besondere Schlagkraft erhielten die Raubschloß-Traditionen durch dieVerbindung mit dem aufklärerischen Schlagwort vom „Faustrecht"90, das dieadlige Fehdeführung als Epochenkennzeichen des finsteren und barbarischenMittelalters betrachtete. Die entsprechenden Vorstellungen können als Ge-meingut der historisch Gebildeten im 18. und frühen 19. Jahrhundert betrach-tet werden. Einer der „klassischen" Texte war das Kapitel über das Faustrechtin der vielgelesenen „Geschichte der Deutschen" von Michael Ignaz Schmidt(Buch 6, Kapitel 16)91. Burgen galten ihm generell als „alte Plage Deutsch-landes"92. 1790 verband der württembergische Albreisende und Theologie-student Köhler mit den Burgruinen, die er sah, vor allem die „altenallgemeinlichen Fehde- und Raubzeiten". Auf den Burgen Gerhausen undRuck lauerten für ihn einst „räuberische Wollüstlinge aus ihren Löchern aufRaub"93. Noch im frühen 19. Jahrhundert sah man die „Trümmer der altenRaubschlösser" mit ,,gemischte[n] Gefühlen"94.

Den barbarischen Sitten des adligen Faustrechts hielten bürgerliche Auto-ren gern die zivilisatorischen Errungenschaften der Städte, der „stehende [n]Heerlager der Kultur" (Herder)95 entgegen. Die oben zitierten Ausführungenüber Goslar können als gängige Ansicht der fortschriftlich gesinnten Autorengelten. In einem Aufsatz in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek 1792 liestman: Die Geschichte des Adels und der Fürsten im Mittelalter sei „nur eintrauriges Gemälde der Verwilderung, der steigenden Barbarei, der Zügello-sigkeit, des Trotzes auf körperliche Stärke und den Gebrauch der Waffen, derGewalttätigkeit gegen die Schwächeren, der Verachtung aller Ordnung. DieGeschichte der Städte dagegen ist das angenehmere und lehrreichere Gemäl-de des immer emporstrebenden Fleißes, der ihre Rechte stark fühlenden undmit kaltem Mute verfechtenden Menschheit, und der vernünftigen Ordnungs-liebe, welche die Notwendigkeit billiger und weiser Gesetze erkennt und sichihnen freiwillig unterwirft"96. Ein Jahr zuvor hatte Carl Meiners formuliert:„Wenn wahrer Adel in angebohrnen vorzüglichen Gaben des Körpers und

90 Wenig hilfreich: E. Kaufmann, Faustrecht, in: HRG (wie Anm. 48) Bd. l (1971), Sp. 1079 f.91 Bd. 7 (Mannheim und Frankenthal 1783), S. 144 ff.92 Bd. 8 (1784), S. 84.93 Köhler (wie Anm. 4), S. 89, 158 f.; vgl. auch ebd., S. 110.94 Johann Christoph von Aretin 1803, Wie lange dauern Werke?, hg. von Manfred F. Fischer

(München 1990), S. 18,; vgl. Reinhard Zimmermann, Künsüiche Ruinen (Wiesbaden 1989),S.201 ff.

95 Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784), in: Johann Gottfried Herder,Werke Bd. 6 (Frankfurt a.M. 1989), S. 891; vgl. Klaus Schreiner, Die Stadt des Mittelalters alsFaktor bürgerlicher Identitätsbildung, in: Stadt im Wandel Bd. 4 (Stuttgart-Bad Cannstadt 1985),S. 517-541, hier S. 518.

96 Johanna Schultze,Die Auseinandersetzung zwischen Adel und Bürgertum in den deutschenZeitschriften der letzten drei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts (1773-1806) (Berlin 1925), S. 159.

Feindbild und Vorbild 143

Geistes, und besonders in vorzüglichen Tugenden, oder Anlagen zu Tugendenbesteht; so kann man nicht läugnen, daß im 14. und 15. Jahrhundert wahrerAdel sich viel mehr unter den Bürgern der Städte, als unter den so genanntenedlen und erlauchten Geschlechtern befand. Die Bewohner erwarben ihreReichthümer nicht durch Raub und Unterdrückung, sondern durch Kunstfleißund Handel; und fast alle schöne und nützliche Künste und Gewerbe sind vom13. Jahrhundert in den Städten erfunden und vervollkommnet worden"97.

Neben dieser aufklärerischen Grundtendenz etablierte sich im dritten Vier-tel des 18. Jahrhunderts jedoch eine konservative Gegenströmung, die dasmittelalterliche Rittertum eher positiv bewertete. Hier ist nicht nur Goethes„Götz von Berlichingen" und die literarische Bewegung des „Sturm undDrang" mit ihrer Vorliebe für kraftvolle Gestalten zu nennen, die auch dieMode der Ritterromane nachhaltig beeinflußte98, sondern auch Justus MösersRehabilitierung des Faustrechts, mit der dieser seine Zeitgenossen vor denKopf stieß. Möser wollte den feigen Geschichtsschreibern hinter Klostermau-ern und den bequemen Gelehrten in Schlafmützen seiner eigenen Zeit bei ih-rer Verdammung des Faustrechts nicht länger folgen. Das Faustrecht war fürihn „ein Kunstwerk des höchsten Stils"99.

Die positive Sicht des mittelalterlichen Adels ist im engen Zusammenhangmit der konservativen Verteidigung des Adels gegen die aufklärerische Kritikzu sehen100. Auch „bürgerliche" Autoren der „hohen" Literatur waren vonden niederadligen Rebellen der Reformationszeit, von Götz von Berlichin-gen, Sickingen und Hütten fasziniert. Eine moderne Interpretation der litera-rischen Texte, die sich in der Zeit des „Sturm und Drang" mit derAuf Standsbewegung im 16. Jahrhundert beschäftigten, vertritt die These, daßder ritterliche Patriotismus dieser Adligen dem Bürgertum eher Identifikati-onsmodelle angeboten habe als das normensprengende Treiben der Bauern im

97 Göttingisches Historisches Magazin von C. Meiners und L. T. Spittler Bd. 8 (Hannover1791), S. 664 f.; zu Meiners Position vgl. auch Schreiner (wie Anm. 95), S. 517 f.

