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Akadémiai Kiadó Die vergessene Symphonie Die kompositorischen Probleme der "Revolutionssymphonie" von Franz Liszt Author(s): Adrienne Kaczmarczyk Source: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae, T. 41, Fasc. 4 (2000), pp. 375- 388 Published by: Akadémiai Kiadó Stable URL: http://www.jstor.org/stable/902608 . Accessed: 26/03/2011 08:34 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of JSTOR's Terms and Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp. JSTOR's Terms and Conditions of Use provides, in part, that unless you have obtained prior permission, you may not download an entire issue of a journal or multiple copies of articles, and you may use content in the JSTOR archive only for your personal, non-commercial use. Please contact the publisher regarding any further use of this work. Publisher contact information may be obtained at . http://www.jstor.org/action/showPublisher?publisherCode=ak. . Each copy of any part of a JSTOR transmission must contain the same copyright notice that appears on the screen or printed page of such transmission. JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. Akadémiai Kiadó is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae. http://www.jstor.org

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Die vergessene Symphonie Die kompositorischen Probleme der "Revolutionssymphonie" vonFranz LisztAuthor(s): Adrienne KaczmarczykSource: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae, T. 41, Fasc. 4 (2000), pp. 375-388Published by: Akadémiai KiadóStable URL: http://www.jstor.org/stable/902608 .Accessed: 26/03/2011 08:34

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Die vergessene Symphonie Die kompositorischen Probleme der Revolutionssymphonie

von Franz Liszt*

Adrienne KACZMARCZYK Liszt Ferenc Gedenkmuseum und Forschungszentrum

Budapest

Jdzsef Ujfalussy in Ehrfurcht gewidmet

Franz Liszt begann erst in Weimar von etwa 1848 an, nach einer Komponis- tenlaufbahn von ungeffihr anderthalb Jahrzehnten, seinen symphonischen Stil zu entwickeln, zunaichst die Symphonischen Dichtungen, dann, ab 1854, auch die Faust- und die Dante-Symphonie zu schreiben. Die Frage, die bei der Untersuchung von Liszts Lebenswerk immer wieder auftaucht und schon die Zeitgenossen beschaftigte, ist, warum Liszt erst damals gelang, den symphonischen Stil zu schaffen und als Komponist zur Reife zu gelan- gen. Eine mi gliche, sich seit der Monographie Lina Ramanns' wiederholen- de Antwort ist, daB Liszt zwischen 1839 und 1847 von Konzerten allzu sehr in Anspruch genommen war und vor seiner Weimarer Niederlassung keine Gelegenheit hatte, die zur symphonischen Schreibweise notwendige Or- chesterpraxis zu erlangen. Der zweite und zugleich Hauptgrund durfte sein, daI3 Liszt eine gewisse Zeit brauchte, bis er den auf ganz neuen Komposi- tions- und asthetischen Prinzipien2 beruhenden symphonischen Stil schuf, auch dann, wenn seine Grundziige meines Erachtens schon seit dem Kom- ponieren von Deprofundis - Psaume instrumental3 im Winter 1834/35 vor-

* Mit Unterstiitzung des Janos Bolyai Forschungsstipendiums. 1 L. Ramann: Franz Liszt. Als Kiinstler und Mensch. 3 Bde, Leipzig: Breitkopf& Hirtel, 1880-1894. 2 Carl Dahlhaus fal3te das Wesen dieser Prinzipien folgendermal3en zusammen:,,Das Symphonische, wie

Liszt es verstand, war erstens durch den Anspruch der ,grol3en Form', zweitens durch die Technik der ,themati- schen Abhandlung', drittens durch das Prinzip des ,Wechsels der TOne oder der Charaktere' und viertens durch die Idee einer,redenden Musik' gekennzeichnet." ,,Liszts Idee des Symphonischen", in: C. Dahlhaus: Klassische und romantische Musikdsthetik. Laaber: Laaber-Verlag, 1988, S. 393-394.

3 Die Komposition in d-Moll/D-Dur als Grundtonart ist Liszts frahester uns bekannter Versuch, den Sona- tenzyklus und die einsitzige Sonatenform miteinander in Einklang zu bringen. Von ihren thematischen Stoffen kehrt das hymnische As-Dur-Thema (T. 405ff, Kadenz und 1. Koda) am Endes des Werkes in D-Dur umrhythmi- siert und im Marschcharakter

zurtck (T. 822ff, 2. Koda) und beide sind mit dem ,,De profundis en faux-bourdon"- Zitat (T. 188ff) motivisch verwandt. Die Inspiration zur Komposition ging vielleicht von dem Prosagedicht,,Les Morts" von F. de Lamennais aus, dem auch Liszts Werk gewidmet ist. Die Partitur des Werkes wurde von Jay Ro- senblatt am authentischsten rekonstruiert (University of Chicago, 1990). For die Formanalyse des Werkes s. Ro- senblatt: The Concerto as Cruciable: Franz Liszt 's Early Works for Piano and Orchestra. Ph.D.-Diss. University of Chicago 1995, S. 377-423.

