der zerfall jugoswlawiens - flüchtlinge vom balkan
TRANSCRIPT
Gabriele Yonan
Flüchtlinge vom Balkan
Zerfall, Krieg und Frieden im ehemaligen Jugoslawien
STUDIENBRIEF
SOZIO-KULTURELLE HINTERGRÜNDE DER HERKUNFTSLÄNDER IN OSTEUROPA
Göttingen Institut für Berufliche Bildung und Weiterbildung, 1998²
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INHALTSVERZEICHNIS Einleitung
1 GESCHICHTE 1.1 Vielvölkerstaaten im Osten Europas 1.2 Religionen und Konfessionen 1.3 Sprachen und Nationale Bewegungen im 19.Jahrhundert 1.3.1 Unionspläne 1.3.2 Teilung der Donaumonarchie und die Südslawische Frage 1.3.3 Der Berliner Kongreß 1878 und der Panslawismus 1.3.4 Die deutschen Interessen auf dem Balkan 1.3.5 Balkanbund und Balkankriege 1912-1913 1.4 Der Balkan im Ersten Weltkrieg
2 NEUORDNUNG IN OSTEUROPA NACH 1918 2.1 Entwicklung zwischen den beiden Weltkriegen 2.2 Folgen des Zweiten Weltkriegs in Osteuropa 2.3 Neuordnung nach 1945 - Entstehung der Volksrepubliken 2.4 Die Sowjetisierung Ostmittel- und Südosteuropas 2.5 Osteuropa nach Stalins Tod
3 JUGOSLAWIEN - VIELVÖLKERSTAAT UND NATIONALITÄTENFRAGEN
3.1 Bosnien-Herzegowina 3.2 Wechselvolle Geschichte 3.3 Der Zerfall Jugoslawiens
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3.3.1 Der Kosovo 3.3.2 Austritt von Slowenien und Kroatien 3.3.3 Das Ende Jugoslawiens
4 Ausbruch des Bürgerkriegs 4.1 Krieg in Bosnien-Herzegowina 4.2 Kriegsopfer und Friedensinitiativen
5. Die internationale Gemeinschaft
5. 1. Diplomatische Friedensbemühungen
5. 2. Der Friedensbeitrag der UNO
5. 3. Der Weg zum Frieden
6. Das Friedensabkommen von Dayton
6. 1. Probleme der Umsetzung
6. 2. Kommentar zu den Wahlen in Bosnien
7. Flüchtlinge aus dem Balkan
7. 1. Mostar - eine geteilte Stadt
7. 2. Probleme der Rückkehr bosnischer Flüchtlinge aus Deutschland
7. 3. Ein "Friedensdorf für Bosnien"
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APPENDIX
Minderheiten auf dem Balkan
8.1 Ungarn außerhalb Ungarns
8.2. Türken und Pomaken in Bulgarien
8.3. Die Mazedonische Frage
8.4. Albaner im Kosovo
8. 5. Roma - ein Volk ohne Rechte
8. 6. Minderheiten im Überblick
9 Balkansprachen
9.1 Entwicklung der modernen Literatursprachen 9.1.1 Rumänisch 9.1.2 Griechisch 9.1.3 Bulgarisch 9.1.4 Serbisch 9.1.5. Kroatisch 6.1.6 Albanisch 9.1.7 Makedonisch 9.2 Weltliteratur vom Balkan
Literaturverzeichnis
5
Einleitung
Weniger als ein Jahrzehnt ist vergangen, seit der sowjetische Reformpolitiker
Michail Gorbatschow mit Glasnost und Perestroika eine Entwicklung in die Wege
geleitet hat, die die Weltmacht Sowjetunion und dem kommunistischen
Herrschaftsbereich eingegliederten "Ostblock", das heißt Osteuropa,
Ostmitteleuropa und Südosteuropa, auseinandergesprengt hat.1 Damit wurde ein
Prozeß eingeleitet, dessen Ziel zunächst die Umgestaltung der
Einparteiensysteme zu Demokratien nach westlichem Muster war, unter
Beibehaltung sozialistischer Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen. Diesem
inneren Widerspruch konnten die verkrusteten Strukturen der diktatorischen
Nomenklatura-Systeme nicht standhalten. So mündete der Reform- und
Veränderungsprozeß in einen revolutionären Umbruch, der sich zwar weitgehend
unblutig, aber in atemberaubenden Tempo zwischen Elbe und Pazifischem Ozean
abspielte. Seine Folgen sind nicht nur im Osten, sondern auch im Westen zu
spüren, auf beiden Seiten wurde das festgefügte Weltbild eines halben
Jahrhunderts nachhaltig erschüttert.
Vor 45 Jahren hatte die Sowjetisierung in Ostmittel- und Südosteuropas nach
dem Zusammenbruch der deutschen Hitlerdiktatur und in direkter Folge des
Zweiten Weltkrieges begonnen. Hinter einem 'Eisernen Vorhang' als Schnittstelle
zwischen Ost und West entstand ein Gürtel von Satellitenstaaten von Polen bis
Bulgarien als dem Vorfeld des Sowjetimperiums. Mehrfach kam es in diesen
Staaten zu Erhebungen, so 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in der
Tschechoslowakei, welche blutig niedergeschlagen wurden. Jugoslawien unter
Tito scherte schon früh aus diesem „Ostblock“ aus (1948) und schlug einen
eigenen Weg zum Sozialismus ein, während sich Albanien nach 1967 an China
orientierte und später ganz isoliert eine Art kommunistischen Sonderweg
einschlug.
1 Zum Ostblock zählten die in der Sowjetunion vereinigten Unionsrepubliken, die Volksrepublik Polen, die
DDR, Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien und Rumänien. Bis in die 1960er Jahre galt auch Albanien als
Ostblockstaat. Der Ostblock wurde auf drei Ebenen zusammengehalten: politisch-ideologisch durch das
Bündnis der Kommunistischen Parteien, das Kommunistische Informationsbüro (Kominform), gegründet
1947, wirtschaftlich durch den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), gegründet 1949, militärisch
durch die Warschauer Vertragsorganisation, gegründet 1955. vgl. Jens Hacker, Der Ostblock. Entstehung,
Entwicklung und Struktur 1939–1980, Baden-Baden 1983.
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Der Stalinismus mit seinen Säuberungen, Schauprozessen, Liquidierungen,
omnipotenten Staatssicherheitsapparaten wurde nach 1956 von der
einsetzenden Periode der Entstalinisierung abgelöst. Die Vormacht der
Sowjetunion blieb aber uneingeschränkt erhalten. Politik, Wirtschaft und
Gesellschaft wurden durch die Ideologie eines Marxismus-Leninismus geprägt,
der als utopischer Gesellschaftsentwurf keinen Bezug zu den historischen und
gegenwärtigen Entwicklungen der Ostblockstaaten hatte und zudem von der
herrschenden Funktionärsschicht, der 'Nomenklatura', für deren eigene Zwecke
mißbraucht wurde.
Erst 1980 kam es zu einem neuen Aufbruch innerhalb des Ostblocks, als die
Arbeiter der Danziger Leninwerft in Polen in den Ausstand traten und damit eine
Streikwelle im ganzen Land auslösten. Es bildete sich eine unabhängige
Gewerkschaft ‚Solidarnost’, die erste nicht von der kommunistischen Partei
kontrollierte politische Kraft in einem kommunistischen Land. Ein von der
Sowjetunion drohender Truppeneinmarsch konnte nur dadurch abgewendet
werden, daß Ende 1981 das Kriegsrecht in Polen verhängt wurde. Die
Gewerkschaft Solidarnost ging in den Untergrund, wurde aber von weiten Teilen
der polnischen Bevölkerung unterstützt. Auch unter der Bevölkerung benachbarter
"Bruderstaaten" wurde Solidarnost als hoffnungsvolles Zeichen möglicher
Veränderungen angesehen.2
Mit Titos Tod im Jahre 1980 begannen im Vielvölkerstaat Jugoslawien, der sich
schon in den sechziger Jahren nach Westen hin geöffnet hatte, erste Unruhen,
die auf eine Entwicklung des möglichen Zerfalls bereits hindeuteten. Die Albaner
im Kosovo forderten eine eigene Teilrepublik, in der autonomen Republik
Vojvodina kam es durch serbisch-nationalistische Bestrebungen zu Unruhen.
Unter diesen Vorzeichen hatte die seit 1985 von Michail Gorbatschow eingeleitete
Reformpolitik auf die sogenannten Ostblockstaaten Ostmittel- und Südosteuropas
zunächst eine von der sowjetischen Vormundschaft befreiende Wirkung, die sich
gegen die Monopolansprüche der eigenen Kommunistischen Parteien richtete und
einen Demokratisierungsprozeß in die Wege leitete. Ungarn und Polen waren die
2 Das Kriegsrecht in Polen 1981–1983 war eine Maßnahme des Regimes der Volksrepublik Polen unter
Wojciech Jaruzelski, um die Demokratiebewegung um die Gewerkschaft Solidarność zu zerschlagen. Es war
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ersten Staaten, in denen sich eine Trennung von Partei und Staat vollzog. Nach
einem Übergangszustand lösten sich die kommunistischen Einheitsparteien auf
und es wurden freie Wahlen durchgeführt.3
Der gesellschaftliche Umbruch, der seit 1989 endgültig und unumkehrbar
Osteuropa und die gesamte Sowjetunion erfaßt hat, brachte nicht nur die
voraussehbaren wirtschaftlichen Probleme. Vielmehr zeigte sich, daß die
zweifellos tiefgreifenden Wandlungen der 45jährigen kommunistischen Herrschaft
das vielgestaltige historische und kulturelle Erbe besonders der europäischen
Region nicht ausgelöscht hatte. Erneut werden Grenzen in Frage gestellt, brechen
Nationalitätenkonflikte auf, die vor zwei Jahren mitten in Europa in einen der
grausamsten Kriege seit dem Zweiten Weltkrieg führten. Um den Zerfall
Jugoslawiens, aber auch die Konflikte zwischen Ungarn und Rumänien sowie das
Auseinanderbrechen der Tschechoslowakei in die Staaten Tschechien und
Slowakei, die Minderheitenkonflikte überall in Südosteuropa verstehen zu können,
ist es notwendig, einige der historisch-kulturellen Grundbedingungen der Staaten
und Völker dieser Region zu kennen. Um so mehr, als die ethnischen
Voraussetzungen Osteuropas fortbestehen werden und ein sich ausbreitender
Flächenbrand ganz Europa betreffen könnte.
Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien hat die größte Flüchtlingswelle in Europa
seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Millionen Menschen sind auf der Flucht vor
Massenmord, Bombenterror, Folter, Hunger und Elend.
Die unfaßbaren Greuel, denen bisher bei den ethnischen Säuberungen für ein
"Großserbien"4 moslemische Bosnier, aber auch andere Bevölkerungsgruppen
im ehemaligen Jugoslawien zum Opfer gefallen sind, hat die Weltöffentlichkeit
erschüttert zur Kenntnis genommen. Insgesamt sind es etwa eine Viertelmillion
Tote, hunderttausende Verletzte und für immer Versehrte, eine halbe Million
mit der Militarisierung von Verwaltung, Wirtschaft und Medien, der Aufhebung von Bürgerrechten sowie
einer das ganze Land erfassenden Verhaftungs- und Repressionswelle verbunden. 3 Vgl. Margarditsch A. Hatschikjan/Peter R. Weilemann (Hrsg.), Parteienlandschaften in Osteuropa. Politik,
Parteien und Transformation in Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei und Bulgarien 1989 - 1992, Paderborn
u.a. 1994. 4 Der historisch-sprachliche Hintergrund: Der serbische Linguist Vuk Karadžić vertrat die Ansicht, wonach
alle Slawen, die einen štokavischen Dialekt sprechen, Serben seien und die Serbische Sprache sprechen.
Gemäß dieser Definition wären große Teile Kroatiens sowie Bosnien-Herzegowina serbisches
Siedlungsgebiet, und die dort lebenden Kroaten und Muslime wären Serben. Nach Karadžićs linguistischer
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Flüchtlinge, die in Westeuropa angekommen sind. Ein großer Teil von ihnen ,
etwa 250 000 dieser Kriegsflüchtlinge, hat in Deutschland Aufnahme gefunden
1 Geschichte
1.1. Vielvölkerstaaten im Osten Europas
Bis in die zweite Hälfte des 18.Jahrhunderts bestand ein breiter Staatengürtel: in
Ostmitteleuropa und Südosteuropa: Polen-Lituauer, die Böhmischen Länder und
Ungarn, im Norden die Baltischen Länder und nach Südosten hin die
mittelalterlichen Reiche auf dem Balkan, die zwischen dem 14. und 16.Jahrundert
von den Türken erobert und dem Osmanischen Reich einverleibt wurden.
Das mittelalterliche Königreich Polen hatte sich im 14. Jahrhundert mit dem
Großfürstentum Litauen zu einem der größten Flächenstaaten Europas
verbunden und existierte bis ins späte 18. Jahrundert hinein als Adelsrepublik mit
monarchistischer Spitze und einer ständischen Verfassung, wie sie für
Ostmitteleuropa in der frühen Neuzeit charakteristisch war. Durch die
sogenannten Polnischen Teilungen wurde das Territorium seit 1772 immer
stärker begrenzt bis 1795 das Ende der staatlichen Existenz Polens eintrat.
Eine ständische Verfassung hatten auch die Böhmischen Länder - Böhmen,
Mähren, Schlesien -, die im mittelalterlichen Heiligen Römischen Reich zeitweilig
den Mittelpunkt bildeten. Im späten 14. Jahrhundert war die Stadt Prag
Kaiserresidenz. 1526 kam es zur Union mit den habsburgischen österreichischen
Erbländern und Ungarn, die bis zum Ersten Weltkrieg Bestand hatte. Nach einem
Ständeaufstand gegen den Kaiser zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges
verloren die Böhmischen Länder ihre Selbständigkeit und fielen an das
Habsburgerreich.
Ungarn vermochte seine Eigenständigkeit in gewissem Umfang auch unter der
Herrschaft der Habsburger zu bewahren, die im frühen 16. Jahrhundert die
ungarische Krone ihrem Machtbereich einverleibt hatten, während ein Teil
Definition der Serbischen Nation wären jedoch die torlakisch sprechenden Bewohner Südserbiens keine
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Ungarns zur gleichen Zeit von den Türken erobert und dem Osmanischen Reich
einverleibt worden war. Dadurch war Ungarn in zwei Kulturkreise aufgeteilt. Als
Ende des 17. Jahrhunderts die Türken von den Habsburgern zurückgedrängt
wurden, bewahrte Ungarn eine größere Selbständigkeit als andere Nationen
dieses Vielvölkerimperiums.
Südosteuropa5 lag jenseits der sogenannten ‚Türkengrenze’ und war nach der
türkisch-osmanischen Eroberung vom übrigen Europa weitgehend abgeschnitten.
Das schon im 9. Jahrhundert entstandenen Bulgarische Reich und das einige
Jahrhunderte später im Nordwesten entstandenen Serbische Reich, das im 14.
Jahrhundert seine größte Ausdehnung erreicht hatte, waren vom östlichen
Christentum geprägt. Die Invasion der osmanischen Heere (Schlacht auf dem
Amselfeld 1389) beendete die Selbständigkeit der südslawischen Völker, konnte
jedoch nicht ihre religiöse und kulturelle Identität auslöschen, die besonders durch
das Fortbestehen der Nationalkirchen erhalten blieb. Da den Angehörigen
christlicher Völker unter den Osmanen keine Aufstiegschancen gegeben wurde,
sie waren in der Mehrzahl landlose Bauern, trat eine Minderheit von ihnen im
Laufe der fünfhundert Jahre andauernden Türkenherrschaft zum Islam über. (vgl.
Pomaken in Bulgarien, Moslems in Bosnien).
1.2 Religionen und Konfessionen
Bis heute wird deutlich, daß Ostmittel-- und Südosteuropa am nachhaltigsten
durch die religiös-konfessionelle Entwicklung der Frühzeit geprägt worden ist .
Hierin haben die Nationalkulturen ihre Wurzeln und auch die historisch-politisch
Entwicklung der Neuzeit bis in die Gegenwart knüpft daran an.
Die endgültige Spaltung der Kirche in eine Ost- und eine West-Kirche durch das
Konzil von 1054 in Konstantinopel, hat in Europa eine kulturelle Spaltung
verursacht. Die westkirchlichen Völker bekannten sich zur römisch-katholischen
Serben. Diese Sichtweise wird als sprachlicher Panserbismus bezeichnet. 5Vgl. Konrad Clewing, Oliver Jens Schmitt (Hrsg.): Geschichte Südosteuropas. Vom frühen Mittelalter bis
zur Gegenwart, Pustet, Regensburg 2011
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Kirche mit Rom als ihrem Zentrum und benutzen die lateinische Schrift. Die
ostkirchlichen slawischen orthodoxen Völker dagegen benutzen die kyrillische
Schrift. Eine Ausnahme bilden die Rumänen, die, obwohl zur Orthodoxie
gehörend, seit zwei Jahrhunderten ebenfalls das lateinische Alphabet
gebrauchen. Außerdem sind einige im Mittelalter noch ostkirchlich geprägten
Gebiete später unter römische-päpstliche Oberhoheit gebracht worden, konnten
aber ihre ostkirchliche Liturgie beibehalten, wie die Ukrainer, die aber das
kyrillische Alphabet nicht aufgaben. Die Grenze zwischen der Ost- und
Westkirche, die ungefähr entlang der alten Grenze zwischen der westlichen und
der östlichen Hälfte des Römischen Reiches verläuft, trennte auch ursprünglich
kulturell zusammenhängende Völker, deren Sprache nahezu gleich war wie die
katholischen Kroaten und die orthodoxen Serben.
Eine weitere Kirchenspaltung entstand im 16.Jahrhundert innerhalb der
lateinischen, römisch-katholischen Kirche durch die deutsche Reformation, die
sich zunächst schnell in Ostmitteleuropa ausbreitete. So wurde Schlesien
protestantisch, erst im 17./18.Jahrhundert kam es unter der Herrschaft
Österreichs zu einer Rekatholisierung der Bevölkerung.
In Böhmen vollzog sich schon hundert Jahre vor Luther eine Reformation, durch
den Prager Magister Jan Hus (1369-1415), die als religiös-soziale Bewegung der
Hussiten weit über die Böhmischen Länder hinaus ging und zu einer eigenen
hussitischen ("utraquistischen“) Konfession in Böhmen geführt hat. Aus dieser
Glaubensgemeinschaft sind in einem Seitenzweig die "Böhmischen Brüder"
hervorgegangen, die wegen ihres radikalen Pazifismus immer wieder aus Böhmen
vertrieben wurden.
Luthers Reformation fand vor allem unter den Deutschen Anhänger, die in
Böhmen und Mähren , in den Städten Polens, in den südlichen habsburgischen
Ländern und bei den Siebenbürger Sachsen lebten. Zum Kalvinismus tendierte
der ungarische Adel.
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Im 16.und 17. Jahrhundert war Ostmitteleuropa von einer christlich-
konfessionellen Vielfalt geprägt.6 Die in einzelnen Ländern vorherrschende
ständische Gesellschaftsordnung begünstigte das Nebeneinander verschiedener
Glaubensbekenntnisse.
Mit der Stärkung des absolutistischen Staates ging auch die Rekatholisierung
einher. Die katholische Kirche hatte seit dem Konzil von Trient (1545-1563) eine
Erneuerung erlebt und ihren Einfluß wieder verstärken können. Im Zuge dieser
"Gegenreformation" konnten große Teile der reformierten Bevölkerung wieder
zurückgewonnen werden, besonders in den Gebieten, wo das ständische System
geschwächt war. So in Böhmen, wo 1620 in der Schlacht am Weißen Berg bei
Prag ein protestantischer Ständeaufstand niedergeschlagen wurde und die
katholische Partei des Kaisers siegte. Die protestantischen Adelsfamilien wurden
vertrieben. In Polen bildete das Symbol des erstarkenden Katholizismus die
Erhebung der Mutter Gottes zur Königin Polens in Tschenstochau 1655, das noch
frei von feindlichen Truppen war. Auch Ungarn wurde von kaiserlichen Truppen
zum Teil erobert und rekatholisiert.
In den südosteuropäischen Gebieten, die im 15. Jahrhundert unter osmanische
Herrschaft gelangt waren, war der Islam für fünfhundert Jahre die kulturell
prägende Religion der Herrscher. Damit ging eine Islamisierung einer, es
entstanden größere Bevölkerungsteile, die teils mit Zwang, teils aus
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gründen zum Islam übertraten. So nahm
das früher christliche Albanien Ende des 15. Jahrhunderts in weiten Teilen des
Landes den Islam an, nur eine kleine Minderheit hielt am Christentum fest. In
Bosnien, der Herzegowina und Bulgarien entstanden gleichfalls größere
moslemische Bevölkerungsgruppen.
Juden bildeten in den zentralen ostjüdischen Siedlungsgebieten z.B. in Ostpolen,
in der Karpatenukraine , in der Bukowina einen eigenen Bereich sozialen Lebens.
Häufig waren sie Ziel von Antisemitismus und Pogromen, die Flucht- und
6 vgl. Evelin Wetter (Hrsg.), Formierungen des konfessionellen Raumes in Ostmitteleuropa, Stuttgart 2008.
12
Auswanderungsbewegungen zur Folge hatten.
1.3. Sprachen und Nationale Bewegungen
Weniger bedeutsam als die Religion oder Konfession für die kulturhistorische
Prägung war die Sprache in der frühen Neuzeit. Seit dem Mittelalter waren fast
überall in Europa zwei Sprachen in Gebrauch: die Kult- und Kirchensprache, die
auch für die Wissenschaft und das Rechtswesen benutzt wurde und die
verschiedenen Volkssprachen. In der Westkirche war das Lateinische im
Gebrauch, in der Ostkirche herrschte das Kirchenslawische7 vor, in einigen Teilen
des Balkanraumes das Griechische. Beide Kult- und Liturgiesprachen waren von
den Volkssprachen weit entfernt und unverständlich für die große Masse der
Bevölkerung. Für die Juden, die in Ostmitteleuropa in eigenen
Glaubensgemeinschaften von der übrigen Gesellschaft sprachlich und religiös
isoliert lebten, war das Hebräische Kultsprache, die Umgangssprache dagegen
das Jiddische (jiddisch-daitsch), ein aus dem Mittelhochdeutschen
hervorgegangenes, mit Sprachelementen aus slawischen, romanischen und
orientalischen Sprachen angereichertes Idiom.
Zu der Verschiedenheit von Kult- und Volkssprache kam noch eine weitere
sprachliche Differenzierung zwischen der sozial führenden, privilegierten
Schichten des Adels und des städtischen Bürgertums einerseits und der
Bauernbevölkerung andererseits hinzu.
Bis ins 18. Jahrhundert hatte dieses Nebeneinander verschiedener Sprachen und
Sprachschichten keine Konflikte hervorgebracht. Erst als im 19.Jahrhundert die
Zeit der Nationalbewegungen begann, wurde auch der Sprachenfrage große
Bedeutung beigemessen. Ein anschauliches Beispiel bietet das Königreich
Ungarn, wo die bäuerlichen Unterschichten Kroatisch, Slowakisch, Rumänisch,
Deutsch usw. sprachen. Die Sprache der Oberschicht, das Magyarische, wurde
im 19. Jahrhundert zur Staatssprache erhoben und erlangte dadurch eine
7 Kirchenslawisch ist eine traditionelle Liturgiesprache, die in den slawischsprachigen Ländern von den
orthodoxen Kirchen und den katholischen Ostkirchen verwendet wurde oder, in den slawischen orthodoxen
Kirchen, verwendet wird. Sie entstand im Rahmen der Slawenmission durch Kyrill und Method und war bis
in die Neuzeit die wichtigste slawische Literatursprache. Vgl. August Schleicher, Die Formenlehre der
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Vormachtstellung, die von den anderen Nationalitäten als starkes Element der
Unterdrückung empfunden und schließlich durch eigene Nationalbewegungen und
Nationalsprachen bekämpft wurde.8
Ein anderes Beispiel: nach der Einverleibung der polnischen Ostgebiete ins
Zarenreich wurde das Russische hier offizielle Staatssprache, der polnische Adel,
die privilegierte Schicht, sprach weiterhin Polnisch, die Bauernbevölkerung hielt an
ihren Volkssprachen, Ukrainisch, Weißruthenisch oder Jiddisch fest.
Man kann zusammenfassend feststellen, dass im Zeitalter der
Nationalstaatenbildung des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts der von
Sprachvölkern getragene Nationalismus die Leitideologie war.
1.3.1. Unionspläne im 19. Jahrhundert
Das Erwachen eines nationalen Bewußtseins der Völker im Donau- Balkan-Raum
setzte bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Rückbesinnung
auf die eigene ethnisch-kulturelle Identität ein und erreichte gegen Mitte des 19.
Jahrhunderts politisch artikulierte revolutionäre Höhepunkte. Unter der
jahrhundertlangen Fremdherrschaft hatten diese Völker und Volksgruppen
teilweise ihre Sprache und nationale Identität verloren. Das Streben nach
Eigenstaatlichkeit und Unabhängigkeit fand in organisierten Aufständen und
Revolten seinen Ausdruck. Im Zusammenhang mit diesen Befreiungsbewegungen
entstanden verschiedene politische Programme und diplomatische
Vereinbarungen, denen Unions- und Föderationsideen zugrunde lagen.
In Odessa hatten sich Anfang des 19.Jahrhunderts griechische Emigranten
zusammengefunden und die Geheimorganisation Philike Hetairia (1814) zur
Befreiung Griechenlands von der türkisch-osmanischen Herrschaft gegründet.
Dieser Organisation traten auch rumänische, serbische, bulgarische und
kirchenslawischen Sprache erklärend und vergleichend dargestellt. Nachdruck H. Buske Verlag, Hamburg
(1998). 8 Die aus der Magyarisierung resultierende Unzufriedenheit der nichtmagyarischen Bevölkerung des
Königreichs Ungarn war 1918 eine der Hauptursachen des Zerfalls des Vielvölkerstaats nach Ende des Ersten
Weltkriegs.
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albanische Emigranten bei, die für ihre Völker das gleiche Ziel anstrebten und sich
nach der Befreiung in einer Konföderation zusammenschließen wollten.
Im Frühjahr 1821 erhoben sich die Griechen gegen die jahrhundertelange
Osmanenherrschaft. Mit Unterstützung Frankreichs und Englands erzwangen sie
1829 im Friedensvertrag von Adrianopel die Anerkennung ihres Staates durch den
Sultan. 1832 proklamierten sie den bayrischen Prinzen Otto von Wittelsbach zu
ihrem ersten König. Der Freiheitskampf der Griechen wurde bald zu einem
weltgeschichtlichen Ereignis, an dem ganz Europa Anteil nahm. Öffentliche
Appell, den leidenden Mitchristen bei der Befreiung vom Joch der osmanischen
Großmacht zu helfen, erweckte in Deutschland die Bewegung des
Philhellenismus. Der Zeitgeist verherrlichte das antike Griechenland und
unterstützte den Freiheitskampf eines der ältesten Kulturvölker Europas gegen
das als barbarisch empfundene Osmanische Reich. Doch als Griechenland nach
jahrelangen Kämpfen endlich seine Unabhängigkeit errungen hatte, blieben die
übrigen Gebiete des Balkans zunächst weiter unter türkischer Herrschaft.
Der serbische Minister Ilja Garaschanin (1812-1874) trat in seinem 1844
veröffentlichten Werk "Nacertanje" („Der Plan“) für eine Balkan-Konföderation ein,
wobei er aber keine vollständige Unabhängigkeit anstrebte, sondern die nominelle
Oberhoheit des türkischen Sultans akzeptierte. Dem südslawischen
Staatsgebilde sollten Serbien, Kroatien, Bosnien, Montenegro, das südliche
Ungarn, wo vorwiegend Serben lebten, und Bulgarien angehören. Damit wollte
Garaschanin der russischen Expansion entgegentreten, die sich hinter der
politischen Unterstützung der slawischen "Brudervölker" verbarg.
Dieser Plan ging in großen Teilen auf den Einfluß des polnischen Fürsten Adam
Czartoryski (1770-1861) zurück, der schon in den dreißiger Jahren des 19.
Jahrhunderts weitgespannte Konföderationspläne hatte, die sich auf die
Wiederherstellung des polnischen Staates bezogen und eine ostmittel-
europäisch-balkanische Union unter Einbeziehung des Süden Rußlands bis hin zu
den kaukasischen Völkern anstrebten.
Sein Plan wurde von dem ungarischen Nationalisten Lajos Kossuth (1802-1894)
aufgegriffen, nachdem der ungarische Aufstand 1848 gescheitert war. Sein
Entwurf einer Donaukonföderation basierte auf der Vorstellung, daß neben
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Ungarn in seinen historischen Grenzen die slawischen Völker im Westen, Norden
und Nordwesten Ungarns und die Walachen sich zusammenschließen, um ihre
nationalen Eigenarten bewahren zu können.
"Sonst werden Polen, Tschechen, Kroaten, Slowenen, Serben Dalmatiner und alle andern einzeln
oder alle zusammen absorbiert, oder sie verlieren in der Idee des Panslawismus(die mit einem
russischen Protektorat unweigerlich zusammenfällt) ihre eigene Nationalität."9
Schon damals gab es wegen Gebietsansprüchen nationale Gegensätze,
abgesehen davon war die osmanische Regierung dafür nicht zu gewinnen.
Es gab auch südslawische Pläne, wie den "Bund der christlichen Balkanvölker"
des aus der ungarischen Batschka (Bácska) stammenden Mihailo Polit-Desančić
(1833-1920) Neben den Südslawen sollten auch Rumänen und Griechen dem
Bund angehören. Die förderalistisch-republikanische Verfassung dieser Union war
eine Konzeption nach dem Vorbild der Schweiz. Die Losung "Der Balkan den
Balkanvölkern" und die föderalistischen Ideen von Polit-Desančić haben später
auch andere südslawische Politiker aufgegriffen.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts gewann die Panserbische Bewegung von
Südungarn aus auch in Serbien selbst Raum. An ihrer Spitze stand der serbische
Fürst Michael Obrenovic (Mihailo Obrenović III.,1823-1868) und sein
außenpolitischer Berater Garaschanin. Seine Großserbischen Ideen wurden von
Rußland und Frankreich unterstützt. Die Ermordung des Fürsten am 10. Juni 1868
zog einen vorläufigen Schlußstrich unter die großserbischen Balkanpläne jener
Zeit.
Rumänische Konföderalisten träumten von einem großrumänischen Staat Groß-
Dakien, der die Walachei, Moldau, Bessarabien, Dobrudscha, und Siebenbürgen
umfassen und in den Donau-Balkan-Staatenbund eingebracht werden sollte.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielten Konföderations- und
Föderationspläne im Donau-Balkan-Raum keine Rolle mehr, dafür wurde die aus
Westeuropa kommende Idee der nationalstaatlichen Emanzipation um so stärker.
9 Joachim Kühl, Förderationspläne im Donauraum und in Ostmitteleuropa, München 1958, S. 19
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Der fortschreitende innere Zerfall des Türkisch-Osmanischen Reiches und sein
schrittweiser Rückzug aus Südosteuropa sowie die Umgestaltung der österreichi
schen Donaumonarchie schufen die Voraussetzungen, die schließlich zu einer
politischen Neugestaltung des Balkanraumes geführt haben.
1.3.2. Teilung der Donaumonarchie und die Südslawische Frage
Der Vielvölkerstaat Österreich, die Donaumonarchie, war staatsrechtlich ein sehr
kompliziertes Gebilde, hervorgegangen aus der Hausmacht der Österreicher und
nach Kronländern gegliedert, die Eroberungen der Habsburger waren. Diese
Kronländer, in denen eine deutsche, slawische und romanische Bevölkerung
lebte, behielten auch nach der Eingliederung in das Imperium ihre alten Grenzen
und Sonderrechte. Unter Kaiserin Maria Theresia entstand nach preußischem
Vorbild eine neue zentralistische Verwaltungsstruktur, deren oberste
Verwaltungsbehörde für die österreichischen und böhmischen Länder sich in
Wien befand. Das Kronland Ungarn behielt indessen eine eigene Administration,
die ungarische Hofkanzlei. Während der Revolution von 1848 forderten die
Ungarn ihre staatliche Unabhängigkeit. Nachdem Österreich mit Hilfe Rußlands
den Aufstand des ungarischen (magyarischen) Kleinadels blutig niedergeschlagen
hatte, bestanden zwischen Wien und Budapest starke Spannungen. Unter der für
Ungarn günstigen politischen Entwicklung kam es 1867 zur Teilung der Habs-
burger Monarchie in zwei Staaten mit eigenen Verfassungen und Regierungen.
Diese Gründung ging als Ungarischer Ausgleich in die Geschichte ein und schuf
die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie, K. u. K., die aus dem Königreich
Ungarn und den im Wiener Reichsrat vereinigten Königreichen und Ländern
bestand. Beide Reichshälften waren durch die Außenpolitik, das Heerwesen und
die Finanzen verbunden.