98 In Karl Friedrich Reinhardts Gedicht „Schloß Beiren" über ein „Raubschloß" zwischen Rosen-feld und Sulz (aus dem Schwäbischen Musenalmanach 1784, wieder abgedruckt in: Lyriker und Epi-ker der klassischen Periode, hg. von Max Mendheim [Stuttgart o. L], S. 410-412) heißt es in V. 37„Hier atmet deutscher Heldengeist". Zur Einschätzung des Ritterwesens in Historiographie und Li-teratur des 18. Jh. vgl. den Überblick von Schreinert (wie Anm. 84), S. 9-27; vgl. auchPante-nius (wie Anm. 83). Allzu knapp: Arno Borst, Einleitung, in: Das Rittertum im Mittelalter (Darm-stadt 1976), S. 1-16, hier S.6 f. Zur Konzeption von Musaeus vgl. Grät z (wie Anm. 80), S. 193 f.

99 Patriotische Phantasien I, 54 (1774), Justus Mösers Sämtliche Werke Bd. 4 (Osnabrück1943), S. 263-268; Ders., Patriotische Phantasien (Leipzig 1986), S. 86-90, hier S. 86. Vgl. auchKlaus Epstein, Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland (Frankfurt a.M./Berlin/Wien1973), S. 367 f.

100 Zu ihr vgl. ausführlich Epstein (wie Anm. 99), S. 221-234; Hans-Wolfgang Jäger, ZurVerteidigung des Adels im deutschen Frühkonservatismus (l 790-1800), in: Legitimationskrisen desdeutschen Adels 1200-1900, hg. von Peter Uwe Hohendahl/Paul Michael Lützeler (Stuttgart1979), S. 177-196.

144 Klaus Graf

Bauernkrieg101. In der Polemik eines adligen Jakobinerfeinds gegen dieMainzer Republik 1795 liefert die Erinnerung an Hütten und Sickingen Argu-mente für einen Reichspatriotismus102. Mitunter führen sogar Traditionslini-en von den populären historischen Mittelalter-Romanen zu den von Ritter-Nostalgie durchtränkten Werken der Romantiker. Beispielsweise hat Bene-dikte Naubert, die Autorin zahlreicher historischer Romane, einen der bedeu-tendsten Romantiker, Achim von Arnim, erheblich beeinflußt103.

Kritik an der romantischen Verklärung der Ritterherrlichkeit blieb nichtaus. In seiner Satire über die romantische Schule von 1835 macht sich Hein-rich Heine, ein notorischer Adelsfeind, über die Diskrepanz zwischen bürger-lichen und adlig-romantischen Werten lustig. „Es ist jetzt", bemerkt Heineüber Ludwig Tieck, „ein sonderbares Mißverhältnis eingetreten zwischendem Verstande und der Phantasie dieses Schriftstellers. Jener, der TieckscheVerstand ist ein honetter, nüchterner Spießbürger, der dem Nützlichkeitssy-stem huldigt und nichts von Schwärmerey wissen will; jene aber, die Tieck-sche Phantasie, ist noch immer das ritterliche Frauenbild mit den wehendenFedern auf dem Barett, mit dem Falken auf der Faust. Diese beiden führeneine kuriose Ehe, und es ist manchmal betrübsam zu schauen, wie das hoch-adlige Weib dem trockenen bürgerlichen Gatten in seiner Wirthschaft, odergar seinem Käseladen behüflich seyn soll. Manchmal aber, des Nachts, wennder Herr Gemahl, mit seiner baumwollnen Mütze über dem Kopfe, ruhigschnarchte, erhebt die edle Dame sich von dem ehelichen Zwangslager, undbesteigt ihr weißes Roß, und jagt wieder lustig, wie sonst, im romantischenZauberwald"104.

101 Klaus Siblewski, Ritterlicher Patriotismus und romantischer Nationalismus in der deut-schen Literatur 1770-1830 (München 1981). Zur Frage des Adelsbilds in der Literatur des 18./19. Jh.sei nur auf die Beiträge des Sammelbands Legitimationskrisen (wie Anm. 100) sowie auf LudwigFertig, Der Adel im deutschen Roman des 18. und 19. Jahrhunderts (Diss. Heidelberg 1965) ver-wiesen.

102 Ernst August Anton von Göchhausen, vgl. Uwe Hentschel, Reiseliteratur im Umfeldder Mainzer Republik 1792/93, in: Rhein. Vierteljahrsbll. 56 (1992), S. 229-259, hier S. 257.

103 Schreinert (wie Anm. 84), S. 100.- Zum Heidelberger Kreis um Arnim und Brentano ge-hörte auch die Beiträgerin zum „Wunderhorn", Auguste Pattberg zu Neckarelz, die in Schreibers„Badischer Wochenschrift" 1807 mehrere „Volkssagen" veröffentlichte, vgl. Reinhold Ste ig, FrauAugust von Pattberg geb. von Kettner, in: Neue Heidelberger Jahrbücher 6 (1896), S. 62-122. Die„Volkssagen" sind deutlich von den in den Ritterromanen popularisierten Vorstellungen inspiriert.In einer Beschreibung des Neckartals ist von Burgverliesen „aus den schauerlichsten Zeiten derVehmgerichte" (ebd., S. 101) die Rede. Burggefängnisse, diese überaus beliebten Requisiten derRitterromane, spielen auch in Pattbergs stark literarisch geformten „Sagen" (ebd., S. 100 ff.) eineprominente Rolle.

104 Heinrich Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe Bd. 8/1, bearb. von Manfred Windfuh r(Hamburg 1979), S. 182. Heines Stellungnahme zur Adelsdiskussion: ebd. Bd. 11, bearb. von Hel-mut Koopmann (Hamburg 1978), S. 134-145, vgl. S. 739 f.

Feindbild und Vorbild

III.

145

Daß die historischen Spukgestalten des Städtefeinds und des niederadligenRaubritters hier so ausführlich vorgestellt wurden, darf nicht zu dem Schlußverleiten, daß der Adel in den Städten ausschließlich negativ beurteilt wordensei. Die Existenz negativer Stereotypen war durchaus vereinbar mit einer po-sitiven Sicht von Adligen sowie des Wertes „Adel".