Studia Musicologica Academiae Scientiarum Ilungaricae 41/4, 2000, pp. 375 -388 0039-3266/2000/$ 5.00 C 2000 Akad6miai Kiad6, Budapest

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lagen. Aufgrund der Skizzenbiicher und Konzepte, die uns die Entstehungs- geschichte der symphonischen Werke bewahren, ist mit Gewi8heit anzuneh- men, daB es im Fall der beiden Symphonien noch einen weiteren Grund gab, warum sich die Sache in die Linge zog: Die Quellen der zuerst 1830 aufge- zeichneten und bis Ende 1853 dokumentierbaren Revolutionssymphonie verraten, daB Liszt lange Zeit hindurch auch ein anderes, in gewisser Hin- sicht mehr traditionelles Symphoniekonzept beschaftigte. Die Tatsache, daB die erste Fassung der Faust-Symphonie 1854 entstand, unmittelbar nachdem die Revolutionssymphonie verworfen und zum Vergessen verurteilt war, weist daraufhin, daB die Faust- und die Dante-Symphonie, das heilt die den Prinzipien der symphonischen Dichtungen folgende Programmsymphonie nur um den Preis der Aufgabe des Gattungsideals entstanden sein konnte, das die Revolutionssymphonie vertrat.

Uber den Plan der Revolutionssymphonie berichtete zuerst Lina Ramann,4 wenn auch liickenhaft und ungenau, da Liszt ihr seine Symphonievorstellun- gen offenbar nur in grol3en Zuigen erzahlte. Der von ihr mitgeteilte, aus 1830 stammende Symphonieplan umfat3t wahrscheinlich zwei Konzeptionen, nicht nur eins: die von 1830 und eine andere, die mindestens zehn Jahre spai- ter entstand. Von der dritten und letzten Konzeption (1848-53) hatte Ra- mann tiberhaupt keine Kenntnis. Sie wurde von Peter Raabes aufgrund der Satzzusammenstellung des von Carolyne von Sayn-Wittgenstein geftihrten Werkverzeichnisses (Verzeichnis der Fiirstin) beschrieben (s. Abb. 1).

Wie bekannt, gab Liszt die Pariser Julirevolution von 1830 die Anre- gung zum Komponieren der Revolutionssymphonie. Seine Randbemerkun- gen zu dem etwa vier Seiten langen Entwurf- ,,Entrtistung, Terror, Rache, Unruhen, wirre Schreie, Ablehnung, Attacke, Schlacht" und dreimal ,,Be- geisterung"6 - verraten, daB er am musikalischen Ausdruck verscharfter Si- tuationen und gesteigerter Gemtitszustande interessiert war. Die ebenfalls hier aufgezahlten franz6sischen Mairsche - Marsch der k6niglichen Garde und der Nationalgarde, Vive Henri IVund die Marseillaise - deuten auf eine

4 Ramann, op.cit., Bd. 1, S. 145ff. 5 P. Raabe: Franz Liszt: Leben undSchaffen. revTutzing: Schneider Verlag, 1968, Bd. 1, S. 168. 6 ,,indignation, terreur, vengeance, desordre, cris confus, refus, attaque, bataille" und dreimal: ,, enthou-

siasme ". Das ist die einzige erhaltene Entwurf des 1830er Planes (D-WRgs 60 / A21,3; s. sein Faksimile in Raabe: op.cit., Bd. 1, S. 327). Obwohl eine der um 1830 gebrauchten Skizzenbiicher Liszts (D-WRgs 60 / N6) in der Fachliteratur an mancher Stelle mit dem Beinamen Revolutionssymphonie erwahnt wird, war bis jetzt noch niemand imstande zu beweisen, daB auch eine dieser Eintragungen tatsdichlich mit der Symphonie zu tun hatte.

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Symphonie revol[utionnaire] Hussiten Lied- National Ungarische Symphonie Choral de Luther!

- . - Ragozy en Scherzo (?)

Marseillaise. d'abord- et marchefin.

Die Satzreihe der Revolutionssymphonie (2. Konzeption) und der Symphonieplan der National Ungarischen Symphonie von der ersten Hilfte der 1 840er Jahre (Lichnowsky-Skizzenbuch, D-WRgs 60 / N8, S. 10).

A) Ce qu 'on entend-Skizzenbuch B) Verzeichnis der Fiirstin (um 1848-50. D-WRgs 60/N1, S. 17) (um 1850-53. D-WRgs 59,141, S. 3)

1- Introit (-?) Marche tf[unebre] 1. Hiroi'defunebre Al - B 1 (f) 2- Fugue Mars. [eillaise] 2. Tristis animam meam A2 - B4 (B) 3- Tristis est anima<m> mea<m> 3. Rakozy et Dombrowski A3 - B2 (e/E) 4- Rakozy- et P-[Polonais?] 4. Marseillaise A4 - B3 (a/A) 5-Psalm? 5. Psaume II. A5 - B5 (F) 6(?) Hungaria [d/D] (Quare fremuerunt gentes?)

Die zweierlei Satzreihe der dritten Symphoniekonzeption.

Abb. 1

pragmatische, mit den Pariser Ereignissen eng verbundene Symphonievor- stellung hin. Von den erwahnten Marschen ist im Entwurfein Ausschnitt aus der Marseillaise (Notenbeispiel 1) zu erkennen, jenes Gesangs, der zum Be- standteil beider spateren Konzeptionen und sogar der symphonischen Dich- tung Hdroidefunebre wurde (T. 171-80, 202-11, 262-68), die als Erbe der Symphonie gilt. Der Inhalt des Entwurfs stimmt mit Liszts Mitteilung tiber- ein, wonach das Modell der Symphonie - mindestens im Jahre 1830 - Beet- hovens Schlachtsymphonie (Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Vitto- ria) war, aber auch mit Norbert Millers7 Meinung, der bei dem Entwurf die

Notenbeispiel 1: Ausschnitt aus der Marseillaise aus dem 1830er Entwurfder Symphonie (D-WRgs 60 / A 21,3)

7 N. Miller:,,Musik als Sprache. Zur Vorgeschichte von Liszts Symphonischen Dichtungen". Beitrdge zur musikalischen lermeneutik. Hrsg. v. C. Dahlhaus. Regensburg: G. Bosse Verlag, 1975, S. 225.