Ein ungarischer Nationalstaat war damit keineswegs geschaffen worden, denn
von den 19 Millionen Einwohnern im Königreich Ungarn waren nur 7,4 Millionen
Magyaren, gegenüber 2,4 Millionen Rumänen, 2,6 Millionen Serben und Kroaten,
2,1 Millionen Deutschen, 2 Millionen Slowaken, 0,4 Millionen Ruthenen und
verschiedenen anderen Volksgruppen wie Bulgaren, Armeniern, Juden, Zigeu -
nern. Der Einheitsstaatsgedanke Westeuropas war für Mittel- und Südosteuropa
völlig ungeeignet. Die ungarische Führungsschicht versuchte ihn mit einer
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zielstrebigen Magyarisierungspolitik durchzusetzen. Die ungarische Sprache
wurde Amtssprache, strenge Schulgesetze sollten die anderen Nationalitäten
"entnationalisieren" und zu einer ungarischen Nation verschmelzen. Das
Gegenteil davon trat ein: die Südslawische Frage und der Großserbische
Nationalismus traten der ungarischen Nationalitätenpolitik entgegen.
Die nationalen Gegensätze im Habsburgerreich steigerten sich zum
Nationalitätenkampf, nachdem durch den ungarischen Ausgleich von 1867 eine
vielleicht möglich gewesene Föderalisierung durch die ungarischen
Zentralisierungsbestrebungen verhindert worden war. Auch in der
österreichischen Hälfte verschärfte sich der deutsch-slawische Gegensatz. Dem
Beispiel der Ungarn folgend, strebten die Deutschen hier nach der Vorherrschaft
in ihrer Reichshälfte. Hier waren es die Tschechen, die ihre Selbständigkeit
verlangten.
Die südslawische Frage, die in Ungarn durch den Widerstand der Kroaten gegen
die Magyarisierungspolitik entstanden war, existierte in beiden Reichshälften,
denn Südslawen - Serben, Kroaten und Slowenen - lebten sowohl in der
österreichischen wie in der ungarischen Reichshälfte. Wollte man diese Frage
lösen, so mußte der Dualismus Ungarn-Österreich überwunden und das
Autonomieverlangen der Südslawen berücksichtigt werden, die sich bei der
Neuordnung 1867 völlig übergangen sahen.
In Österreich-Ungarn lebten damals 3,2 Millionen Serben und Kroaten sowie 1,3
Millionen Slowenen. Letztere waren in der Südsteiermark, Südkärnten und der
Krain ansässig, also in den Kronländern der österreichischen Reichshälfte, und
hatten Parlamentsvertreter in Wien. Kroaten und Serben wohnten im Küstenland
Dalmatien, Slowenien, Südungarn, Bosnien und in der Herzegowina. Obwohl
beide Völker ursprünglich vielleicht aus einem Volksstamm hervorgegangen
waren, hatten sie sich im Laufe ihrer Geschichte voneinander getrennt, was auch
ein Ergebnis der großen Kirchenspaltung im Mittelalter gewesen ist und eine
Folge der von den beiden christlichen Zentren Rom und Byzanz ausgehenden
Missionstätigkeit. Während die Kroaten katholisch wurden, das lateinische
Alphabet übernahmen und sich kulturell nach Westen orientierten, wurden die
Serben orthodox, übernahmen das kryillische Alphabet und orientierten sich am
18
byzantinischen Kulturkreis. Beide Völker gerieten im 15. Jahrhundert unter die
Türkenherrschaft, von der die meisten Kroaten aber infolge der Türkenkriege des
Prinzen Eugen von Savoyen (1663-1736) befreit wurden.
Erst ein Jahrhundert später gelang es den Serben, sich in Aufständen gegen die
Türken zu erheben, die 1804 und 1813 unter Kara Georg (Karadjordje oder Georg
Petrowitsch Czerny, 1762-1817) und unter Miloš Obrenović (1780-1860) 1815 bis
1817 stattgefunden haben. Seitdem existierte ein unabhängiges Fürstentum
Serbien, das auf die außerhalb seiner Grenze lebenden Serben mit Beginn der
Nationalitätenkämpfe eine große Anziehung hatte und schließlich Teil des
großserbischen Reichsgedanken wurde. Aus kulturellen und konfessionellen
Gründen waren die Kroaten zunächst dagegen, unter dem Druck der
Magyarisierung schwand dieser serbo-kroatische Gegensatz und trat zugunsten
der allgemeinen südslawischen Frage in den Hintergrund.
1.3.3. Der Berliner Kongreß 1878 und der Panslawismus
1875 hatte ein Bauernaufstand in der Herzegowina, die damals noch unter
türkischer Oberhoheit stand, das Signal zur allgemeinen Erhebung der Balkanvöl-
ker und zum Russisch-Türkischen-Osmanischen Krieg 1877-78 gegeben. Schon
lange hatte Rußland das Ziel, die Erbschaft des sich auflösenden
Osmanenreiches anzutreten und nutzte die Entwicklung auf dem Balkan für seine
eigenen Interessen. Mit dem Russisch-Türkischen Friedensvertrag von San
Stefano im März 1878 konnte Rußland seinen Einfluß vergrößern und gegenüber
den europäischen Großmächten ein Übergewicht erlangen. Der im Juni 1878 (13.
Juni bis 13. Juli) einberufene Berliner Kongreß sollte dieses Übergewicht
korrigieren. Die Zusammenkunft führender Staatsmänner der europäischen
Großmächte und der Türkei, die in Berlin unter dem Vorsitz des deutschen
Reichskanzler Otto von Bismarck (1815-1898) stattfand, sollte durch die
Neuaufteilung der Balkangebiete dort ein europäisches Gleichgewicht herstellen
und die Gegensätze der Großmächte untereinander abbauen. Dieses Ziel konnte
aber nicht erreicht werden, stattdessen verschärften sich die Spannungen. Als
Ergebnis verzichtete Rußland auf das Protektorat über Großbulgarien, das in ein
selbständiges, der Türkei aber tributpflichtiges Fürstentum und die türkische
Provinz Ostrumelien aufgeteilt wurde. Rußland erhielt dafür Bessarabien und
19
Gebiete im Osten des Osmanenreiches. Rumänien bekam die Dobrudscha (rum.
dobrogea) und wurde, wie auch Serbien und Montenegro, unabhängig. Österreich
erhielt als Protektorat Bosnien und die Herzegowina, diese Gebiete unterstanden
dem K.u.K.-Finanzministerium, das von Österreich und Ungarn gemeinsam
verwaltet wurde, so daß damit ein Sonderstatus vorlag und sowohl Wien als auch
Budapest auf die ehemaligen türkischen Provinzen Einfluß nehmen konnten.10
Damit hatte sich Österreich-Ungarn nur ein weiteres ungelöstes Problem
aufgebürdet, denn in Bosnien und Herzegowina lebten damals schon drei
Bevölkerungsgruppen, deren religiöse und politische Gegensätze durch die
Okkupation noch verschärft wurden:
674. 000 orthodoxe Serben, 334. 000 katholische Kroaten und 548. 000 slawische
Moslime.
Letztere waren jahrhundertelang die Grundbesitzer und Landeigentümer, die
christlichen Kleinbauern ausbeuteten und unterdrückten. Eine Landreform
durchzuführen, hätte in Ungarn, wo ähnliche Agrarverhältnisse herrschten, zu
Unruhen geführt. In den Städten beherrschten Moslime den Handel.
Rußland fühlte sich nach dieser Neuordnung auf dem Balkan, die das
angeschlagene Osmanenreich im Interesse der europäischen Großmächte vor
dem endgültigen Zusammenbruch vorübergehend bewahren konnte, um seinen
Sieg gegen die Türken betrogen. Für die Balkanvölker waren die Beschlüsse
unbefriedigend und ein Provisorium, die nationalen Fragen blieben ungelöst
geblieben. Unter dem Scheinfrieden, der in Berlin gestiftet worden war, verbargen
sich alte und neue Konflikte.
Seit dem letzten Russisch-Türkischen Krieg hatte sich von Rußland aus die
Bewegung des Panslawismus auch unter der Südslawen verbreitet. Seine
Ideologie wurde vor allem von russischen Intellektuellen und Schriftstellern
verbreitet. Der berühmte Dichter Fjodor Mikhailovich Dostojewski (1821-1881)
setzte sich enthusiastisch für die kulturelle Wiedergeburt und Vereinigung aller
Slawen ein. Hauptträger des Panslawismus war die 1857 gegründete "Slawische
10 Horst Haselsteiner: Bosnien-Hercegovina. Orientkrise und südslavische Frage. Verlag Böhlau, Wien 1996.
20
Wohltätigkeitsgesellschaft", die im Sinne des großrussischen Nationalismus
wirkte. Im Laufe der Zeit gingen von dieser Gesellschaft der wichtigste Impulse
zur Gründung zahlreicher Verschwörergruppen und Geheimbünde in den
Balkanstaaten aus.
Serbien, das durch die Berliner Neuordnung im Süden Gebiete gewonnen hatte,
wurde 1882 Königreich (Краљевина Србија/Kraljevina Srbija). Mit seinen zwei
Millionen Einwohnern erhielt es später eine Schlüsselstellung als die Österreich-
freundliche Dynastie Obrenović beseitigt wurde.
Die Wiener Regierung war nicht in der Lage, eine Initiative zur Lösung der
südslawischen Frage zu unternehmen, obwohl nach 1878 der größte Teil der
Südslawen innerhalb der Grenzen des Habsburger Reiches lebte und Anspruch
auf ein autonomes Staatsgebilde hatte.
Die verschieden gelagerten Interessen Wiens und Budapests in der
Südslawenfrage waren das größte Hindernis. So suchten die südslawischen
Völker Unterstützung und Rückhalt bei Rußland, das seine politischen Aktivitäten
auf dem Balkan auch nach dem Berliner Kongreß fortsetzte.
Als unter russischem Einfluß die Provinz Rumelien 1885 erneut dem Fürstentum
Bulgarien einverleibt wurde, erklärte das Königreich Serbien, unterstützt von
Österreich-Ungarn, dem Fürstentum Bulgarien den Krieg. Der bulgarische
Vormarsch nach Serbien wurde aber wegen russischer Vorbehalte und einer
Interventionsdrohung Österreichs abgebrochen. Im Frieden von Bukarest am 3.
März 1886 wurden die Vereinigung Bulgariens mit Ostrumielien, aber auch die
Vorkriegsgrenzen zwischen Bulgarien und Serbien anerkannt.
1.3.4. Die Annexion Bosniens und Herzegowinas und ihre Folgen
Um die Jahrhundertwende (1900) waren Verschwörergruppen und Geheimbünde
für die großserbischen Bestrebungen aktiv. Am bekanntesten und historisch
folgenschwersten waren zwei von ihnen: Die von serbischen Offizieren
gegründete 'Crna Ruka' ('Schwarze Hand' ), die am 10. Juni 1903 durch eine
Verschwörung von Offizieren nter Führung von Dragutin Dimitrijević (1876-1917)
die Ermordung des österreichfreundlichen Königs Aleksandar Obrenović (1876-
21
1903) und seiner Frau Draga Mašin (1864-1903) in Belgrad durchführten.
Dimitrejewitsch, der von seinen Mitverschwörern "Apis" genannt wurde und später
auch maßgeblich in das den Weltkrieg auslösende Attentat von Sarajewo
verwickelt war, stand in direkter Verbindung mit dem späteren serbischen
Premierminister Nikola Pašić (1845-1926) und der kaiserlich-russischen Botschaft
in Belgrad, von wo aus der Königsmord gelenkt wurde. Zum König von Serbien
wurde Petar I Karađorđević (1844-192) ernannt, ein Anhänger der prorussischen
Schwarzen Hand und des weitverzweigten slawischen Geheimbundes Omladina
('Jugend'), der schon 1848 als studentisch-literarischer Verein in Preßburg
gegründet worden war, dann 1866 in Novi Sad umgestaltet und als politisches
Instrument der Befreiungsbewegungen eingesetzt wurde. Belgrad war nun das
Zentrum großserbischer Propaganda, die sich verstärkt auch in Bosnien und der
Herzegowina ausbreitete. In Wien erkannte man zwar die Gefahr für die
Donaumonarchie nach dem Umsturz in Belgrad, man unternahm aber offiziell
nichts, obwohl Westeuropa den Einmarsch österreichischer Truppen in Serbien
erwartet hatte. In politischen Geheimverhandlungen, die zwischen dem
österreichisch-ungarischen Außenminister Alois Lexa von Aehrenthal (1854-1912)
und dem russischen Außenminister Alexander Petrowitsch Iswolski (1856-1919)
stattfanden, wurde mit der Annexion Bosniens und der Herzegowina, die bisher
nur unter österreich-ungarischem Protektorat gestanden hatten, nun aber
staatsrechtlich einverleibt wurden, eine neue Balkankrise heraufbeschworen, die
sich auch auf die europäische Großmächtelage auswirkte. Beide Minister kamen
am 16. September 1908 in Buchlau (Mähren) überein, daß Rußland der Annexion
zustimmt, wenn Österreich-Ungarn im Gegenzug Rußland bei der
Dardanellenfrage unterstützen würde. Der österreichische Kaiser Franz Joseph I.
(1830-1916), dienstältester europäischer Monarch seit 1848, gab die Annexion am
5. Oktober 1908 feierlich bekannt, damit war den großserbischen
Expansionswünschen ein Ende gesetzt. Als sich aber nach der Bekanntgabe der
russische Minister Isvolski von den Buchlauer Vereinbarungen distanzierte, war
die europäische Krise nur dadurch einzudämmen, daß sich Deutschland an die
Seite Österreich-Ungarns stellte.
In Bosnien und der Herzegowina wurden nun Verfassung und Landtag
eingeführt, das änderte aber nichts an der wachsenden Feindseligkeit der
22
Bevölkerung. Inzwischen hatte sich eine serbo-kroatische Koalition gebildet, die
gemeinsamen Ziele überwogen die historischen Gegensätze. Im Dezember 1908
bildete sich die Organisation Narodna Odbrana (Nationale Verteidigung), welche
die Befreiung Bosniens mit Freiwilligen-Milizen plante und mit anderen
Geheimbünden zusammenarbeitete. Wieder war es Dragustin Dimitrejevic, unter
dessen Führung serbische Offiziere 1911 in der Geheimorganisation Ujedinjenje ili
smrt (‚Einheit oder Tod’) terroristische Aktionen vorbereiteten, um ihr radikales
politisches Programm durchzusetzen. 1913 wurde Dragutin Dimitrijević (1876-
1917), genannt Apis, Chef des serbischen Geheimdienstes, es gelang ihm, seine
Agenten in die beiden feindlichen Lager der Habsburger und der Osmanen
einzuschleusen und zu unterwandern.
Das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand (1863-1914)
am 28 Juni 1914 in Sarajewo, ausgeführt von dem noch minderjährigen
bosnischen Serben Gavrilo Princip (1894-1918), wurde von Dragutin Dimitrejevic
geplant und organisiert und führte letztlich zum Ziel: am Ende des Weltkrieges
waren die Vielvölkerimperien Donaumonarchie und das Osmanenreich zerstört,
die Südslawen konnten sich in einem Königreich vereinigen. Der Führer von
"Einheit oder Tod" erlebt das nicht mehr, Dragustin Dimitrejevic wurde 1917 in
Saloniki des Hochverrats angeklagt und hingerichtet. Erst 1953 rehabilitierte ihn
der Oberste Gerichtshof der Volksrepublik Serbien.
1.3.5. Die deutschen Interessen auf dem Balkan
Von einer deutschen Politik in südosteuropäischen Fragen kann erst seit dem
Berliner Kongreß (1878) gesprochen werden. Hier beteiligte sich Deutschland
erstmals als Großmacht an der Erörterung der Balkanfrage, wobei für Bismarck
nicht deutsche Interessen nicht so stark im Vordergrund standen, sondern sein
Rolle als Vermittler, - als „ehrlicher Makler“ - , die den europäischen Frieden
erhalten sollte, den das junge Deutsche Reich (gegründet 1871) für die innere
Entwicklung und Festigung dringend brauchte,.
Da mit der Revision des Vorfriedens von San Stefano auf dem Berliner Kongreß
Rußland um seien Sieg des letzten türkisch-russischen Krieges gebracht worden
war, dafür aber sein Rivale Österreich-Ungarn einen Vorteil erreichte, nämlich die
23
Erlaubnis zur militärischen Besetzung und Verwaltung der beiden türkischen
Provinzen Bosnien und Herzegowina, kühlten auch die deutsch-russischen
Beziehungen ab. Bismarck schloß deshalb 1879 das deutsch-österreichische
Verteidigungsbündnis im Falle eines russischen Angriffs. Obwohl der
Reichskanzler betonte, daß sich das Bündnis nur auf den Schutz des
österreichischen Territoriums, nicht aber auf die Vertretung österreichischer In-
teressen im Balkan und Orient beziehen würde, bedeutete dieses Bündnis eine
Verwicklung Deutschlands in die österreichische Balkanpolitik. Daß er gleichzeitig
mit Rußland die Verständigung suchte und die südosteuropäischen Fragen dabei
kein Hindernis bilden sollten, bewies er mit dem sogenannten zwischen beiden
Mächten abgeschlossenen Rückversicherungsvertrag (1887), der auch
Bestimmungen über die Orientalische Frage und die Haltung des Deutschen
Reiches dazu enthielt. So erkannte Deutschland die "geschichtlich erworbenen
Rechte Rußlands" auf der Balkanhalbinsel an, insbesondere dessen Einfluß auf
Bulgarien und Ostrumelien.
Während Österreich-Ungarn den gesamten Balkanraum als einen benachbarten
Markt betrachtete, den es seiner Industrie offen halten wollte, sah Deutschland bis
1890 darin kein Gebiet von unmittelbar eigenem Interesse, sondern nur ein
Streitobjekt zwischen Rußland und Österreich, das genutzt werden mußte, um
Deutschland die Rolle des "Züngleins an der Waage" dieser beiden Mächte zu si-
chern.
In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts erlebte Deutschland einen
ungeheuren wirtschaftlichen Aufschwung. Bismarcks "Politik der kontinentalen
Beschränkung" wurde abgelöst durch den Eintritt Deutschlands in die Weltpolitik.
Nach Bismarcks Rücktritt (März 1890) nahm die deutsche Orientpolitik unter
Kaiser Wilhelm II. (1859-1941), der 1888 den Thron bestiegen hatte, und den nun
regierenden Politikern des "Neuen Kurses" eine andere Wendung. Zwar hatte
auch unter Bismarck die Erhaltung des Türkischen Reiches als eine politische
Notwendigkeit gegolten, die neue politische Entwicklung strebte aber die Stärkung
der Türkei an. Ein Ausgangspunkt dafür waren die Konzessionen für den Bau der
Bagdadbahn, die 1888 der Deutschen Bank von der türkischen Regierung erteilt
worden war.
24
Ein Jahr später besuchte der deutsche Kaiser den türkischen Sultan in Konstan-
tinopel (1889), damit war die bis heute andauernde „deutsch-türkischen
Freundschaft eingeleitet.
Um seine wirtschaftlichen Beziehungen mit den Balkanländern ausbauen zu
können, brauchte Deutschland auf dem Balkan Ruhe, daher sein Interesse an
einer österreichisch-russischen Verständigung.
Nach 1890 erlebten die deutschen Handelsbeziehungen mit den Balkanstaaten
tatsächlich einen bedeutenden Aufschwung. Ein gutes Beispiel dafür ist die
Statistik über die Warenausfuhr nach Bulgarien, wo zwischen 1891 und 1895
Deutschland mit 9,2 % nach Österreich-Ungarn und England an dritter Stelle noch
vor Rußland (4,0 %) und Frankreich (3,6 %) steht. Zwischen 1904 und 1908
behauptete Deutschland seinen dritten Platz, hatte aber seine Warenausfuhr ins
Königreich Bulgarien bereits verdoppelt (19,5 %).
Auch die Beziehungen zum Osmanischen Reich haben sich verstärkt, nachdem
der deutsche Kaiser 1898 dem Sultan einen zweiten Besuch in Konstantinopel
abstattete. Der Bau an der Bagdadbahn begann jetzt und Deutschland hatte in
der Folge ein erhebliches wirtschaftliches, militärisches und politisches Interesse
an der Türkei und damit auch an den unter türkischer Herrschaft stehen den
Teilen des Balkans. So äußerte sich Bernhard von Bülow (1849-1929), deutscher
Reichskanzler zwischen 1900 und 1909:
"Was meine Politik gegenüber der Türkei anbelangt, so möchte ich sie
dahingehend zusammenfassen, daß es mein Bestreben war, durch eine innerlich
gut organisierte und unabhängige Türkei uns eine Stütze im Orient zu schaffen.
Deshalb suchte ich das Türkische Reich vor Schädigung zu wahren, vermittelte
zwischen ihm und den Balkanstaaten, beugte einem gemeinsamen Vorgehen der
Balkanstaaten gegen die Türkei vor. " (Fürst Bernhard von Bülow, Deutsche
Politik, Berlin 1916, S. 73 - 74)
Die Bahnstrecke Berlin - Bagdad, die durch Österreich-Ungarn, durch den Balkan
nach Konstantinopel führte, von dort durch den unwegsamen Taurus bis nach
Bagdad führen sollte, wurde nie fertiggestellt. Sie war bis zum Ersten Weltkrieg
das Kernstück deutscher Balkan- und Orientpolitik, der "trockene Weg nach
25
Indien" und damit eine ernste Bedrohung für die englischen Interessen. Die
Strecke des "Orient-Express" von Budapest bis nach Konstantinopel war bis 1918
der einzige Verbindungsweg nach Mitteleuropa.
1.3.6. Balkanbund und Balkankriege 1912 - 1913
Nachdem 1908 in der Türkei mit der Jungtürkischen Revolution eine neue Kraft
die Macht übernahm, verschärfte sich auf dem Balkan die Nationalitätenpolitik
noch weiter. Der Gedanke eines Balkanbundes11, der sich unter russischem
Einfluß gegen die Türkei richtete, wurde im April 1911 Realität, unter dem Motto
"Balkan der Balkanvölkern". Am 13. März 1912 schlossen Bulgarien und Serbien
einen Offensiv-Vertrag gegen die Türkei, die sich gerade mit Italien im Krieg um
das nordafrikanische Tripolis befand (Tripolitanischer Krieg 1911/12). Die darin
enthaltene Geheimklausel macht deutlich, daß es um die Aufteilung von
Mazedonien zwischen Serbien und Bulgarien ging, wovon Serbien für sich ein
Drittel beanspruchte. Ein weiterer Vertrag wurde am 29. Mai zwischen Bulgarien
und Griechenland geschlossen, im Frühsommer versicherte sich Serbien auch der
Unterstützung der aufständischen Albanier. Montenegro erklärte am 8. Oktober
1912 der Türkei eigenmächtig den Krieg, in den wenige Tage später auch
Bulgarien, Serbien und Griechenland eintraten. Die Hauptlast dieses Ersten Bal-
kankrieges trug Bulgarien, das mit 200 000 Soldaten Thrakien besetzte und
Edirne (Adrianopel) belagerte, während Serben und Montenegriner den
Sandschak Novi Pazar eroberten. Griechenland nahm Saloniki ein und besetzte
den Epirus. Die gemeinsamen Erfolge in Mazedonien riefen eine Rivalität
untereinander hervor.
Die Türken wurden schließlich an allen Fronten geschlagen, Albanien und
Mazedonien waren von der Jahrhunderte dauernden Türkenherrschaft befreit, als
am 30. Mai 1913 in London ein Präliminarfrieden unterzeichnet wurde. Die Türkei
hatte alle westlich der Enos-Midea liegenden Gebiete sowie die Ägaischen Inseln
verloren. Die Schaffung eines unabhängigen Staates Albanien übernahmen die
11 Der Balkanbund war ein 1912 geschlossenes Militärbündnis der südosteuropäischen Staaten Serbien,
Bulgarien, Montenegro und Griechenland. Das gemeinsame Ziel war die Verdrängung des Osmanischen
Reiches vom Balkan und die Aufteilung seiner verbliebenen europäischen Provinzen. Vgl. Katrin Boeckh:
Von den Balkankriegen zum Ersten Weltkrieg. Kleinstaatenpolitik und ethnische Selbstbestimmung auf dem
Balkan, Verlag Oldenbourg, München 1996.
26
Großmächte, wobei die serbischen und montenegrinischen Hoffnungen auf einen
Zugang zur Adria durchkreuzt wurden. Die Aufteilung der eroberten Gebiete ver-
ursachte Streitigkeiten und neue Allianzen unter den Siegern, die schließlich zum
Zweiten Balkankrieg führten.
Griechenland und Serbien schlossen am 22. Mai 1913 einen Vertrag gegen
Bulgarien, es ging um die Aufteilung Mazedoniens; Rumänien und Montenegro
schlossen sich an. Bulgarien wurde bereits wenige Wochen nach seinem
Vormarsch geschlagen. Am 10. August 1913 wurde in Bukarest Frieden zwischen
den Balkanstaaten geschlossen, wobei Bulgarien den größten Teil der im Ersten
Balkankrieg gewonnenen Gebiete abtreten mußte. Die Süd-Dobrudža mit Silistra
ging an Rumänien ( und erhielt den Namen Dârstor), die thrakischen Städte
Drama, Seres und Kavalla übernahm Griechenland und die strittigen
mazedonischen Gebiete gingen an Serbien, das unterstützt von Rußland, nun die
stärkste Balkanmacht war.
Betrachtet man die Konstellation der Allianzen der Balkanstaaten im Ersten
Weltkrieg, so kann man von einer Fortsetzung der Balkankriege sprechen: Rumä-
nien und Griechenland kämpften auf alliierter Seite, während sich Bulgarien und
die Türkei den Mittelmächten angeschlossen hatten.
Die damals entstandene Mazedonische Frage ist bis heute nach über acht
Jahrzehnten noch ungelöst.12
1.4. Der Balkan im Ersten Weltkrieg
Hintergrund des Attentats auf den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz
Ferdinand war die von ihm vertretene Politik der Trialistischen Lösung, die Idee
einer föderalistischen Verbindung zwischen Österreich, Ungarn und Südslawen,
wobei gleichzeitig das ungarische Übergewicht und die großserbischen
Ansprüche abgewehrt werden sollten. Diese Politik wurde von den slawischen
Geheimbünden bekämpft, weil sie nicht mehr für eine Gleichberechtigung
12 Vgl. Die große Politik der europäischen Kabinette 1871–1914. Band 36,2: Die Liquidierung der
Balkankriege 1913–1914. Teil 2 (S. 423–847). Berlin 1926.
27
innerhalb der K.u.K.- Monarchie, sondern für einen unabhängigen eigenen Staat
eintraten.
Anläßlich der Herbstmanöver 1914 besuchte der Thronfolger die bosnische
Hauptstadt Sarajewo, obwohl er vor dieser Reise gewarnt worden war, denn die
Attentatspläne waren der Geheimpolizei bekannt, einschließlich des Namens des
Mörders. Franz Ferdinand ließ sich jedoch nicht von der Reise abhalten. Auf der
Fahrt vom Bahnhof zum Rathaus von Sarajewo wurde das Auto des Erzherzogs
von einer Bombe gestreift, die der jugendliche Attentäter Nedeljko Čabrinović
(1895-1916) warf. Von der Explosion wurde aber nur das Begleitfahrzeug
betroffen. In Begleitung des Bürgermeisters von Sarajewo, eines moslemischen
Bosnier, und des ungarischen Polizeichefs der Stadt, die vorausfuhren, folgte
dann der zweite erfolgreiche Anschlag. Nicht nur Serben und Kroaten jubelten
über das gelungene Attentat, auch in Budapest herrschte unverhohlene Freude
darüber, daß damit die Möglichkeit einer Aussöhnung zwischen Deutschen und
Südslawen zunichte gemacht war.
Dennoch hätte das serbische Attentat nicht notwendiger Weise einen
großeuropäischen Krieg auslösen müssen, wenn nicht die politische
Gesamtsituation Europas in dieser Zeit die eigentliche Kriegsursache gewesen
wäre. Österreich stellte der serbischen Regierung ein Ultimatum, deren
Hauptbedingung, eine Untersuchung der Vorgeschichte des Attentats durch
österreichische Beamte auf serbischem Gebiet, von Serbien abgelehnt wurde.
Darauf erklärte Österreich Serbien den Krieg, Rußland stellte sich als
selbsternannter „Schutzpatron aller Slawen“ an Serbiens Seite. Die Möglichkeit
einer Konferenz der Großmächte wie während des Balkankrieges 1912/13, oder
den österreichisch-serbischen Streitfall vor das Haager Schiedsgericht zu bringen
und so den großen Konflikt zu vermeiden, wurden als Vorschläge Englands
unberücksichtigt gelassen. Europa, insbesondere das wilhelminische
Deutschland, wollte den Krieg.
Auf der Seite der sogenannten Mittelmächte Österreich und Deutschland
kämpften die Türkei und Bulgarien anfangs erfolgreich gegen Serbien, das 1915
besetzt wurde. Den Entente-Mächten Rußland, Frankreich und England gelang es
aber, auf dem Balkan die Vormacht zu erlangen. Nach Italien traten auch
28
Rumänien (1916), das auf den Anschluß Siebenbürgens hoffte, und Griechenland
(1917), das die Idee eines "Großgriechenlands" mit dem Gewinn kleinasiatischer
Gebiete einschließlich Konstantinopel erhoffte, auf die Seite der Entente. Der
militärische Zusammenbruch der Mittelmächte im Herbst 1918 wurde auch durch
den Zusammenbruch der bulgarischen Front nördlich von Saloniki und den
Durchbruch der Ententemächte mitbestimmt.
Die Pariser Vorverträge (1919) schrieben die während des Krieges entstandene
politische Umgestaltung des Balkans fest: Großrumänien, Großgriechenland und
als neuer Staat Jugoslawien entstanden auf Kosten Bulgariens, der Türkei und
der zerschlagenen Donaumonarchie Österreich. Die griechischen Pläne in
Kleinasien scheiterten allerdings bald an der Wiedergeburt der Türkei unter Kemal
Mustafa (1881-1938), genannt ‚Atatürk’, der Griechenland nach deren schwerer
militärischen Niederlage dazu zwang, in den griechisch-türkischen
Bevölkerungsaustausch einzuwilligen (1922/23)13.
Der erste Weltkrieg brachte nicht nur die Neuordnung des Balkans mit sich, ganz
Europa hatte sich durch den Untergang von vier Imperien verändert: die
Donaumonarchie Österreich, das Deutsche Kaiserreich, das Russisches
Zarenreich (Revolution 1917), und das Türkisch-Osmanische Reich .Serbien, das
den Krieg mit einem Pistolenschuß auslöste, hatte mit der Entstehung des
Südslawischen Königreiches (SHS) sein Ziel erreicht, seine neue Grenze reichte
bis nach Ungarn hinein. Bereits damals sprach man von der „Balkanisierung“ im
Hinblick auf die nun entstandenen kleinen Nationaltaaten in Mittel- und
Osteuropa.14
2 NEUORDNUNG IN OSTEUROPA NACH 1918
13 1,2 Millionen Griechen musste ihre historischen Siedlungsgebiete in Kleinasien verlassen, dafür wurden
400 000 Moslime aus Griechenland in die Türkei übergesiedelt. Das war die bis dahin größte
Zwangsumsiedlung auf der Grundlage von Religion in der Geschichte. Die Griechen in Istanbul und die
Muslime in Westthrakien wurden von der Regelung ausgenommen.
Vgl. „Konvention über den Bevölkerungsaustausch zwischenGriechenland und der Türkei, 30. Januar 1923
Lausanne.
Die große Politik der europäischen Kabinette 1871–1914. Band 36,2: Die Liquidierung der Balkankriege
1913–1914. Teil 2 (S. 423–847). Berlin 1926
29
Der neuen internationalen Neuordnung Europas, die in der Pariser
Friedenskonferenz von 1919-20 entwickelt wurde, lag das Nationalstaatsprinzip
zugrunde. Die übernationalen Großstaaten Türkisch-Osmanisches Reich,
Österreich-Ungarische Monarchie, Deutsches Kaiserreich, Russisches Zarenreich,
wurden durch neue Nationalstaaten abgelöst. Dabei war das
Selbstbestimmungsrecht der neuen Staaten mit den politischen und
wirtschaftlichen Interessen der Siegermächte eng verknüpft. Eine neue Situation
war auch durch die Revolutionen und Machtübernahme der Bolschewisten in
Rußland und die damit einhergehende Neuordnung des Zarenreiches geschaffen
worden. Die westlichen Großstaaten England und Frankreich suchten eine
Ausbreitung der russischen Revolution in Mittel- und Westeuropa durch die
Schaffung eines Schutzstreifens von kleinen Nationalstaaten im östlichen Europa
zu verhindern, dem sogenannten Cordon Sanitaire.