Es liegt nahe, grundsätzliche städtische Stellungnahmen zum Adel in lite-rarischen Äußerungen von Stadtbürgern zu suchen. Dieser Weg erweist sichjedoch als problematisch, da sich bei der Frage nach dem Adelsbild in derstädtischen Literatur das Problem stellt, welche literarischen Texte als „städ-tisch" angesprochen werden können. Die neuere literaturwissenschaftlicheForschung hat ja in den letzten Jahren das Klischee von der „bürgerlichen Li-teratur" des Spätmittelalters mit Erfolg verabschiedet105. Welche Schwierig-keiten die Identifizierung sogar eines Stadtschreibers mit einem Sprachrohr„bürgerlicher" Ideologie mit sich bringen kann, mag das Beispiel des Johan-nes Rothe aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts demonstrieren. Rothe warlange Jahre Stadtschreiber der thüringischen Stadt Eisenach und hat für Ei-senach auch ein Stadtrechtsbuch zusammengestellt. Darüberhinaus hat er mitzwei Ratsgedichten, die der Reflexion über die Stadtgesellschaft dienen, auchgenuin städtische Literatur verfaßt. Trotzdem zeigt sich in Rothes Thüringi-scher Weltchronik „an einigen Stellen eine deutliche Animosität"106 gegen-über den Städten. Der Adel wird dagegen grundsätzlich positiv bewertet,adlige Räuberei ist stets nur individuelle Abweichung von der Norm. Rothetadelt die Erfurter, weil sie einen adligen Räuber hinrichten lassen, obwohl sienicht in ordnungsgemäßer Fehde mit ihm stehen. Sobald die Städte mit demGefüge der höfisch, ritterlich und adlig bestimmten Weltordnung in Konfliktgeraten, werden sie von Rothe kritisiert. Hinzu kommt eine ausgesprocheneAbneigung gegen das gemeine Volk, das stets zum Schlechten neige.

Der oben skizzierten Sicht des Adels als Bedrohung der Städte, die hier vorallem mit reichsstädtischen Beispielen belegt wurde, war demnach eine prin-zipiell positive Einschätzung komplementär, die zwar vor allem in den lan-desherrlichen Städten verbreitet gewesen sein dürfte, aber auch in denReichsstädten nicht ausgeschlossen war107. Unter dieser Perspektive standensich Adel und Städte nicht als Feinde gegenüber, sondern als mehr oder min-

105 Vgl. Ursula Peters, Literatur in der Stadt (Tübingen 1983).106 Volker Honemann, Johannes Rothe und seine Thüringische 'Weltchronik', in: Geschichts-

schreibung (wie Anm. 34), S. 497- 522, hier S. 516. Meine Interpretation stützt sich auf die Ausfüh-rungen Hon e mann s ebd., S. 515 f. Zu Rothe vgl. zusammenfassend Ders., in: Die deutsche Lite-ratur des Mittelalters. Verfasserlexikon 2. Aufl. Bd. 8 (Berlin/New York 1992), Sp. 277-285. AuchPeters (wie Anm. 105), S. 247 bezweifelt hinsichtlich des „Ritterspiegels", daß Rothes Ritterlehre„von einer spezifisch städtischen Sicht des ehemaligen Stadtschreibers geprägt ist".

107 Auf Adelslob in der reichsstädtischen Chronistik macht Schnith (wie Anm. 15), S. 476 f.aufmerksam.

146 Klaus Graf

der gleichberechtigte Partner in Gesellschaftsordnung. Der Grundwert„Adel" konnte daher auch auf bürgerliche oder städtische Lebensformen An-wendung finden. In der aus städtischer Sicht formulierten, in Basel 1439 ent-standenen Reformschrift „Reformatio Sigismundi" heißt es denn auch: Oedels reich! von deinem adel so sein alle reichstet geadeltm. An anderer Stel-le macht der anonyme Verfasser den Adel von edlen Werken abhängig, recht-fertigt die kaiserliche Noblitierungspraxis und fordert einen Adel aufWiderruf: Es stet auch in eins keysers oder konigs freyheytt, das er mag einenedeln umb adeliche werck, als einer ist, der dem rechten zu helt und der hey-ligen kirchen zu trit, wo es not thüt, oder zu dem reich; dye seint alles adelswirdig, wan adeliche werck, die recht seint, machent adeln. Es ist aber gros-ser gebrest yetzundt am adel; das sye schirmen sollen, das nemen sye; syemessen kyrchen gut wider got [...] dannoch haben sy billich yr adelsschaftverloren und heissen nit edel, wan es ist nit adellich gethanm.

Es muß zur gleichen Zeit andere Stimmen gegeben haben, die behaupteten,aller Adel habe seinen Ursprung in den Städten und deren Bürgern. Gegeneine solche Auffassung wandte sich der Basler Reformtheologe JohannesNider in seinem Adelstraktat110. Eine verwandte Position vertrat der UlmerDominikaner Felix Fabri in seiner Abhandlung über die Stadt Ulm am Endedes 15. Jahrhunderts. Fabri zählte Ulm zu den adligen Orten des Reiches, dievom Kaiser geadelt worden seien und deren Einwohner daher ebenfalls adligseien111.

Heinrich Schmidt hat gezeigt, wie im 17. Jahrhundert Reichsstädte undnorddeutsche Bischofsstädte mit ihrem alten „Adel" argumentierten, um sichgegen Versuche der höheren Stände, die städtischen Rechte zu beschneiden,zur Wehr zu setzen. Der Adel der Stadt erwuchs in ihrer Sicht vornehmlichaus den „Freiheiten", den Privilegien der Stadt. Insoweit kann man Kaiser undReich als Grund der städtischen Adelsqualität benennen. Als Träger diesesAdelsbewußtseins macht Schmidt die städtische Führungsschicht aus: „DasStandesbewußtsein des Patriziers suchte sich mit dem beanspruchten Adelseiner Stadt zu identifizieren"112.

108 Reformation (wie Anm. 85), S. 240, 242.109 Ebd., S. 252. Zur vergleichbaren Adelskonzeption des Oberrheinischen Anonymus (14907

1510) vgl. jüngst Klaus H. Lauterbach, Der „Oberrheinische Revolutionär" und Mathias Wurmvon Geudertheim, in: DA 45 (1989), S. 109-168, hier S. 122 ff.

110 Klaus Schreiner, Sozial- und standesgeschichtliche Untersuchungen zu den Benediktiner-konventen im östlichen Schwarzwald (Stuttgart 1964), S. 99.