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Anregung der franz-isischen revolutionaren Oper, der Werke Lesueurs und

Dalayracs voraussetzt. Ramanns zweite Bemerkung, wonach Liszt in seiner

Symphonie nicht nur franz6sische Marsche bearbeitete, sondern neben der Marseillaise auch ein Hussitenlied aus dem 15. Jahrhundert und den Choral Luthers mit den Anfangsworten Ein 'feste Burg, kann mit dem 1830er Ent- wurf nicht, nur mit einer Bemerkung des in der ersten Halfte der 40er Jahre

gebrauchten, sogenannten Lichnowsky-Skizzenbuchs in Zusammenhang gebracht werden. Die dort vorhandene Satzreihe (s. Abb. 1) widerspiegelt eine Konzeption, die sich von der Konzeption des Jahres 1830 grundsatzlich unterscheidet. Es erfa8t die Idee der Revolution allgemeiner, von dem kon- kreten Ereignis, der Julirevolution entfernt. Diese Symphonie ware laut Ra- manns Worten ,,eine universelle Siegeshymne des christlichen Gedankens der Humanitat und Freiheit"8 gewesen. Erst die Deutung des ,,Hussitenlie- des" macht die Datierung dieser zweiten Konzeption verstandlich.

Von Alexander Buchner9 wissen wir, daB Liszt ein Lied wahrend seines Prager Aufenthalts im Marz 1840 kennenlernte, das damals noch als ein Lied Hussitenursprungs galt. Sein Titel stimmte mit dem des Liedes genau tiberein, das Liszt laut Ramann in der Revolutionssymphonie zu bearbeiten

beabsichtigte: Hussitenlied aus dem 15. Jahrhundert. Nachdem Liszt das Lied im Sommer 1840 ffir Klavier bearbeitete, verdffentlichte er seine Bear-

beitung zusammen mit dem Original (der version litterale).'0 Es ist kein Zu- fall, daB er auf der Verbffentlichung der version litterale und der Ubernahme des vollen Titels bestand. Das Hussitenlied ist namlich eindeutig eine spate- re Komposition, laut Buchner das Werk des Tschechen Theodor Krov

(1797-1859) aus den 1820er Jahren. Es ist erst im darauffolgenden Jahr- zehnt wirklich populdr geworden, nachdem es von der Polizei wegen seines die tschechische nationale Unabhangigkeit besingenden Textes" verboten worden war. Wahrscheinlich deshalb hat es Liszt 1840 derart tief ergriffen,

8 ,,die Revolutionssymphonie sollte ein Werk werden, das den Triumphrufder V61ker - nicht der Franzosen allein, sondern der vereinigten Nationen, welche die Humanittit auf den Schild der Zeit hoben - musikalisch ausdriicke; sie sollte eine universelle Siegeshymne des christlichen Gedankens der Humanittit und Freiheit werden." Ramann: op.cit., S. 145-146.

9 A. Buchner: Franz Liszt in Bihmen. Prag: Artia, 1962, S. 80-85. 10 Raabe 100, Searle-Winklhofer 234, Neue Liszt-Ausgabe (NLA) 11/5. Budapest: Ed. Musica, 2000, S. 75. 11 Der Text, dem man eine Herkunft von den Hussiten anmal3, stammt von Viclav Hanka (1791-1861), der

das Lied mit einem Ausschnitt aus dem ,,Sankt Wenzels-Choral" erginzte, um ihm den Schein des Originals zu ge- ben. Hanka bereitete zahlreiche literarische Denkmiler des 14. und 15. Jahrhunderts zum Druck vor. Mit seinem Namen ist auch die ,,Entdeckung" der Manuskripte von Dvuir Kralov6 und Zelena Hora im Jahre 1817 verbunden. Diese Verftilschungen sind zu Grundwerken der tschechischen Romantik geworden.

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daB er das Lied in seinem Symphonieentwurf neben Marseillaise und Ein' feste Burg stellte.12

1840 als terminus post quem wird durch parallele Bestrebungen wahr- scheinlich gemacht, die sich im Liszts Lebenswerk damals bemerkbar machten. Neben groBangelegten Klavierwerken (Album d'un voyageur 24 Grandes etudes, Konzerte) und Opemfantasien der zweiten Halfte der 1830er Jahre beschaiftigte er sich eingehend mit Beethovens Symphonien, von denen er die Klavierpartitur der 5.-7. Symphonie und des Trauermar- sches der Eroica im Jahr 1840 bzw. 1843 fertigstellte und ver6ffentlichte. Nach den Beethoven- (und den frtiheren Berlioz-) Studien zeichnete er ab 1839 seine ersten eigenen Symphonieentwtirfe auf, von denen er manche in Weimar tatsachlich ausfihrte.

Der frtihesten Tagebuchaufzeichnung aus Februar 1839 -,,eine sym- phonische Komposition nach Dante, dann eine andere nach Faust"'3 - folgten im Lichnowsky-Skizzenbuch (D-WRgs/N8) zwischen 1840 und 1844 die durch vier Gedichte Byrons inspirierten Titel -,,3 Ouvertures: Cor- saire, Mazeppa, Sardanapal" (S. 11); ,,Manfred, Drame lyrique, lyrisches Epos" (S. 14) - und der Entwurf einer National Ungarischen Symphonie ne- ben der Satzreihe der Revolutionssymphonie (S. 10).