Eines der Hauptprobleme ergab sich daraus, daß im östlichen Europa die
Schaffung reiner Nationalstaaten mit einer ethnisch, sprachlich, religiös
homogenen Bevölkerung unmöglich war, da durch die in Jahrhunderten
gewachsene gemischten nationalen Siedlungsstrukturen überall starke nationale
Minderheiten in den neuen Grenzen der Nationalstaaten lebten. Für diese wurden
in den Nachkriegsverträgen Minderheitenschutzverträge ausgehandelt, die aber
später nur sehr mangelhaft angewendet worden sind.
2.1 Die Entwicklung auf dem Balkan zwischen den beiden Weltkriegen
Auf den Trümmern der mittel- und osteuropäischen Großmächte wurden auf der
Grundlage der schon ins 19.Jahrhundert hineinreichenden modernen
Nationalbewegungen neue Staaten gegründet, die eine historische Legitimation
durch Anknüpfung an mittelalterliche, längst untergegangene Staatsgebilde
herstellten. Aus dem zusammengebrochenen Russischen Reich entstanden
nationale baltische Staaten.
Polen war seit 125 Jahren eine "Nation ohne Staat", konnte nun in der
Zwischenkriegszeit seine Unabhängigkeit herstellen. Am 11. November 1918
30
wurde Józef Klemens Piłsudski (1867-1935) in Warschau zum vorläufigen
Staatsoberhaupt eingesetzt. Er stützte sich auf die traditionellen adligen
Führungsschichten, die parlamentarische Ära war nur ein kurzes Zwischenspiel,
bevor sie 1926 durch einen Militärputsch beendet wurde.
Am 28.Oktober wurde in Prag eine unabhängige Tschechoslowakische Republik
proklamiert. Die tschechische Nationalbewegung war die stärkste in der
westlichen Reichshälfte Österreich-Ungarns seit den letzten Jahrzehnten des
19.Jahrhunderts gewesen. Die Verbindung zwischen Tschechen und Slowaken
beruhte ähnlich wie bei Serben und Kroaten auf einer nahen sprachlichen
Verwandtschaft. Auch hier gab es starke Minderheiten: 46% Tschechen, 13%
Slowaken, 28 % Deutsche, 8% Ungarn, 3 % Ukrainer, Polen Juden, Roma-
Zigeuner. Diese nationalen Minderheiten waren auch gemäß ihrer
zahlenmäßigen Stärke in dem gut ausgebauten tschechoslowakischen
Parteiensystem vertreten.
Im März 1919 wurde unter Führung von Béla Kun (1886–1939), geb. Béla Kohn
die Ungarische Räterepublik ausgerufen, die von linken Kräften bestimmt war,
aber nur drei Monate existieren konnte. Die bürgerlichen Kräfte übernahmen
danach die Regierung. Ungarns Grenzen waren nach dem Zusammenbruch des
Reiches eng geworden, nachdem in den Nachkriegsverträgen die
Gebietsansprüche seiner Nachbarn, insbesondere Rumäniens, berücksichtigt
worden waren. Ende der zwanziger Jahre begann Ungarn seine
Revisionsansprüche hinsichtlich der durch den Vertrag von Trianon abgetrennten
Gebiete einzufordern, indem es stärker an das faschistische Italien heranrückte.
An der Staatsspitze stand Miklós Horthy (1868-1957) als Reichsverweser, der
zwar nicht faschistisch, aber ständisch-autoritär regierte. Die ungarisch-
faschistische Bewegung der Pfeilkreuzler kam erst 1944 mit der deutschen
Besetzung Ungarns kurzfristig in der Endphase des Zweiten Weltkrieges unter
ihrem Parteiführer und späterem Diktator Ferenc Szálasi (1897-1946) als
faschistische Kollaborationsregierung an die Macht15.
15 Die Pfeilkreuzler waren Anhänger einer unter verschiedenen Bezeichnungen von 1935 bis 1945
bestehenden, faschistischen und antisemitischen Partei in Ungarn. Ihr Parteiführer war Ferenc Szálasi. Mit
Unterstützung des Dritten Reiches errichteten die Pfeilkreuzler vom 16. Oktober 1944 bis zum 28. März 1945
31
Rumänien, daß im Ersten Weltkrieg zunächst seine Neutralität erklärt hatte, war
1916 auf seiten der Alliierten in den Krieg eingetreten, was die Besetzung des
Landes durch deutsche und österreichische Truppen zur Folge hatte. Dennoch
konnte Rumänien nach der russischen Oktoberrevolution 1917 Bessarabien
kurzzeitig als östliche Provinz zurückgewinnen. Bei Kriegsende war Rumänien auf
der Seite der Sieger und konnte sein Territorium durch historisch begründete
Gebietsansprüche verdoppeln. Es wurde damit zum größten Staat
Südosteuropas. Dabei waren die ehemaligen Donaufürstentümer Moldau und
Walachai zum Balkan hin orientiert, die ehemaligen österreichisch-ungarischen
Gebiete Siebenbürgen, Banat und Bukowina aber eher mitteleuropäisch geprägt.
Nach 1923 wurde die neue Verfassung verabschiedet, damit war das Königreich
Rumänien ein Einheitsstaat, in dem sich zunächst auch nationale Minderheiten
politisch beteiligen konnten. Außenpolitisch spielte Rumänien in der Kleinen
Entente und im Balkanbund eine wichtige Rolle. Auch bestand ein stabiles
Bündnis mit Frankreich und Polen. Unter Ministerpräsident Alexandru Averescu
(1859-1938) wurden 1921 Agrarreformen durchgeführt. Außenpolitisch baute
Rumänien seine Beziehungen aus und gründete zusammen mit Jugoslawien und
der CSR 1920/21 die Kleine Entente, die sich gegen die Revisionismuspolitik
Bulgariens und Ungarns richtete. In den dreißiger Jahren entwickelte sich eine
Staatskrise, deren Ursachen zum Teil auch in der Weltwirtschaftskrise lagen. Die
Staatsverschuldung war so stark, daß Rumänien sich unter die Vormundschaft
des Völkerbundes begeben mußte. Innenpolitisch wurde das Land durch die
faschistisch-terroristische Bewegung der Eisernen Garde16 erschüttert, eine
nationalistische-christlich-mystische und antisemitische Organisation, der auch
zahlreiche rumänische Intellektuelle angehörten. Sie wurde 1933 verboten,
existierte aber im Untergrund weiter. Nach Hitlers Machtantritt nahm der deutsche
Einfluß in Rumänien durch ausgebaute Wirtschaftsbeziehungen zu, wurde aber
durch die außenpolitische Haltung des rumänischen Außenministers Nicolae
in den noch nicht von der Roten Armee besetzten Teilen Ungarns eine faschistische Kollaborationsregierung,
unter der mehrere zehntausend Menschen ermordet wurden. 16 Die Eiserne Garde (rumänisch Garda de Fier?/i) war eine faschistische und antisemitische Bewegung
bzw. politische Partei im Königreich Rumänien. Mit ihren 250.000 Mitgliedern galt die Eiserne Garde
zeitweise als die drittgrößte faschistische Bewegung Europas nach dem PNF in Italien und der NSDAP in
Deutschland. Sie ging 1930 aus der von Corneliu Zelea Codreanu 1927 gegründeten Legion Erzengel Michael
(rumänisch: Legiunea Arhanghelul Mihail) als deren paramilitärischer Arm hervor.
32
Titulescu (1882-1941), der sich an Frankreich hielt und einen Vertrag mit der
Sowjetunion aushandelte, abgeschwächt.
Am 01. Dezember 1918 wurde das Königreich der Serben, Kroaten und
Slowenen, Kraljevina SHS, gegründet und damit die Vereinigung der Südslawen
hergestellt, die bereits im 19. Jahrhundert in den Bewegungen für ein Großserbien
und dem Illyrismus ihr politisches Programm aufgestellt hatten. Vorausgegangen
waren das Jugoslawische Komitee das der Kroate Dr. Ante Trumbic (1864- 1938)
in London gegründett hatte und die Deklaration von Korfu, Nikola Pašić (1845-
1926) und Ante Trumbic am 20. Juli 1917 für einen souveränen Staat aller
Südslawen auf Korfu unterzeichnet wurden.
In den Pariser Vorverträgen konnten 1919/20 noch die südliche Steiermark, die
Wojwodina sowie westbulgarische und makedonische Gebiete gewonnen werden.
Seit 1921 war Alexander I. (1888-1934) aus der Dynastie Karađorđević königlicher
Repräsentant des neuen Staatsgebildes, das bald mit beträchtlichen politischen,
nationalen, religiösen und sozio-ökonomischen Problemen zu kämpfen hatte. Die
Serben bestanden auf ihrem Führungsanspruch, während sich Kroaten und
Slowenen auf ihre dem westlichen Kulturkreis verbundene Vergangenheit
beriefen. Zudem gab es zwischen Orthodoxen, Katholiken und Moslime religiöse
Spannungen. Gegenüber anderen Minderheiten wurde eine harte
Assimilationspolitik betrieben. Bereits in der Vidovdan-Verfassung17 vom 28. Juni
1921, die gegen den Widerstand der Kroaten angenommen worden war, wurde
die serbische Dominanz festgeschrieben. Häufige Regierungswechsel waren die
Folge. Der Versuch einer Koalitionsregierung (Pasić/Radić) schlug fehl, als im
Juni 1928 Stjepan Radić (11 June 1871-1928) und zwei andere kroatische
Abgeordnete Opfer eines Attentats wurden. Es kam zum Bruch zwischen Serben
und Kroaten, König Alexander I. löste das Parlament und alle Parteien auf.
Schließlich verfügte er am 3. Oktober 1929 die Umbenennung des Staates in
Königreich Jugoslawien (Kraljevina Jugoslavija). Eine territoriale Reorganisation
sollte einen jugoslawischen Nationalismus fördern, alle Einwohner sollten sich in
Zukunft nur noch als Jugoslawen betrachten. Am 6. Januar 1929 proklamierte er
17 St. Vitus-Tag, serb. Vidovdan, serbischer Nationalfeiertag zur Erinnerung an die Schlacht gegen die
Türken auf dem Amselfeld (Kosovo polje) am 28. Juni 1389.
33
die Königsdiktatur, die bis zu seiner Ermordung 1934 während eines Besuches in
Frankreich durch einen bulgarischen Attentäter.18
In Bulgarien war es zu einem Thronwechsel gekommen, Zar Ferdinand I. (1861-
1948) dankte auf Betreiben der Entente gegen Kriegsende zugunsten seines
Sohnes Zar Boris III. (1894-1943)19 ab. Seit Oktober 1919 war der Führer des
Bauernvolksbundes, Aleksandar Stambolijski (1879-1923) Ministerpräsident. Er
wurde wegen seiner Reformpolitik und Annäherung an Jugoslawien 1923 durch
nationalistische Kreise während eines Offiziersputsches gestürzt und ermordet.
Seine politischen Gegner und bürgerliche Kreise warfen ihm vor, das Land in eine
„Bauerndiktatur“ geführt zu haben. Dennoch kam es ab 1933 durch gegenseitige
Königsbesuche zu einer bulgarisch-jugoslawischen Annäherung, die 1937 ihren
Höhepunkt in einem Freundschaftsvertrag erreichte.
Zur Sicherung des territorialen Status auf der Balkanhalbinsel schlossen Grie-
chenland, Jugoslawien, Rumänien und die Türkei am 9. Februar 1934 in Athen
den Balkanpakt, der sich besonders gegen die bulgarischen Grenzansprüche
richtete. Er stellte eine Ausweitung der Kleinen Entente dar. Dagegen hatten die
Bemühungen um eine Balkankonferenz, an der alle Balkanstaaten - Albanien,
Bulgarien, Griechenland, Jugoslawien, Rumänien - sowie auch die Türkei zur
Überwindung der zwischenstaatlichen Konflikte teilnehmen sollten, zu keinem
Ergebnis geführt. Insgesamt hatte diese Institution viermal getagt: 1930 in Athen,
1931 in Istanbul, 1932 in Bukarest und 1933 in Saloniki. Die fünfte Konferenz in
Istanbul kam nicht mehr zustande. Albanien hatte sich schon vorher zurück
gezogen, Rumänien und Jugoslawien hatten ihre Teilnahme abgesagt, Bulgarien
sprach sich für eine Verschiebung aus.
Das eigentliche Ziel der Balkankonferenz war der Zusammenschluß zu einem
Staatenbund gewesen, der auf dieser multilateralen Gesprächsplattform vor-
bereitet werden sollte. Der Balkanpakt isolierte Bulgarien, das von "Einkreisung"
sprach. Dagegen wurde der Pakt besonders von Frankreich unterstützt, dessen
18 Der bulgarische Attentäter Wlado Tschernosemski erschoss den König und den Außenminister, bevor er
von einem französischen Offizier mit einem Säbelhieb schwer verwundet wurde. Er starb noch am selben
Abend an seinen zahlreichen Verletzungen, die ihm durch wütende Zuschauer und Polizisten zugefügt
wurden.
19 Aus der Dynastie Sachsen-Coburg-Koháry der Wettiner.
34
damaliger Außenminister Jean Louis Barthou (1862-1934)20 von einer "Politik der
kollektiven Sicherheit", sich gegen die nach Revision der Pariser Vorverträge
strebenden Mächte in Europa aussprach. Allerdings empfand man auch dort das
Fehlen Bulgariens als einen Mangel. Es gab diplomatische Bemühungen,
Bulgarien den Beitritt zu ermöglichen, wofür der 1937 unterzeichnete
Freundschaftsvertrag mit Jugoslawien ein Indiz zu sein schien. Damit waren aber
die bulgarischen Ansprüche auf die südliche Dobrudža und Thrakien nicht erfüllt,
auf denen Bulgarien nach wie vor bestand, besonders noch dazu durch den Erfolg
Ungarns gegenüber der Tschechoslowakei ermutigt.21
Der Zusammenbruch der Kleinen Entente im Herbst 1938 signalisierte auch das
bevorstehende Ende des Balkanpaktes, das mit dem Anschluß Rumäniens an die
Achsenmächte im Herbst 1940 besiegelt wurde. Der deutsche Balkanfeldzug im
April 1941 endete mit der Besetzung Jugoslawiens und Griechenlands. Das
außenstehende Bulgarien hatte nach seiner Annäherung an die Achsenmächte
auf deutschen Druck hin 1940 die Süddobrudža von Rumänien erhalten.22 1941
schloß sich Bulgarien dem Dreimächte- und Antikominternpakt an, beteiligte sich
am Krieg der Achsenmächte gegen Griechenland und Jugoslawien und erklärte
England und den USA den Krieg. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges
gehörte der Balkanpakt und alle ihm vorangegangenen balkanpolitischen
Episoden der Zwischenkriegszeit der Vergangenheit an.
2. 2. Folgen des Zweiten Weltkrieg
Die Weltwirtschaftskrise 1929 hatte auch Auswirkungen auf die noch überwiegend
agrarisch strukturierten südosteuropäischen Staaten gehabt. Dort wurde das par-
lamentarische System überall durch autoritäre Staatsformen ersetzt. In den
dreißiger Jahren gewannen das faschistische Italien und das
nationalsozialistische Hitler-Deutschland zuerst wirtschaftlichen, dann auch
zunehmend politischen Einfluß. In einigen Staaten bildeten sich nach ihrem
20 Am 9. Oktober 1934 wurde er bei dem Attentat auf den jugoslawischen König Alexander I. ebenfalls
getötet.
21 Durch den Wiener Schiedsspruch kam es zur Rückgabe der Südslowakei an Ungarn und zur Annexion der
Karpato-Ukraine im März 1939.
22 Der Vertrag von Craiova am 7. September 1940.
35
Vorbild faschistische Organisationen, so in Rumänien die Eiserne Garde und in
Ungarn die Pfeilkreuzler.
Im Oktober 1940 griffen italienische Truppen Griechenland an, im April 1941
folgte der deutsch-italienische Angriff auf Jugoslawien und Griechenland, deren
Gebiete von den Siegern in Besatzungszonen aufgeteilt wurden.
Nach der Zerschlagung Jugoslawiens durch die Achsenmächte proklamierten
Kroaten 1941 einen Unabhängigen Staat Kroatien und errichtete unter A. Pavelic
das faschistische Ustascha-Regime.23
Die Ustaša (Aufständische Kroatische Revolutionäre Organisation), war einen Tag
nach der Ausrufung der Königsdiktatur gegründet worden. Bis zu diesem
Zeitpunkt hatte ihr Gründer und Anführer, der Rechtsanwalt Ante Pavelić (1889-
1959) die Kroatische Staatsrechtspartei geführt. Seine Partei bezog sich
ideologisch auf die Rechtspartei von Ante Starčević (1823-1896) aus dem 19.
Jahrhundert und forderte die Vereinigung Kroatiens mit Bosnien-Herzegowina in
einem unabhängigen "national reinen" Kroatien. Politisch spielte sie in den
zwanziger Jahren nur eine unbedeutende Rolle; Pavelićs große Stunde kam erst
1941, als ihn Hitler in Kroatien an die Macht brachte.
Slowenien und Dalmatien fielen an Italien, das den Bezirk Kosovo seinem
Protektorat Albanien unterstellte. Ungarn erhielt einen schmalen Grenzstreifen,
die Báčka. Bulgarien konnte endlich seine "Revision" vornehmen, es erhielt den
Hauptteil Mazedoniens. Der Widerstand gegen die Besatzungsmächte ging von
Bosnien aus, wo die Ustaše einen Vernichtungsfeldzug gegen die Serben führten.
Die serbische Milizorganisation der Četnici24, kämpfte zusammen mit Resten der
Armee und mit den seit 1921 verbotenen Kommunisten, die unter Titos
Kommando standen. Die erfolgreichen Partisanenvorstöße wurden von der
deutschen Wehrmacht mit brutalen Vergeltungsschlägen beantwortet, die vor
allem die Zivilbevölkerung trafen. Bis Ende 1944 haben dort etwa 1,4 Millionen
23 Ustaša – Hrvatska revolucionarna organizacija - Der Aufständische – Kroatische revolutionäre
Organisation war ein von Ante Pavelić am 10. Januar 1929 im Königreich Italien gegründeter und von ihm
geführter kroatischer rechtsextrem-terroristischer Geheimbund, der sich zu einer faschistischen Bewegung
entwickelte.
36
Menschen den Tod gefunden. Im Untergrund kämpften aber auch serbische
Monarchisten und Kommunisten gegeneinander und schwächten so den
Widerstand.
Die Widerstandsgruppe der Četnici formierte sich um den serbischen Oberst
Dragoljub "Draža" Mihailović (1893-1946). Nach der Kapitulation zog er sich mit
seiner Einheit in die Berge Westserbiens zurück und bekämpfte von dort aus die
deutschen Besatzungstruppen. Schon bald erhielt er Zulauf von weiteren
serbischen Einheiten, er und seine Anhänger waren großserbisch gesinnte
Monarchisten und träumten von der Errichtung eines Großjugoslawien mit einem
ethnisch reinen Großserbien, das auch Mazedonien, Kosovo, Montenegro,
Bosnien, die Herzegowina, Syrmien, das Banat und die Baćka umfassen sollte.
Im November 1942 bildete sich unter Josip Broz Tito25 (1892-1980) der
Antifaschistische Volksbefreiungsrat. Mit ihm ging ein Jahr später in Jaice eine
provisorische Regierung hervor, die die Weichen für ein kommunistisches
Nachkriegs-Jugoslawien stellte.
Auch in Griechenland und Albanien war die Widerstandsbewegung zwischen
nationalen und kommunistischen Verbänden gespalten.
Mitte 1944 hatte die deutsche Besatzungsmacht nur noch die wichtigsten
Stützpunkte und Verbindungslinien in Südosteuropa in der Hand. Um diese zu
zerstören, überschritt die Rote Armee von Osten her die damalige sowjetische
Grenze, zerschlug den rumänischen Widerstand und besetzte Bulgarien. Sie
bewirkte auch den deutschen Rückzug aus Griechenland. Seit August 1944
kämpfte Rumänien an der Seite der Alliierten, einen Monat später auch Bulgarien
gegen deutsche Truppen, die bei Kriegsende noch in Slowenien und Kroatien
standen. Unter dem Schutz der sowjetischen Roten Armee gelang es den
kommunistischen Befreiungsbewegungen in Albanien, Bulgarien, Jugoslawien,
Rumänien, angesichts des Zusammenbruchs der Mittelmächte in das
Machtvakuum vorzustoßen. Nur in Griechenland, wo zwischen 1944 und 1949 der
24 Serbische Milizen, bezeichnet das Mitglied einer sogenannten četa (чета), einer militärischen Kompanie,
Truppe, Schar oder Rotte. Das Wort četa stammt ursprünglich aus den altslawischen (slav. četiri = vier) und
bezeichnete eine Einheit von vier Mann
37
Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Regierungstruppen tobte, unterlagen
schließlich die Kommunisten.
2.3 Die Neuordnung nach 1945 - Entstehung der Volksrepubliken
Von den ungeheuren Kriegsverlusten, die der Zweite Weltkrieg gefordert hatte,
entfiel der größte Anteil auf Mittel- und Osteuropa, vor allem auf die Sowjetunion
(20 Millionen Tote), Polen (4,5 Millionen Tote, darunter 3 Millionen Juden),
Jugoslawien (1,5 Millionen Tote, davon 1,3 Millionen Zivilisten). Die jüdische
Bevölkerung in Osteuropa wurde weitgehend durch Deportationen in
Vernichtungslager getötet, insgesamt wurden 6 Millionen Juden Opfer der
deutschen Faschisten. Eine andere Bevölkerungsgruppe, die in Südosteuropa
Opfer der Vernichtungspolitik geworden ist, waren die Roma-Zigeuner in
Jugoslawien.
1945 kam es nach Kriegsende unter Führung der Sowjetunion zu einer politischen
Neuordnung der Balkanstaaten. Wesentliche Veränderungen gab es hier nicht,
außer den Gebietsabtrennungen Bessarabien und der Bukowina 1944, aus der
die Moldawische SSR gebildet wurde.. In den Pariser Friedensverträgen von 1947
wurde die Herstellung der Grenzen in Südosteuropa von 1937 festgelegt. Die
endgültige Entscheidung über Mazedonien und Triest wurde 1954 getroffen.
In den Staaten Ost- und Südosteuropas, die bei Kriegsende unter sowjetische
militärische Herrschaft gelangt waren, wurde ein neuer Staatstyp eingeführt,
dessen theoretische Entwicklung auf den bulgarischen Kommunisten Georgi
Dimitrov (1882-1949) zurückgeht: die Volksdemokratie, nach kommunistischer
Definition eine Übergangsform von der parlamentarischen Demokratie zum
Sozialismus. Man kann deutlich zwei Phasen unterscheiden: die erste zwischen
1945 und 1948, in der noch parlamentarisch-demokratische Formen erkennbar
sind und eine zweite, in der die Staaten Ost- und Mitteleuropas endgültig unter
kommunistischer Herrschaft standen und nach stalinistisch-sowjetischen Muster
gebildet waren.
25 Das Pseudonym Tito nahm Josip Broz 1934 an, als er Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei
Jugoslawiens wurde und in den politischen Untergrund ging.
38
Die Umgestaltung der Balkanstaaten in Volksdemokratien nach sowjetischem
Vorbild war 1948 abgeschlossen. Dazu gehörten Bodenreformen,
Verstaatlichungsprogramme, Enteignung des Privatbesitzes, Einführung der
Planwirtschaft, Ausschaltung von Oppositionsparteien durch die Kommunistischen
Parteien, welche den alleinigen Führungsanspruch durchsetzten.
2. 4. Die Sowjetisierung Ost- und Mitteleuropas
Der Wiederaufbau nach dem Krieg stand in Ost- und Mitteleuropa im Zeichen der
Sowjetisierung
Gemeinsamer Beitritt der Volksrepubliken zum KOMINFORM (1947), COMECON
(1948), Warschauer Pakt (1955), sowie bilaterale Freundschafts- und
Beistandspakte mit der Sowjetunion und eine gemeinsame Mitgliedschaft in der
RGW sollten ganz Ost- und Südosteuropa zu einem einheitlichen geopolitischen
Gebilde, dem Ostblock unter sowjetischer Vorherrschaft, zusammenschweißen.
Obwohl das neue Staatensystem im östlichen Europa nahezu identisch mit dem
nach dem Ersten Weltkrieg war, kam es zu einigen Veränderungen, wie der
Westverschiebung Polens. Die Sowjetunion annektierte die Baltischen
Republiken, Bessarabien und die Nordbukowina, die ihr durch den Hitler-Stalin-
Pakt26 zugefallen waren
Vor dem Einmarsch der Roten Armee hatte die Kommunistische Partei in
Rumänien etwa 2000 Mitglieder, in Bulgarien 1000, in Ungarn einige hundert, die
Mehrzahl waren Trotzkisten, in Polen 20 000 und in der Tschechoslowakei um 30
000. Nur in Jugoslawien und Albanien, wo kommunistische Organisationen im
Krieg gekämpft hatten, verfügten die Kommunisten über starke und gut
organisierte Verbände. Bei der Machtübernahme wurden die in der Sowjetunion
ausgebildeten Emigrantenkader in alle wichtigen politischen Positionen
26 Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt, bekannt als Hitler-Stalin-Pakt (nach den beiden
Außenministern auch Ribbentrop-Molotow-Pakt oder Molotow-Ribbentrop-Pakt genannt), war ein auf zehn
Jahre befristeter Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion, der am 24. August 1939 (mit
Datum vom 23. August 1939) in Moskau vom Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop und dem
sowjetischen Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Wjatscheslaw Molotow in Anwesenheit Josef
Stalins (als KPdSU-Generalsekretär de facto Führer der Sowjetunion) und des deutschen Botschafters
Friedrich-Werner Graf von der Schulenburg unterzeichnet wurde. Der Pakt garantierte dem Deutschen Reich
die sowjetische Neutralität bei einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Polen und den Westmächten.
39
eingesetzt. Ihnen standen zunächst starke bäuerliche und bürgerliche Parteien
gegenüber, es gelang den Kommunisten aber in den ersten Nachkriegsjahren mit
Hilfe der sowjetischen Besetzung ihren Machtapparat zu festigen und
auszudehnen. Eine Säuberung des politischen Lebens von Verrätern und
Kollaborateuren mit den Faschisten wurde durchgeführt, Wahlen in den
volksdemokratischen Staaten mit Einheitslisten der Nationalen Front
durchgesetzt, die den Kommunisten zur Alleinherrschaft verhalfen. Andere
Parteien wurden ausgeschaltet oder, wie die sozialdemokratischen Parteien, zu
Einheitsparteien zwangsvereinigt. Bauernparteien wurden verboten oder
zunehmend zersetzt. Alle nichtkommunistschen Organisationen wurden
gleichgeschaltet oder verboten. In Säuberungswellen wurden eine unbekannte
große Zahl von Menschen in Schauprozessen als Rechts- und Linksabweichler,
unter dem Vorwurf des Nationalismus, Kosmopolitismus, Titoismus und Zionismus
- nach dem Muster der stalinistischen Schauprozesse zwischen 1936 und 1938 -
verurteilt, eingekerkert, auch hingerichtet. Zwischen 1948 und 1951 wurde etwa
ein Viertel aller Mitglieder aus den kommunistischen Parteien ausgeschlossen.
Ein umfangreicher Staatssicherheitsapparat wurde in allen Volksdemokratien
nach sowjetischem Muster aufgebaut .
2. 4. Osteuropa nach Stalins Tod
Bereits 1948 kam es zum Abfall Jugoslawiens, weil Tito den Führungsanspruch
der Sowjetunion nicht anerkennen wollte und nach einem eigenen Weg zum
Sozialismus suchte. Jugoslawien wurde daraufhin aus dem KOMINFORM
ausgeschlossen, die Sowjetunion kündigte den Freundschaftsvertrag, eine
Wirtschaftsblockade der kommunistischen Staaten führte zur Annäherung
Jugoslawiens an die Westmächte (Wirtschaftshilfe).
Unter der Führung Titos, der seit 1953 auch Staatspräsident auf Lebenszeit
wurde und es bis zu seinem Tode 1980 blieb, entwickelte sich in Jugoslawien die
Politik der Blockfreiheit, Distanz und Nichteinmischung. Zusammen mit der Türkei
und Griechenland schloß Jugoslawien 1954 einen Balkanpakt, der auch eine
Reaktion auf die anti-titoistische Kampagne des Sowjetblocks gegen Jugoslawien
war. Erst der Tod Stalins 1953 und die folgende Zeit der Entstalinisierung brachte
eine Entspannung im sowjetisch-jugoslawischen Verhältnis.
40
Tito verurteilte die Niederschlagung des Aufstandes von 1956 in Ungarn und
aktivierte seine Beziehungen zu den Westmächten. Gleichzeitig traf er sich 1956
mit dem Führer der Arabischen Welt, Gamal Abdel Nasser (1918-1970), um einen
Zusammenschluß der Blockfreien Staaten vorzubereiten. Die erste Konferenz der
Blockfreien Staaten fand 1961 in Belgrad statt. Hier wurden die Forderungen an
die beiden Großmächte und ihre Machtblöcke nach Entspannung, Abrüstung und
Aufhebung der Kolonialherrschaft durch europäische Staaten gerichtet.
Dagegen machte Albanien unter der Führung Enver Hodschas (1908-1985)
diesen Prozeß der Entstalinisierung nicht mit, es kam zu einer Entfremdung und
1968, dem jahr des Einmarsches der sowjetischen Truppen in die
Tschechoslowakei (První Československá Republika), zum Bruch mit der
Sowjetunion. Bis 1976 lehnte sich Albanien ideologisch und wirtschaftlich and
China an und ging dann einen eigenen isolierten kommunistischen Weg . Über
vier Jahrzehnte, von 1944 bis 1985, wurden die Geschicke dieses Landes von
Enver Hodscha gelenkt.
Rumänien, das sich zunächst vorbehaltlos in den Ostblock integriert hatte, begann
Ende der 50er Jahre seine Voraussetzungen für einen unabhängigen Kurs der
Rumänischen Kommunistischen Partei gegenüber der KPdSU durchzusetzen.
1957 ging von Rumänien ein Appell an alle Balkanstaaten, in Südosteuropa eine
Friedenszone zu schaffen. 1964 erklärte das Zentralkomitee der Rumänischen
Kommunistischen Partei die Politik des Rumänischen Wegs.
Der rumänische Parteichef, Erste Sekretär des Zentralkomitees und seit 1967
Staatsoberhaupt, Nicolae Ceaușescu (1918-1989), führte seit Mitte der 60er Jahre
die rumänische Politik der Öffnung nach allen Seiten erfolgreich durch, besuchte
fast alle Staatsoberhäupter und Regierungschefs der Welt und erhielt
umfangreiche Wirtschaftshilfen.
Rumänien zeichnete sich auch durch intensive Mitarbeit in der UNO aus und
stellte 1967 als erstes Land des Warschauer-Paktes diplomatische Beziehungen
zur Bundesrepublik Deutschland her.
41
Wie Jugoslawien und Albanien verurteilte auch Rumänien 1968 den Einmarsch
der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei und geriet in Konflikt mit
der Sowjetunion.
Albanien verließ aus Protest den Warschauer Pakt und schloß sich bis 1976/77
dem ideologischen Kontrahenten der Sowjetunion, China, an, bis dessen
pragmatischerer Kurs dann auch zum Bruch mit Albanien führte.
Zwischen Jugoslawien und der Sowjetunion kam es nach dem Einmarsch in die
CSR erneut zu schweren Spannungen, Tito wandte sich offen gegen die
Breschnew-Doktrin von der "begrenzten Souveränität der sozialistischen Staaten".
Als einziges Balkanland beteiligte sich Bulgarien am Einmarsch in die CSR. Seit
der Gründung der Volksrepublik lehnte sich Bulgarien eng an die Sowjetunion.
Titos Auflehnung gegen Stalin beantwortete Bulgarien schon 1948 mit der
Kündigung des Freundschaftsvertrages.
Der erste Generalsekretär der bulgarischen KP, von 1946 bis 1949 auch Mi-
nisterpräsident Georgi Dimitrov hatte ursprünglich den Plan einer
Balkanföderation der kommunistischen Staaten, war aber am Veto Stalins
gescheitert, der im Sinne sowjetischer Machtpolitik das System bilateraler
Freundschafts- und Beistandsverträge durchsetzte. Dimitrovs früher Tod im Jahre
1949 und die bald darauf folgenden Säuberungsprozesse gegen Titoisten
zwischen 1950 bis 1956 lassen nur vermuten, daß Dimitrov vielleicht einen
eigenen bulgarischen Weg einschlagen wollte.
Mit Todor Schiwkow (1911-1988) kam 1954 ein Politiker an die Macht, der die
sowjetische Politik bedingungs- und kritiklos unterstützt hat.
3 Jugoslawien -Vielvölkerstaat und Nationalitätenfrage
Lenin schrieb 1913 in seinem bekannten Artikel "Kritische Bemerkungen zur
nationalen Frage":
"Die Marxisten verhalten sich selbstverständlich der Föderation und der Dezentralisierung gegenüber feindlich, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil
42
der Kapitalismus für seine Entwicklung möglichst große und möglichst zentralisierte Staaten verlangt. Bei sonst gleichen Bedingungen wird das klassenbewußte Proletariat stets für den größeren Staat eintreten. Es wird stets gegen den mittelalterlichen Partikularismus ankämpfen und den möglichst engen wirtschaftlichen Zusammenschluß großer Territorien begrüßen, in denen sich der Kampf gegen die Bourgeoisie breit entfalten kann.