1 ' ' Felix Fabri, Tractus de civitate Ulmensi, hg. von Gustav Veesenmeyer (Stuttgart 1889), S. 67:Tantae enim aestimationis est oppidum ulmense et fuit hucusque apud imperatores, ut inter nobilesimperii villas computaretur et incolae eius ex eo quodam modo nobilitarentur. Fabri spielt hier aufdie Quaternionentheorie an: Ulm war eines der vier „Dörfer" des Reichs.

112 Heinrich Schmidt, Zur politischen Vorstellungswelt deutscher Städte im 17. Jahrhundert, in:Festschrift für Karl Gottfried Hugelmann, hg. von Wilhelm Wegener (Aalen 1959), S. 501-521, hierS. 513.

Feindbild und Vorbild 147

Felix Fabris vorhin zitierte Meinung über den Adel Ulms steht im Kontexteiner sehr ausführlichen gelehrten Abhandlung über den städtischen Adel. Fa-bri unterscheidet den größeren Adel (maiores), der auf dem Land lebt, vomstadtsässigen kleineren Adel (minores)m. Seine Verteidigung der Adelsqua-lität des Stadtadels schlägt ein Thema an, das sich in Abhandlungen über denAdel bis zur Gegenwart durchzieht. Noch eine Mainzer juristische Dissertati-on von 1952 beteuert, daß der Stadtadel staatsrechtlich zum deutschen Adels-stand zu zählen sei114. Die apologetische Haltung der Autoren, die sichgenötigt sahen, den Adel der sich adelsgleich abschließenden Patriziate in denStädten zu betonen, reagiert auf die Abschottungstendenzen des Landadels,die im frühen 15. Jahrhundert spürbarer wurden. Die Adelsqualität des Patri-ziats war alles andere als unumstritten, obwohl es überzeugende Gründe füreine Ausgrenzung nicht gab. Die münstersche Ritterschaft, die sich gegen dieAnsprüche des stadtmünsterschen Patriziats, der Erbmänner, auf Ebenbürtig-keit zur Wehr setzte, verlieh 1597 ihrer Aversion gegen den Gelderwerbdurch Handel Ausdruck, indem sie behauptete, es bestehe ein großer Unter-schied zwischen adlichen Personen und Patrizier-Geschlechtern, obgleichauch diese in adlichen Kleidern einhergingen, und Stand und Wesen sich an-maßten. Jeder reiche Kaufmann, der blos durch sein Gewerbe zu Reichthumgekommen, benähme sich jetzt in dieser ungehorsamen, aufgeblasenen Weltganz unverschämt"5.

Ich greife aus der Literatur der frühen Neuzeit das Werk des bürgerlichenKemptener Syndicus Michael Praun heraus, der 1667 folgendes Werk veröf-fentlichte: Ausführliche Beschreibung der Herrlichkeit, Ehr, Stand, Würden,auch Alterthum der Adelichen und Erbaren Geschlechtern in den Vornehm-sten Freyen Reichs Städten116. Praun sah voraus, daß sein Lob des Stadtadelsvon zwei Gruppen kritisiert werden würde: von einigen allzu leidenschaftli-chen Landadligen und von den Bürgern, die einem Geschlechterregiment un-terworfen waren. Auch in seinem umfangreichen Buch über den europäischenAdel, in Speyer 1685 unter dem Titel Das Adeliche Europa und Das noch vielEdlere Teutschland erschienen, betonte Praun, der Stadtadel sei wie derLandadel auff ritterliche Thaten, und auff Kunst und Weißheit außgestellt"1.Ebenso verteidigte der Ulmer Ratskonsulent und Geschichtsschreiber der

113 Fabri (wie Anm. 111), S. 59-76, die Unterscheidung S. 61.114 Rudolf Hiesei, Die staatsrechtliche und soziologische Stellung des Stadtadels (Diss. masch.

Mainz 1952), S. 14. Eine Verteidigungsschrift war nach eigenem Eingeständnis auch K. H. Frh.Roth von Schreckenstein, Das Patriziat in den deutschen Städten (Tübingen 1856), vgl. ebd.,S. VIII.

115 Heinz Reif, Westfälischer Adel 1770-1860 (Göttingen 1979), S. 45.116 Ulm und Kempten 1667. Exemplar: LB Speyer. Zu Praun vgl. jetzt Andreas He r z, Zwischen

Fruchtbringener Gesellschaft und Reichspublizistik. Michael Praun d. J. (1632-1695), in: Wolfen-bütteler Barock-Nachrichten 18 (1991), S. 115-140.

117 Michael P r a u n , Das Adeliche Europa ... (Speyer 1685), S. 735.

148 Klaus Graf

schwäbischen Reichsritterschaft Johann Stephan Burgermeister, Abkömm-ling der als adlig betrachteten Familie Burgermeister von Deizisau, in seinem1709 erschienenen Buch über den Reichsadel mit historischen Argumentenden Adel der Patrizier118. Daß ein städtischer Jurist das Lob des Adels sang,war übrigens kein Einzelfall. So beteuerte der Eßlinger Jurist Johann KonradKreidenmann aus einer Lindauer Patrizierfamilie 1646 in seinem Tractat vonder Reichs Ritterschaft seine getreue Affection zu dem Adel119.

Auch in den Städten, die in der frühen Neuzeit nur noch wenige oder keinestadtadligen Geschlechter mehr besaßen, waren die Chronisten darauf be-dacht, über den Ruhm der einst ansässigen adligen Familien das gegenwärtigeAnsehen der Stadt zu mehren. In gewisser Weise wurde dabei das, wieHuizinga formuliert, „geträumte Glück einer schöneren Vergangenheit"120

beschworen. Beispielsweise entwarf man in der Schwäbisch Gmünder Chro-nistik des 16. Jahrhunderts das Bild einer glanzvollen Vergangenheit in derStauferzeit, als zahlreiche Adelsfamilien ansässig waren, die Staufer hier Hofhielten und prächtige Turniere veranstalteten121. Bereits am Ende des 15.Jahrhunderts ist die Überlieferung feststellbar, daß die zwölf Ratsmitgliederan den Turnieren teilgenommen hätten - eine unverkennbare Spitze gegen diezur gleichen Zeit unternommenen Bestrebungen des sogenannten Turnier-adels, den stadtsässigen Adel nicht als turnierfähig zu betrachten122.