Mangels Notenquellen ist es schwer, sich ein Orchesterwerk vorzustel- len, das zum Teil oder ausschlieBlich aus Bearbeitungen besteht und dessen Titelinschriften uns nicht einmal an traditionelle Satztypen erinnern; noch schwieriger ist es, das Werk als Symphonie gelten zu lassen.

Das Gebet (der Choral), der Marsch und das patriotische Lied erwecken vielmehr Assoziationen mit einer Btihnengattung, den Tableaus der franz6- sischen Grofen Oper, die, ihnlich wie die Revolutionssymphonie, durch die politische Atmosphare des Jahres 1830 ins Leben gerufen wurde. Diese Operngattung hatte bekanntlich eine groBe Anziehungskraft fiir Liszt, und es ist durchaus m6glich, dab er zur Bearbeitung des Chorals Ein 'feste Burg durch einen Vertreter dieser Gattung, Les Huguenots (1836), inspiriert wor- den war. Er komponierte eine Fantasie auf Themen von Giacomo Meyer- beers Werk noch im Jahr der Urauffiihrung und schloB ihre 1842 ver6ffent-

12 Da das wahre Hussitenlied mit den Anfangsworten ,,Die wir Gottes Kimpfer sind" erst in der zweiten H5lfte des Jahrhunderts entdeckt wurde, ist es unwahrscheinlich, daB Liszt irgendein anderes Lied im Sinn gehabt hitte. Es gibt keine Angabe daftir, daB Liszt das Hussitenliedbereits vor 1840 gekannt hitte.

13 NB. Damals war die Gattungsbezeichnung noch nicht ,,Symphonie". MAmoires, souvenirs etjournaux de la Comtesse d 'Agoult (Daniel Stern). Presentation et notes de Charles F. Dup chez. Mercure de France 1990, tome 2, S. 219. Liszts eigenhindige Eintragung.

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lichte endgtiltige Fassung mit dem Choral, der musikalischen Visitenkarte der Hugenotten ab.14

Einen Einblick in die Komposition der Revolutionssymphonie gewah- ren uns nur die Quellen der durch die Revolutionswelle von 1848 inspirier- ten dritten und zugleich letzten Konzeption. Die damalige Satzstruktur der Symphonie ist uns aufgrund zweier, im groBen und ganzen aus der gleichen Zeit stammender Satzreihen bekannt (s. Abb. 1). Obwohl mit Ausnahme des ersten Satzes (des ,,Trauermarsches") das Konzept aller Satze erhalten ist, sind sie zu wenig ausgearbeitet, um die Symphonie als solche fiir ein been- detes Werk halten zu kinnen. Abgesehen von den Skizzen ist uns der Trauer- marsch nur noch in seiner verselbstandigten Form (Hdroidefunebre) in Joa- chim Raffs Abschrift bekannt. Liszt notierte die auf der Marseillaise beru- henden Fuge teils in Particell, teils in Partitur: Er schrieb die Konzepte von ,,Tristis est anima mea" und Psalm 2 in Klavierpartitur (mit Singstimmen); der ,,Rak6czi"-Satz ist in August Conradis Abschrift bewahrt.

Was die thematischen Stoffe anbelangt, reimt die dritte Symphoniekon- zeption in tiberraschendem MaBe mit der vorangehenden, da sowohl die Marseillaise als auch die Gattung Choral Bestandteile beider sind. Im ,,Mar- seillaise"-Satz des dritten Symphonieplans baut sich eine Fuge (in Wirklich- keit ein Fugato, Notenbeispiel 2) auf dem Marseillaise-Motiv des 1830er

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Notenbeispiel 2.: Skizze zum Anfang der Marseillaise-Fuge um 1848-50 (D-WRgs 60 / N 1, S. 17)

Entwurfs auf (Notenbeispiel 1), dem dann die Bearbeitung des ganzen Mar- sches folgt. Der auf Verse des zweiten Psalms komponierte Chorsatz ist ebenfalls durch Motive des Marsches eingeleitet (Notenbeispiel 3), der sich dann vom Vers ,,Ego autem constitutus sum rex" an in einer Choralbearbei- tung (Notenbeispiel 4) voll entfaltet. Die Idee des Choralsatzes der zweiten

14 NLA 11/2. EMB 2001. 1837 wilrdigte er die Oper in einem Essay folgendermaBen: ,,iber Meyerbeer's Hugenotten", in: Gesammelte Schriften von Franz Liszt. Hrsg. v. L. Ramann. Bd. 2. Leipzig: Breitkopf& Hairtel, 1881, S. 64-66.

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Notenbeispiel 3: Anfang des 2. Psalms (D-WRgs 60 / B6)

Konzeption lebt in dieser sowie in dem sich in den ersten (Lento) Teil des ,,Tristis"-Satzes eingekeilten kurzen Choralabschnitt (Notenbeispiel 5) wei- ter. Liszt vertauschte - wahrscheinlich unter dem Eindruck der 1848-49er Ereignisse - nur das Hussitenlied mit einem ungarischen thematischen Stoff, das die Verschmelzung zweier, urspriinglich voneinander unabhiingi- gen symphonischen Konzeptionen, der Revolutionssymphonie und der Na- tional Ungarischen Symphonie' zur Folge hatte (s. Abb. 1). In den Anmer-

15 Die National Ungarische Symphonie stellt laut Zeugnis der Konzepte die instrumentierte Version ge- wisser Nummern der Ungarischen Nationalmelodien dar. Ihre Quellen (D-WRgs 60/P 1, P11) wurden von Rena Chamin-Mueller aufgrund der Untersuchung des Papiers und der Person des Kopisten mit den Jahren 1848-49 da- tiert: Liszt :, Tasso 'Sketchbook: Studies in Sources and Revisions. Ph.D.-Diss. New York University, 1986, S. 376.