Aber solange und soweit verschiedene Nationen einen Einheitstaat bilden, werden die Marxisten unter keinen Umständen das föderative Prinzip oder die Dezentralisation propagieren. Der zentralisierte große Staat ist ein gewaltiger historischen Schritt vorwärts auf dem Weg von der mittelalterlichen Zersplitterung zur künftigen sozialistischen Einheit der ganzen Welt, und einen anderen Weg zum Sozialismus als über einen solchen (mit dem Kapitalismus unlösbar ver-knüpften) Staat gibt es nicht und kann es nicht geben."27
Darin spiegelt sich die Grundeinstellung zum Unitarismus wieder, die Marx und
Engels in ihrer Lehre von der Diktatur des Proletariats vertreten haben.
Auch Stalin schrieb noch 1917, im Jahr der Oktoberrevolution einen Aufsatz
"Gegen den Föderalismus"28, den er als "absolut unvernünftig und reaktionär"
verwarf. Diese Haltung änderte sich aber bald nach der Machtübernahme der
Bolschewiki, als die Bedeutung des Nationalismus, besonders der nicht-
russischen Völker, erkannt und für die Zwecke der Machtausweitung der
Bolschewiki benutzt wurden. Eine kommunistische Konzeption des Föderalismus
wurde entworfen, die aber nur der Übergang zum Zentralismus sein sollte. Ende
1922 entstand nach dem Willen Lenins die Sowjetunion als Union der
Sozialistischen Sowjetrepubliken.
Als am Ende des Zweiten Weltkrieges das neue Jugoslawien unter Josip Broz
Titos kommunistischer Führung entstand, wurde das Problem des Nationalismus
gemäß der Ideologie der kommunistischen Internationale ignoriert. Jugoslawien
wurde per Dekret zum "fortschrittlichsten Gesellschaftssystem der Welt" erklärt.
Auf Beschluß der KP wurde 1953 der Nationailitätenrat, die zweite Kammer des
Parlaments, aufgelöst.Tito, der selbst kroatisch-slowenischer Herkunft war,
unternahm den Versuch, die serbische Übermacht, die schon im Vorkriegs-
Jugoslawien bestanden hatte, einzudämmen, indem er die Vojvodina im Norden
27 W. I. Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, Lenin Werke Band 20, Dietz Verlag Berlin
1961, S. 31f. 28 J.W.Stalin, Gegen den Föderalismus, Stalin Werke Band 3, Dietz Verlag Berlin 1951, S. 23f.
43
und den Kosovo im Süden zu autonomen Provinzen machte und dadurch die
territoriale Ausweitung Serbiens begrenzte.
Ab 1963 war Jugoslawien ein Bundesstaat, der aus den Sozialistischen
Republiken Slowenien (Ljubljana), Kroatien (Zagreb), Serbien (Belgrad), Bosnien-
Herzegowina (Sarajevo), Montenegro (Titograd), Mazedonien (Skopje) und den
beiden autonomen Provinzen Kosovo (Pristina) und Vojvodina (Novi Sad)
bestand.
Die föderalistische Verfassung stand im Widerspruch zur zentralistischen
Einparteienherrschaft, die von Belgrad bestimmt wurde. Polizei, Beamte, Armee
und besonders der Geheimdienst wurden von Serben geführt, die alle
Schlüsselpositionen inne hatten. Der Druck auf die jugoslawischen Nationalitäten
war besonders stark auf die Albaner, die zu hunderttausenden in die Türkei
emigrierten. Die wirtschaftlichen Gegensätze zwischen den Republiken erbitterten
Kroaten und Slowenen, die 90 % ihrer Deviseneinnahmen (Tourismus) an Belgrad
abführen mußten. Der Kosovo, aber auch die Republiken Bosnien, Montenegro
und Mazedonien wurden vernachlässigt, wie die zurückgebliebene Infrastruktur
zeigte. 1971 kam es in Kroatien zu einer Erhebung gegen den Belgrader
Zentralismus, der auch von der KP Kroatiens mitgetragen wurde.
Tito befürchtete damals einen Bürgerkrieg, konnte aber den Aufruhr unterdrücken.
Ähnliche Proteste gab es auch in Slowenien. Diese Situation führte schließlich zur
Ausarbeitung einer neuen Verfassung, in der das föderale Element verstärkt war.
Tatsächlich wurde nun das kulturelle Leben der Nationalitäten, aber auch das der
nationalen Minderheiten vorbildlich organisiert und gefördert, insbesondere das
Schul- und Pressewesen.
Jugoslawische Verfassung vom 21. Februar 197429
Artikel 170
29 Die Verfassung der SFR Jugoslawien, eingeleitet von Herwig Roggemann, Berlin 1979 (Quellen zur
Rechtsvergleichung. Aus dem Europa-Institut der Freien Universität Berlin, Die Gesetzgebung der
sozialistischen Staaten, Bd. 19), 105-281.
44
Dem Bürger ist die Freiheit zugesichert, seine Zugehörikeit zu einem Volk oder
einer Nationalität auszudrücken; ebenso die Freiheit der Pflege der nationalen
Kultur und des Gebrauchs seiner Sprache und Schrift.
Der Bürger ist nicht verpflichtet, zu erklären, welchem Volk bzw. welcher
Nationalität er angehört, noch sich für die Zugehörigkeit zu einem Volk oder einer
Nationalität zu entscheiden.
Verfassungswidrig und strafbar ist jede Propagierung und Förderung nationaler
Ungleichheit und jede Aufhetzung zum nationalen, rassischen und
konfessionellen Haß und Intoleranz.
Artikel 246
Die Sprache der Völker und Nationalitäten und ihre Schrift sind auf den Territorien
Jugoslawiens gleichberechtigt.
In der sozialistischen föderativen Republik sind die Sprachen der Völker und die
Sprachen der Nationalitäten in amtlichen Gebrauch - in Einklang mit dieser
Verfassung und dem Bundesgesetz.
Artikel 247
Jeder Nationalität wird garantiert, daß sie für die Ausübung des Rechts der Pflege
ihrer Nationalität und Kultur ihre Sprache und Schrift frei gebraucht, ihre Kultur
entwickelt und deshalb Organisationen gründet und die anderen in der
Verfassung gewährten Rechte genießt.
Besondere Gesetze gab es für den Aufbau des autonomen Gebietes Kosovo und
der Sozialistische Republik Mazedonien hinsichtlich der dort existierenden
gemischt-nationalen Regionen.
Den dort lebenden Minderheiten wird gleichfalls das Recht auf die eigene
Sprache und kulturelle Entfaltung zugestanden.
45
Während in den internationalen Gremien diese neue Verfassung als vorbildlich
für Europa diskutiert wurde, fühlten sich die Serben benachteiligt.
Mit dem Tod Titos 1980 ging diese Ära des befriedeten Vielvölker-Föderalismus
in Jugoslawien zu Ende.
Kaum ein Jahr später kam es im Kosovo zum Aufstand, die dort lebenden
Albaner, 90 % der Bevölkerung, forderten für sich den Status einer Autonomen
Republik. Die serbisch geführte Polizei und Bundesarmee wüteten unter den
Demonstranten, es gab viele Tote und Verletzte.
Unruhen gab es auch in Slowenien, wo eine starke Opposition gegen Belgrad
sich sammelte.
In Kroatien wurde der Mitkämpfer Titos, Franjo Tudjmans (1922-1999), wegen
"Nationalismus" 1981 zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, was zu Protesten
führte.30
Am stärksten brach der Nationalismus unter den Serben aus, die in einem
geheimen ‚Memorandum zur Lage der serbischen Nation“ (SANU) 1982/1986 sich
als "Opfer der Gleichberechtigung" beklagten. Dieses Memorandum hatte
bedeutenden Einfluss auf das Wiederaufleben des Nationalismus in Serbien:
Im Jugoslawien Titos wurde der serbischen Nation die Gleichberechtigung vorent-halten, obwohl sie Jugoslawien die größten Opfer gebracht hat: 2,5 Millionen Tote in zwei Weltkriegen. Keinem anderen jugoslawischen Volk ist so systematisch seine geistige und kulturelle Integrität bestritten worden wie dem Serbischen.
Um die Interessen Serbiens zu sichern, und die Frage der Staatlichkeit zu lösen, ist es notwendig, die Verfassung zu revidieren.31
Zwischen diesen Beschuldigungen und Forderungen und dem Zusammenbruch
des Vielvölkerstaates lagen nur noch drei Jahre. Anfang 1989 hob das serbische
Parlament alle wichtigen Autonomierechte der Kosovo-Albaner auf. Die
30 Im Februar 1981 wurde er zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, und es wurde ihm für weitere fünf Jahre
verboten, westlichen Radio- und Fernsehagenturen Interviews zu geben. Zwischen 1982 und 1983 saß er
wieder wegen „staatsfeindlicher Propaganda“ in Lepoglava in Haft. Dann wurde seine Haft wegen
gesundheitlicher Probleme bis zum Mai 1984 unterbrochen. Im September 1984 wurde er deswegen endgültig
auf freien Fuß gesetzt. 31https://web.archive.org/web/20080209182857/http://www.haverford.edu/relg/sells/reports/memorandumSA
NU.htm
46
Gedenkfeier zum 600. Jahrestag der Schlacht der Serben gegen die Türken auf
dem Amselfeld im Kosovo (1389-1989) wurde zu einer Demonstration
großserbischer Ansprüche32.
Seit Juni 1991 tobt der Krieg in Jugoslawien und führte zu einer unvorstellbaren
blutigen Auflösung des Vielvölkerstaates Jugoslawiens. Es ist nicht
ausgeschlossen, daß dieser Flächenbrand den gesamten Balkan erfassen kann,
denn Jugoslawiens Nationalkonflikte sind nur ein Ausschnitt aus dem Spektrum
ähnlicher Probleme in ganz Südosteuropa.
3.1 Bosnien-Herzegowina
Eine der sechs Teilrepubliken des nun aufgelösten Staates Jugoslawien war
Bosnien-Herzegowina, das als drittgrößter Gliedstaat im Zentrum des Landes lag.
Das Territorium umfaßt 51 129 km², der Fluß Save bildet die nördliche Grenze. Im
Westen und Süden liegen küstenparallele Gebirgsketten, an einer schmalen
Stelle ist ein Zugang zur Adria. Im Südwesten, Nordwesten und Osten bilden die
Schluchten der Flüsse Una und Drina die Grenzen zu den benachbarten
Republiken Kroatien, Serbien und Montenegro.Geographisch gliedert sich das
Gebiet in das nördlich gelegene Bosnien und das südöstlich liegende Gebiet
Herzegowina.
Die Hauptstadt ist das in dem seit 1991 andauernden Bürgerkrieg belagerte und
teilweise zerstörte Sarajewo. Die Republik Bosnien war in sechs
Verwaltungsdistrikte aufgegliedert: Sarajewo, Mostar, Tuzla, Doboj, Banja Luka,
Bihac, die alle vom Bürgerkrieg betroffen und in weiten Teilen durch die serbische
Armee besetzt sind.
Im ehemaligen Jugoslawien umfaßte das Gebiet 44% der Gesamtfläche mit 4,4
Millionen Einwohner. Bosnien ist zum größten Teil Gebirgsland, das
durchschnittlich über 700 Meter hoch liegt (über dem Meeresspiegel), seine
höchsten Erhebungen gehen auf 2107 m hoch. Die wichtigsten Flüsse sind
Drina, Save, Bosna, Una und Vrbas. Neben den bewaldeten Gebirgsregionen
32Die Schlacht auf dem Amselfeld fand am 15. Juni 1389 auf dem Amselfeld unweit Priština am Flusslauf des
Lab im heutigen Kosovo statt. Der türkische Sultan Murad I. versuchte, die serbischen Fürstentümer der
Oberhoheit des Osmanischen Reiches zu unterwerfen. Obwohl die Serben diese Schlacht verloren, entstand
daraus ihr Nationalmythos.
47
befinden sich im Südwesten Wald- und wasserarme Karstregionen, hier ist das
Klima eher mediterran, im Norden dagegen gemäßigt.
3.2.1. Wechselvolle Geschichte
Ursprünglich war der Name Bosnien auf das Gebiet am Oberlauf der Bosna
beschränkt. Am Ende des ersten Jahrtausends besiedelten es illyrische Stämme,
später wurde es von den Römern unterworfen und seine Bevölkerung romanisiert.
Bis in die spätrömische Zeit lag hier die Provinz Illyricum, die im sechsten
Jahrhundert an Byzanz fiel. Weite Teile wurden dann christianisiert.
Erst Anfang des siebenten Jahrhunderts wanderten südslawische Stämme ein
und verdrängten die ansässige Bevölkerung oder vermischten sich mit ihr.
Seit dem zehnten Jahrhundert ist der Name 'Bosnien' urkundlich belegt. Im Laufe
der Zeit kämpften Serben, Kroaten, Byzantiner und Montenegriner (Zeta) um die
Vorherrschaft in Bosnien. Vom zwölften Jahrhundert an beanspruchte Ungarn die
Oberhoheit über das Fürstentum.
In der ostkirchlichen 'Bosnischen Kirche' bildeten die Bogomilen eine häretische,
vom Glaubensdogma der Ostkirche abweichende religiöse Sonderform aus.33 Die
ungarischen Könige führten mehrere Kreuzzüge gegen diese aus Kleinasien
stammende religiös-soziale Bewegung, die im zehnten Jahrhundert von dort auf
den Balkan vordrang und über Bulgarien auch in der Bosnischen Kirche
Eingang fand. Erst mit der osmanisch-islamischen Eroberung ging sie im
15.Jahrhundert unter.
Seit dem 11. Jahrhundert wurde Bosnien von einem Gaufürsten, dem Ban,
verwaltet und trug den Namen Banat Bosnien. Unter Ninoslaw kämpfte Bosnien in
der Zeit zwischen 1232 und 1250 gegen die ungarische Oberherrschaft. Die
bosnische Unabhängigkeit konnte sich erst unter Stefan Tvrtko I (1353-1391)
festigen, unter dem 1377 ein Königreich gegründet wurde. Damit hatte Bosnien
für eine kurze Periode einen Höhepunkt in seiner Geschichte erreicht, sein
Territorium umfaßte Serbien und das Gebiet Hum, das ab Ende des
33 Die Bewegung der Bogomilen breitete sich vom 10. bis 15. Jahrhundert von Bulgarien, im byzantinischen
Kaiserreich, in den anderen Balkanländern und in Russland aus. Angebliche direkte Verbindungen zur
48
15.Jahrhunderts Herzegowina hieß. Mit den osmanischen Türken drang im
14.Jahrhundert eine neue Macht auf dem Balkan vor. Die große Wende in der
Balkangeschichte trat mit der legendäre Schlacht zwischen Serben und Türken
1389 auf dem Amselfeld ein, wo die Serben vernichtend geschlagen wurden(vgl.
3.1.) Damit begann die fünfhundertjährige Türkenherrschaft über die Südslawen.
Da nach dem Tod von Stefan Tvrtko I. ein rascher Verfall des Königreichs
Bosnien unter den einheimischen Herrschern eintrat und Ungarn erneut
versuchte, die Herrschaft zu gewinnen, sollen sich einflußreiche bosnische
Adelssippen an den osmanischen Sultan Mehmed I. um Hilfe gewandt haben. Seit
1415 standen osmanische Truppen auf bosnischem Gebiet; ab 1428 war Bosnien
dem Sultan tributpflichtig und wurde 1463 endgültig dem Osmanenreich
einverleibt. Die Herzegowina konnte noch längeren Widerstand leisten ehe sie
1482 unterworfen wurde.
Aus dem Königreich Bosnien wurde eine osmanische Provinz, die bis 1878 unter
der Oberhoheit des Sultans stand. Der bogomilische Feudaladel Bosniens trat
zum Islam über und rettete dadurch seine Privilegien und seinen Grundbesitz,
denn nach islamischem Recht konnte nur ein Moslem Eigentümer von Grund und
Boden sein. Der türkische Sultan hatte zwar Religionsfreiheit zugesichert, aber die
christliche Bevölkerung wurde unterdrückt, als landlose Bauern ausgebeutet und
entrechtet. Große Teile der katholischen Bevölkerung wanderten aus Bosnien
aus, während die orthodoxe Bevölkerung zurückblieb, aber an ihrer Religion
festhielt. Im Jahre 1580 wurden Bosnien und Herzegowina verwaltungsmäßig
zusammengelegt, das Gebiet wurde ein Paşalık, d.h. ein osmanischer Provinz an
dessen Spitze ein militärischer hoher Verwaltungsbeamter (Paşa) stand. Die
neue Hauptstadt Saray-Ovasi , - woraus Sarajevo entstand -, wurde das Zentrum
islamischer Kultur. Von hier stammten die bosnischen Janitscharen34, die ihre
slawische Abstammung nie verleugneten. Außerdem war Sarajewo ein
bedeutendes Handelszentrum, dessen Basarviertel, Moscheen, islamische
Friedhöfe und eine umfangreiche Bibliothek aus dem 16.Jahrhundert stammten.
mittelalterlichen Bosnischen Kirche werden von der neueren Geschichtsforschung bestritten. Vgl. Noel
Malcolm, Geschichte Bosniens, Frankfurt am Main 1996, S. 45ff. 34 Die Janitscharen (yeni ceri) “neue Truppe” entwickelte sich Mitte des 14 Jh. Seit 1438 wurden die
Janitscharen durch sogen. Knabelese rejkrutiert. Daher setzte sich die Einheit aus Christenknaben zusammen,
die aus den europäischen Gebieten des Reiches stammten. In früher Kindheit waren sie ihren Eltern
weggenommen, türkisch erzogen und islamisiert worden.
49
Erst während des seit 1991 tobenden Bürgerkrieges wurden diese historischen
Denkmäler zum größten Teil zerstört.
Im 19.Jahrhundert kam es in Bosnien 1824, 1852-56, 1875 zu mehreren
Aufständen der unterdrückten christlichen Bevölkerung. Rußland als „Schutzherr
der slawisch-christlichen Völker“ intervenierte. Durch den Russisch-Türkischen
Krieg 1877/78 und den Vertrag von San Stefano schien die Möglichkeit einer
nationalen Unabhängigkeit in greifbare Nähe gerückt, wurde aber durch die
Entscheidungen auf dem Berliner Kongreß (1878) zunichte gemacht. Bosnien
wurde nun unter die Verwaltung Österreich-Ungarns gestellt. Dies geschah
gegen den Willen der bosnischen Bevölkerung, die sich dagegen 1878 und 1882
erhob: es kam zu anti-österreichischen Aufständen, eine nationale Bosnische
Bewegung orientierte sich auf ein Großserbien hin.
Als Österreich 1908 Bosnien-Herzegowina formell annektierte, etwa zeitgleich mit
der Jungtürkischen Revolution, kam es zur Bosnischen Krise und einer
Verschärfung internationaler Spannungen in Europa. Die nationale Bewegung
Junges Bosnien, die im Untergrund für eine Großserbien-Bewegung arbeitete, war
an dem Attentat beteiligt, das am 28. Juni 1914 den Ersten Weltkrieg ausgelöst
hat, als der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand von dem bosnischen
Serben Gavrile Princip erschossen wurde .
Der moslimische Bevölkerungsteil Bosniens stand der Nationalbewegung für
Großserbien feindlich gegenüber, da er seine Interessen dabei nicht vertreten
sah. So kämpften während des Ersten Weltkrieges islamisch-bosnische
Truppenverbände als Bosniaken-Corps auf der Seite Österreich-Ungarns35.
Nachdem die Habsburger Monarchie am Ende des Krieges zusammengebrochen
war , erklärte der Bosnische Nationalrat am 30.Oktober 1918 seinen Anschluß an
das Königreich Serbien, das sich als SHS-Königreich (=Serbien-Kroatien-
Slowenien) konstituiert hatte und aus dem nach dem Zweiten Weltkrieg
35 Franz Genthe: Die Bosniaken in der preussischen Armee. In: Wissenschaftliche Mitteilungen aus Bosnien
und der Herzegowina. Bosnisch-Herzegowinisches Landesmuseum in Sarajewo, Band 8, Wien 1901, 145–
200.
50
Jugoslawien hervorging. Von 1941 bis 1945 gehörte Bosnien zum Unabhängigen
Staat Kroatien, den die faschistische Ustaša mit Hilfe der deutschen Besatzer
gegründet hatte.36 Bosnien wurde im Krieg ein Zentrum der Partisanenkämpfe
zwischen Faschisten, Nationalisten und Kommunisten. 1946 wurde Bosnien
Föderativstaat der Volksrepublik Jugoslawien.
3.3. Der Zerfall Jugoslawiens
Um den seit drei Jahren in Bosnien und zum Teil in Kroatien tobenden
Bürgerkrieg zu verstehen, der inzwischen hunderttausende Opfer gefordert hat,
soll auch ein Überblick auf die Geschichte Bosniens als jugoslawischer
Teilrepublik gegeben werden. Letztlich ist der Krieg in Bosnien das Ergebnis
ungelöster Nationalitätenkonflikte, die weit in die Geschichte der südslawischen
Völker hineinreichen und auch während der Periode des sozialistischen
Jugoslawiens keine Lösung gefunden haben.
Die Jugoslawische Kommunistische Partei hielt Anfang der fünfziger Jahre die
Nationale Frage für gelöst. Eine föderalistische Verfassung konnte auf die Dauer
nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Serben mit einer zentralistischen
Einheitspartei eine Vormachtstellung im Staat Jugoslawien besaßen. Die
moslimische Bevölkerung wurde als "vertürkte Serben" angesehen, die im Laufe
ihrer Geschichte zu Verrätern der Großserbischen Idee geworden sind. Da sich
die moslemischen Bosnier im Zweiten Weltkrieg auf die Seite der faschistischen
Kroaten gestellt hatten, wurden sie von der serbischen Partisanen (Četniks) als
Faschisten und Besiegte behandelt. Bei den Volkszählungen seit 1948 wurden
sie als ‚Unentschiedene Musulmanen’ ohne eigene ethnische Identität, ab 1953
als national ‚Unentschiedene Jugoslawen’ bezeichnet. Erst seit 1961 erhielten sie
eine eigene „ethnische Zuweisung“, die aber eigentlich die Zugehörigkeit zu ihrer
Religion ausdrückte, sie wurden nun ethnisch als "Moslime" geführt, waren aber
weder als Nation noch als Nationalität anerkannt, lediglich als Volksgruppe ohne
Status, wie Walachen und Roma. Dies ist erstaunlich, wenn man bedenkt, daß die
36 Kroatischen Vasallenstaat der Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg, dessen Diktator Ante Pavelić war.
Vgl. Martin Broszat, Ladislaus Hory: Der kroatische Ustascha-Staat 1941–1945 (= Schriftenreihe der
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Nr. 8). 2. Auflage. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1965.
51
jugoslawischen Moslime37 mit etwa 3,37 Millionen (1981) die drittgrößte
Bevölkerungsgruppe nach Serben und Kroaten im damaligen Jugoslawien war.
Außer den bosnische Moslems gehören auch die Albaner und eine kleinere
türkische Minderheit dem Islam an, werden aber unter ihrer eigenen
Volksbezeichnung gezählt.
Bei der Volkszählung 1971 wurden die moslimischen Bosnier als Moslime im
Sinne einer Nationalität anerkannt, jedoch wurde die nationale Bezeichnung
'Bosnier' streng vermieden, um territoriale Autonomieforderungen auszuschließen.
Es galt als fortschrittlich, daß sich ein Moslem bei der Volkszählung einfach als
Jugoslawe angab, während Serben, Kroaten, Slowenen durchaus auf ihrer
nationalen Identität bestanden.
Die 1974 verabschiedete neue Verfassung Jugoslawiens galt in ganz Europa als
vorbildlich für eine fortschrittliche Minderheitenpolitik. Das föderale Element des
Vielvölkerstaates wurde dabei noch gestärkt.
3.3.1. Der Kosovo
Mit Titos Tod 1980 begann der Zerfall Jugoslawiens bereits. Unter den Albanern
im Kosovo, dem Armenhaus Jugoslawiens, kam es zu Unruhen wegen ihrer
Forderungen nach einer eigenen Republik, weil sie sich mit dem Autonomiestatus
nicht mehr begnügen wollten.
Bald machten sich auch oppositionelle antikommunistische Bewegungen in
Kroatien und Slowenien bemerkbar. Gegen die Demonstranten wurde die unter
serbischer Führung stehende Polizei und die Bundesarmee eingesetzt, welche
ebenfalls serbisch dominiert war.
Seit Mitte der achziger Jahre verstärkte sich der Druck auf die nicht-serbischen
Nationalitäten, die politische Propaganda für ein Großserbien erreichte während
der 600-Jahrfeier am 28.Juni 1989 zur Erinnerung an die Schlacht zwischen
Serben und Türken auf dem im Kosovo liegenden Amselfeld einen Höhepunkt.
37 István Keul (Hrsg.), Religion, Ethnie, Nation und die Aushandlung von Identität(en): Regionale
52
Obwohl 82 % der Bevölkerung dort Albaner sind, sehen die Serben das Gebiet
aus historischen Gründen als zu Serbien gehörend an. Die "Legende vom
Genozid an Serben im Kosovo" stützt sich auch darauf, daß während des Zweiten
Weltkrieges der Kosovo dem unter italienischer Kontrolle stehenden Albanien
angegliedert war und tausende von Serben vertrieben wurden38.
Von Ende 1988 bis März 1989 wurden über Verfassungsänderungen die
Autonomierechte des Kosovo allmählich zurückgenommen, schließlich ganz
aufgehoben. Eine unabwendbare Eskalation der Lage trat ein, als die autonomen
Provinzen Kosovo und Vojvodina aufgelöst und dem serbischen Territorium
einverleibt wurden, wobei die dort lebende serbische Minderheitsbevölkerung39
durch die Belgrader Hetzkampagnen gegen die anderen Bevölkerungsteile der
Teilrepubliken eine feindselige Haltung einnahm. Auf Generalstreiks und
Demonstrationen antwortete die serbische Führung mit dem Einsatz von Armee
und Polizei, wobei es allein im Januar 1990 fast hundert Tote gab. Am 3. Juli 1990
wurde das Kosovo-Parlament aufgelöst. Bis zum September übernahm Serbien
die Kontrolle des gesamten öffentlichen Leben und errichtete eine
Militärherrschaft. Mehr als hunderttausend Albaner verloren ihre Arbeit, die
Leitung der Fabriken wurde von Serben übernommen, die Akademie der
Wissenschaften des Kosovo aufgelöst, Schulunterricht und Universitätslehre in
albanischer Sprache verboten.
3.3.2. Austritt von Slowenien und Kroatien
Nicht außer acht gelassen werden darf die Tatsache der gesamten politischen
Umgestaltung Osteuropas, der Zusammenbruch des Ostblocks durch die
Auflösung des Sowjetimperiums. In diesem Kontext stand die Ablösung und
Religionsgeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa, Frank & Timme 2005 38 Mit dem Eingreifen Deutschlands auf dem Balkan im April 1941 im Zuge des Balkanfeldzuges wurden
Jugoslawien und Griechenland von deutschen Truppen besetzt wurden. Das Kosovo und die Region um
Ulcinj in Montenegro sowie Teile des heutigen Mazedoniens wurden an Albanien angeschlossen. Dieses
Staatsgebilde wurde Großalbanien genannt. 39 Militärisches Amt der Bundeswehr : ethnische Zusammensetzung des Kosowo: Serben – 1948: 23,6%.
1981 – 13,2% 2006 – 5%. Seit dem Kosovokrieg haben schätzungsweise 240.000 Angehörige der
Minderheiten durch Flucht oder Vertreibung ihren Wohnsitz verloren. Diese Zahl beruht auf Angaben der
serbischen Regierung und wird durch andere Vergleichszahlen gestützt.
53
Unabhängigkeitserklärung der beiden nördlichen Republiken Kroatien und
Slowenien.
Im Januar 1990 kam es zum Auseinanderbrechen des "Bundes der Kommunisten
Jugoslawiens", der sich noch wenige Monate zuvor gegen die Einführung eines
Mehrparteiensystems ausgesprochen hatte. Als erste verließen die Kommunisten
Sloweniens und Kroatiens die Bundespartei, damit war der letzte politische
Zusammenhalt zerbrochen. Die ehemaligen führenden Parteifunktionäre blieben
jedoch in ihren Ämtern. Im April 1990 waren freie Wahlen auf Bundesebene
angesetzt, der Zerfall des Bundesstaates machte sie überflüssig.
Stattdessen fanden im April und Mai 1990 in den Teilrepubliken Slowenien und
Kroatien freie Wahren statt, bei denen sich die Oppositionsbündnisse - in Kroatien
die nationalistisch ausgerichtete Partei Franjo Tudjmans - durchsetzen konnten.
Tudjman wurde am 30.Mai 1990 Präsident von Kroatien. Slowenischer Präsident
wurde am 8. April 1990 Milan Kučan (*1941). Beide nichtkommunistischen
Regierungen lehnten den Wehrdienst von Slowenen und Kroaten in der
jugoslawischen Volksarmee ab und legten einen Verfassungsentwurf vor, der die
Umwandlung des Bundesstaates in einen Staatenbund vorsah.
Die serbische Kommunistische Partei löste sich im Juli 1990 selbst auf und bildete
mit anderen sozialistischen Massenorganisationen die Sozialistische Partei
Serbiens unter Slobodan Milošević (1941-2006), der seit 1987 Präsident der
Serbischen Teilrepublik war und sich inzwischen zum 'Volkstribun' entwickelt
hatte. Ungeachtet der allgemeinen Entwicklung in Osteuropa versuchte er den
Kommunismus in Serbien unter Einbeziehung einer nationalistischer Ideologie
neu zu installieren, gleichzeitig aber den anderen nationalen Bewegungen die
Berechtigung dazu abzusprechen.
Als im November und Dezember 1990 bei den ersten freien Wahlen in Bosnien-
Herzegowina sich die Bevölkerung in großer Mehrheit für die "Partei der
demokratischen Aktion" entschieden hatte und den früher als Oppositionellen
verfolgten Alija Izetbegovic (1925-2003) zum Präsidenten einer unabhängigen
Republik Bosnien wählte, unternahm der neue Präsident alles, um Bosnien das
Schicksal einer kriegerischen Aggression zu ersparen. So suchte er eine
54
ausgewogene Koalition mit der "Kroatisch Demokratischen Gemeinschaft" und mit
der "Serbisch Demokratischen Partei", um allen Bevölkerungsteilen in Bosnien
gerecht zu werden. Bosnien sollte die "Schweiz auf dem Balkan" werden.40
In Serbien und Montenegro konnten sich die Kommunisten behaupten, Milosevic
wurde zum Präsidenten Serbiens, Momir Bulatović (geb. 1956) wurde 1990 zum
Präsidenten von Montenegro gewählt.41
3.3.3. Das Ende Jugoslawiens
Das Wahlergebnis führte in Slowenien und Kroatien zu einem neuen
Verfassungsentwurf, der die Umwandlung des Bundesstaates in einen
Staatenbund vorsah. Serbien gab dagegen bekannt, daß alle Anordnungen der
Bundesregierung, die sich nachteilig gegen Serben auswirken könnten, boykottiert
würden. Das jugoslawische Bundesparlament war damit endgültig
handlungsunfähig geworden. Im Oktober 1990 zog Serbien seine Vertreter aus
der jugoslawischen Regierung zurück und besetzte alle Schlüsselpositionen im
Wirtschaftsbereich.
Anfang 1991 drohte ein Wirtschaftskrieg, weil alle sechs Republiken inzwischen
ihre Zahlungen an die Bundeskasse eingestellt hatten. Außerdem bildeten sich in
den Republiken bewaffnete Milizen, nachdem die Bundesarmee weitgehend ein
militärisches Instrument Serbiens war. Da in fast allen ehemaligen jugoslawischen
Bundesstaaten außerhalb Serbiens eine serbische Minderheit lebt, war ein
ethnisches Konfliktpotential vorhanden, das von Serbien bald für seine
expansiven Ziele genutzt wurde.
In Kroatien drängte die serbische Minderheit auf Autonomie, alte historische
Gegensätze zwischen Kroaten und Serben, vor allem während des Zweiten
40 Marie-Janine Calic: Krieg und Frieden in Bosnien-Hercegovina. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main
1996 41 Von 1990 bis 1998 war er der erste demokratisch gewählte Staatspräsident Montenegros, von 1998 bis
2000 Ministerpräsident der Bundesrepublik Jugoslawien. Bulatović galt als enger Verbündeter des serbischen
und später jugoslawischen Präsidenten Milošević.
55
Weltkrieges, wurden wiederbelebt, um die nationalistischen Stellungnahmen zu
untermauern.