Nicht zuletzt die ausgestorbenen oder weggezogenen edel, erbar, furnemleut und eerlichen dapferen mannen gutts geschlechts173, mit denen manBurgruinen rund um Gmünd in Verbindung bringen wollte, bürgten für Diserstatt adel unnd herrlich herkommen12^, wie eine Chronik formuliert. Ähnlichdrückte sich der Nördlinger Stadtschreiber Wolfgang Vogelmann in der Mittedes 16. Jahrhunderts aus: Nördlingen sei vor jaren neben ändern stetten inmehret achtung und ansehen gewesen, von wegen ihrer dapffern alten ge-schlechtns.

Die Attraktivität adliger Lebensform dominierte das Geschichtsbild vonden Anfängen Gmünds, wie es in der Historiographie, aber auch verbreiteten

118 Johann Stephan Burgerme i s te r, Status equestris ... (Ulm 1709). Zur adligen Herkunft sei-ner Familie vgl. ebd., S. 328 ff.

119 Otto Borst, Geschichte der Stadt Esslingen am Neckar (Esslingen 1977), S. 333.120 Huizinga (wie Anm. 8), S. 45.121 Vgl. dazu ausführlich Graf, Chroniken (wie Anm. 17), S. 103-122. Zu der hier gegebenen

Interpretation vgl. ebd., S. 72, 112 f.122 In der Beschreibung Oberdeutschlands von Ladislaus Sunthaim, Landesbibliothek Stuttgart

Cod. hist. fol. 250, f. 35v; Graf, Chroniken (wie Anm. 17), S. 29.123 Paul Goldstainer, Gmünder Chronik (1549/50), Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

124.4 Quodl. 4°, f. 2v; ediert bei Graf , Chroniken (wie Anm. 17), S. 239.124 Kurzfassung der Chronik Goldstainers nach 1550, ÜB München 4° Cod. Ms. 287, f. 121 (Ab-

schrift 17. Jh.); ediert bei Graf, Chroniken (wie Anm. 17), S. 244.125 Sebastian Münster, Cosmography (Basel 1558), S. 701.

Feindbild und Vorbild 149

geschichtlichen Überlieferungen zum Ausdruck kam: Adlige Jagdlust ließGmünd entstehen, das zuerst ein Jagdhof gewesen sein soll; die Stauferherr-scher verliehen der Stadt die adlige freie Pirsch und ein adliges Wappen;fürstliche Hofhaltung und adlige Turniere ließen die Stadt groß werden126. Im17. Jahrhundert forschte der Gmünder Chronist Friedrich Vogt, der zugleichSteinmetz war, genau den einstigen Adelssitzen in der Stadt nach - mit seinerWeisung etlicher antiquitetischer Gebauen kann er als Vorläufer der moder-nen Stadtkernforschung gelten127.

In gleicher Weise wurde in Schwäbisch Hall, das im Mittelalter eine Stadtdes Adels genannt werden darf, der einstige Adel im 16. Jahrhundert zumThema historiographischer Reflexionen. Die besondere Einbindung Halls indie mittelalterliche Adelswelt spiegelt sich in der geschichtlichen Überliefe-rung, Hall sei aus sieben Burgen hervorgegangen. Johann Herolt liefert in sei-ner Haller „Chronica" nicht nur eine ausführliche Liste der bestehenden undabgegangenen Schlösser in der Umgebung der Stadt128, sondern äußert sichauch grundsätzlich über die Geschichte des deutschen Adels. Seine Positionzur Adelsfrage ist an sich wenig aufsehenerregend - lügend die pringt adel[...] Wer gut unnd recht edel sein will, hilfft nit, das er von edlen stammen ge-porn ist, doch mag erwähnt werden, daß die Adelskritik in eine Kritik amstädtischen Geldadel mündet, der sich kaiserliche Wappenbriefe kauft: Meinsbedunckhens hat Hall ein sonndere influentz zum adel, dann ein ieder gernwappen hett, unnd edel oder gnadjunckher were, so er nur vil einkommens inseinem registerfünde. Das best wappen meines bedunckhens itzt zur zeit [...]were, wan der kaysser einem drey oder vier dörffer im schult, die vil gült er-trügen, zum eigenthumb gebe und vil gutter zehendt uff dem heim™.

126 Vgl. Graf, Chroniken (wie Anm. 17), S. 113.127 Friedrich Vogt, Chronik (1674), Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd Ch 2 (Abschrift 18. Jh.),

S. 463-468a; vgl. Klaus Graf, Die Geschichtsschreibung der Reichsstadt Schwäbisch Gmünd im17. und 18. Jahrhundert, in: Barock in Schwäbisch Gmünd. Aufsätze zur Geschichte einer Reichs-stadt im 18. Jahrhundert (Schwäbisch Gmünd 1981), S. 193-242, hier S. 209, 233. Vogt gibt S. 465-468a auch eine Beschreibung von etwa 60 Burgen und Burgställen rund um Gmünd.

128 Herolt (wie Anm. 88), S. 65-87. - Eine Zusammenstellung von solchen Burgenlisten bzw.Schriften über Burgen vor 1800 ist mir nicht bekannt. Gottschalck Bd. l (wie Anm. 73) verweist inseiner Einleitung auf Johann Gottfried Gregorius, Bescheibung Einiger ... Bergschlösser (2. Aufl.1721). Ein baugeschichtliches Werk über Burgen und Schlösser Schwabens von dem Biberacher Pa-trizier Johann Ernst von Pflummern „Metarmophosin Arcium et Castrorum Sueviae" (1619) nenntOtto Borst, Biberach, in: Geschichte der Stadt Biberach, hg. von Dieter Stievermann (Stuttgart1991), S. 65-169, hier S. 90. 1521/23 erfaßte Hieronymus Gebweiler elsässische Städte und Schlös-ser in einer kurzen Liste, vgl. Christian Wilsdorf, Les plus anciennes listes des villes et deschäteaux forts alsaciens, in: Melanges offerts ä Robert Will (Strasbourg 1989), S. 291-300.