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Notenbeispiel 4.: Der Beginn der Choralbearbeitung ab Vers

,,Ego autem constitutus sum rex" von Psalm 2

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Notenbeispiel 5:,,Tristis est anima mea", Choral (D-WRgs 60/A 21,2)

kungen unter dem Titel der National Ungarischen Symphonie, die sowohl Text als auch Noten enthalten, sind die zwei thematischen Stoffe der spite- ren ,,Tristis est anima mea" zu erkennen: die Melodie, mit der Liszt 1840 die Serie Ungarische Nationalmelodien begann (Nummer 1 in NLA 1/18, S. 39ff), wurde spater zum Thema des langsamen Satzes der ungarischen Sym- phonie und nach 1848-49 des ersten, e-Moll (Lento) Teiles von ,,Tristis est anima mea" der Revolutionssymphonie. Die Bemerkung neben dem Noten- ausschnitt bezieht sich auf den Rcik6czi-Marsch, genauer gesagt auf seine aus dem zehnten Sttick der Ungarischen Nationalmelodien (NLA 1/18, S. 58ff) Uibernommene solistische Bearbeitung. Darauf baute sich spaiter der zweite, Es-Dur Tell von ,,Tristis est anima mea" auf. Abgesehen von dem kurzen Choralabschnitt beruht dieser Satz ganzlich auf ungarischen Musik- themen. Es ist zwar auch ein selbstandiger ,,R~k6czi"-Satz in Ubereinstim- mung mit den Satzzusammenstellungen der Symphonie erhalten,16 aber Liszt versuchte, diese beiden ,,ungarischen" Satze zu einer einzigen A (Tris- tis)-B (Rak6czi)-Al-b' Form zu verschmelzen, wie das ,,Tristis est anima mea"-Konzept bezeugt. Im selbstandigen ,,Rgak6czi"-Satz, der ebenfalls den Marsch bearbeitet, fand wahrscheinlich das ,,Scherzo" der National Ungari- schen Symphonie und im sechsten, ,,Hungaria"-Satz mi-glicherweise die Idee der ,,marche fin[ale]" Fortsetzung. Im Fall von ,,Hungaria" kann es sich um die 1848 komponierte Hungaria-Kantate (R. 552, S-W. 82) handeln, die tatsa-chlich von Motiven des Rak6czi-Marsches durchwoben ist, die aber nicht lange einen Teil der Symphoniekonzeption bilden durfte.

Zwischen der zweiten und dritten Symphoniekonzeption besteht nicht 1,ur thematische, sondern auch Ideenverwandtschaft. OIber die erste Konzep-

16 D-WRgs 60/P 11, ursprtinglich zur National Ungarischen Symphonie ebenfalls im Jahre 1848-49 kom- poniert. Die Dobrowski-Mazurka, das hei8t der andere thematische Stoff in Episodenrolle des,,Raik6czi et Dom- browski"-Satzes kann nur auf den Erg5inzungsbHittem gelesen werden, die etwa aus 1855-58 stammen (Charnin- Mueller: op. cit., S. 384). Die symphonische Bearbeitung des Raik6czi-Marsches (Raabe 439, Searle-Winklhofer 117) entstand - nunmehr ohne die Dombrowski-Mazurka - erst ein Jahrzehnt spditer und erschien 1871. Zu den un- garisch-polnischen Parallelen des ,,Raik6czi et Dombrowski"-Satzes s. die Auslegung des Klavierwerkes Fund- railles: A. Kaczmarczyk: ,,The Genesis of the Fune'railles ". Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hunga- ricae 35/4 Budapest, 1993-94, S. 361-398.

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tion schreibt Ramann, daB es durch die Bearbeitung der Marseillaise, des Hussitenliedes und des Luther-Chorals die Ideen ,,der zuktinftigen Verbrui- derung der VOlker"'7 hatte zum Ausdruck bringen sollen. Die Formulierung macht eindeutig, daB Liszt auch diesmal Beethovens Modell vorschwebte, aber nicht mehr die zum Siege Wellingtons geschriebene Gelegenheitskom- position, sondern die 9. Symphonie. Solange in der ersten Halfte der 1840er Jahre eine Verbindung zwischen Liszts Symphonieplan und der 9. Sympho- nie hochstens auf ideeller Grundlage bestehen konnte, ist der Zusammen- hang im Fall des dritten, ebenfalls aufdrei thematischen Stoffen beruhenden Symphonieentwurfs von 1848-53 auch in gewissen Einzelheiten der musi- kalischen Ldsung, vor allem in der Anwendung des Finales mit Chor und im Aufbau dieses Satzes zu erkennen.