Ende Februar 1991 beschlossen das slowenische Parlament und Ende Mai 1991
Kroatien die Abtrennung von Jugoslawien sowie die einvernehmliche Auflösung
des Bundesstaates zugunsten der Gründung von souveränen Staaten. Am 25.
Juni 1991 erklärten die Republiken Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit.
Slowenien bekundete seine Absicht, die Vollmitgliedschaft in der Europäischen
Gemeinschaft anzustreben, wobei es als industriell am stärksten entwickelte
Republik Jugoslawiens bei seinem Alleingang die besten Chancen hatte.
Die Bundesregierung in Belgrad stellte Kroatien ein Ultimatum zur Entwaffnung
der republikanischen Milizen. Bereits im Dezember 1990 hatte sich die serbische
Minderheit als Autonomes Gebiet der Krajina von Kroatien losgesagt, um einen
Staatenbund mit der "Mutterrepublik" Serbien zu bilden, was als ein erster Schritt
auf dem Wege hin zu einem Großserbien angesehen wurde, welches alle
serbisch bewohnten Gebiete einschließen sollte.
4 AUSBRUCH DES BÜRGERKRIEGS
Ab März 1991 standen sich kroatische Spezialeinheiten und die Bundesarmee
der Gebiete gegenüber, in denen eine gemischtnationale Bevölkerung - Serben
und Kroaten - lebte. Es kam zu ersten Kampfhandlungen mit Toten und
Verletzten. Der Konflikt verschärfte sich, als Präsident Slobodan Milosević eine
Grenzrevision zugunsten Serbiens forderte, falls eine zentralregierte Föderation
nicht zustande käme. Im Mai 1991 kam es zu Bürgerkriegsähnlichen
Auseinandersetzungen zwischen kroatischen Milizen und der Bundesarmee.
Während der Westen weiterhin auf die Einheit Jugoslawiens setzte und die
Bundesregierung unter Ante Marković (1924-2011)42 unterstützte, erklärten
Slowenien und Kroatien am 25.Juni 1991 ihre Unabhängigkeit. Bereits in der
folgenden Nacht kam es zu schweren Zusammenstößen zwischen slowenischen
Streitkräften und der Bundesarmee, die den Flughafen der Hauptstadt Ljubljana
42 Von 1989 bis 1991 war er Ministerpräsident seines Landes.
56
bombardierte. Unter dem Druck der Europäischen Gemeinschaft wurde ein
Waffenembargo und die Aussetzung der Finanzhilfe an Jugoslawien
durchgesetzt. Am 8. Juli konnten die Auseinandersetzungen mit dem Abkommen
von Brioni vorerst beendet werden.43 Als Gegenleistung sagten Slowenien und
Kroatien zu, den Vollzug ihrer Unabhängigkeit für drei Monate auszusetzen. Nur
eine Woche nach dieser Vereinbarung griff die inzwischen völlig unter
serbischem Befehl stehende Bundesarmee kroatische Verbände an.
Am 18. Juli zog sich die Armee aus Slowenien zurück, was einer faktischen
Anerkennung der Souveränität dieser Republik gleichkam. Nach diesem
sogenannten Zehntagekrieg konnte sich Slowenien aus dem Kriegsgeschehen
auf dem Balkan heraushalten, da auf seinem Territorium keine größeren
Minderheitengruppen leben. Wegen seiner Zugehörigkeit bis 1918 zum
österreichischen Kronland fühlt sich der Staat ohnehin stärker an Mitteleuropa als
an den Balkan gebunden.
Der heutige Präsident Milan Kučan44 wurde 1991 mit großer Mehrheit von der
Bevölkerung im Amt bestätigt, obwohl er der letzte kommunistische Parteichef des
Landes war. Seit Januar 1993 regiert eine große Koalition, die sich aus der
Liberaldemokratischen Mitte bis zu den Christdemokraten und einer kleinen
Rechtspartei zusammensetzt.
Republik Slowenien
Einwohner 2 Millionen
90,5 % Slowenen, 3% Kroaten, 2,2% Serben
Religion mehrheitlich römisch-katholisch
Republik Kroatien
Einwohner 4,7 Millionen
43 Am 7. Juli 1991 wurde auf der kroatischen Insel Brijuni (Brioni) das Brioni-Abkommen zwischen der
slowenischen, kratischen und jugoslawischen Führung geschlossen.
57
78% Kroaten, 12,2 % Serben
Religion 76,5 Katholiken, 11 % Orthodoxe
Die Kämpfe konzentrierten sich im weitere Verlauf auf Kroatien, wo es um die
gewaltsame Abtrennung der Gebiete Slawonien und der Krajna ging, die in einem
Restjugoslawien verbleiben sollten. Im Laufe des Sommers 1991 weiteten sich
die Kämpfe zu einem offenen Krieg aus, der in Slawonien die Städte Osijek,
Vinkovci und Vukovar einbezog. Im September kam es zu einer Großoffensive
der Armee, welche ab Oktober zusammen mit serbischen Kampftruppen die
Adriastadt Dubrovnik belagerte und den Hafen durch die Bundesmarine
blockierte. Es folgten Angriffe auf Split, nach dreimonatiger Belagerung wurde die
ostslawonische Stadt Vukowar am 19. November 1991 durch serbische und
Truppen der Jugoslawische Volksarmee eingenommen, völlig zerstört und die
kroatische Bevölkerung im Zuge ethnischer Säuberungen vertrieben. Von den
ursprünglich 45 000 Einwohner der Stadt waren 37,4% Serben und 43,7 %
Kroaten. Anstelle der Vertriebenen leben dort jetzt über 10 000 serbische
Flüchtlinge aus Bosnien und Kroatien. In der Krajna-Region leben nur noch 3 %
Kroaten.
Im Sommer 1991 wurden verschiedene vereinbarte Waffenstillstandsabkommen
geschlossen, aber nicht eingehalten. Anfang September hatte in Den Haag eine
Friedenskonferenz der Europäischen Gemeinschaft45 stattgefunden, doch
blieben alle Vermittlungsversuche und Repressionsandrohungen erfolglos. Mitte
Dezember 1991 beschloß der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die
Entsendung von UNO-Vertretern und von UNO-Friedenstruppen. Die Europäische
Gemeinschaft beschloß am 17. Dezember 1991 die völkerrechtliche
Anerkennung von Slowenien und Kroatien zum 15.Januar 1992. Die serbische
und kroatische Führung sowie das jugoslawischen Rumpf-Staatspräsidium
stimmten nun dem UNO-Plan zur Beendigung des Krieges zu. Bis zum
44 Er war der erste Präsident des unabhängigen Slowenien 1991-2002. Unter ihm wurde Slowenien 1992
Mitglied der Vereinten Nationen. 45 Mit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1. Dezember 2009 wurde die Existenz der EG beendet.
Ihre Rechtsnachfolgerin wurde die Europäische Union.
58
Jahresende räumte die Jugoslawische Volksarmee (JVA) ihre Kasernen in
Kroatien.
Im Februar 1992 begann die Stationierung der UNO-Friedenstruppen mit
insgesamt 14 000 Soldaten, allerdings wurden sie nur im kroatischen Kriegsgebiet
eingesetzt. Die von Serbien besetzten Gebiete, nahezu ein Drittel des Territoriums
der kroatischen Republik, verblieben unter serbischer Kontrolle.
Am 3. März 1992 erklärte die Republik Bosnien-Herzegowina ihre
Unabhängigkeit.
4.1. Krieg in Bosnien-Herzegowina
Die Bevölkerungsverhältnisse in Bosnien-Herzegowina vor dem Bürgerkrieg
spiegelten die ethnische Vielfalt Jugoslawiens im kleineren Maßstab wider, wie die
folgende Statistik deutlich macht:
Einwohner insgesamt: 4,5 Millionen46
44 % Moslime
31,4 % Serben (serbisch-orthodox)
17,3 % Kroaten (Katholiken)
Im September 1991 erklärten die Serben jedoch die überwiegend von
katholischen Kroaten bewohnte Herzegowina zu einer Autonomen Serbischen
Region. Sie sollte mit der gleichfalls autonom erklärten Krajina zu einem isolierten
westserbischen Staat vereinigt werden.
Kroaten und Moslems forderten eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit,
die im Januar 1992 ausgeschrieben wurde, was die Serben Bosnien-
Herzegowinas dazu veranlaßte, die Abspaltung einer Autonomen serbischen
Region zu fordern.. Sie boykottierten die Volksabstimmung, an der sich 63% der
Stimmberechtigten beteiligten. Am 3. März 1992 wurde die
Unabhängigkeitserklärung bekanntgegeben, was die Befürchtungen auch der
Europäischen Gemeinschaft wegen eines drohenden Bürgerkrieges verstärkte.
46 Statistik des Auslandes, Länderbericht Jugoslawien 1990, S. 28
59
Um das zu verhindern, suchte man nach einer Kompromißlösung, der von der EG
vorgeschlagene Plan einer Konföderation in Bosnien nach dem Muster der
Schweizer Kanton-Verwaltung wurde aber von keiner Seite akzeptiert. Dabei war
das Hauptproblem die stark gemischten Siedlungsgebiete, die eine ethnische
Aufteilung unmöglich machte. Die Serben, die ein Drittel der Bevölkerung
ausmachten, erhoben Anspruch auf mehr als zwei Drittel des Territoriums, mit
der Begründung, daß die serbische Bevölkerung überwiegend auf dem Lande
siedelte, während die bosnischen Moslems hauptsächlich in den Städten lebten.
Ein eigenständiger Serbenstaat in Bosnien sollte sich später Serbien anschließen
und als Landbrücke zur Krajna, einem der serbischen Siedlungsgebiete in
Kroatien, dienen.
Nachdem die USA und die Europäische Gemeinschaft am 6. und 7. April 1992
Bosnien-Herzegowina als unabhängige Republik anerkannt hatte, brach der Krieg
aus. Die sogenannte Bundesarmee (Jugoslawische Volksarmee) griff auf der
Seite der Serben ein. Schon in den ersten Wochen forderte der Krieg Tausende
von Opfern und Hunderttausende waren auf der Flucht. Bald kam es zu einer
Verständigung zwischen Serben und Kroaten, die Bosnien-Herzegowina unter
sich aufteilen wollten. Während der Kämpfe kam es zu grausamen Massakern an
der moslemischen Zivilbevölkerung in Sarajewo.
Ende Mai 1992 beschloß der UN-Sicherheitsrat ein Handelsembargo und andere
Sanktionen gegen Serbien und Montenegro. Diese Sanktionen blieben
wirkungslos, Sarajewo und andere Städte wie Bihac, Srebrenica, Tuzla, Zepa,
Gorazde wurden weiterhin beschossen und belagert.
Serbien konnte durch das Waffenembargo nicht zum Einlenken bewegt werden,
Durch die Übernahme der Bundesarmee und der Produktionsstätten der
Rüstungsindustrie, die weitgehend auf serbischem Territorium lagen, sowie durch
Waffenschmuggel gab es keinen Mangel an Nachschub. Auch die Stationierung
von UNO-Soldaten ("Blauhelme") konnte nicht verhindern, daß die Kämpfe und
Belagerung in Sarajewo47 und anderen Städten noch eskalierten. Die
47 Die Belagerung der Stadt Sarajevo durch serbische und andere Paramilitärs und Einheiten der verbliebenen
jugoslawischen Bundesarmee war eines der zentralen Ereignisse im Bosnienkrieg. Sie begann mit der
Einnahme des internationalen Flughafens im Vorort Ilidža durch die Jugoslawische Volksarmee in der Nacht
vom 4. auf den 5. April 1992 und endete am 29. Februar 1996 durch das Eingreifen westlicher Staaten. Sie ist
mit 1.425 Tagen die längste Belagerung im 20. Jahrhundert. Die Luftbrücke, die zur Versorgung von
60
eingeschlossene Bevölkerung hat während der Belagerung von 1.425 Tagen
unvorstellbar gelitten.
Am 3. Juli 1992 erfolgte die Proklamation eines Kroatischen Herceg-Bosna ,
womit die Westherzegowina faktisch von der bosnisch-herzegowinischen
Gesamtrepublik abgeteilt war. Dieses Gebiet wird von kroatischen Nationalisten
als Kernland Kroatiens angesehen.
Im Sommer 1992 (16. Juli) begannen NATO-Kriegsschiffe und -Flugzeuge ihre
Patrouillen vor der Küste Montenegros.
4. 2. Kriegsopfer und Friedensinitiativen
Anfang August 1992 gingen die furchtbaren Bilder aus serbischen
Internierungslagern in Bosnien durch die Medien und erschütterten die
Weltöffentlichkeit. Berichte von Folterungen, Massenexekutionen und
Massenvergewaltigungen machten das Ausmaß der unvorstellbaren
Grausamkeiten im Herzen Europas am Ende des 20.Jahrhunderts deutlich.
Auf allen Seiten gab es Opfer, jedoch waren vor allem moslimische Bosnier
betroffen, weshalb in der islamischen Welt die Empörung wuchs und eine
antiwestliche Solidarisierungswelle verursachte. Die Möglichkeit einer Ausweitung
des Balkankrieges in Richtung Nahost hielten Beobachter nicht für
ausgeschlossen.
Die im August 1992 einberufene Jugoslawienkonferenz in London führte
gleichfalls zu keinem Ergebnis. Unvermindert wurden die ethnischen
Säuberungen durch die Serben fortgesetzt .
Das anfängliche Bündnis zwischen bosnischen Moslimen und Kroaten, das
hauptsächlich ein Zweckverbund war, löste sich auf, nachdem die bosnischen
Kroaten zur Rettung eigener territorialer Interessen eher ein Bündnis mit den
Serben für nützlich hielten. Von UN-Beobachtern wurden Greueltaten kroatischer
Milizen an moslemischen Zivilisten gemeldet. Im Herbst 1992 fand eine weitere,
Hunderttausenden eingeschlossenen Menschen aufrechterhalten wurde, dauerte länger als die Berliner
Luftbrücke.Während der Belagerung wurden nach Schätzungen etwa 11.000 Menschen (darunter 1600
Kinder) getötet und 56.000, teilweise schwer, verletzt. Vgl. „20 Jahre Haft für den Kommandeur der
Heckenschützen in Sarajevo“, Die Welt, 6. Dezember 2003.
61
ebenso erfolglose Jugoslawienkonferenz in Genf statt. Ende Dezember 1992
fanden in Serbien Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt, die aber den
Frieden nicht näher brachten. Präsident Slobodan Milosevic und die Sozialistische
Partei siegten, zweitstärkste Partei wurde die ultra-nationalistische "Serbische
Radikale Partei", womit der Krieg in Bosnien geradezu legitimiert wurde.
Anfang Januar 1993 trafen sich alle am Krieg in Bosnien beteiligten Parteien in
Genf zu Friedensverhandlungen. Die Kämpfe gingen jedoch mit unverminderter
Heftigkeit weiter, die Situation der eingeschlossenen bosnischen Städte
verschlimmerte sich noch durch die winterlichen Bedingungen. Die Forderungen
der bosnischen Serben konzentrierten sich nun auf eine ursprünglich den
Kroaten zugesprochene Provinz in Nordbosnien, die als Korridor Restjugoslawien
mit den serbisch kontrollierten Gebieten in West-Bosnien und Kroatien verbinden
sollte.
Im Februar 1993 beschloß die amerikanische Regierung sich unter ihrem neu
gewählten Präsidenten Bill Clinton, aktiver an den internationalen
Friedensbemühungen zu beteiligen und dabei auch eine Unterstützung Rußlands
zu erreichen, von der man sich mäßigenden Einfluß auf die Serben hinsichtlich
einer Friedensregelung erhoffte.
Da sich die Versorgungslage in Bosnien dramatisch verschärft hatte und die
entsendeten Hilfskonvois der UNO immer wieder von serbischen Militärs gehindert
wurden, die hungernden Menschen in den belagerten Städten zu versorgen,
wurde Anfang März vom amerikanischen Militär eine Luftbrücke nach Ost-Bosnien
eingerichtet. Es wurden Lebensmittel und Medikamente abgeworfen, um
wenigstens die schlimmste Not der Eingeschlossenen zu lindern.
Ende März unterzeichnete der bosnischen Staatspräsident Izetbegović den von
den internationalen Vermittlern Cyrus Vance (UNO) und Lord David Owen,
vorgeschlagenen Friedensplan48, dem schon die Kroaten in Bosnien zugestimmt
hatten. Die bosnischen Serben lehnten diesen Plan weiterhin ab und die Kämpfe
in Ost-Bosnien gingen in unverminderter Härte weiter.
62
Am 12.April 1993 begann die NATO im Auftrag der UNO mit der Kontrolle des
Flugverbotes über bosnischem Territorium, um damit eine Resolution des
Weltsicherheitsrates durchzusetzen. Dennoch kam der Krieg nicht zum Stillstand,
im Gegenteil flammten auch in Mittelbosnien wieder Kämpfe sowohl zwischen
Moslimen und Kroaten als auch von Serben gegen beide Parteien auf. Ende April
1993 trat das verschärfte Handelsembargo der UNO gegen "Rest-Jugoslawien in
Kraft, jedoch ohne sichtbare Ergebnisse.
Unter Vorbehalt unterzeichnete am 3. Mai 1993 der bosnische Serbenführer
Radovan Karadžić den Vance-Owen-Friedensplan, dessen Hauptpunkte nach
einem endgültigen Waffenstillstand folgende Maßnahmen vorsahen:
1. Erhaltung Bosnien-Herzegowinas als souveräner Staat bei Aufteilung in zehn
weitgehend autonome Provinzen.
2. Erfassung, weitgehende Entwaffnung und Entflechtung der Kampfeinheiten
aller drei Kriegsparteien unter Aufsicht der UNO.
3. Entfernen der schweren Waffen aus der Umgebung von Sarajewo, so daß sie
nicht mehr gegen die Stadt eingesetzt werden können.
4. Wiederherstellung der Infrastruktur (Strom, Wasser, Gas, Brücken, Straßen,
Eisenbahnlinien) unter Aufsicht und mit Hilfe von UNO-Organisationen sowie
Überwachung der Grenzen Bosnien-Herzegowinas, um die Einschleusung von
Waffen und Munition zu verhindern.
Jedoch stimmte am 6. Mai 1993 das selbsternannte Parlament der bosnischen
Serben mit 55 zu 2 Stimmen gegen den Friedensplan, eine Beendigung des
Krieges war damit wieder in weite Ferne gerückt.
Der Krieg drohte sich auszuweiten, nachdem kroatische Truppenverbände
versuchten, Gebiete der serbisch besetzten Krajna zurückzuerobern und es ihnen
gelang, schwere Waffen aus UNO-Depots in ihre Gewalt zu bringen
48 DIE ZEIT 13. August 1993, „Der Notar des Todes. Lord Owen und das klägliche Scheitern der Genfer
63
Der zweite Kriegswinter brachte die Menschen in den belagerten Städten in eine
noch verzweifeltere Lage. Drei Millionen Menschen waren auf der Flucht, es gab
schon bis zu zweihunderttausend Tote, hauptsächlich Moslime. Nachrichten von
Massenmorden, Konzentrationslagern und Vergewaltigungen von Zehntausend
bosnischen Frauen durch serbische Soldaten und Freischärler erschütterten das
Ausland. Die Hauptstadt Sarajewo, von 12 000 serbischen Kämpfern umzingelt,
wurde von 3 000 Geschützen unter Feuer genommen. Man zählte 9 600 Tote,
darunter 1 600 Kinder, sowie 56 000 Verletzte.
Als Ende Januar 1994 auf dem Markale-Marktplatz in Sarajewo unter der
Zivilbevölkerung ein heimtückisches Massaker 68 Tote und zweihundert Verletzte
forderte, konnte die Staatengemeinschaft den Völkermord in Bosnien nicht mehr
länger geschehen lassen und entschloß sich militärischen Druck auf die Serben
auszuüben. Die NATO drohte nach einem gemeinsamen Beschluß in Brüssel mit
Luftangriffen auf serbische Geschützstellungen, falls bis zum 21. Februar 1994
nicht alle schweren Waffen aus der belagerten Stadt Sarajewo abgezogen
werden. Zweihundert westliche Kampfflugzeuge wurden in das Einsatzgebiet
entsandt, UNO-General Michael Rosen, Kommandant der in Bosnien
stationierten 25 000 UNO-Soldaten, die in humanitärer Mission dem Gemetzel der
drei Kriegsparteien hilflos zusehen mussten, führte die Aufsicht über den Rückzug
hinter die 20 Kilometer-Grenze.49 Die Bedingungen des Ultimatums wurden
schließlich erfüllt, Rußland hatte sich als Vermittler eingesetzt. Die Serben zogen
den Großteil ihrer Geschütze von der bosnischen Hauptstadt ab, jedoch gingen
die Kämpfe in Zentralbosnien weiter.
Als sechs serbische Flugzeuge das Flugverbot über Bosnien missachteten,
obwohl gemäß eer UNO-Resolution 816 keine Flugzeuge und Hubschrauber der
drei Kriegsparteien im Luftraum über Bosnien agieren durften, kam es am
28.Februar 1994 zum Abschuß von vier Flugzeugen durch die NATO. Es war der
erste Militärschlag der Allianz seit ihrer Gründung und machte die
Entschlossenheit des Westens zur Beendigung des Krieges deutlich.
Jugoslawien-Konferenz“ von Michael Thumann 49 Vom 24.Januar 1994 bis zum 23 Jan. 1995 war er kommandierender General der United Nations
Protection Force in Bosnien-Herzegovina.
64
Der Plan einer Dreiteilung Bosniens - 17,5 % für Kroaten, 33,3 % für Moslime und
den Rest für Serben -, war gescheitert, an seine Stelle trat ein Konföderationsplan
zwischen Kroaten und Moslime, der in Wien unter Vermittlung der Vereinigten
Staaten ausgehandelt wurde. Er sah einen Waffenstillstand und eine spätere
Konföderation vor. Nach dem Vorbild der Schweiz sollte es eine Aufteilung des
Gebiets in Kantone geben. Jeder Kanton sollte eine autonome Verwaltung für
Polizei, Bildung und Soziales erhalten, die Zentralregierung würde dann nur noch
die Außenpolitik, Verteidigung und Handel bestimmen. Die bosnischen Serben
weigerten sich, dieser Konföderation beizutreten, die 51 % der bosnischen
Staatsfläche umfasst, der andere Teil sollte an Serbien gehen. Der Plan, der
unter dem Einfluß von Amerika und Rußland zustande kam, wurde am 18. März
1994 in einer feierlichen Zeremonie in Washington unterzeichnet. Mit ihm waren
die Hoffnungen auf einen fortschreitenden Friedensprozeß verbunden, der auch
die Serben einbeziehen müßte, wenn er gelingen soll.
In Deutschland ist die Zahl der Bürgerkriegsflüchtlinge seit Sommer 1992 auf 250
000 gestiegen, in Berlin leben allein 40 000. Insgesamt leben inzwischen etwa
500 000 Bosnier im mitteleuropäischen Exil.
Statistik
Föderative Republik Jugoslawien (Serbien und Montenegro)
Ausrufung am 27.April 1992, wegen der serbischen Kriegspolitik wurde die
Anerkennung durch UNO und EG blockiert.
Einwohner
Serbien 5,8 Millionen - 66% Serben, 17% Albaner
Kosovo 2,0 Millionen - 82 % Albaner, 10% Serben
Vojvodina 2 Millionen - 57 % Serben, 17% Ungarn, 3,7 % Kroaten
Religion
serbisch-orthodox, katholisch, islamisch
65
Montenegro
Einwohner 0,6 Millionen
62% Montenegriner, 21,% Albaner, 9,3 % Serben
Religion
serbisch-orthodox, islamisch,katholisch
5. Die internationale Gemeinschaft
Zahllose internationale Organisationen, nationale Regierungen und
Sonderbeauftragte versuchten während der jugoslawischen Nachfolgekriege
zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln. Das Scheitern dieser
Vermittlungsversuche ist auf eine lange Reihe von Fehleinschätzungen,
gegensätzlichen nationalen Interessen, Streit um Kompetenzen, Versäumnissen
und Abstimmungsproblemen zurückzuführen. Die internationale Gemeinschaft
stand dem grausamen Kriegsgeschehen mitten in Europa hilflos gegenüber.
Anfangs sah man den Zerfall Jugoslawiens als rein europäisches Problem. Der
damalige amerikanische Präsident George W. Bush und der UNO-
Generalsekretär Perez de Cuellar50 erklärten sich ausdrücklich nicht zuständig, als
es nach der Unabhängigkeitserklärung Sloweniens und Kroatiens am 25. Juni
1991 zu ersten Kampfhandlungen in beiden Republiken kam. Die Mitglieder der
EG feierten die "Stunde Europas", in der sich ihre neue Außen- und
Sicherheitspolitik bewähren sollte. Es wurde aber bald klar, daß die Europäer
alleine nicht in der Lage waren, den Konflikt unter Kontrolle zu bringen. Im
September 1991 riefen sie die UNO um Hilfe an.
Mit dem Beschluß, die jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien, Kroatien und
Bosnien-Herzegowina als unabhängige und souveräne Staaten anzuerkennen,
schuf die EG die Voraussetzung für die Internationalisierung des Konflikts. Aus
dem inner-jugoslawischen wurde zu Beginn des Jahres 1992 ein
66
zwischenstaatlicher Krieg. Damit aber waren die Voraussetzungen dafür
geschaffen, daß die Weltgemeinschaft auch militärische Mittel zur
Friedenssicherung hätte einsetzen können.
Dennoch sprachen sich alle westlichen Staaten dagegen aus, die Souveränität
der neuen anerkannten Staaten mit Waffengewalt schützen zu wollen, denn keine
Regierung sah die nationalen Interessen ihres Landes bedroht, und es war unklar,
welche politische Ordnung eine Interventionsarmee im ehemaligen Jugoslawien
hätte aufbauen sollen. Die Entsendung von Bodentruppen wäre zudem nicht nur
teuer, sondern auch extrem gefährlich gewesen, vor allem aufgrund der
unübersichtlichen geographischen Verhältnisse und der Partisanenähnlichen
Kampftechnik der Milizen. Nach Einschätzung von Militärexperten wäre eine
Armee von 100 000 bis 500 000 Soldaten erforderlich gewesen, um die Lage in
Bosnien unter Kontrolle zu bringen.
In der Diskussion über den Einsatz von Kampfflugzeugen gab es unterschiedliche
Meinungen. Nur eine Minderheit vertrat die Auffassung, daß Kampfflugzeuge der
NATO die schweren Waffen (Artillerie und Panzer) sowie Nachschubbasen und
andere militärischen Zentren problemlos aufklären und zerstören könnten, ohne
Opfer unter der Zivilbevölkerung zu fordern. Erst im Verlauf des Jahres 1993
änderte sich diese Einschätzung.
5. 1. Diplomatische Friedensbemühungen
Der UNO-Sicherheitsrat verhängte gegen Serbien und Montenegro, die als
Hauptschuldige im Jugoslawienkonflikt erkannt wurden, ein Wirtschaftsembargo,
um sie zum Einlenken zu bringen. Damit wurde deutlich, daß die
Völkergemeinschaft bei der Lösung des Konflikts auf Gewaltfreiheit setzte. Im Mai
1992 folgten umfassende Sanktionen, um beide Staaten, die nun Restjugoslawien
bildeten, wirtschaftlich völlig zu isolieren und zur Aufgabe zu zwingen.
Gleichzeitig wurden internationale Vermittler beauftragt, nach einer
Verhandlungslösung zu suchen. Im August 1992 wurde als ständige Einrichtung
50 Javier Pérez de Cuéllar war von 1982 bis 1991 Generalsekretär der Vereinten Nationen.
67
die Internationale Jugoslawienkonferenz (ICFY) in Genf etabliert, die sich aus
Mitgliedern der EG (seit November 1993: EU) und UNO zusammensetzten. 1994
ging die Leitung der Bosnienverhandlungen an die aus Vertretern der USA,
Rußlands, Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands gebildete
Kontaktgruppe über.
Das Haupthindernis für einen Frieden in Bosnien-Herzegowina war die
unvereinbaren Vorstellungen der Konfliktparteien in der Verfassungsfrage.
Während die Vertreter der bosnischen Muslime einen multi-ethnisch aufgebauten
Zentralstaat erhalten wollten, verlangten die Führungen der bosnischen Serben
und Kroaten eine Konföderation aus drei Nationalstaaten, einem serbischen,
einem kroatischen und einem bosnisch-muslimischen. Darüber hinaus wollten
Serben und Kroaten ihre Siedlungsgebiete mit den Mutterländern Serbien und
Kroatien vereinigen. Die bosnischen Muslime dagegen hofften auf einen
Zentralstaat in dem sie als stärkste Bevölkerungsgruppe langfristig ihren Einfluß
sichern konnten.
Im Verlaufe des Krieges mußten sich die internationalen Vermittler mehr und
mehr den durch die Kampfhandlungen und Flüchtlingsbewegungen neu
geschaffenen Fakten anpassen. Dabei setzte sich die Vorstellung von Serben
und Kroaten immer stärker durch, Bosnien-Herzegowina nach ethnischen
Kriterien aufzuteilen. Der 1992/93 vorgelegte Friedensplan der Vermittler von
UNO und EU, Cyrus Vance (USA) und Lord David Owen (Großbritannien), war
der letzte Versuch, Bosnien-Herzegowina als einheitlichen Staat zu erhalten. Er
sah vor, den Staat in einzelne autonome, aber ethnisch gemischte Regionen unter
einer Zentralregierung aufzuteilen. Ein Anschluß an die Nachbarstaaten war nicht
vorgesehen. Dagegen protestierten die bosnischen Serben. Im Sommer 1993
wurde ein neuer Vorschlag unterbreitet, der eine bosnische Dreistaaten-
Konföderation entwickelt hatte: der Owen-Stoltenberg-Plan, auch als
Konföderationsmodell oder Union der Republiken Bosnien-Herzegowinas
bezeichnet.51 Damit sollte Bosnien-Herzegowina in eine muslimisch-kroatisch-
51 Der Plan beruhte weitgehend auf serbisch-kroatischen Vorschlägen zur Aufteilung von Bosnien und
Herzegowina, die Slobodan Milošević und Franjo Tuđman im Juni 1993 präsentiert hatten[1] und beinhaltete
die bis dahin weitestgehenden territorialen Zugeständnisse an die serbische Seite. Vgl. Marcus Wenig:
68
serbische Dreistaaten-Union umgewandelt werden. Nach einer Übergangsfrist
sollten die Teilstaaten die Möglichkeit erhalten, über ihren Anschluß an die
Nachbarrepubliken zu entscheiden. Diesen Plan lehnten die bosnischen Muslime
ab.
Seit 1994 arbeitete die Bosnien-Kontaktgruppe, die aus Vertretern der USA,
Frankreichs, Großbritanniens, Deutschlands und Rußlands bestand, an einem
neuen Friedensplan. Der kleine Staat sollte zwar formal erhalten bleiben, jedoch
in zwei Hälften aufgeteilt sein. Bosnien sollte zu einer Union aus zwei
Bundesstaaten mit einer gemeinsamen Zentralregierung werden. Dabei war
vorgesehen, daß 51 Prozent des Staatsgebietes von der im Februar 1994
geschaffenen kroatisch-muslimischen Föderation verwaltet wird, 49 Prozent unter
Verwaltung der bosnischen Serben stehen würde. Gegen diesen Plan wendeten
sich die Serben, wodurch auch diese Friedensinitiative scheiterte. Erst Ende des
Jahres 1995 sollte der Vorschlag den Grundstein zum Friedensschluß legen.
5. 2. Der Friedensbeitrag der UNO
Der Verzicht auf militärische Gewaltanwendung von außen führte dazu, daß der
jugoslawische Krieg in erster Linie als humanitäres und weniger als
sicherheitspolitisches Problem aufgefaßt wurde. Zu Beginn des Jahres 1992
entsandte die UNO eine Friedenstruppe (UNPROFOR) nach Kroatien und im
Sommer auch nach Bosnien-Herzegowina. In Bosnien sollten die Blauhelm-
Soldaten nur die Verteilung der humanitären Hilfe garantieren. Mit der Resolution
761 wurde ihnen die Sicherung des Flughafens Sarajewo übertragen, um dem
UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees: Hochkommissar der
vereinten Nationen für Flüchtling) die Auslieferung humanitärer Hilfsgüter zu
ermöglichen. Da die Kämpfe seit Frühsommer 1992 jedoch immer weiter
eskalierten, wurde der Auftrag der ‚Blauhelme’ ständig umformuliert. Zuletzt
umfaßte er so unterschiedliche Aufgaben wie den Schutz des Konvois des
UNHCR, die Abschreckung von Angriffen auf "Schutzzonen", die Einrichtung von
Zonen, in denen keine schweren Waffen sein durften, und die Vermittlung und
Möglichkeiten und Grenzen der Streitbeilegung ethnischer Konflikte durch die OSZE: Dargestellt am
69
Überwachung von Waffenstillständen. Mehr als 200 teils unklaren und
widersprüchlichen Resolutionen hat der Sicherheitsrat der UNO seit 1991 im
Zusammenhang mit dem jugoslawischen Krieg verabschiedet. Für die Blauhelm-
Soldaten war es schwierig, auf der Grundlage der Resolutionen zu entscheiden, in
welchen Situationen sie militärische Gewalt anwenden konnten.