129 Herolt, ebd., S. 61.

150 Klaus Graf

IV

Es ist an der Zeit, kurz auf ein aus der Antike tradiertes Konzept einzuge-hen, das wie kein anderes die Diskussion über den Adel130 seit dem Frühmit-telalter131 bestimmt hat: auf die Auffassung, daß allein die Tugend adle. Im13. Jahrhundert erklärte der mittelhochdeutsche Spruchdichter Freidank: WerTugend besitzt, der ist vornehm. Ohne Tugend ist Adel nichts wert. Ob eigenoder frei, wer nicht adliger Abkunft ist, der kann durch Tugend Adel erwer-ben132. In gleicher Weise setzten die spätmittelalterlichen Didaktiker in derVolkssprache den Tugendadel als Leistungsadel über den reinen Geburts-adel133. Aus theologischer Sicht haben zahlreiche geistliche Autoren seit demFrühmittelalter den fleischlichen Adel im Gegensatz zum Adel der Seele ge-tadelt134. Mit besonderem Eifer haben sich die Humanisten des Themas ange-nommen und - durchaus gebetsmühlenhaft - betont, daß Nobilität Sachegeistiger Bildung und persönlichen Verdienstes sei135. Auch in der frühenNeuzeit dominierte die Tugendadellehre die Erörterungen des Adelsthemas.Ein beliebiges Beispiel: Für den bereits zitierten Michael Praun ist der wahre

130 Vgl. zusammenfassend Werner Conze, Adel, Aristokratie, in: Geschichtliche GrundbegriffeBd. l (Stuttgart 1972), S. 1-48; Otto Gerhard Oexle, Aspekte der Geschichte des Adels im Mittel-alter und in der Frühen Neuzeit, in: Europäischer Adel 1750-1950, hg. von Hans-Ulrich Wehler(Göttingen 1990), S. 19-56, bes. den Abschnitt „Adelslegitimation und Adelskritik" S. 48 ff. Diewichtige unveröffentlichte Tübinger Habilitationsschrift von Klaus Schreiner, De nobilitate. Be-griff, Ethos und Selbstverständnis des Adels im Spiegel spätmittelalterlicher Adelstraktate (1970)lag mir nicht vor; vgl. vorerst Ders. (wie Anm. 110), S. 92 ff.; De r s., Zur biblischen Legitimationdes Adels, in: Zs. für Kirchengeschichte 85 (1974), S. 317-357. Weitere Literatur bei Graus (wieAnm. 7), S. 112 f.; Volker Honemann, Aspekte des 'Tugendadels' im europäischen Spätmittelal-ter, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit (Stuttgart 1984),S. 274-286; Volker Henn, „quod inter dominos et subiectos esse debet mutua dilectio". Zu denStändetraktaten des Kölner Kartäusers Werner Rolevinck, in: Die Kölner Kartause. Aufsatzband, hg.von Werner Schäfte (Köln 1991), S. 199-211.

131 Vgl. dazu die Belege bei Hans-Werner Goetz, „Nobilis", in: VSWG 70 (1983), S. 153-191,hier S. 183 ff.

132 Freidank 54, 6-11, zitiert nach der Übersetzung von Joachim Bumke, Höfische Kultur Bd. 2(München 1986), S. 422. Bumke kommentiert: „In der höfischen Gesellschaft hat man solche Äuße-rungen vermutlich als Ausdruck eines wirklichkeitsfremden Rigorismus empfunden. Jedermannwußte, daß der Adel keine soziale Konkurrenz durch die Tugendhaften zu befürchten brauchte."

133 Vgl. Hubert H off mann, Die geistigen Bindungen an Diesseits und Jenseits in der spätmit-telalterlichen Didaktik (Freiburg i.Br. 1969), S. 84 ff.

134 Vgl. die oben in Anm. 130 zitierten Studien.135 Vgl. z.B. Paul Oskar Kristeller, Die Stellung der Ethik im Denken der Renaissance, in:

QFIAB 59 (1979), S. 273-295, hier S. 285; Walther Ludwig, Römische Historie im deutschen Hu-manismus (Göttingen 1987), S. 65 (zu Bernhard Schöfferlin); Paul Gerhard Schmidt, Das Mittel-alterbild hessischer Humanisten, in: Humanismus und Historiographie, hg. von August Bück (Wein-heim 1991), S. 137-143, hier S. 139 zur Schrift des Eobanus Hessus „De vera nobilitate" (1515), zuder K. Krause, Eine neu aufgefundene Schrift des Eobanus Hessus, in: Centralbl. für Bibliotheks-wesen 11 (1894), S. 163-169 eine ausführliche Inhaltsangabe gibt.

Feindbild und Vorbild 151

Adel nichts anderes als die von der Obrigkeit erhöhte und belohnete Tu-gend136.

Die Tugendadellehre bildet noch den Traditionshintergrund der aufkläreri-schen Adelskritik, die im 18. Jahrhundert und verstärkt durch die Französi-sche Revolution nunmehr auch den Herrschaftsanspruch und die Privilegiendes Adelsstandes grundsätzlich in Frage stellte. 1799 waren im „BerlinischenArchiv der Zeit" die folgenden Sätze zu lesen: Mein Stolz ist zuvörderst der,ein Mensch zu sein und unveräußerliche Rechte der Menschheit zu besitzen.Weiter bin ich Bürger eines Staates, aus dem Sklaverei gesetzlich proskribiertist. Und endlich bin ich Bürger im Reich der Wissenschaften, wo nicht Ge-burt, sondern Talent, nicht Verdienste der Vorfahren, sondern allein eignerFleiß, eignes Nachdenken, eigne Anstrengung gilt]31. Der Autor spricht hiernicht als Stadtbürger, sondern als preußischer Staatsbürger. Allgemein gilt,daß Adelskritik, auch wenn sie von „Bürgerlichen" ausgesprochen wurde,nicht notwendigerweise etwas mit einer stadtbezogenen Haltung zu tun hat.Kleriker, Humanisten und aufgeklärte Intellektuelle formulierten ihre Kritikin Traditionszusammenhängen, die von städtischer Ideologie weitgehend freiwaren.