Die Form des auf Versen des zweiten Psalms begrtindeten Chorsatzes ist teils durch die Psalmenworte, teils durch das Finale-Modell Beethovens bestimmt. Der erste Teil des Psalms (Verse 1-5), in dem es sich um die Vor- bereitung auf den Kampf gegen den Herrn und die Gerechten handelt,18 ist durch chromatische G~nge und die minore-Variante des seit 1830 standigen Marseillaise-Motivs eingeleitet (Notenbeispiel 3). Liszt folgt der Finale- Dramaturgie der 9. Symphonie, wenn er seinen Schlu8satz mit der Heraufbe-

schwoirung der uns an die Schicksalsprtifungen erinnemde Marseillaise- Thematik einleitet und auch dann, wenn er mit etwa der Geste ,,Nicht diese Tine" diesen ersten (d-Moll) Teil von der (F-Dur) Fortsetzung trennt. Der zweite Teil des Psalms (Verse 6-12) prophezeit den Sieg von Gottes Gesalb- tem, laut des Neuen Testaments19 den Sieg Christi.20 Bei Liszt singt die Ge- meinde einen liturgischen Gesang, einen Choral, der nach dem Modell der ,,Ode an die Freude" zuerst im Orchester, dann im Vortrag eines Tenors in Vertretung der Gemeinde ertdnt (Notenbeispiel 4). Die Parallelen setzen sich auch tiber die Satzgrenzen fort: Beethoven nimmt die Freudenmelodie im zweiten Satz der 9. Symphonie (T. 419ff) vorweg, Liszt IaBt den Choral im ,,Tristis est anima mea"-Satz erscheinen. Was da ertont, ist nicht die Cho- ralmelodie des Finales, sondern eine Melodie, deren erste T6ne Liszts eige-

17 ,,zukunftige Verbruderung der V61ker zu einem Volk in einem Glauben, einem Dogma, einem Kultus". Ramann: op.cit., Bd. 1, S. 146.

18 ,,Quare fremuerunt gentes (...)" -.,,Warum sind unruhvoll Volker, planen Nationen wahnwitziges Tun? Erdenkinige tun sich zusammen, Filrsten beraten gemeinsam wider den Herm und seinen Gesalbten. (...)" Das alte Testament. Ibersetzt u. hrsg. v. Vinzenz Hamp u. Heinrad Stenzel. Aschaffenburg: Paul Pattloch Verlag, 1955.

19 Apostelgeschichte 13,33; Hebrier 1,5; 5,5. 20 ,,Ego autem constitutus sum rex ab eo super Sion (...)" -,,Ich selber habe meinen Kinig bestellt auf Zion,

meinem heiligen Berg! Kinden will ich den gOttlichen RatschluB. Er sprach zu mir: ,Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt.' "

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ne musikalische Namenskarte, das sogenannte ,,Crux-Motiv" zeichnen (No- tenbeispiel 5).

Den Wechsel, der sich in Liszts Auffassung der Revolutionen zwischen etwa 1840 und 1850 abspielte und der nach der zweiten Symphoniekonzep- tion zum Entstehen einer dritten fiihrte, zeigen die Modifizierungen der SchluBsatze am deutlichsten. Liszt blieb der Idee der Freiheit und des Fort- schritts sein Leben lang treu, doch entfernte er sich mit der Zeit von den Ge- danken an die radikale Veranderung der bestehenden Gesellschaftsordnung. Der Zusammenbruch der 1848er Revolutionen mag ihn dazu bewogen ha- ben, die Behebung der gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten anstatt der die Idee der Revolution verklarenden Marseillaise (2. Konzeption) bzw. der Hungaria (3/A Konzeption) sozusagen der gtittlichen Vorsehung anzuver- trauen und sein Werk mit dem zweiten Psalm zu schliel3en, der den christli- chen Gehorsam pries (3/B Konzeption).

Die Idee der ,,zukiinftigen Verbrtiderung der V6lker", die Liszt durch das Verschmelzen der dreierlei thematischen Stoffe auszudrticken versuch- te, lief3 sich musikalisch nicht verwirklichen. Obwohl der geschlossene Ton- artrahmen (f-Moll - F-Dur) sowie die thematischen Verbindungen zwischen den einzelnen Satzen dazu gedacht waren, die einheitliche GroBform zu schaffen, erwiesen sie sich bei der allzu heterogenen Beschaffenheit der the- matischen Stoffe als ungentigend. Die GroBform zerfaillt gerade entlang die Grenzen der thematischen Einheiten, was wahrscheinlich der Hauptgrund war, warum Liszt Ende 1853 den Plan des Komponierens der Symphonie aufgab.21

Doch ist gerade die Idee des Zusammenfiigens der drei verschiedenen thematischen Stoffe, die in die Zukunft weist und die Revolutionssymphonie tiberlebt. Ramann sieht sie in ihrer Auslegung der zweiten Symphoniekon- zeption als Charakterisierung der drei groBen VOlkergruppen Europas, das heil3t, im Hussitenlied sieht sie den Ausdruck von ,,slavischem Helden- muth", im Luther-Choral die ,,germanische Uberzeugungskraft" und in der Marseillaise den ,,romanischen Freiheitsdrang".22 Das bedeutet zugleich, daB die Revolutionssymphonie zwischen etwa 1840 und 1853 als eine Art Sinfonie in drei Charakterbildern ausgelegt werden kann. Solange in der an-

21 Die Tatsache, daB Liszt im Interesse der groBen Form auf die Verwendung mehrerer thematischer Stoffe verschiedenen Ursprungs verzichtet, ist eine allgemeine Tendenz der Bearbeitungen um 1850. Ein Beispiel dafdr ist unter anderem der Totentanz, der urspringlich auch den sogenannten ,,De profundis en faux bourdon"-Zitat, das Leihmaterial des bereits erwihnten De profundis - Psaume instrumental beinhaltete.

22 Ramann: op.cit., Bd. 1, S. 146-147.

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deren Sinfonie in drei Charakterbildern, der 1854 komponierten Faust-

Symphonie eine enge Kohasion zwischen den drei Charakterbildem besteht, die vor allem dem Faust-Mephisto-Pendant zu verdanken ist, kinnen die he- terogenen thematischen Stoffe der Revolutionssymphonie untereinander keinen engen Zusammenhang bilden.