Die Mitgliedstaaten der UNO waren nicht bereit, ausreichend Personal und
Ressourcen für die Bosnien-Mission zur Verfügung zu stellen. Das krasseste
Beispiel hierfür waren die sogenannten Schutzzonen für die Zivilbevölkerung, zu
denen der UNO-Sicherheitsrat am 6.Mai 1993 die Städte Srebrenica, Gorazde,
Zepa, Tuzla, Sarajewo und Bihac erklärt hatte. Damals wurden die Blauhelme
beauftragt, Angriffe auf diese Gebiete "abzuschrecken", wozu sie auch NATO-
Luftunterstützung anfordern durften. Nur aus der Luft ließen sich diese
Schutzzonen jedoch nicht verteidigen. Trotz mehrfacher Proteste des UNO-
Generalsekretärs entsandte der Sicherheitsrat statt der schon im Juni 1993
geforderten 34 000 Soldaten, die zur Verteidigung der Schutzzonen nötig
gewesen wären, aber nur 7 600 leicht bewaffnete Soldaten. Ohnmächtig mußte
die UNO schließlich mitansehen, wie die Serben im Juli 1995 die Städte
Srebenica und Zepa überrannten und Tausende von Gefangenen ermordeten.
NATO-Luftangriffe hätten nach Meinung der UNO-Kommandeure den serbischen
Vormarsch zwar stoppen können, jedoch unvertretbar viele Opfer unter Zivilisten
und UNO-Personal gefordert.
Nach dem Fall der ostbosnischen Enklaven wurden die UNO-Truppen wurden aus
serbisch kontrolliertem Gebiet abgezogen. Seither waren die Blauhelm-Soldaten
nicht mehr unmittelbar der Gefahr von Vergeltungsangriffen ausgesetzt. Nach
NATO-Luftangriffen hatten die Serben bis dahin stets UNO-Mitarbeiter als Geiseln
genommen, um weitere Strafaktionen zu verhindern.
5. 3. Der Weg zum Frieden
Konflikt im ehemaligen Jugoslawie,. Duncker & Humblot 1996.
70
Die Glaubwürdigkeit des Westens war nach dem Fall der Schutzzonen stark
angeschlagen. Auf einer Konferenz in London einigten sich die Vertreter der
Kontaktgruppen-Staaten am 21. Juli 1995 schließlich auf ein härteres Vorgehen.
Der Nordatlantik-Rat52 entschied am 1. August, Angriffe auf die Schutzzonen
Gorazde, Bihac, Sarajewo und Tuzla künftig hart und schnell mit Luftschlägen zu
beantworten. Damit war die Ablösung der UNO-Mission durch die NATO
vorgezeichnet. Im September 1995 führte die NATO erstmals massive Luftangriffe
gegen serbische Stellungen und half damit den bosnischen und kroatischen
Truppen, von Serben gehaltenes Gebiet zurückzuerobern.
Zuvor hatte die kroatischen Armee im August 1995 mit der Rückeroberung der
Krajina den Serben strategisch wichtiges Territorium genommen. Kroatische und
bosnische Regierungstruppen schlossen einen Militärpakt und es gelang ihnen im
Sommer, weite Teile Westbosniens zurückzugewinnen. Die so militärisch
geschaffenen Fakten veränderten die Lage soweit, daß die früher von der
Kontaktgruppe vorgeschlagene Zweiteilung Bosniens nach der Formel 49:51
wieder möglich wurde. Damit konnte der seit Monaten stockende Friedensprozeß
erneut in gang gesetzt werden.
6. Das Friedensabkommen von Dayton
Das Abkommen von Dayton (auch Dayton-Vertrag genannt) beendete 1995 nach
dreieinhalb Jahren den Krieg in Bosnien und Herzegowina. Der Friedensvertrag
wurde unter Vermittlung der USA mit Beteiligung der Europäischen Union und
unter der Leitung des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton am 21. November
1995 in der Wright-Patterson Air Force Base bei Dayton (Ohio) paraphiert und am
14. Dezember 1995 in Paris unterzeichnet. Die Unterzeichner waren der
serbische Präsident Slobodan Milošević, der kroatische Präsident Franjo Tuđman
und der bosnisch-herzegowinische Präsident Alija Izetbegović. Mit diesem
"Rahmenabkommen für Frieden in Bosnien-Herzegowina" wurde der
jugoslawische Krieg formell beendet. Das Vertragswerk enthält neben detaillierten
militärischen Bestimmungen auch Vorschriften zur Regelung von
52 Der Nordatlantikrat (englisch North Atlantic Council, NAC) mit Sitz in Brüssel (Belgien) ist das wichtigste
71
Verfassungsfragen und für den Aufbau einer demokratischen Gesellschafts-
ordnung. Im militärischen Teil des Vertrages verpflichteten sich die Parteien, ihre
Armeen binnen dreißig Tagen hinter die Waffenstillstandslinien zurückzuziehen
und entlang dieser Linie eine etwa vier Kilometer breite entmilitarisierte Zone
einzurichten. Gleichzeitig sicherten sie zu, alle externen militärischen Kräfte sowie
die schweren Waffen aus der Republik abzuziehen und die Kriegsgefangenen
freizulassen. Eine 60 000 Mann starke internationale Armee (IFOR:
Implementation Force), die unter NATO-Kommando steht und den
Friedensvertrag von Dayton umsetzen soll, löste die UNO-Blauhelm-Soldaten ab.
Der politische Teil des Friedensabkommens enthält folgende Bestimmungen:
1. Bosnien-Herzegowina bleibt als einheitlicher Staat in seinen international
anerkannten Grenzen erhalten;
2. der Staat besteht aus zwei "Einheiten", der muslimisch-kroatischen Föderation,
die 51 Prozent des Territoriums erhält sowie aus der Serbischen Republik, die 49
Prozent verwalten soll;
3. die ostbosnischen Enklaven Srebrenica und Zepa fallen der Serbischen
Republik zu, Gorazde wird über einen Korridor mit der Föderation verbunden;
4. das serbische Gebiet um Banja Luka wird über einen Korridor mit Ostbosnien
verbunden; der Status der Stadt Brcko wird von einer internationalen
Schiedskommission bestimmt;
5. Sarajewo bleibt die ungeteilte Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas;
6. gesamtstaatliche Institutionen sind ein Zweikammer-Parlament, ein dreiköpfiges
Präsidium und eine Zentralregierung, ein Verfassungsgerichtshof und eine
Zentralbank;
7. die Kompetenzen der Bundesregierung umfassen die Bereiche Außenpolitik,
Außenhandel, Zollpolitik, Einwanderung und Staatsbürgerfragen, Transportwesen
und Geldpolitik (gemeinsame Währung);
8. die Einheiten dürfen eigene Staatsangehörigkeiten ausgeben. Verträge mit
Staaten und internationalen Organisationen schließen und "parallele
Sonderbeziehungen" zu ihren Nachbarn, Serbien und Kroatien, aufnehmen. Alle
Entscheidungsgremium der NATO, ausgestattet mit politischer Autorität und Entscheidungsbefugnis.
72
Kompetenzen, die nicht ausdrücklich den Bundesgewalten zugewiesen sind,
werden von den Teilstaaten wahrgenommen, Verteidigungspolitik eingeschlossen;
9. alle Flüchtlinge erhalten das Recht, in ihre Heimatorte zurückzukehren;
10. Personen, die als Kriegsverbrecher verdächtigt werden, sind von politischen
Funktionen und öffentlichen Ämtern ausgeschlossen; die Unterzeichnerstaaten
verpflichten sich, daß Kriegsverbrechertribunal in Den Haag bei seiner Arbeit zu
unterstützen;
11. innerhalb von sechs bis neuen Monaten werden demokratische Wahlen
abgehalten;
12. die Parteien verpflichten sich, die internationalen Menschenrechtsstandards
zu wahren und Menschenrechtsbeobachter zuzulassen. Eine
Menschenrechtskommission und eine Ombudsperson (Schiedsmann) sollen die
Einhaltung der Menschenrechte überwachen;
13. die Nachfolgestaaten Jugoslawiens werden sich gegenseitig anerkennen,
dafür werden im Gegenzug die Sanktionen gegen die Bundesrepublik
Jugoslawien ausgesetzt.53
6. 1. Probleme der Umsetzung
Die Erfahrungen der ersten Monate nach Abschluß des Friedensvertrages
zeigten, daß sich der militärische teil des Abkommens viel leichter umsetzen ließ
als der politische. Viele militärische Bestimmungen wurden bereits
vorschriftsmäßig verwirklicht. Ausnahmen waren die fristgerechte Freilassung aller
Kriegsgefangenen, der Rückzug ausländischer Freiwilligenkämpfer und die
Abgabe schwerer Waffen.
Die Hauptprobleme bei der Umsetzung des Abkommens von Dayton liegen im
politischen Bereich:
Die bosnische Verfassung ähnelt mit ihrem ethnischen Proporzsystem stark der
alten bosnischen bzw. auch der jugoslawischen Verfassung. Wie im alten
Jugoslawien drohen vielschichtige Kompetenzstreitigkeiten zwischen den
53 Richard Holbrooke, Meine Mission. Vom Krieg zum Frieden in Bosnien, Piper Verlag München 1998.
73
Teilstaaten und der Zentralregierung der Republik. Es ist sehr wahrscheinlich, daß
sich die Gremien gegenseitig blockieren werden. Es ist unwahrscheinlich, daß
Bosnien-Herzegowina als Staat bestehen kann, wenn sich seine beiden
Teilstaaten zur Trennung entschließen.
Die Umsetzung der kroatisch-bosnischen Föderation verzögert sich. Noch Monate
nach Abschluß des Vertrages von Dayton weigern sich die Vertreter von Kroaten
und Muslimen, Kompetenzen an die Föderationsregierung abzugeben. Die
vorgesehene Kantone und Kantonsversammlungen bestanden Mitte 1996 noch
nicht, die Währung wurde noch nicht vereinheitlicht und in weiter teilen der
Föderation ist die Bewegungsfreiheit der Bürger nach wie vor eingeschränkt. Die
Verwirklichung der Föderation ist noch nicht in der Realität vollzogen.
Symptomatisch für den schleppenden Integrationsprozeß sind die Erfahrungen
mit der zweijährigen EU-Verwaltung Mostars, der zwischen Kroaten und
Muslimen geteilten Hauptstadt der Herzegowina. Trotz umfassender politischer
und finanzieller Anstrengungen und trotz des großen persönlichen Einsatzes ihres
damaligen EU-Beauftragter und Berater Hans Koschnik54, konnte Mostar bis zum
Sommer 1996 noch nicht vereinigt werden. Auf amerikanischen Druck hin haben
die Kroaten der Herzegowina, die für einen Anschluß an Kroatien sind, ihren
Pseudo-Staat Herzeg-Bosna formal aufgelöst, aber viele seiner Institutionen
bestanden noch weiter.
Die von der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa)
vorbereiteten ersten Nachkriegswahlen in Bosnien-Herzegowina sollten den
Grundstein für einen politischen Neuanfang legen. Dies ist aber mit großen
Schwierigkeiten verbunden, da Meinungs-, Medien-, Versammlungs-- und
54 Vom 23. Juli 1994 bis zum 2. April 1996 war Hans Koschnick von der Europäischen Union als EU-
Administrator für Mostar in Bosnien-Herzegowina mit der Koordination des Wiederaufbaus, der Verwaltung
und Infrastruktur der kriegszerstörten Stadt beauftragt. 1994 wurde von kroatischen Nationalisten ein
Anschlag mit Granaten auf Koschnick unternommen, bei dem sein Hotelzimmer in Mostar verwüstet wurde,
er jedoch unverletzt blieb. 1996 erfolgte ein zweiter misslungener Anschlag. Eine aufgebrachte kroatische
Menschenmenge griff bei einer Demonstration Koschnick in seinem gepanzerten Dienstwagen an. Die
kroatische Polizei blieb passiv. Er konnte unverletzt mit Hilfe seiner Eskorte und dank des Panzerschutzes
seiner Limousine entkommen. 1996 erklärte er dem Außenministerrat der EU in Brüssel seinen Rücktritt.
Vgl. David Jenning, Hans Koschnick, Jens Schneider, Uli Reinhardt, Brücke über die Neretva. Der
Wiederaufbau von Mostar, Deutscher Taschenbuchverlag, München 1995.
74
Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt sind und viele Flüchtlinge davon abhalten
wurden, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Die gemäßigte und nicht
nationalistische Opposition, hatte, da die Medien von den lokalen Machthabern
zensiert werden, kaum Darstellungsmöglichkeiten. Tatsächlich sind bei den am
14. September 1996 planmäßig durchgeführten Wahlen in erster Linie Politiker
der drei großen Naionalparteien in ihren Positionen bestätigt worden.
Obwohl das UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) im März
1996 einen Plan zur Repatriierung von rund zwei Millionen Menschen entwickelt
hat, konnten bisher nur eine kleinere Anzahl von Menschen in ihre Heimatorte
zurückkehren. Große Teile des Landes sind weitgehend zerstört und in vielen
Gegenden haben die Kriegsparteien eine „Politik der verbrannten Erde“ betrieben,
auch, um eine spätere Rückkehr der vertriebenen zu verhindern. Wo Städte,
Dörfer oder auch nur einzelne Häuser noch stehen, wurden meistens wieder
andere Flüchtlinge einquartiert. Nur wenige Flüchtlinge sind bereit, in die alte
Heimat zurückzukehren, wenn diese inzwischen von ehemaligen Feinden
verwaltet wird. Noch sitzt die Angst zu tief, erneute Verfolgungen ausgesetzt zu
sein. Tatsächlich tun die lokalen Autoritäten in vielen Gemeinden alles, um die
Rückführung der Flüchtlinge zu verhindern und den durch Vertreibung erreichten
Zustand ethnisch homogener Gebiete zu konservieren. Es gibt bisher keine
Institution, die bereit oder in der Lage wäre, die Heimkehrer effektiv zu
beschützen. Die NATO erklärt sich für nicht zuständig, und die UNO-
kommandierte internationale Polizeitruppe besitzt weder die Ausrüstung noch die
Genehmigung, exekutive Aufgaben zu erfüllen. Sie ist nur zur Beobachtung und
Beratung vor Ort.
Keine Seite ist bereit, mutmaßliche Kriegsverbrecher zu verhaften und
auszuliefern. Selbst die prominenten Serbenführer Radovan Karadžić und Ratko
Mladić, die vom Internationalen Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag angeklagt
sind, befinden sich im Herbst 1996 noch auf freiem Fuß. Zwar dürfen solche
Personen keine öffentlichen Ämter ausüben, aber ihre Popularität und ihre
faktische Macht bestehen weiter. Sie können sogar ungehindert in der
Öffentlichkeit auftreten,.
75
Wichtige Territorialfragen blieben in Dayton offen. Die Entscheidung darüber,
wem die umkämpfte Stadt Brcko gehört, wurde einem internationalen
Schiedsgericht vorbehalten. Brcko liegt an der strategisch wichtigen
Landverbindung zwischen West- und Ostbosnien, in der die Serben einen für ihre
Republik lebenswichtigen Korridor sehen. Aber auch Muslime und Kroaten wollen
die Stadt kontrollieren, weil sie die strategisch interessante Brücke zwischen
Zentralbosnien und Kroatien bildet.
Gleichzeitig konnte auch noch keine überzeugende Lösung für die vorwiegend
von Muslimen besiedelte Sandžak-Region55 und das mehrheitlich von Albanern
bewohnte Kosovo gefunden werden, die beide zu Serbien gehören. Für beide
Regionen, die als gefährliche Konfliktherde gelten, stehen
Minderheitenregelungen noch aus. Ständig wächst die Unzufriedenheit der
dortigen Bevölkerung, die sich von der internationalen Gemeinschaft im Stich
gelassen fühlt.
Ein gravierendes Problem ist der Wiederaufbau, dessen vorläufige Kosten auf
fünf bis acht Milliarden US-Dollar geschätzt werden. Schwierig wird es vor allem
sein, Bosnien-Herzegowina wieder zu einer einheitlichen funktionierenden
Volkswirtschaft zu verschmelzen und die Produktion in Schwung zu bringen.
Einige bosnische Regionen haben traditionell viel engere Wirtschaftsbeziehungen
mit Nachbarrepubliken als untereinander. Zum Beispiel das Gebiet um Bihać mit
Kroatien oder die Großregion von Tuzla mit Serbien. Das Hinterland der
Hauptstadt Sarajewo, die selbst der Föderation zufällt, hat enge Beziehungen
zum serbischen Ostbosnien.
Mit Unterzeichnung des Pariser Friedensvertrages (14.12. 1995) wurde das
Waffenembargo aufgehoben. Bereits 90 Tage später durften die ehemaligen
Kriegsparteien wieder leichte Waffen einführen, nach 180 Tagen sogar Minen,
Flugzeuge und Kampfhubschrauber importieren. Vor allem die USA sind der
55 Der Sandžak ist eine grenzübergreifende geographische und historische Region im Südwesten Serbiens
und Nordosten Montenegros. Er grenzt im Nordwesten an Bosnien und Herzegowina, im Südosten an
Kosovo. Der Name leitet sich vom Sandžak Novi Pazar ab, das bis 1913 eine Verwaltungseinheit des
Osmanischen Reichs war. Die Mehrheitsbevölkerung des Sandžak sind slawische Muslime, die sich entweder
als Bosniaken oder als „Muslime“ (im nationalen Sinne) identifizieren.
76
Ansicht, daß die kroatische und die bosnisch-muslimische Armee Waffen
benötigt, um sich nach Abzug der IFOR einmal selbst verteidigen zu können. Im
Rahmen eines militärischen Unterstützungsprogamms sollen 100 Millionen US-
Dollar bereitgestellt werden, um ein militärisches Gleichgewicht zwischen den
ehemaligen Feinden herzustellen. Bosnische und kroatische Kommandeure
haben in den USA bereits Vereinbarungen über künftige Ausbildungs- und
Aufrüstungsprogramme über Aufrüstung und Ausbildung getroffen.
Es war unübersehbar, daß die für die IFOR vorgesehene Zwölfmonatsfrist nicht
ausreichte, um den politischen Prozeß planmäßig in Gang zu halten. Am 20.
Dezember 1996 wurde die 60 000 Soldaten umfassende Friedenstruppe durch
die neue SFOR (Stabilization Force) abgelöst. Damit sichert die NATO weiter den
Frieden in Bosnien und behauptet sich als Ordnungsfaktor in Europa. Der NATO-
Rat beschloß einen Operationsplan und die Verlängerung der Friedensmission,
die eine Verringerung der Truppen auf rund 31 000 Soldaten vorsieht. Davon
gehören 3000 Soldaten der deutschen Bundeswehr an, auch der Stabschef der
Friedenstruppe ist ein deutscher General. Die SFOR (Stabilization Force)56 wird
für weitere 18 Monate in Bosnien-Herzegowina stationiert sein, um dort den
Frieden zu festigen und die Lage zu stabilisieren. Das Mandat erlaubt es, im
Extremfall Waffengewalt anzuwenden, um die Ziele des Dayton-Vertrages
durchzusetzen, wenn zwischen Muslimen, Serben und Kroaten erneut Kämpfe
aufflammen sollten.
Die wichtigsten Kontingente der SFOR-Friedenstruppen kommen aus den NATO-
Mitgliedsstaaten: USA (8 500), Großbritannien (5 000), Deutschland (3 000) und
Frankreich (2 500). Außerdem beteiligen sich auch Nicht-NATO-Staaten mit
Kontingenten an der Friedensmission, insgesamt nehmen 32 Staaten daran teil.
6. 2. Kommentar zu den Wahlen in Bosnien
"Bosniens schwieriger Neubeginn"
56 Durch die Resolution 1088 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 12. Dezember 1996 wurde
das Mandat der bisherigen Implementation Force (IFOR) auf die SFOR zunächst für 18 Monate übertragen
77
Aus: Neue Zürcher Zeitung vom 17.September 1996
Daß jene Kräfte, die an den Grundfesten des gemeinsamen Staates gesägt oder ihn gezielt zerstört haben, erneute das Vertrauen der Wähler erhalten, hängt vor allem auch mit dem Zustand zusammen, in dem sich das in drei ethnische Herrschaftsgebiete zerrissene Bosnien-Herzegowina befindet. Man darf nicht voraussetzen, daß in einem vom Krieg verwüsteten Land ohne demokratisch Traditionen und mit höchst rudimentären Ansätzen einer zivilen Gesellschaft die betont multi-ethnischen Kräfte auf Anhieb die Regierungsparteien ernsthaft in Bedrängnis bringen können. Der Schluß, die Wahlen seien eine Farce und man hätte sie nicht durchführen sollen, ist trotz der berechtigten Skepsis voreilig, denn im Falle einer Verschiebung hätten die nationalen Parteien erst recht ihre Herrschaft weiter festigen können. Auch darf die psychologische Wirkung nicht unterschätzt werden. Viele Bewohner Bosniens betrachten die Wahlen als eine Zäsur, die das Ende des Krieges und den Beginn des Kampfes mit politischen Mitteln markiert. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist im Laufe des Krieges vertrieben worden und hofft noch immer auf eine Rückkehr in die alte Heimat. Die Menschen, die von den Kriegsherren auf allen Seiten gezwungen wurden, sich nicht als Bürger eines Staates zu betrachten, sondern als Angehörige der jeweiligen Nation, sind verunsichert und verängstigt. Jeder sieht sich als Opfer der Willkür der anderen Volksgruppen, die Bosniaken ebenso wie die Serben und Kroaten. Vor allem die vielen Entwurzelten und die Menschen auf dem Lande klammern sich angesichts der vielen Ungewißheiten an jene, von denen sie sich am meisten Schutz erhoffen, und das sind die regierenden Parteien. Natürlich ist die Frage, berechtigt, wie die gewählten Mitglieder in den gemeinsamen Institutionen zusammenarbeiten sollen, zumal diese relativ leicht lahmgelegt werden können. Natürlich muß man bei der Konstituierung der gesamtstaatlichen Organe mit großen Schwierigkeiten rechnen. Und es ist höchst ungewiß, ob der Staat den vor allem die Serben und die Kroaten der Herzegowina nicht wollen, zusammengehalten werden kann, zumal die von den Kroaten kontrollierten Gebiete de facto bereits ein Teil Kroatiens sind. Diese sind heute enger mit Kroatien verbunden als die Serbische Republik mit Serbien. Für die Bosniaken hingegen ist der Gesamtstaat eine Frage des Überlebens als einer eigenständigen Nation, denn sie haben, anders als die Serben und Kroaten keinen anderen Staat. Man sollte Bosnien nicht vorzeitig begraben. Immerhin erhält das Land vom Volk legitimierte neue Machtorgane. Hinzu kommt die Hoffnung, daß die Herrschaft der nationalen Parteien durch die Präsenz eines oppositionellen Gegengewichts in den Parlamenten wenigstens zum teil aufgeweicht werden kann. Nach Meinung der bosniakischen Opposition sind die Wahlen notwendig gewesen, um die politischen Voraussetzungen für die in zwei Jahren geplanten Neuwahlen zu schaffen - falls es Bosnien dann überhaupt noch gibt. Ohne eine wirkliche Demokratisierung in Kroatien und Serbien ist eine politische Konsolidierung nur schwer vorstellbar, Serben und Kroaten müßten endlich die durch den Krieg weiter gefestigte nationale Identität der muslimischen Bosnier (Bosniaken) voll und ganz respektieren.
und später mehrmals verlängert. Der SFOR-Einsatz erfolgte im Rahmen der Operation Joint Guard auf
Grundlage des Dayton-Vertrags von 1995.
78
Entscheidend ist jedoch vor allem die Haltung der westlichen Staaten. Ohne eine anhaltende starke ausländische Präsenz im militärischen und im zivilen Bereich und ohne massiven Druck von außen wird das de facto geteilte Bosnien früher oder später endgültig auseinanderabrechen. Wichtig ist auch, daß der wirtschaftliche Wiederaufbau endlich beginnt, denn es sind vor allem die ökonomischen Zwänge, welche die teile am ehesten wieder zusammenbringen könnten. Es bleibt zu hoffen, daß die von Vertretern der amerikanischen Regierung abgegebenen Zusicherungen, wonach Washington eine Sezession der Serben oder Kroaten und damit den Zerfall Bosniens nicht zulassen werde, nach den amerikanischen Wahlen vom November nicht sogleich wieder in Vergessenheit gerate."
7. Flüchtlinge aus dem Balkan
Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien hat 1,6 Millionen Menschen zu
Flüchtlingen gemacht. Davon sind 940 000 Binnenflüchtlinge, die teils in der
Moslimisch-Kroatischen Föderation (640 000), teils in der Republik Serbien (300
000) leben. Über 600 000 Flüchtlinge aus Bosnien haben vorübergehend
während des Krieges in Europa Aufnahme gefunden, über die Hälfte von ihnen
(320 000) in Deutschland. An zweiter Stelle steht Schweden, wo 122 000
bosnische Flüchtlinge aufgenommen wurden. Nach der Beendigung des Krieges
muß jetzt die schwierige Frage der Rückkehr der bosnischen Flüchtlinge in ihre
Heimat gelöst werden.
Grundsätzlich sind drei Probleme zu bewältigen: In den Gebieten, die frei
zugänglich sind, auf moslimisch-kroatischer Seite, fehlt es an Wohnraum. Es gibt
kein bewohnbares Haus, das nicht von irgend jemandem bewohnt wäre, seien es
Flüchtlinge aus nunmehr serbischen Gebieten, seien es Ortsansässige, deren
eigene Wohnung zerstört wurde. Wohnraum ist nicht alles; man muß auch leben
können. Flüchtlinge in Bosnien selbst leben nicht elender, wenn sie die
verschwindend geringe Unterstützung, die sie erhalten, im eigenen Haus
verwenden. Aber Menschen, die aus dem westlichen Ausland zurückkehren,
stehen im Vergleich zu ihrem jetzige, bescheidenen Lebensstandard vor dem
Nichts, wenn sie zurückkehren. es sei denn, sie haben etwas Geld gespart. Dies
würde ihnen eine bescheidene Existenz ermöglichen, zum Beispiel ein kleines
Geschäft aufzubauen, das in dem noch stark unterversorgten Land eine gute
Existenzgrundlage bieten kann. Auch Bauern, die in der Lage sind, etwas Saatgut
79
zu organisieren oder sogar landwirtschaftliche Maschinen, haben dadurch eine
Chance, sich ein neues Leben aufzubauen.
Die ursprünglich angestrebte freiwillige Rückkehr der Flüchtlinge in ihre
Heimatorte ist größtenteils unmöglich und scheitert daran, daß die Serben sich
weigern, geflohene Muslime oder Kroaten zurückkehren zu lassen. Nichts deutet
darauf hin, daß die serbische Führung in Pale57 ihre Haltung zu diesem Punkt
ändern will. Auch die Führung der bosnischen Kroaten und Muslime ist einer
Politik der Öffnung gegenüber serbischen Flüchtlingen negativ eingestellt, muß
dies aber nicht öffentlich zugeben, da die serbischen Behörden selbst ihre
Landsleute an einer Rückkehr in die alten Heimatorte hindern. Zu tief sind die
gegenseitig geschlagenen Wunden, viele Muslime und Kroaten , die besonders in
den ersten Kriegsjahren unter den Serben gelitten haben, hegen Rachegefühle.
Die Lösung dieses schwierigen Problems einer Rückführung kann nur dadurch im
Laufe der Zeit behoben werden, daß das internationale Wohnungsbauprogramm
in Bosnien mit aller Kraft vorangetrieben wird und daß die Umsetzung des
Dayton-Plans hartnäckig durchgesetzt wird, der Bewegungsfreiheit und Rückkehr
der Flüchtlinge festgeschrieben hat.
Auf serbischem Gebiet sind die meisten Häuser von Muslimen bewohnbar, nur
werden sie jetzt von serbischen Flüchtlingen bewohnt, deren Wohnungen in der
kroatischen Krajina oder in Sarajevo ebenfalls noch existieren und von anderen
vertriebenen Volksgruppen in Anspruch genommen werden.
In Bosnien wird dort am schnellsten und billigsten gebaut, wo Eigentümer ihre
alten Häuser reparieren oder an deren Stelle neue bauen. Eine finanzielle Beihilfe
zur Wiederinstandsetzung, etwa 5 000 Mark pro Wohnung, würde für viele eine
Hilfe sein, denn in Bosnien baut die Familie und Baumaterial wie Ziegelsteine und
Zement, sind wesentlich billiger als in Deutschland. Das größte Hindernis bei der
Rückkehr ist die Furcht vor einem neuen Krieg.
57 Pale ist ein Ort im Osten von Bosnien und Herzegowina, etwa 20 Kilometer östlich von Sarajevo. Während
des Bosnienkrieges fungierte Pale als Hauptstadt der Republika Srpska, bis diese nach Banja Luka verlegt
wurde. Sie galt es als Hochburg serbischer Nationalisten. Nach dem Krieg wurde ein kleiner Teil der
Gemeinde der Föderation Bosnien und Herzegowina angegliedert (die heutige Gemeinde Pale-Prača),
während Pale selbst bei der Republika Srpska blieb.
80
7. 1. Mostar - eine geteilte Stadt
Mitten durch die Stadt Mostar verlief die von bosnischen Kroaten und Muslimen
heftig umkämpfte Frontlinie, eine breite Durchfahrtsstraße, der "Boulevard". Auf
beiden Seiten der Straße stehen nun die Ruinen zerstörte Gebäude,
Wohnkomplexe und Geschäftshäuser. Am "Boulevard" verläuft die unsichtbare
Grenze zwischen West- und Ost-Mostar, zwischen dem kroatischen und dem
muslimischen Stadtteil. Beide Stadthälften sind völlig voneinander abgeschottet,
es gibt zwischen beiden Volksgruppen kein Zusammenleben, alle öffentlichen
Kontakte stehen unter internationaler Aufsicht. Staatliche, zwischenstaatliche und
nichtstaatliche Organisationen bemühen sich, die kriegsgeschädigte Stadt wieder
zur Normalität zurückzuführen. Die Wiedervereinigung von Mostar gilt als
Prüfstein bei der Umsetzung des Friedensvertrags von Dayton, als Maßstab für
das Funktionieren der Moslimisch-Kroatischen Föderation von Bosnien-
Herzegowina. Die bisherigen Erfahrungen der internationalen Organisationen
sind wenig ermutigend. Zwar sind sichtbare Fortschritte zu verzeichnen: die
Straßensperren sind weg, es gibt gemischte Polizeipatrouillen, der Wiederaufbau
der Stadt ist in vollem Gang. Häuser werden repariert, Schulhäuser aufgebaut,
Brücken errichtet, der Bahnhof ist wieder in Betrieb. Dieser Aufbau konnte mit
Hilfe aus dem Ausland ermöglicht werden. Es wurden in Mostar auch schon
Lokalwahlen durchgeführt, aber der Aufbau gemeinsamer politischer Institutionen
ist bisher kaum fortgeschritten, was vor alle am Widerstand der kroatischen Seite
liegt, die eine Zusammenarbeit mit den Moslimen verweigerten. Noch immer gibt
es in der kroatischen Bevölkerung eine Mehrheit, die für eine eigene kroatische
Republik Herceg-Bosna ist. Diese wird aber im Vertrag von Dayton nicht
anerkannt.
Ohne internationale Aufsicht ist ein friedliches Zusammenleben der beiden
Volksgruppen in Mostar gegenwärtig noch nicht denkbar. 1996 wurden über
siebzig Fälle registriert, in denen noch im Westen verbliebenen Muslime
vertrieben wurden, teils gewaltsam, teils durch "legale" Wohnungskündigungen.
7. 2. Probleme der Rückkehr bosnischer Flüchtlinge aus Deutschland
81
Mit eindringlichen Appellen haben Hilfsorganisationen vor der menschlichen
Katastrophe gewarnt, die durch die zwangsweise Rückführung von Bosnien-
Flüchtlingen entstehen würde. Das UNO-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) hat an
die Länderinnenminister und Ausländerbehörden in Deutschland appelliert, den
Ausreisedruck von bosnischen Flüchtlingen zu nehmen, die nicht in ihre
Heimatgebiete zurückkehren können. Davon sind besonders Moslime aus der
bosnisch-serbischen Republik betroffen. Sie können nicht zurückkehren, weil sie
in ihren Heimatorten akut gefährdet wären. Andererseits werden die
Kriegsflüchtlinge, die noch in Deutschland leben, dringend für den Wiederaufbau
ihres Landes gebraucht. Besonders schwierig ist eine Rückkehr im Winter.