Doch nicht nur Adelskritik wurde von der Lehre, daß die Tugend adle,transportiert. Otto Brunner wollte die in der antiken Polis entwickelte Tu-gendlehre als konstantes, über alle zeitlichen und räumlichen Unterschiedebestehendes Ethos des Adels verstehen138. In den vielfach von Herolden ver-faßten Abhandlungen über das Rittertum (wenn man will: den „adligen"Adelstraktaten) wird der Zusammenhang zwischen Adel und Tugend keines-falls geleugnet139, und auch in der adligen Bildwelt waren der Neuzeit warenDarstellungen der Tugendlehre als ethische Legitimation adliger Herrschafts-befugnisse omnipräsent140. Neben einer allgemeinen „Legitimationsfunkti-on" lassen sich in bestimmten Kontexten speziellere Anwendungen desTugendadel-Konzepts ausmachen, etwa in der Kurpfalz an der Wende vomSpätmittelalter zur Neuzeit. Während die Humanisten am Hof Friedrichs desSiegreichen, dessen Regierung auf der umstrittenen „Arrogation" seines Nef-fen Philipps beruhte, der genealogisch-dynastischen Legitimität eine „Herr-

136 Praun, Das Adeliche Europa (wie Anm. 117), S. 16.137 Schulze (wie Anm. 96), S. 167. Zur aufklärerischen Adelskritik vgl. etwa Epstein (wie

Anm. 99), S. 215 ff. und die Beiträge in dem Sammelband Legitimationskrisen (wie Anm. 100).138 Otto Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist (1949), auszugsweise wieder unter

dem Titel: Die ritterlich- höfische Kultur, in: Das Rittertum (wie Anm. 98), S. 142-171, hier S. 147.139 Vgl. Maurice Ke en, Das Rittertum (Reinbek bei Hamburg 1991), S. 219 ff., 239 ff.140 Vgl. Ulrike Knall-Brskovsky, Ethos und Bildwelt des Adels, in: Adel im Wandel (Wien

1990), S. 481-489 in Fortführung des Brunnerschen Ansatzes (wie Anm. 138). Vgl. auch H. C. ErikMidelfort, Adliges Landleben und die Legitimationskrise des deutschen Adels im 16. Jahrhun-dert, in: Stände und Gesellschaft im alten Reich, hg. von Georg Schmidt (Wiesbaden 1989), S. 245-264.

152 Klaus Graf

schaft qua Tugend" gegenüberstellten141, wurden im Umkreis Philipps 1505Auffassungen über den Adel vertreten, die - im Gegensatz zu den geblüts-rechtlichen Anschauungen etwa des Kraichgauer Turnieradels - allen Adelauf die Fürsten zurückführte und in ihm vor allem die Belohnung von Ver-diensten am Hof sehen wollte142.

Zwei Konstanzer Beispiele mögen demonstrieren, daß die Tugendadel-lehre auch für die städtische Oberschicht und ihre Selbstdarstellung attraktivwar. Der Konstanzer Ritter und Bürger Konrad (III.) von Grünenberg, Urhe-ber eines bekannten Wappenbuchs, verband städtische Herkunft und dezidier-te Pflege adliger Repräsentationsformen. Grünenberg entstammt keiner ad-ligen oder patrizischen, sondern einer zünftischen Aufsteigerfamilie, und seineigener Rittertitel dürfte auf den Ritterschlag zurückgehen, den er in der Jeru-salemer Grabeskirche erhalten hat143. Grünenberg wundert sich in der (zu we-nig beachteten) Vorrede zu seinem Wappenbuch, daß es Edle und Unedlegibt, wo doch alle Menschen auf einen Stammvater zurückgehen und insofernBrüder und Schwestern sind. Die Lösung bringt das Sprichwort: Tugend adeltden Menschen. Adel, der kostlichest nam der eren, sei allein aus vernünftiggeübten Werken der Tugend entsprungen144. Da es ihm um das Gedächtnis antugendhafte adlige Werke und Stiftungen zu tun ist, enthält GrünenbergsWappenbuch auch zahlreiche Wappen ausgestorbener Adelsfamilien - es ord-net sich damit ein in die um Gedechtnus bemühte Erinnerungskultur jenerZeit. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts versuchte der Konstanzer PatrizierJakob Schulthaiß in seiner Familienchronik, den patrizischen Adel mit Hilfedes Begriffs der Virtus, die er mit Vives als Ehrfurcht vor Gott und den Men-schen bestimmt, vom ritterlichen Adel und dem Bürgertum abzusetzen145.

Als Gemeinplatz, gewissermaßen der „größte gemeinsame Nenner" für dieVielfalt des Phänomens Adels146, schlug das Tugendadel-Konzept eine Brük-ke zwischen der städtischen und der adligen Interpretation des Begriffs Adels,zwischen der Wertewelt des Adels und der der Stadtbürger. Die besondere At-

141 So die Interpretation von Jan-Dirk Müller, Der siegreiche Fürst im Entwurf der Gelehrten,in: Höfischer Humanismus, hg. von August Bück (Weinheim 1989), S. 17-50, hier S. 31 ff.

142 Vgl. dazu instruktiv A.G.Kolb, Die Kraichgauer Ritterschaft unter der Regierung des Kur-fürsten Philipp von der Pfalz (Diss. Freiburg i.Br., Stuttgart 1909, zugleich Württ. Vjhh NF 19,1910), S. 22-29 mit Abdruck eines Gutachtens über den rechten Adel und einer Skizze der humani-stischen Kritik des Geburtsadels im Dalberg-Umkreis.

143 Vgl. Peter F. Kramml, Kaiser Friedrich III. und die Reichsstadt Konstanz (1440-1493) (Sig-maringen 1985), S. 325-327.

144 Des Conrad Grünenberg Ritters und Burgers zu Costenz Wappenbuch, hg. von Rudolf Still-f r i e d - A l c a n t a r a / A d o l f Matthias Hildebrandt (Görlitz 1875), S. III-IV.

145 Eugen Hillenbrand, Die Chronik der Konstanzer Patrizierfamilie Schultheiß, in: Landes-geschichte und Geistesgeschichte (Stuttgart 1977), S. 341-360, hier S. 352.

146 So Honemann (wie Anm. 130), S. 283.

Feindbild und Vorbild 15 3

traktivität des Tugendadel-Konzepts lag überhaupt in der einfachen Antwortauf die Spannungen und Widersprüche eines auf Exklusivität und Erblichkeitbedachten Adels-Konzepts in einer komplexen gesellschaftlichen Realität.Daß die unterschiedlichsten Erscheinungsformen des Adels (Geburtsadel,Turnieradel, Stiftsadel, Stadtadel, Gelehrtenadel, Briefadel usw.), die ein un-übersichtliches Geflecht gesellschaftlicher Relikte und Innovationen darstell-ten, mit der Formel „Tugend adelt" verstanden werden konnten, entspringtjenem „Streben nach Allgemeinheit"147, das ein unabänderliches und über-zeitliches „Wesen" des Adels, das allen seinen Ausprägungen gemeinsamsein soll, erkennen möchte. Die Schwierigkeiten der modernen Forschung mitdem Begriff „Adel" sollten jedoch davor warnen, über die in der Regel wenig„originellen" mittelalterlichen und neuzeitlichen Versuche, den Adel zumThema einer gruppenübergreifenden Wertediskussion zu machen, vorschnellden Stab zu brechen148.