Es mag unbegreiflich erscheinen, warum Liszt noch jahrelang an einem symphonischen Werk arbeitete, dessen Mingel ihm allzu klar sein durften, obwohl es ihm schon in der zweiten Halfte der 1840er Jahre gelang, die Gat- tung der Symphonischen Dichtung zu erarbeiten, die imstande war, das sym- phonische Erbe der Wiener Klassik zu Uibernehmen, fortzusetzen und ihren asthetischen Rang zu erreichen. Die mit Selbstironie als ,,July-Februar Monstrum"23 apostrophierte und geheim gehaltene Symphonie wies laut Konzepte fast alle Fehler auf, die Liszt mit dem Erschaffen der Symphoni- schen Dichtung vermeiden konnte. Die Tatsache, daB von den Satzen der Symphonie in HMroidefunebre24 bloB der erste Satz erhalten ist, beweist, daB Liszt nicht nur mit der groBen Form, sondern auch mit den einzelnen Satzen unzufrieden war. Solange ihn zu der als Ausgangspunkt der Herausbildung der Symphonischen Dichtung dienende Ouverttire nur sein Interesse an der Technik der Komposition hinfihrte, zog ihn bei der Symphonie, mindestens bis 1854, etwas ganz anderes, vor allem der Ethos der Gattung an. Die Sehn- sucht nach dem Komponieren der Revolutionssymphonie, die ihn mehr als zwanzig Jahre begleitete, entsprang dem gleichen Grund, der den jungen Liszt 1834 zum Schreiben der Abhandlung ,,Uber zukiinftige Kirchenmu- sik", 1835 zu der Studie ,,9Uber die Stellung der Ktinstler"und zur Formulie-

23 Am 26. Oktober 1850 bittet er seinen Famulus, den Kopisten und Instrumentierer Joachim Raff um Fol- gendes:,,Vergessen Sie auch nicht die Correcturen in der Berg Symphonie so wie die Skizzirung der Instrumenta- tion meines anonymen July--Februar Monstrum - (Ich ersuche Sie nochmals dieses Unding niemand mit- zutheilen.)",,Franz Liszt und Joachim Raff. Im Spiegel ihrer Briefe." Mitgeteilt v. H. Rafft Die Musik 1/1, S. 501. Dem Weimarer Hofkapellmeister Liszt hditte tatsqichlich Unannehmlichkeiten bereiten k6nnen, wenn das Kom- ponieren der Revolutionssymphonie nach 1848 bekannt geworden witre. In den Jahren 1870-80 hitte er Ramann schon ruhig Ciber diese Konzeption der Symphonie sprechen k6nnen, wenn er keinen anderen Grund zum Ver- hehlen des Symphonieversuchs hatte. Deshalb scheint es wahrscheinlicher, daB er dartiber aus beruflichen Gruin- den schwieg, wie auch im Fall von Deprofundis -- Psaume instrumental.

24 Man kann in Wirklichkeit nicht wissen, welche musikalische Stoffe Liszt in der Symphonischen Dich- tung verwendete und ob das Marseillaise-Motiv, aufdas sich die Angabe 1830 in dem Vorwort des Werkes allein beziehen kann, bereits einen Bestandteil des ersten Satzes der Revolutionssymphonie bildete oder erst nachtriglich aus dem zweiten Satz in Heroi'defunebre kam. Ein weiteres Element, das,,Glockenliuten" (zuerst ab T. 94) soil ur- springlich zu einem anderen Plan, wahrscheinlich einem polnischen Sujet gehirt haben, da ihm ndmlich die Skizze mit der Oberschrift ,,Micki[ewicz?]" in dem Skizzenbuch Ce qu 'on entend (D-WRgs 60/NI, S. 12) vor- ausging. Es mag sich dabei um den Kompositionsplan ,,Marche du Micki[ewicz]" handeln, dessen Titel auf S. 110 des Manuskripts mit der Signatur D-WRgs 60/B20 zu lesen ist.

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rung seiner kiinstlerischen Aussage bewog.25 Liszts Ideal war der Kiinstler mit Verantwortungsgeftihl ftir die Gesellschaft bzw. die den moralischen Aufstieg des Menschen fdrdemde und Gott lobende ,,humanistische Mu- sik".26 Die Revolutionssymphonie entstand im Zeichen dieses Ideals und war von Anfang an als eine Festsymphonie gedacht, die ein mtiglichst breites Publikum anzusprechen vermag und deren Gattungsmodell die sogenannte Ode-Symphonie27 des 18. Jahrhunderts war und ihren Hdhepunkt die 9. Symphonie bedeutete. Wenn man die Lisztschen Interpretationen der Revo- lutionssymphonie liest, fallt einem auf, daB Liszt von der Kompositionslo- sung, besonders im Fall der 1. und 2. Konzeption, nur eine vage Idee hatte. Er betonte nur ein Moment, und zwar den Bekenntnischarakter der Sympho- nie konsequent.28 Der Umstand, daB Liszt den Symphonieversuch des Jah- res 1830, der kaum mehr als ein Einfall war, sogar am Ende seines Lebens als den Beginn seines Oeuvres als Komponist bezeichnete und daf3 er das Natio- nallied (Marseillaise, Hussitenlied) und den religidsen Gesang (Ein 'feste Burg) als entsprechenden thematischen Ausgangspunkt fuir die Symphonie erachtete, wird nur in Kenntnis der Tatsache verstandlich, dat f•ir ihn die Symphonie die Gemeinschaft stiftende Musik schlechthin, die haichste Gat- tung der humanitaren Musik war.