Die Diskussion um die Rückführung der 320 000 Bosnier, die in Deutschland
leben, war vom Bundesinnenminister zunächst für den 1. Oktober 1996
vorgesehen, inzwischen geht man davon aus, daß eine Rückkehrbewegung erst
im Frühjahr 1997 realistisch sein wird. Wie die Statistik zeigt, haben die
Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg die
stärksten Flüchtlingskontingente aufgenommen. Berlin hat mit 29 000
bosnischen Flüchtlingen anteilmäßig das größte Kontingent von
Balkanflüchtlingen. In der Diskussion gibt es bei den einzelnen Bundesländer
keine übereinstimmende Haltung, im Mai 1996 war beschlossen wurden von
Oktober bis zum Sommer 1997 zunächst Alleinstehende und Ehepaare ohne
Kinder zur Heimkehr aufzufordern. Familien sollten später folgen.
Angesichts der ethnischen Teilung, die vielen das im Daytoner Vertrag
vorgesehene "Recht, frei an ihren früheren Wohnsitz zurückzukehren" unmöglich
macht, mußte man sich darauf einigen, daß es Rückführungen nur in jene Orte
geben kann, wo keine Gefahr für Leib und Leben besteht und der Wiederaufbau
"zumutbare Lebensbedingungen gewährleistet. Das UN-Flüchtlingshilfswerk hat
bisher 23 Gebiete als sicher eingestuft. Etwa 15 000 Personen hatten vor der
Wahl in Bosnien im September 1996 Deutschland verlassen.
7. 3. Ein "Friedensdorf für Bosnien"
82
Die Berliner Organisation "Süd-Ost-Europa Kultur" hat sich für das Projekt eines
Friedensdorfes in der Nähe von Tuzla engagiert. Während des Krieges war der
Verein in Berlin-Kreuzberg Anlaufstelle für alle Bürgerkriegsflüchtlinge aus Ex-
Jugoslawien, egal ob Moslime, Kroaten oder Serben. Aus den Erfahrungen soll
das multi-ethnische Dorf Hrvati als ein Beispiel für Toleranz und Verständigung
entstehen und bei der Überwindung der ethnischen Feindseligkeiten helfen. Das
Dorf liegt mitten in den Wäldern des Kantons Tuzla, drei Kilometer vom Ort
Lukavac entfernt. Das hier ansässige Koks-Chemie-Kombinat wurde im Krieg
zerstört, in Hrvati blieb die gemischte Bevölkerung vom Rassenhaß verschont und
noch immer leben Muslime, Kroaten, Serben, und Roma friedlich miteinander. Es
entstanden eine Reihe von privaten Initiativen, die jetzt von dem Berliner Verein
unterstützt werden. Man hofft, daß solche Beispiele zur Nachahmung ermutigen
und den Wiederaufbau und die Rückkehr von Flüchtlingen positiv beeinflussen. In
Hrvati soll ein internationales Begegnungszentrum entstehen, wo Seminare
veranstaltet werden, um die Isolation von Europa aufzubrechen und ein
Demokratieverständnis zu vermitteln. Finanzielle Unterstützung erhält das Projekt
von der EU-Kommission.
APPENDIX
MINDERHEITEN AUF DEM BALKAN
8.1 Ungarn außerhalb Ungarns
83
Als Folge des Zusammenbruchs der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn58 am
Ende des Ersten Weltkrieges verlor das einstige Ungarische Königreich Zweidrittel
seines Territoriums mit einer ungarischen Bevölkerung von 3,5 Millionen, die
teilweise in rein ungarisch besiedelten Gebieten lebte. Im Vertrag von Trianon, der
am 4. Juni 1920 zwischen den Entente-Mächten und Ungarn geschlossen wurde,
erhielten die Balkanstaaten Rumänien, das Königreich Jugoslawien (SHS), die
Slowakei und Österreich den Gebietszuschlag. Ungarn schrumpfte dabei von 282.
870 km auf 93. 011 km².59
Zwei Millionen Ungarn leben in Siebenbürgen und im Banat in Rumänien, 600 000
in der Slowakei, 450. 000 in der ehemals autonomen Jugoslawien-Provinz
Vojwodina und 200. 000 in der 1944 von Stalin annektierten Karpato-Ukraine.
In Rumänien stellen die Ungarn mit fast 9 % der Gesamtbevölkerung die größte
Minderheit dar. Sie leben in Gebieten, die bis 1918 zur ungarischen
Stephanskrone gehörten (Kronländer)60. Dort bildet die ungarische Bevölkerung
drei geschlossene Spracheninseln. Die größte ist das Szeklerland im Bogen der
Südkarpaten, wo über eine halbe Million Ungarn lebt. Fast die gleiche Anzahl
siedelt an der Westgrenze Rumäniens in der Tiefebene, die von Ungarn
herüberzieht. Die dritte Insel liegt nördlich von Klausenburg, das die Ungarn
Koloszvar nennen.
Kulturgeographisch ist der Banat und Siebenbürgen von Ungarn und Deutschen
seit dem Mittelalter besiedelt. In der alten Verfassung von 1965 garantierten
Artikel 17 und 22 den freien Gebrauch der Muttersprache, Publikationen, Theater,
Schulunterricht sowie Gleichheit in allen Lebensbereichen. Bereits während der
Ceaușescu-Diktatur61 war die Lage der ungarischen Minderheit in Rumänien
schwierig und führte zum Streit mit dem kommunistischen ‚Bruderland’ Ungarn,
der 1985 einen Höhepunkt erreichte. Rumänien warf Ungarn eine "revisionistische
58 Die Österreichisch-Ungarische Monarchie (ungarisch Osztrák-Magyar Monarchia) bezeichnet den
Gesamtstaat des Habsburgerreiches in Mittel- und Südosteuropa für den Zeitraum zwischen 1867 und 1918. 59 Die ungarische Delegation unterschrieb den Vertrag unter Widerspruch am 4. Juni 1920.. 60 Kronländer hießen ab dem späten 18. Jahrhundert die Länder der Habsburgermonarchie, ab 1804 die
Gebietsteile des Kaisertums Österreich als Einheitsstaat und ab 1867 der westlichen Reichshälfte der
Österreichisch-Ungarischen Monarchie. 61 Nicolae Ceaușescu (1918-1989), Staatspräsident und Vorsitzender des Staatsrates war er von 1965 bis
1989 der neostalinistische[1] Diktator der Sozialistischen Republik Rumänien.
84
Politik" vor, weil es angeblich Ansprüche auf Siebenbürgen machte. Umgekehrt
warfen die Ungarn Rumänien eine Politik der Assimilation vor, nachdem die
ungarische János Bolyai-Universität in Klausenburg (Cluj) geschlossen wurde.
Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme in Südosteuropa, an
deren Stelle nun verspätet eine aggressive und übersteigerte Nationalstaats-
Ideologie trat, ist die Lage der Ungarn in Rumänien schlechter geworden. Die
postkommunistische Front zur nationalen Rettung Ion Iliescus62 versucht, der
Verfassungslage die Rechte der Minderheiten willkürlich abzubauen. 1990 kam es
in der Ortschaft Tirgu Mures zu pogromartigen Ausschreitungen gegen die
ungarische Bevölkerung. Zweisprachige Schilder und Plakate wurden verboten, im
Geschichtsunterricht wurden bevorzugt historische Konflikte zwischen Rumänen
und Ungarn dargestellt und letztere als "kulturlose Eindringlinge" und "barbarische
Reiterheere aus Asien" diffamiert, was auch von der nationalistischen
rumänischen Presse verbreitet wird.
Zu den Rändern des alten ungarischen Reiches entlang des Karpatenbogens
gehört auch ein Teil der heutigen Slowakei, in der 600. 000 Ungarn (11 % der
Bevölkerung) ihre Heimat haben. Das Verfassungsgesetz über die Stellung der
Nationalitäten von 1968 sicherte in der einstigen Tschechoslowakischen
Sozialistischen Republik die Stellung der Nationalitäten. Die größte unter ihnen
war die ungarische Minderheit, ihnen gewährleistete der Staat "alle Möglichkeiten
und Mittel zur Bildung in der Muttersprache und zu ihrer kulturellen Entwicklung."
Dazu gehörte das Presserecht, das Recht auf nationale kulturelle
Gesellschaftsorganisationen und der Gebrauch des Ungarischen als Amtssprache
in den mehrheitlich von Ungarn bewohnten Gebieten. Eingeschränkt war diese
gesetzliche Freizügigkeit durch das allgemein restriktive sozialistische System. Im
unruhigen Prager Frühling 1968 kam es auch zwischen Ungarn und Slowaken zu
Auseinandersetzungen, die sich aber beruhigten. Eine kulturelle Betätigung,
sofern sie System-konform war, konnte stattfinden.
62 Im Dezember 1989 löste sich die Kommunistische Partei Rumäniens auf und ein Teil der ehemaligen KP-
Mitglieder gründete die Frontul Salvării Naționale (FSN, Nationale Rettungsfront) unter der Führung von
Iliescu und übernahm die Macht im Land.
85
Nachdem die Slowakei jetzt ein unabhängiger Nationalstaat geworden ist, macht
sich der erstarkende Nationalismus auch in einer restriktiven Politik gegenüber
den Ungarn bemerkbar. Die Ungarn fordern mehr ungarische Schulen, um die
Schulbildung in der Muttersprache sicherzustellen sowie den Gebrauch ihrer
Sprache auf Ämtern und Gerichten, bei Orts- und Straßennamen in ihren
traditionellen Siedlungsgebieten. Die Regierung in Bratislawa scheint allerdings
nicht sehr entgegenkommend zu sein.
Wesentlich entspannter ist die Lage der 200. 000 Ungarn in der Karpato-Ukraine,
die bis 1944 slowakisches Territorium war. Von der Gesamtbevölkerung dieser
Provinz, die 1,3 Millionen umfaßt, stellen die Ungarn etwa ein Achtel dar. Außer
ihnen leben dort Ukrainer, Russen, Slowaken, Rumänen, Roma und eine kleine
deutsche Minderheit. Es gibt keine Ungarnfeindlichkeit, die starke Abwanderung
nach Ungarn hat ihren Grund vor allem in der schlechten Versorgungslage,
welche aber die gesamte Bevölkerung betrifft.
Die zweitgrößte nationale Minderheit in Jugoslawien waren mit 600 000
Einwohnern die Ungarn, die in der autonomen Provinz Vojvodina leben,
abgesehen von kleineren ungarischen Bevölkerungsgruppen in Kroatien und
Slowenien. In der Vojvodina stellten Ungarn 21,7 % der Bevölkerung. Während
der Ära Tito, besonders seit 1974, galt die kulturelle Freizügigkeit gegenüber
allen Minderheiten als vorbildlich. 1968 hatten die Ungarn 221 Schulen, eine Ta-
geszeitung, die in Novi Sad herausgegeben wurde, neben Illustrierten und
Magazinen wie "Het nap" und "Magyar Kepes Ujsag". Auch regelmäßige
Rundfunk- und Fernsehsendungen sowie ein ungarisches Theaterensemble
bereicherten die ungarische Kulturszene. Nachdem Serbien die Autonomie der
Provinz Vojvodina abgeschafft hat, sind die dort lebenden Ungarn von einer
ethnischen Säuberung im Zuge der Großserbien-Ideologie bedroht. Aus
Slawonien wurden mehrere tausend Ungarn bereits vertrieben und flüchteten
nach Ungarn. Die kriegerischen Verwicklungen in Bosnien haben bisher eine
Vertreibung im großen Stil verhindert. Sollte der schwelende Konflikt auch hier
zum offenen Kriegsausbruch führen, müßten die Serben mit einer Konfrontation
mit Ungarn rechnen. Damit würde sich der Brandherd auf dem Balkan ausweiten.
8. 2. Türken und Pomaken in Bulgarien
86
Im heutigen Bulgarien gehören fast 16% der Bevölkerung nationalen und
ethnischen Minderheiten an. Ende des 19.Jahrhunderts betrug der Anteil der
nicht-bulgarischen Bevölkerung noch rund ein Drittel, seitdem sind viele Bulgaren
eingewandert, aber mehr als eine Million Türken, Pomaken und Roma in die
Türkei ausgewandert.
Etwa eine Million türkischstämmige Moslime leben als größte Minderheit relativ
geschlossen im Nordosten des Landes und in den östlichen Rodopen.63
Eine weitere islamische Bevölkerungsgruppe sind die slawischstämmigen
Pomaken mit 100 000 Menschen. Die Diskriminierung der moslemischen
Minderheit begann unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als die neue
kommunistische Regierung die Türken beschuldigte, sie hätten sich gegenüber
dem Befreiungskampf des bulgarischen Volkes gleichgültig verhalten bzw. ihm
feindlich gegenübergestanden. Auch an der sozialistischen Umgestaltung des
Landes nahmen die eher konservativen Türken kaum teil, zumal ihre Moscheen
und Schulen, die nach dem Krieg für kurze Zeit bestanden, geschlossen wurden.
Sie besaßen seither keine eigenen Bildungs- und Kultureinrichtungen mehr.
Minderheitenrechte wurden im Gegensatz zu anderen osteuropäischen Ländern
kaum formal garantiert. 1950 begann eine erste große Auswanderungswelle in
die Türkei, die bald darauf ihre Grenze schloß, weil sie sich nicht in der Lage sah,
hunderttausende von Flüchtlingen sozial zu integrieren. Außerdem fürchtete die
Türkei kommunistische Infiltration. Nachdem diese indirekte Politik der
Vertreibung zum Stillstand kam, versuchte die bulgarische Regierung ihre
türkische und moslimische Minderheiten zu integrieren, vor allem aber zu
assimilieren. Die staatliche Modernisierungspolitik entsprach nicht dem
gesellschaftlich-traditionellen Bild der bulgarischen Türken, deren niedriges
Bildungsniveau, hohe Analphabetenrate und Beschäftigung vor allem in der
Landwirtschaft diese Volksgruppe von der übrigen Gesellschaft isolierte.
Bis 1958 waren neun Zehntel der türkischen Bauern enteignet, in den Kolchosen
wurden sie einem Umerziehungsprogramm ausgeliefert, das ihre "konservative
63 Petar-Emil Mitev, Von der Nachbarschaft zur Mitbürgerschaft. Die Bulgaren und die türkische Minderheit.
(=Aktuelle Analysen des Bundesinstituts für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien. Nr. 10/2000).
Köln 2000. Karagiannis, Evangelos, Zur Ethnizität der Pomaken in Bulgarien, 1997.
87
Gesinnung ausmerzen und sie von Aberglauben, Vorurteilen und blinder
Verehrung der Naturerscheinungen befreien und zur Annahme der sowjetischen
Erfahrungen veranlassen sollte", wie das Parteiblatt "Rabotschesko delo" damals
schrieb.
Anfang der 60er Jahre wurden sie gezwungen, bulgarische Namen anzunehmen.
Ganze Dörfer wurden von Polizei und Militär belagert.
Die Vertreibung in den Jahren bis 1952 hatten viele Familien aus-
einandergerissen. 1968 wurde deshalb ein Abkommen zwischen Ankara und
Sofia unterzeichnet, welches die Familienzusammenführung der bulgarischen
Türken durch freiwillige Auswanderung vorsah. Weitaus mehr als die eigentlich
vorgesehenen 30. 000 Türken, nämlich 81. 000, stellten einen Ausreiseantrag. Es
kam erneut zu Schwierigkeiten, weil die Türkei die Einwandererquote nicht
erhöhen wollte.
1971 kam es zu blutigen Zusammenstößen mit der Miliz, die sich 1973 noch
verstärkt wiederholten, als 800 Milizionäre und Geheimpolizei türkische und
pomakische Dörfer in der Region Blagoewgrad überfielen und die dort lebenden
Moslems zur Annahme von bulgarischen Familiennamen zwingen wollten. Es gab
damals Tote und Verletzte.
Als Moskau gegenüber den islamischen Staaten einen neuen Kurs einschlug, sah
sich Bulgarien veranlaßt, den Türken mehr Freizügigkeit zu gewähren. Schulen,
Zeitungen und Theater in den größeren Städten hatten aber eher
Repräsentationscharakter und erreichten die türkische Landbevölkerung kaum,
die hauptsächlich im östlichen Bulgarien, im Rhodopen-Gebirge und nordöstlich
des Balkangebirge lebt.
In den Verwaltungskreisen Varna, Tolbuchin, Kolarovgrad und Haskovo
erschienen zeitweise Tageszeitungen in türkischer Sprache bzw. Beilagen in
Türkisch wie bei "Rodopska Borba". Eine theoretische Zeitung "Handbuch für
Agitatoren" diente als Schulungsmaterial für türkische Parteikader. Alle
Publikationsorgane standen unter Kontrolle der bulgarischen Regierung.
88
Eine neue Welle bulgarischer Assimilationspolitik fand in den achtziger Jahren
statt, als die Regierung bei der Ausgabe neuer Personalausweise die Türken und
Pomaken zwang, bulgarische Namen anzunehmen oder an ihren türkischen
Namen eine slawische Endung anzuhängen. Diese erneute Zwangs-Slawisierung
stieß auf erbitterten Widerstand. In Varna und Plovdiv kam es zu
Bombenanschlägen und Demonstrationen, gegen die bewaffnete Polizeitruppen
eingesetzt wurden. Ankara sprach von 800 Toten, die ganze Region wurde
damals zum Sperrgebiet erklärt. 1989 lebten die Proteste wieder auf. Es kam zu
Hungerstreiks und Deportationen. Als im Mai des Jahres Reisefreiheit gewährt
wurde, suchten 300 000 bulgarische Türken in der Türkei Zuflucht durch
Auswanderung. Viele kamen später zurück, da es auch in der Türkei für sie keine
Integrationsmöglichkeiten gab.
Diese Auseinandersetzungen waren mit ein Grund für die Staatskrise, die im
November zum Rücktritt des bulgarischen Staatschefs und Vorsitzenden der
Kommunistischen Parteil Bulgariens, Todor Schiwkow (1911-1998)64, geführt
haben. Die nun einsetzende politische Reformpolitik war bestimmt von
großbulgarisch-nationalistischen und Minderheiten-feindlichen Tendenzen.
Inzwischen hat die türkische Minderheit ihre Angelegenheiten in die eigenen
Hände genommen und die Rechte auf freie Wahl des Namens, Glaubensfreiheit
und Gebrauch der Muttersprache durchgesetzt. Eine Türkin wurde stellvertretende
Ministerpräsidentin und eine Amnestie für Türken erlassen, die wegen
Nationalitätskonflikten verurteilt worden waren. Im November 1990 beschloß die
Volksversammlung das Recht zur Rückbenennung von Familiennamen und gab
eine Zusicherung des Gebrauchs der eigenen Sprache im gesellschaftlichen und
privaten Bereich.
Die etwa 100 000 bulgarischen Pomaken sind dagegen keine Türken sondern
islamisierte Slawen und bilden eine eigenständige ethnisch-religiöse Minderheit,
die weder mit Bulgaren noch Türken verwandt sind. Als es im 19. Jahrhundert auf
dem Balkan zu den vielfältigen nationalen Bewegungen und Erhebungen kam,
erhoben auch die Pomaken Anspruch auf einen eigenen Staat. Sie bekämpften
64 Todor Christow Schiwkow war von 1954 bis zu seinem erzwungenen Rücktritt am 10. November 1989
Staatschef von Bulgarien und erster Sekretär der Bulgarischen Kommunistischen Partei. Damit war er unter
allen Staatsoberhäuptern der Warschauer Vertragsstaaten derjenige mit der längsten Amtszeit.
89
daher den Beschluß des Berliner Kongresses, der die Errichtung eines
autonomen Vilayets Ostrumelien auf ihrem Siedlungsgebiet betraf. Es kam
damals sogar zur Ausrufung eines eigenen Gemeinwesens, das aber 1883
infolge der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Bulgaren und
Osmanen aufgelöste wurde.
Nachdem die territorialen Grenzen der heutigen Balkanstaaten festgelegt worden
waren, war das Hauptsiedlungsgebiet der Pomaken, das südliche Rhodopen-
Gebirge, unter Bulgarien und Griechenland aufgeteilt. Heute leben 100 000
Pomaken auf bulgarischem und 30. 000 auf griechischem Staatsgebiet sowie als
Flüchtlinge in der Türkei.
In Griechenland werden sie als Nachfolger der alten Thraker angesehen und
damit zu Griechen erklärt, während Bulgarien sie weiterhin zu assimilieren sucht.
Statistik Bulgarien
Einwohner 9 Millionen
Minderheiten :, 1 Mio (8%) Türken (sunnitische Moslems), 100 000
Pomaken, 2 % Roma, Russen, Griechen, Rumänen, Serben u.a.
8.3. Die Mazedonische Frage
Bereits im Oktober 1992 warnte der Uno-Sonderbeauftragte Cyrus Vance vor
einem internationalen Balkankonflikt, der in Mazedonien entstehen könnte: "Ein
Funke in Mazedonien könnte die ganze Region in Brand setzen."
Seit einem Jahrhundert gibt es die sogenannte Mazedonische Frage65, vor allem
ein geopolitisches Problem, das als Folge des zerfallenen Jugoslawien wieder ins
Bewußtsein rückt. Geographisch umfaßt Mazedonien nicht nur die sechste jugo-
slawische Volksrepublik, die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde. Auch
65 Ende des 19. Jahrhunderts wurde die „Makedonische Frage“ die brisanteste Teilfrage der Orientalischen
Frage. Von 1903 bis 1918 wurde Makedonien als strategisch wichtige Region das geopolitische
„Schiebegewicht“ und der „Zankapfel“ des Balkans. Fikter Adanir, Die makedonische Frage. Ihre Entstehung
und Entwicklung, 1979.
90
Griechisch- und Bulgarisch-Mazedonien gehören dazu, insgesamt ein Gebiet von
100. 000 km , ein kleiner Zipfel um den Ohrid-See gehört zu Albanien. Zu dieser
Aufteilung kam es 1913 als Ergebnis des Zweiten Balkankrieges66. Historisch
sind die heutigen Mazedonier nicht Nachfahren des antiken Mazedonier
Alexander des Großen, der von 336 bis 327 v. Chr. ein Reich bis nach Indien hin
gründete, sondern slawische Mazedonier, die im 6. und 7. Jahrhundert in den
Balkanraum einwanderten. Dennoch führen die Mazedonier ihre Geschichte weit
in die Vergangenheit zurück und sehen die Anfänge der slawo-mazedonischen
Nation in der Gründung des Bulgarischen Reiches (976-1014). Auch die aus
Saloniki stammenden Brüder Kyrill und Method, die als Slawenapostel das
Christentum im 9. Jahrhundert zuerst nach Bulgarien brachten und als Erfinder
des ersten slawischen (glagolitischen) Alphabets gelten, werden als Mazedonier
angesehen. Da sich die bulgarische mit der mazedonischen Geschichte
überschneidet und auch beide Sprachen einander sehr nahe stehen, reklamiert
Bulgarien bis heute die Mazedonier als eine bulgarische Volksgruppe für sich.
Tatsächlich standen sie den Bulgaren bis zum Ersten Weltkrieg sehr nahe und
kämpften auch in den Befreiungskriegen gegen die Osmanen auf Seiten
Bulgariens.
In der Zeit zwischen den Weltkriegen wurden die Slawo-Mazedonier im serbisch-
monarchistischen Jugoslawien als Südserben angesehen und betrachteten daher
im Zweiten Weltkrieg die einmarschierende bulgarische Armee, die auf der Seite
der Mittelmächte kämpfte, als Befreier.
Nach 1945 mußte Bulgarien die eingenommenen Gebiete wieder abtreten, erneut
wurde Mazedonien dreigeteilt.
Innerhalb der Föderation Jugoslawiens wurde Mazedonien eigenständige Re-
publik, eine eigene Schriftsprache, Schulen, Publikationsmöglichkeiten festigten
die junge nationale Identität. Nachdem der Konflikt zwischen Tito und Stalin 1948
zu einem Ausscheren Jugoslawiens aus dem Ostblock geführt hatte und
66 Die Balkankriege waren zwei Kriege der Staaten der Balkanhalbinsel in den Jahren 1912 und 1913 im
Vorfeld des Ersten Weltkriegs. Als Folge wurde das Osmanische Reich in Europa bis in die heutigen Grenzen
der Türkei verdrängt und musste große Gebiete an die Nachbarländer abtreten. Vgl. Katrin Boeckh, Von den
Balkankriegen zum Ersten Weltkrieg. Kleinstaatenpolitik und ethnische Selbstbestimmung auf dem Balkan.
Verlag Oldenbourg, München 1996.
91
gleichzeitig auch die Pläne einer Balkanföderation an Stalins Haltung gescheitert
waren, distanzierten sich die bulgarische und griechische Kommunistische Partei
(KP) von der Idee einer Eigenständigkeit der Mazedonischen Nation.
1948 wurden die mazedonischen Schulen Bulgariens (Pirin-Mazedonien)
geschlossen. Seitdem schwelte der Mazedonien-Konflikt zwischen Bulgarien und
Jugoslawien. Während der Ära Tito war im föderativen Rahmen und unter den
vorhandenen ideologischen Bedingungen die Entfaltung eines mazedonischen
Kulturlebens möglich. Die mazedonische Eigenständigkeit wurde noch
hervorgehoben durch die Trennung der Mazedonisch-Orthodoxen Kirche von der
Serbisch-Orthodoxen Kirche67. Seit 1993 ist sie eine autokephale Nationalkirche,
der serbisch-orthodoxe Patriarch protestierte gegen diesen Schritt , weil damit der
serbische Anspruch auf Mazedonien, der in der Gegenwart wieder Bedeutung
erhält, verloren ging.
Bei der Volkszählung 1981 lebten in der Teilrepublik Mazedonien, Hauptstadt
Skopje, 1,3 Millionen Mazedonier, die aber nur 76 % der Gesamtbevölkerung
ausmachen. Außerdem leben dort Albaner (20 %) - ihr Anteil soll nach eigenen
Angaben 40 % betragen -, Türken (5 %), Pomaken (2 %), Roma (2 %).
In zwei von fünf Großstädten Mazedoniens haben die Albaner die absolute
Mehrheit, wie z. B. in Tetovo. Zwischen diesen beiden Bevölkerungsgruppen
entstanden in den letzten Monaten Spannungen, nachdem Mazedonien im
September 1991 seine Unabhängigkeit erklärt hatte. Die Abstimmung darüber
wurde von den Albanern in Mazedonien boykottiert, weil ihnen kein
Minderheitenstatus eingeräumt wird. Die Auseinandersetzungen zwischen beiden
Volksgruppen eskalieren unterdessen. So kam es Anfang November 1992 zu
Straßenschlachten in der Hauptstadt Skopje zwischen Mazedoniern und Albaner,
67 Für die Mazedonier war die Gründung einer eigenen autokephalen Kirche ein wichtiger Schritt beim
Emanzipationsprozess zu einer von Serben und Bulgaren unterscheidbaren eigenständigen Nation. Im Herbst
1966 baten die mazedonischen Bischöfe das serbische Patriarchat um die Autokephalie, was von diesem
abgelehnt wurde. Trotzdem beschlossen die Mazedonier auf einer Versammlung von Bischöfen, Priestern und
Laien in Ohrid am 19. Juli 1967 ihre Loslösung vom Belgrader Patriarchat und der neu gebildete Heilige
Synod der Kirche von Mazedonien verkündete die Autokephalie. Der Streit zwischen der serbischen und der
mazedonischen Orthodoxie konnte bis heute nicht beigelegt werden, sondern ist in den letzten Jahren sogar
noch eskaliert. Vgl. Johannes Pahlitzsch: Die umstrittene Selbständigkeit der Makedonischen Orthodoxen
Kirche in historischer Sicht, in: Aus der Südosteuropa-Forschung, Bd. 10, hrsg. von W. Althammer. München
1999, S. 31–43.
92
die sich gegen eine schleichende Assimilation wehren. Dabei gab es Tote und
Verletzte.
Von den Serben wird Mazedonien inzwischen wieder als der Süden Großserbiens
angesehen und Eroberungspläne liegen schon bereit. Griechenland behandelt die
Mazedonische Frage bis heute restriktiv, im offiziellen Sprachgebrauch gibt es
weder Mazedonier noch eine mazedonische Sprache, von staatlicher Seite wird
seit Jahrzehnten alles getan, um die kulturelle Identität der slawophonen
Mazedonier zu zerstören.
Ermutigt durch die Unabhängigkeitserklärung haben sich inzwischen auch in
Griechisch-Mazedonien Initiativgruppen gegründet, die ihre kulturellen Rechte
fordern. In der modernen Geschichte Griechenlands nach dem Zweiten Weltkrieg
haben weder Konservative noch Linke den Mazedoniern Minderheitenrechte, ja
nicht einmal die Existenzberechtigung eingeräumt.
In Bulgarien wurde Ende 1989 nach der Ablösung von Todor Schivkov offiziell
eine neue Minderheitenpolitik verkündet, nach der jeder das Recht auf seinen
Namen, Religion, Sprache habe. Hinsichtlich der nationalen mazedonischen
Organisation, die Mitte 1990 ihre Zulassung beantragten, wurde von den bulga-
rischen Gerichten eine Ablehnung erteilt, die sich auf Artikel 52 der Verfassung
als "staatsgefährdend" und „gegen die nationale Einheit und die territoriale
Integrität“ Bulgariens berief.
Als die Republik Mazedonien am 18. September 1991 ihre Unabhängigkeit
erklärte, war dennoch Bulgarien eines der wenigen Länder, die Mazedonien
anerkannten, nachdem der Einspruch Griechenlands eine internationale
Anerkennung zunächst verhinderte.68 Griechenland argumentierte, daß
Mazedonien kein Staatsname sein könne, sondern einen geographischen Raum
bezeichnet, nämlich das einstige Kernreich Alexander des Großen, der zu
Griechenlands antiker Geschichte gehört. Etwa ein Drittel dieses historischen
Territoriums liegt in der ehemals jugoslawischen Republik, zehn Prozent in
Bulgarien und einige mazedonische Dörfer befinden sich auf dem Staatsgebiet
Albaniens. Der größte Teil Mazedoniens liegt aber seit 1913 (Zweiter
68 Bulgarien weigerte sich jedoch die mazedonische Sprache als eigenständige Sprache anzuerkennen.
93
Balkankrieg) auf griechischem Staatsterritorium. Die dortige mazedonische
Bevölkerung genießt keine Minderheitenrechte und Griechenland fürchtet
territoriale Forderungen der neuen Republik. Es reagierte mit einem
Wirtschaftsboykott, so wurden Öl-Lieferungen nach Mazedonien eingestellt.
Außer von Bulgarien wurde die Souveränität Mazedoniens nur von der Türkei
anerkannt. Ende März 1993 lenkte die griechische Regierung unter
internationalem Druck ein und war zu einem Kompromiß im Namensstreit bereit.
Dadurch konnte Mazedonien am 8. April 1993 unter der Bezeichnung "Frühere
Jugoslawische Republik Mazedonien" als 181. Mitglied in die Vereinten Nationen
aufgenommen werden. Präsident war seit 1991 (-1999) Kiro Gligorow (1917-
2012).
In Albanien leben etwa 30. 000 Mazedonier südlich des Ohridsees. Sie haben
keinen Minderheitenstatus, nach inoffiziellen Angaben wird in einigen albanischen
Volksschulen mazedonisch unterrichtet.
Statistik
2,1 Millionen Einwohner
65% Mazedonier, 26% Albaner, 2,3% Serben
8.4. Albaner im Kosovo
Der Kosovo, dem Tito 1974 Autonomierechte gab, gehört seit 1990 zur Republik
Serbien, nachdem der damals amtierende Präsident Slobodan Milosevic den
Autonomiestatus auflöste. Seitdem wird die dort lebende albanische Bevölkerung
mit Polizei und Militärpräsenz unterdrückt und jeglicher Rechte auf kulturelle und
nationale Freizügigkeit beraubt. Die etwa 2 Millionen Albaner stellen in Kosovo 90
% der Bevölkerung, der Rest sind Serben und Montenegriner.
Der Kosovo wurde immer vernachlässigt und galt auch unter der Herrschaft Titos
als Armenhaus Jugoslawiens. Wirtschaftlich rückständig, bei hoher Geburtenrate,
gingen seit Anfang der 60er Jahre überproportional viele Albaner aus dem Kosovo
94
als Arbeitnehmer nach Westeuropa, besonders in die Bundesrepublik
Deutschland69.
Seit Ende 1991 hatte sich die Lage im Kosovo noch verschärft, nachdem von
Belgrad eine einheitliche Schulgesetzgebung erlassen wurde, die den Albanern
den Gebrauch ihrer Muttersprache verbietet und damit auch die Verfassung von
1974 außer Kraft setzte. Seitdem weigerten sich die Kosovo-Albaner, ihre Kinder
an einem rein serbisch-sprachigen Schulunterricht teilnehmen zu lassen. Fast alle
6000 albanischen Lehrer und Erzieher sind inzwischen entlassen worden,
albanische Publikationen dürfen nicht mehr erscheinen, weder Zeitungen noch
Bücher. Auch die Universität in der Hauptstadt Pristina ist der Zwangsserbisierung
zum Opfer gefallen.70 Es gibt keine albanischen Vorlesungen mehr, 500
Professoren und Lehrkräfte wurden entlassen. Da der gesamte Medienbereich
zum Erliegen gekommen ist, wozu neben Zeitungen und Zeitschriften auch
Buchverlage, Radio und Fernsehen gehören, herrscht absolute
Informationssperre.