Hätten die Städte - und auch die bürgerlichen Gelehrten der frühen Neu-zeit149 - auf den Wert „Adel" nicht lieber ganz verzichten und ein konsequen-tes Gegenmodell150 bürgerlichen Selbstbewußtseins entwickeln sollen? Hätteman nicht viele Jahrhunderte deutscher Gesellschaftsentwicklung einsparenkönnen, wenn das Bürgertum rechtzeitig begriffen hätte, welche Rolle derWeltgeist ihm im 18. und 19. Jahrhundert zudenken sollte? Solche unhistori-schen Fragen liegen auf dem gleichen Niveau wie eine platte Imitations-The-se, die allzu einseitig auf die Dominanz adlig-höfischer Lebens- und Kultur-formen abhebt, die vom Bürgertum „nachgeahmt" worden seien. Einem Ge-schichtsverständnis, das Austauschvorgänge nur als „Absinken von Kultur-

147 So Ludwig Wittgenstein, Das Blaue Buch. Eine philosophische Betrachung (Das BrauneBuch), Werkausgabe Bd. 5 (Frankfurt a.M. 1984), S. 37 bei der ersten Erwähnung seines berühmtenBegriffs der „Familienähnlichkeit", der gut auf das Konzept Adel paßt.

148 Gefordert wird wiederholt, daß die Autoren mehr Gesellschaftskritik hätten üben sollen. Sowirft Henn (wie Anm. 130), S. 205 Rolevinck die bedingungslose Anerkennung der bestehendenOrdnung vor.

149 vgl. Kleinschmidt (wie Anm. 42), S. 275: „Die Proklamation eines Adels der Feder setztden gesellschaftlichen Maßstab eines originären Adels voraus, dessen Gestus und Stellung man fürsich beanspruchen konnte, ohne ihn faktisch einlösen zu dürfen, da das Defizit gegenüber der gesell-schaftlich etablierten Nobilität stets erhalten blieb. Das feudale Rollenbild des Gelehrtentums verän-derte die realen Macht- und Gesellschaftsverhältnisse nicht, sondern bestärkte sie ideologisch gera-dezu noch, indem man sich ihnen einzuordnen bemüht war". H e r z (wie Anm. 116), S. 126 findetPrauns Orientierung auf den Adel „anachronistisch".

150 Graus (wie Anm. 7), S. 112 Anm. 106 macht auf Heinrich Bebels Facetien III, 46, hg. vonGustav Bebermeyer (Leipzig 1931),S. 123 „De vera nobilitate" aufmerksam. Einem Fürsten, dersich seines trojanischen und römischen Blutes rühmt, erwidert ein Nürnberger Doctor, er sei vomBlut der Nürnberger. Deren Eigenschaften seien bekannt, was für die Trojaner nicht gelte. Vgl. auchGraus, Troja und trojanische Herkunftssage im Mittelalter, in: Kontinuität und Transformation derAntike im Mittelalter (Sigmaringen 1989), S. 25-43, hier S. 42. Wenn hier ein gemeinschaftsbezo-genes „Herkommen" gegen adligen Ahnenstolz ausgespielt wird, so ist die Repräsentativität diesesZeugnisses vorerst eher zurückhaltend zu beurteilen.

154 Klaus Graf

gut" oder Imitation beschreiben kann, muß auch die (hier ausgeklammerte)Nobilitierung Nichtadliger als „Sündenfall" erscheinen. In gleicher Weise lie-ße sich der „Adel des Doktors"151, den die Juristen seit dem 12. Jahrhundertbeanspruchten, leicht mit einem „Minderwertigkeitsgefühl" erklären und alsUsurpation vom „echten" Adel trennen. Weshalb sollten aber ausgerechnetdie Verkrustungen, die einen sich abschließenden, auf Exklusivität bedachtenerblichen Adel das Instrument der Ahnenprobe immer weitgehender ausge-stalten ließen, das Paradigma des Adels abgeben?152 Der Wertbegriff „Adel"stellte nicht deshalb einen Grundwert der ständischen Gesellschaft dar, weileine kleine Kaste die gesellschaftliche Wertewelt kontrollierte und hegemo-nial beherrschte, sondern weil die Exklusivität Grenzen besaß und der Wert„Adel" für die unterschiedlichsten Interpretationen offen war. In diesem Sinnlassen sich Werte als „Gemeineigentum" einer Gesellschaft verstehen.

Die vorstehenden Ausführungen haben das Verhältnis von Stadt und Adelaus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet und dabei besonderen Wert aufdie Kategorie „Verständigung" in Verbindung mit Traditionszusammenhän-gen gelegt. Das Wechselspiel von historischer Erfahrung und Stereotypenließ sich am Beispiel des politischen Konflikts zwischen Städten und Adel im15. Jahrhundert ebenso beobachten wie bei der Erörterung des „Raubritter-Problems". Die Erinnerung an diese paradigmatische Konfliktsituation Städteversus Raubritter war im 18. Jahrhundert Bestandteil der aufgeklärten Ver-ständigung über den Adel und seine Geschichte. Als Seitentrieb dieser Dis-kussion wurden die „Raubrittersagen" interpretiert. Daß Städte im Mittelalterund der frühen Neuzeit den Wert „Adel" für sich in Anspruch nahmen undihre Anfänge als „adliges Herkommen" deuteten, erweist ebenso wie die langanhaltende allgemeine Geltung der Tugendadellehre den Wert „Adel" alsständeübergreifenden Grundwert.

151 Vgl. etwa HermannHeimpel, Die Vener von Gmünd und Straßburg Bd. l (Göttingen 1982),S. 197 f.

152 Zu sehr als Konstante wird der Adel gesehen bei Oexle (wie Anm. 130), der die Erblichkeitüberbetont.