Was die Symphonien von Berlioz anbelangt, die neben den symphoni- schen Dichtungen die wichtigsten Anregungen zu Liszts Programmsym- phonien (Faust, Dante) gaben, hatte Liszt ihre Vorziige ohne Zweifel bereits in den 1830er Jahren erkannt. Da sich aber Berlioz der Gattung Symphonie auf eine ganz andere Art niaherte als Liszt, konnten ihm seine Werke damals noch nicht als Vorbild gedient haben. Im Kampf menschlicher und berufli- cher Motive gewannen Ende 1853 die letzteren Oberhand. Damals gab er das Ideal der Ode-Symphonie mangels erfolgreicher Losung endgtiltig auf, und so wurde die Entstehung der Programmsymphonie ermoiglicht. Die im

25 Die Abhandlung von 1834 erhielt erst in Lina Ramanns deutscher Obersetzung einen Titel: ,,Ober zukfinftige Kirchenmusik". Sie wurde von R6my Stricker unter einem Titel mit der mehrteiligen Studie ,,De la situ- ation des artistes et de leur condition dans la societe" herausgegeben. In: Franz Liszt: Artiste et socidtd. Mayenne: Flammarion 1995, S. 16-56.

26 ,,...Ia musique doit s'enquerir du PEUPLE et de DIEU; aller de l'un a l'autre; amrliorer, moraliser, conso- ler I'homme, b6nir et glorifier Dieu. Or, pour cela faire, la creation d'une musique nouvelle est imminente, essen- tiellement religieuse, forte et agissante, cette musique qu'a d6faut d'autre nous appellerons humanitaire, resumrra dans les colossales proportions le THEATRE ET L'EGLISE." R. Stricker: op.cit., S. 45-46.

27 C. Dahlhaus:,,E.T.A. Hoffmanns Beethoven-Kritik und die Asthetik des Erhabenen." Klassische undro- mantische Musikdsthetik. Op. cit., S. 98-111.

28 Das bezieht sich aufalle mit seiner Mitwirkung entstandenen Biographien, angefangen von Joseph d'Or- tigues Studie aus dem Jahre 1835 (,,Etudes biographiques I. Frantz Listz [sic]." Gazette musicale de Paris, 2/24, 14. Juni 1835, S. 202) bis zu Ramanns Monographie.

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August begonnene und im Oktober 1854 beendete erste Fassung der Faust- Symphonie29 verrait, wie sehr Liszt bestrebt war, sich von dem bis dahin gil- tigen Gattungsideal zu entfernen: Diese Fassung endete noch mit dem ,,Me- phisto"-Satz und nicht mit dem Schlu3chor. Mit der Aufgabe der Revolu- tionssymphonie hangt auch der Plan der neunteiligen Folge der Symphoni- schen Dichtungen zusammen, die spaitestens im Februar 185430 fertig vor- lag: Nach HIroidefunebre, dem einzigen direkten Abk6mmling der Revolu- tionssymphonie, das heil3t nach der achten Symphonischen Dichtung, kam auch Hungaria, das SchluBsttick der Folge zustande. Nach dem vergebli- chen Versuch der National Ungarischen Symphonie bzw. der Revolutions- symphonie ist Liszt in diesem symphonischen Werk gelungen, das Hauptbe- streben der ungarischen Musik des 19. Jahrhunderts, die Vereinigung der auf Verbunkos begrtindeten Nationalmusik mit der westeuropaischen Kunst- musik zu verwirklichen. Liszt vertraute die kiinstlerische Aussage der ge- planten Ode-Symphonie schlieBlich den um 1855-57 entstandenen, von Ge- dichten Schillers inspirierten Kompositionen an, vor allem der Symphoni- schen Dichtung Ideale (1857).31 Somit ging die Geschichte der Revolutions- symphonie und die Vorbereitungsphase der kreativen Laufbahn Liszts vor Weimar zu Ende.

29 Die Datierung des Autographs ist:,,August angefangen. / 19 October Instrum[entation]: fertig." Siehe seine Beschreibung von Mdria Eckhardt in: Liszt s Music Manuscripts in the National Szechinyi Library. Buda- pest: Akad6miai Kiad6, 1986, S. 86.

30 Hroi'defunkbre war sptitestens am 27. Febr. 1854 nicht mehr ein Teil von der Symphonie. Damals infor- mierte Liszt Richard Pohl i ber die Tatsache, daB er binnen kurzem insgesamt neun Symphonische Dichtungen zu veroffentlichen beabsichtigt (unveroffentlichter Brief in der Rosenthal-Sammlung der Library of Congress, Wash- ington). Das kann nur so verstanden werden, daI3 Werke 8-9 H&roidefunebre, bzw. Hungaria waren. Die neue Gattungsbezeichnung, ,,Symphonische Dichtung" ist meines Wissens zuerst mit diesem Brief dokumentierbar.

31 Er weist auch mit dem motivischen Stoff von Kiinstlerfestzug und Die Ideale auf die 9. Symphonie hin, d.h. auf den zweiten Scherzo-Satz. Vgl. Christian Berger:,,Die Musik der Zukunft", Liszt und die Weimarer Klas- sik. Der Band enthalt weitere Studien im Zusammenhang mit Liszts ktinstlerischer Aussage der Weimarer Zeit und den Schiller-Kompositionen. Hrsg. v. Detlef Altenburg. Laaber: Laaber-Verlag, 1997.

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