Die Serben unterbinden auch jeglichen Kontakt nach Albanien und verbieten
grenzüberschreitende Besuche in den Nachbarstaat, was die Isolation der
Kosovo-Albaner noch verstärkt. Die Serben greifen damit wieder ihre alte Politik
der Unterdrückung auf. Auch vor dem Zweiten Weltkrieg anerkannten sie die
Albaner nicht als nationale Minderheit und wiesen Zehntausende aufgrund ihrer
islamischen Religion in die Türkei aus. Naheliegend ist daher die Befürchtung,
daß der Kosovo nach Bosnien das nächste Kriegsziel der Serben sein könnte.71
8. 5. Roma - ein Volk ohne Rechte
Aus ihrer Heimat, dem nordwestlichen Indien, sind die Roma72 wahrscheinlich
zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert in verschiedenen Gruppen nach Westen
69 Vgl. Jeton Neziraj, Timon Perabo: Sehnsucht im Koffer – Geschichten der Migration zwischen Kosovo
und Deutschland. Be.bra Verlag, Berlin 2013 70 Artikel „Wohin gehört der Kosovo? https://www.owep.de/artikel/236/wohin-gehoert-kosova 71 Der Kosovkrieg brach 1999 aus. Am 17. Februar 2008 proklamierte das Parlament die Unabhängigkeit des
Territoriums. 110 der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen erkennen die Republik Kosovo als
unabhängig an. 72 Roma ist eigentlich ein Oberbegriff für mehrere Bevölkerungs-, Stammesgruppen, die sich auf eine
gemeinsame historisch-geografische Herkunft zurückführen und eine der indoarischen Sprachfamilie
zugehörigen Sprache, das Romani, sprechen. Vgl Yaron Matras, Die Sprache der Roma. Ein historischer
95
gezogen. Der Wanderweg führte über Pakistan, Iran, Kleinasien, Ägypten und den
Balkan bis nach Westeuropa.73
"Rom" (Plural: "Roma") bedeutet Mensch und ist die Selbstbezeichnung dieser
Volksgruppe. Ihre Sprache, die in verschiedene Dialekte zerfällt, aber deutlich an
das altindische Sanskrit anknüpft, ist Romani oder Romanes.
Die erste Erwähnung der Roma auf dem Balkan geht auf das 14.Jahrhundert
zurück. In den Fürstentümern Moldau und Walachei findet sich eine solche
Erwähnung schon im Jahre 1382 im Zusammenhang mit dem Verkauf von 40
Roma-Familien, die als Leibeigene an ein Kloster abgegeben wurden. Im
Zusammenhang mit den nationalen Spannungen auf dem Balkan in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Aufhebung der Leibeigenschaft in den beiden
rumänischen Fürstentümern 1855/56, wanderten viele Roma in andere südost-
und westeuropäische Staaten aus. Jahrhundertelang bis in die Gegenwart waren
die Roma eine gesellschaftliche Randgruppe, diskriminiert und rechtlos. Bis ins
19.Jahrhundert hinein wurden sie auf dem Balkan als Sklaven gehandelt und
hatten nicht das Recht, frei einen Beruf oder Ehepartner zu wählen. Sie konnten
nur innerhalb ihrer Berufsgruppe zu heiraten, so daß ihre Gesellschaft durch ein
Berufs-Kastensystem gekennzeichnet ist.
Neben der ungarischen Minderheit (500 000) bilden die Roma in Rumänien die
größte ethnische Minderheit, die auf über zwei Millionen geschätzt wird. In Polen
leben etwa 500 000 Roma, in der ehemaligen Tschechoslowakei, besonders auf
dem Gebiet der jetzigen Slowakischen Republik, leben 800 000 Roma. Die im
ehemaligen Jugoslawien durchgeführten Volkszählungen wiesen über die Roma
eindeutig falsche Zahlen aus (1971 : 78 500; 1981: 168 127). Nach inoffiziellen
Schätzungen leben dort zwischen 800 000 und 1 Million Roma, die nach den
Albanern in Ex-Jugoslawien die stärkste Minderheit sind.74
Umriss, in: ders./Hans Winterberg/Michael Zimmermann (Hrsg.), Sinti, Roma, Gypsies. Sprache –
Geschichte – Gegenwart, Berlin 2003, S. 231–261,
73 Die Gruppe, die überwiegend im deutschsprachigen Mitteleuropa lebt, bezeichnet sich als Sinti, was
wahrscheinlich von dem Namen 'Sindhu', einem großen Fluß in Indien, hergeleitet wird.
74 Max Matter, Zur Lage der Roma im östlichen Europa, in: ders. (Hrsg.), Die Situation der Roma und Sinti
nach der EU-Osterweiterung, Göttingen 2005, S. 9–28,
96
Im ehemaligen Königreich Jugoslawien wurde ihre Anzahl vor dem deutschen
Einmarsch im Zweiten Weltkrieg auf 300 000 geschätzt. Hier war der größte Teil
von ihnen bereits sesshaft geworden. Ab 1941 wurden viele von ihnen Opfer der
Vernichtungslager, in sogenannte „Zigeunerlager“ verschleppt, als „rassisch
minderwertig“ angesehen, hunderttausende wurden dort ermordet.75
Je nachdem wo die Roma leben, haben sie die Religion ihres Gastlandes
angenommen, bzw. die Mehrheitsreligion des Landes. Sie sind katholisch, orthdox
oder gehören dem Islam an. Die in Mazedonien und Albanien lebenden Roma
sind überwiegend Moslime.76
In Jugoslawien gab es bis zum Staatszerfall eine relative Integration der Roma
und damit vergleichsweise gute Bildungschancen. Viele Roma konnten höhere
Schulabschlüsse und mancher einen Hochschulabschluss erwerben. In der
jugoslawischen Verfassung, die mehrfach geändert wurde und zeitweise als
vorbildlich für Minderheitenrechte in Europa galt (1974), wurden sie als ethnische
Gruppe angesehen, ihre Sprache wurde anerkannt, jedoch hatten sie keinen
eigenen Nationalitätenstatus.Es gab aber Roma-Vereinigungen und zeitweise
erschienen zwei Zeitungen in Romani.
Nach der Niedergang Jugoslawiens hat sich der soziale Status der Roma
erheblich verschlechtert und der damit aufbrechenden ethnischen und nationalen
Konflikte und kriegerischen Auseinandersetzungen richteten sich massive
Aggressionen auch gegen die jeweilige Romabevölkerung. Sie war kollektiven
Angriffen durch Angehörige der Mehrheitsbevölkerung, Zerstörungen und
Plünderungen ihrer Wohnstätten mit dem Ziel ihrer Vertreibung ausgesetzt. Viele
südosteuropäische Roma flüchteten vor diesem Hintergrund nach West- und
Mitteleuropa. Die noch in den Heimatländern verbliebene Roma-Bevölkerung lebt
meistens in eigenen Ghettos und Slums der Großstädte. Eine hohe
Analphabetenrate, hohe Kindersterblichkeit, Armut und geringe Berufschancen
sind überall in Ost- und Mitteleuropa kennzeichnend für ihre Lebenssituation.
75 Insgesamt fielen der Vernichtung durch die Nationalsozialisten aus dieser Volksgruppe
schätzungsweise 220.000 bis 500.000 Menschen zum Opfer. 76 Katrin Reemtsma, Sinti und Roma. Geschichte, Kultur, Gegenwart, München 1996, S. 63f.
97
In Rumänien, wo seit dem Sturz des kommunistischen Diktators Nikolae
Ceaucescu instabile politische und wirtschaftliche Verhältnisse herrschten, hat
sich die Lage der Roma noch deutlich verschlechtert. Der in der Bevölkerung tief
verwurzelte ethnische Haß führte in den letzten Jahren zu gewalttätigen
Übergriffen auf Roma-Dorfgemeinschaften. In regelrechten Pogromen wurden
diese Siedlungen zerstört, verbrannt, Menschen angegriffen, verletzt und sogar
getötet. Daran sind besonders die erstarkten rechtsnationalen rumänischen
Organisationen wie "Vatra Romanesca" beteiligt, die Polizei schreitet gegen diese
Übergriffe und Verfolgungen zumeist nicht ein.
Auch in Mazedonien leben allein in der Umgebung von Skopje um 50 000 Roma
in der Barackensiedlung "Schutka", die 1963 für die Erdbebenopfer gebaut wurde.
8. 6. Minderheiten auf dem Balkan im Überblick (1995)
Albanien Griechen 50. 000 Mazedonier 30 - 40. 000 Montenegriner Serben Aromunen Roma
Bulgarien Türken 1 Million Pomaken 100. 000 Mazedonier 187. 789 (1956) Roma 200. 000 (offiz. Angabe) Armenier 30. 000 Rumänen Walachen Tschechen 25. 000 Italiener 19. 000 Roma 77. 500 Russen 7. 100 Juden 4. 400 vor dem Krieg (76. 000) Walachen 22. 000
Griechenland Albaner, Mazedonier, Roma (kein Minderheitenstatus)
98
Jugoslawien Albaner 2 - 3 Millionen Ungarn 468. 000 Türken 183. 000 Slowaken 84. 000 Rumänen 59. 000 Bulgaren 58. 000 Ruthenen 25.000 Ukrainer 13.000 Walachen 32.000 Tschechen 25.000 Italiener 21.000 Deutsche 12.785 Roma 168 197
Rumänien Ungarn 2 000 000 Deutsche 200. 000 ( starke Abwanderung) Ukrainer 60. 000 Südslawen 50. 000(Serben, Kroaten, Slowenen) Bulgaren 12. 000 Griechen 12. 000 Armenier 6. 000 Türken 14. 000 Slowaken 20. 000 Tschechen 6. 000
9 Balkansprachen
Die im Balkanraum verbreiteten Sprachen gehören unterschiedlichen
indogermanischen Sprachgruppen an, bei denen sich aber aufgrund vielfältiger
Kontaktbeziehungen Gemeinsamkeiten herausgebildet haben. Zu diesem südost-
europäischen Balkansprachbund gehören folgende Sprachen bzw.
Sprachgruppen:
Neugriechisch, Albanisch (Toskisch und Gegisch), Romänisch (Dakorumänisch,
Aromunisch, Meglenorumänisch, Istrorum), Slawisch (Bulgarisch, Makedonisch,
Serbisch, Kroatisch). Nicht zu den Balkansprachen im engeren Sinne zählen
Slowenisch, Ungarisch und Türkisch
99
Die Nachwirkungen der alten balkanischen Substratsprachen Thrakisch und Illy-
risch sowie der Einfluß des Balkanlateins und des Spätgriechischen lassen sich
in allen Balkansprachen nachweisen. Das Türkische hat ebenfalls zahlreiche
Lehnwörter im Wortschatz der Balkansprachen hinterlassen. Darüber hinaus
bestehen auch literarische Gemeinsamkeiten, wie Vergleiche der Volksdichtun-
gen, z. B. Heldenliedtypen, zeigen.
In Deutschland wird die vergleichende Sprachwissenschaft der Balkansprachen
seit 1893 betrieben, wobei man sich zunächst auf einen Vergleich zwischen dem
Albanischen, Rumänischen und Bulgarischen beschränkte, die bei grund-
verschiedenem Wortschatz auf die gemeinsamen Wurzeln des Thrakisch-
Illyrischen hinwiesen. Auch wurde ein interbalkanischer Wortschatz festgestellt.
Die grammatischen Gemeinsamkeiten z. B. der nachgestellte Artikel,
Zusammenfall von Genitiv und Dativ und die Bildung des Futurs mit "wollen"
finden sich überdies auch in ostserbischen und nordgriechischen Dialekten.
Schon frühzeitig entdeckten die Sprachforscher, daß nur das Albanische, das
einen eigenen Zweig in den indogermanischen Sprachen darstellt, die alte
illyrische Tradition fortsetzt.77
Die Balkanologie beschäftigt sich über die linguistische Forschung hinaus mit
den Literaturen und Volksüberlieferungen der Balkanvölker. In der vergleichenden
Balkankunde entstanden Sammlungen von Märchen, Sagen, Epen, Sprichwörter,
Redensarten, die Gemeinsamkeiten des alten balkanischen Volkstums aufzeigen.
6.1. Die Entwicklung der modernen Literatursprachen
Die Unabhängigkeitsbestrebungen und nationalen Bewegungen auf dem Balkan
leiteten seit Beginn des 19. Jahrhunderts die Entstehung moderner
Literatursprachen ein. Das gemeinsame Ziel war, der Muttersprache in allen
Lebenssphären der entstehenden Nation zur Anerkennung zu verhelfen und den
Einfluß herrschender Fremdsprachen zurückzudrängen. Bei dieser grundlegenden
Gemeinsamkeit war die Ausgangsposition der einzelnen Völker und Sprachen
dennoch sehr verschieden.
100
6.1.1. Rumänisch
Rumänisch ist eine Sprache aus dem romanischen Zweig der indogermanischen
Sprachen. Im engeren Sinne bezeichnet es nur das Dakorumänische und im
weiteren Sinne alle gesprochenen Varietäten. Sie gehört zur Untergruppe der
ostromanischen Sprachen. Es ist die Amtssprache in Rumänien und Moldawien
und wird insgesamt von 28 Millionen Menschen gesprochen, davon sind rund 24
Millionen Muttersprachler. Darüberhinaus gibt es grössere rumänische
Sprachinseln in den Nachbarländern, der Ukraine (400 000), Serbien (150 000),
Ungarn (20 000), wo das Rumänische als Minderheitensprache gesprochen wird.
Historisch gesehen war es innerhalb des rumänischen Sprachgebietes
verhältnismäßig einfach, eine gemeinsame Schriftsprache zu schaffen, denn seit
dem 17. Jahrhundert dienten zwei nur geringfügig unterschiedene Varianten des
Rumänischen in den Donaufürstentümern trotz der politischen Abhängigkeit von
der osmanischen Regierung als offizielle Kanzlei- und Kirchensprache. Dieser
Schriftsprache lag der in Muntenien und Südsiebenbürgen gesprochene Dialekt
zugrunde. Seine Verbreitung im 19. Jahrhundert wurde durch die geringe
Differenzierung der dakorumänischen Mundarten erleichtert. Über einen Zeitraum
von fast zwei Jahrhunderten hatte während der Herrschaft der Phanarioten (1634
-1821)78 das Griechische einen bedeutenden sprachlichen Einfluß gewonnen,
danach wurden die griechischen Schulen durch das Rumänische ersetzt. Die nun
auch an den Schulen eingeführte rumänische Unterrichtssprache festigte sich
noch, als ab 1829 die rumänische Presse und die Herausbildung eines
Nationaltheaters eine breitere Volksschicht ergriff. Die politische Entwicklung
zwischen 1859 und 1862, als die Vereinigung der beiden rumänischen
Fürstentümer Moldau und Walachei vollzogen wurde, schuf dann endgültige
Voraussetzungen für eine weitere Vereinheitlichung und Normierung der
77 Wilfried Fiedler, Einführung in die Balkanphilologie. In: Peter Rehder, Wilfried Fiedler (Hrsg.):
Einführung in die slavischen Sprachen. (Mit einer Einführung in die Balkanphilologie). 3. verbesserte und
erweiterte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1998. 78 Die Phanarioten, wohlhabende und gebildete griechische Familien aus dem Konstantinopler Stadtteil
Phanar, nahmen am Sultanshof bedeutende Staatsämter ein. Im 18. Jahrhundert verliehen die Sultane
phanariotischen Familien die Herrschaft über die rumänischen Vasallenfürstentümer Walachei und Moldau.
In der Geschichtsschreibung wird dieser Zeitraum als Niedergang der rumänischen Geschichte angesehen.
Vgl. R. W. Seton-Watson, A history of the Roumanians , Cambridge 1934, p. 79,80.
101
rumänischen Schriftsprache, die um 1878, als Rumänien seine volle nationale
Souveränität erlangt hatte, abgeschlossen war.
Die Problematik der Orthographie und Lexikographie wurde wesentlich länger
diskutiert. Schon 1860 war die Entscheidung zur Benutzung des lateinischen
Alphabetes gefallen, das bis dahin benutzte kyrillische Alphabet wurde
aufgegeben. Unter den Sprachreformern entstanden heftige Debatten über die
Orthographie, viele vertraten eine streng etymologische (historische) Schreibung,
um die lateinische Herkunft des Rumänischen damit zu unterstreichen. In
mehreren Reformen - 1881, 1904, 1932 und zuletzt 1953 - wurde eine
Annäherung an die phonetische (gemäß der Aussprache) Schreibweise
durchgesetzt.79
6.1. 2. Neugriechisch
Neugriechisch (neugriechisch Νέα Ελληνικά Néa Elliniká), die heutige Sprache der
Griechen, ist die Amtssprache Griechenlands (ca. 10,5 Millionen Muttersprachler)
und Zyperns (ca. 0,7 Mio.), eine der 23 Amtssprachen der EU. Außerdem ist es in
einigen südalbanischen und süditalienischen Gemeinden, in denen Angehörige
griechischer Minderheiten leben, sowie in der Türkei (Istanbul) als lokale Amts-
oder Schulsprache zugelassen. Zusammen mit den ausgewanderten Griechen
und Zyprioten sprechen weltweit über 13 Millionen Menschen Griechisch als
Muttersprache. Das Neugriechische gehört zu den indogermanischen Sprachen.
Die Entwicklung einer modernen griechischen Literatursprache aus der
Volkssprache (Koine) des Altgriechischen war ein schwieriger sich über
Jahrhunderte hinziehender Prozeß.80 Als Kirchen- und Bildungssprache hatte das
Griechische im byzantinischen Schrifttum auch während der Türkenherrschaft
weiterhin, noch über den eigenen Sprachraum hinaus, eine bevorzugte Stellung
bewahrt. Allerdings hatte sich die volkssprachliche Entwicklung inzwischen weit
von dieser schriftsprachlichen Form entfernt, ein Verständnis dieser
altertümlichen Sprache setzte eine höhere Bildung voraus.
79 Klaus Bochmann, Heinrich Stiehler, Einführung in die rumänische Sprach- und Literaturgeschichte.
Romanistischer Verlag, Bonn 2010.
102
Als die griechische Unabhängigkeitsbewegung sich Anfang des 19. Jahrhunderts
zu artikulieren begann und damit auch Bestrebungen zur Schaffung einer
modernen Literatursprache einsetzten, waren drei Formen des Griechischen als
Schriftsprachen im Gebrauch: das Altgriechische der Attizisten, die
Kirchensprache und in sehr geringem Umfang Versuche, die Volkssprache
schriftlich zu fixieren. Da sich die griechische Unabhängigkeitsbewegung als
Wiedergeburt Altgriechenlands verstand, war auch die Neigung vorhanden, das
klassische Griechisch wiederzubeleben. Die Volksidiome galten als korrumpierte
Vulgärsprachen.
Aus dem Kompromiß zwischen beiden Sprachformen entstand eine bis heute als
Literatursprache existierende Sprachform als Staatssprache, die Katharevusa
(‚die Reine’). Dabei handelte es sich um eine künstliche, an das klassische
Griechische angelehnte Hochsprache, durch deren Gebrauch in den national
gesinnten Kreisen die Kontinuität der klassischen Vergangenheit des neuen
Griechenlands betont werden sollte. Obwohl sich diese Sprache in der einfachen
Bevölkerung nicht durchsetzen konnte, tobte ein jahrzehntelanger Sprachstreit
zwischen den Attizisten (Befürwortern der an den attischen Dialekt des
Altgriechischen angelehnten Katharevousa (Καθαρεύουσα)mit Zentrum an der
Universität Athen) und den Demotizisten, den Anhängern der Volkssprache
(Δημοτική), deren akademisches Zentrum die Aristoteles-Universität Thessaloniki
war.
Im historischen Kontext der nationalen Sprachendebatte nach Griechenlands
Unabhängigkeit war Katharevusa vorherrschend, danach setzte eine erneute
Auseinandersetzung ein, weil die inzwischen ebenfalls literarisch verwendete
Volkssprache Demotiki auch unter den Sprachreformern immer mehr Anhänger
gefunden hatte. 1910 wurde eine Pädagogische Gesellschaft gegründet, die
1917 durchsetzte, daß Demotiki als Schulsprache eingeführt wurde. Ihre
Anhänger bezeichneten sich als Fortschrittler und waren linksorientiert. Nach dem
Ende der deutschen Besatzung (1941-1944) wurde zunächst Demotiki als Schul-
80 Den Beginn der neugriechischen Epoche setzt die Forschung wechselweise im 11. Jahrhundert (erste Epen
in weitgehend neugriechischer Sprache), um das Jahr 1453 (Fall Konstantinopels) oder in der Mitte des 17.
Jahrhunderts (Kretische Renaissance) an.
103
und Amtsprache eingeführt. Nachdem die Linke im griechischen Bürgerkrieg81
(1946-1949) unterlag, wurde jedoch wieder Katharevusa in vielen Bereichen
eingesetzt. Bis heute dient sie als Sprache der Behörden, des Rechtswesens, der
Publizistik, der Kirche, des Handels, der Wissenschaft und des
Nachrichtenwesens. Die andere Schriftsprache, Demotiki, dominierte in der
gesamten Belletristik und im mündlichen Verkehr, wobei aber inzwischen auch
Übergangsformen verwendet werden. Damit liegt für das Griechische nicht nur
eine normierte Schriftsprache vor, sondern zwei deutlich voneinander
unterschiedene Literatursprachen. Auch die Wortschatzentwicklung ist in beiden
Schriftsprachen unterschiedlich, so ist die Katharevusa von fremden Einflüssen
gereinigt worden und der wissenschaftlich-technische Wortschatz wurde aus dem
Altgriechischen übernommen. Die weitere Entwicklung im 20. Jahrhundert hat
zwischen beiden Schriftsprachen einen Ausgleich herbeigeführt, eine
Überwindung der deutlich voneinander getrennten Schriftsprachen ist aber noch
nicht abzusehen. Einheitlich ist jedoch die Benutzung des altgriechischen
Alphabetes und eine extrem etymologische, d.h. historische Orthographie.
Nach Ende der Militärdiktatur der Junta (1967-1974) wurde Katharevousa durch
Parlamentsbeschluss als Amtssprache abgeschafft und spielt heute nur noch in
Dokumenten der Kirche, in Inschriften oder in anderen schriftlichen Bereichen
vereinzelt eine Rolle. Die Volkssprache hat sich in den folgenden Jahrzehnten
endgültig als gesprochene wie auch geschriebene Sprache Griechenlands
durchgesetzt. Vielen gelehrten Redewendungen und Wörtern aus der
Katharevousa gelang es jedoch, Eingang in die gesprochene Sprache des Volkes
zu finden, so dass sich das heutige Neugriechisch als eine Synthese der Dimotiki
und der Katharevousa darstellt.
6.1.3. Bulgarisch
Die bulgarische Sprache gehört zur südslawischen Gruppe des slawischen
Zweiges der indogermanischen Sprachen. Gemeinsam mit der mazedonischen
Sprache bildet sie innerhalb der südslawischen Gruppe die Untergruppe der
ostsüdslawischen Sprachen.
81 Zwischen Monarchisten und Kommunisten. Vgl. Heinz A. Richter, Griechenland 1940-1950. Die Zeit der
Bürgerkriege. Verlag Franz Philipp Rutzen, 2012.
104
Sie wird von ca. 10 Millionen Menschen gesprochen; vor allem in Bulgarien (ca.
7,72 Millionen), aber auch in anderen Staaten Osteuropas, in Griechenland
(20.000), Rumänien (13.000), Mazedonien, Moldawien (40.000), Ukraine
(205.000), Serbien (25.200), Weißrussland, der Slowakei (1.176) und der Türkei
(30.000 sog. Pomaken).
Der bulgarischen Literatursprache liegt der ostbulgarische Dialekt zugrunde, da
die meisten an ihrer Schaffung beteiligten Schriftsteller aus diesem Landesteil
stammten. Die erste von Petăr Beron (1799-1871)82 verfaßte Fibel erschien 1824,
es ist das erste bulgarische Schulbuch. Bei der Herausbildung der
neubulgarischen Sprache betrachtete Petar Beron wie Wasil Aprilow und Najden
Gerow die ostbulgarischen Dialekte als Grundlage für die Bildung einer
einheitlichen Schriftsprache. Zwanzig Jahre später verfasste Ivan Bogorov (1818-
1892) die erste neubulgarische Grammatik, die 1844 in Bukarest erschien.83
Gegen diese Einführung einer auf volkssprachlicher Grundlage geschaffenen
Schriftsprache entstand um 1840 eine starke Opposition. Die Anhänger der
Slawischen Schule verteidigten das Kirchenslawische, das sie mit dem
Altbulgarischen (9.-11.Jahrhundert) identifizierten, als einzig legitimierte
Literatursprache für das neue Bulgarien. Diese Gruppe konnte sich aber auf
Dauer nicht durchsetzen, auch nicht durch einen Kompromiß, den einige
Sprachreformer zwischen Volkssprache und Kirchensprache vornehmen wollten,
eine Richtung, die als Slawobulgarische Schule bekannt wurde. Mitte des 19.
Jahrhunderts stand die ostbulgarische phonologische und grammatische
Grundstruktur der nationalen Literatursprache fest und es existierte bereits eine
reiche didaktische Literatur, Ansätze zu eigenständiger Belletristik und eine nicht
unbedeutende Presse. Allerdings entstand auch eine andere schriftsprachliche
Strömung: die Folklore-Sammlung der Schriftsteller-Brüder Miladinowi (Dimitar
Miladinow (1810–1862), Naum Miladinow (1817–1895) und Konstantin Miladinow
(1830–1862) aus Struga, deren Werk Bulgarische Volkslieder erschien 1861 in
82 Petăr Beron gilt als der „bulgarische Leibnitz“. Er verfasste die Fibel mit unterschiedlichen Belehrungen,
die auch Die Fischfibel genannt wird, weil auf ihrem Umschlag das Bild eines Delphines steht. Das Lehrbuch
erschien 1824 in Kronstadt mit der Unterstützung dort ansässiger bulgarischer Emigranten. Vgl. Christo
Părvev, Das Verdienst von Dr. Petăr Beron und Dr. Ivan Bogorov beim Aufbau der neubulgarischen
Schriftsprache. In: Bulgarische Sprache, Literatur und Geschichte, 2. Auflage. Hieronymus, Neuried 1982, S.
139–156.
105
Zagreb und basierte auf den westbulgarischen Dialekten. Auch der Gelehrte
Neofit Rilski (1793-1881) verwendete zunächst die westbulgarischen Dialekte,
versuchte jedoch in seiner Grammatik (1835), die ost- und westbulgarischen
Dialekte zu vereinen. Josif Kowatschew (1839-1898) setzte sich für den
zentralbulgarischen Dialekt ein, der als Bindeglied fungieren sollte. Im Laufe des
20. Jahrhunderts gewann dennoch das Westbulgarische einen stärkeren Einfluss
auf die Sprache.
Wie überall auf dem Balkan herrschte auch unter den bulgarischen Schriftsteller
und Sprachreformern der nationalen Wiedergeburt die Tendenz zum Purismus,
einer „Sprach-Reinigung von in die Sprache im Laufe von jahrhunderten
eingedrungenen Fremd- und Lehnwörtern. Türkische und griechische Lehnwörter
wurden durch kirchenslawische, russische Wörter sowie Neubildungen
(Neologismen) ersetzt, wobei die slawischen Neubildungen nicht immer
verständlich waren weshalb sie mit Hilfe ihrer türkischen und griechischen
Entsprechungen erklärt werden mußten.
Durch den russisch-sowjetischen Einfluß nach dem Zweiten Weltkrieg nahm der
russische Einfluß auf das Bulgarische stark zu. Benutzt wird bis heute das kyrilli-
sche Alphabet, das 863 von den Slawenaposteln Kyrill und Method geschaffen
worden war. Die dem Bulgarischen nächstverwandte Sprache ist das
Mazedonische.
6.1.4. Mazedonisch
Das Mazedonische wird in der Linguistik zusammen mit dem Bulgarischen zur
östlichen Gruppe der südslawischen Sprachen gerechnet, die sich durch
zahlreiche Merkmale von der westlichen Gruppe und teilweise auch von den
übrigen slawischen Sprachen unterscheidet. Aufgrund der großen Ähnlichkeit zum
Bulgarischen wurden die mazedonischen Dialekte, solange keine eigenständige
mazedonische Schriftsprache bestand, meist als bulgarische Dialekte
83 Iwan Andreew Bogorow (1818-1892) war ein bulgarischer Arzt, Enzyklopädist, Förderer des Schulwesen,
der bulgarischen Sprache und Aufklärer aus der Zeit der Bulgarischen Nationalen Wiedergeburt.
106
eingeordnet, so dass Bulgarisch synonym mit Ostsüdslawisch gebraucht wurde. In
Bulgarien ist diese Betrachtungsweise noch heute allgemein üblich.
Mazedonisch wird von ca. 2 Millionen Menschen als Muttersprache gesprochen.
Die Mehrzahl der Sprecher betrachtet sich als Angehörige des mazedonischen
Volkes. Von den Sprechern leben ca. 1,3 Mio. in Mazedonien, wo es Amtssprache
ist. Kleinere Gruppen von Sprechern leben in Bulgarien, Griechenland und
Albanien. Die im Südosten Albaniens lebende kleine mazedonischsprachige
Minderheit führt eigene Schulen, die mazedonische Standardsprache ist dort
jedoch nicht gebräuchlich.
Im Nordwesten des griechischen Makedoniens gibt es eine Minderheit, die
ostsüdslawische Varietäten spricht, die von vielen Slawisten dem Mazedonischen
zugerechnet werden.
Seit dem 9. Jahrhundert gehörte das Gebiet zu Bulgarien, wurde dann im 14.
Jahrhundert Bestandteil des Großserbischen Reiches, ehe es zusammen mit allen
Balkanländern unter die Herrschaft der türkischen Osmanen kam. Im 19.
Jahrhundert kämpften Mazedonier zusammen mit Bulgaren gegen die
Vorherrschaft der Phanarioten und des griechischen Klerus von Konstantinopel
für eine eigene slawische Kirchenorganisation, worin auch die Abschaffung des
Griechischen als Kirchensprache eingeschlossen war.
Als über eine neubulgarische Literatursprache auf ostbulgarischer Grundlage
diskutiert wurde, gab es Opposition von mazedonischer Seite, die sich sprachlich
nicht repräsentiert fühlte.
Durch die Beschlüsse des Berliner Kongresses (1878) wurde Mazedonien von
Bulgarien abgetrennt und kam erneut unter türkisch-osmanische Hoheit. In der
Folgezeit stritten Serben, Bulgaren und Griechen um den Gebietsanschluß
Mazedoniens an das jeweils eigene Staatsterritorium, mit dem Ergebnis der
Aufteilung am Ende des Ersten Balkankrieges (1912 - 13), wobei der größte Teil
Mazedoniens damals an Serbien fiel.
Zu den führenden Gelehrten, welche die Mazedonische Frage erörterten und sich
auch mit der Schaffung einer nationalen Literatursprache beschäftigten, war Krste
107
Petkov Misirkov (1875-1926) der aus dem griechischen Teil Mazedoniens
stammte. Während seiner Studien in Petersburg schloß er sich 1903 der
"Mazedonischen wissenschaftlich-literarischen Gesellschaft" 'Sveti Kliment' an
und hielt dort auch politische Vorträge über die Frage einer selbständigen
mazedonischen Literatursprache, die in Sofia veröffentlicht wurden. Grundlage
dafür sollte der zentralmazedonische Dialekt sein, der im Gebiet von Prilep und
Bitola gesprochen wird, eine enge Orientierung an der Volkssprache war die
Ausgangslage. Die Orthographie war phonologisch, puristische Tendenzen
fehlten.
Als jüngste der slawischen Literatursprachen nimmt das Mazedonische eine
Sonderstellung ein. Durch die wechselvolle politische Geschichte der historischen
Landschaft Mazedonien konnte sich erst im 20. Jahrhundert ein eigenständiger
Ethnos herausbilden.
Die politische Entscheidung zur Bildung der mazedonischen Sprache wurde 1934
von der Kommunistischen Internationale gefasst. So wurden in der ersten Hälfte
der 1940er Jahre einige makedonische Mundarten erstmals systematisch zur
Verfassung von Sachprosa in der Publizistik der Kommunistischen Partei
Jugoslawiens (KPJ) und der Partisanenbewegung verwendet. Damit begann der
Ausbau des Mazedonischen zur Standardsprache. Der Antifaschistische Rat zur
Volksbefreiung Mazedoniens setzte in der folgenden Zeit drei philologische
Kommissionen zur Ausarbeitung einer mazedonischen Schriftsprache ein. Dabei
orientierte sich das kyrillische Alphabet des Mazedonischen größtenteils am
Vorbild des kyrillischen Alphabetes des Serbischen, das ebenfalls 1945 kodifiziert
wurde. Der Rat setzte in der folgenden Zeit drei philologische Kommissionen zur
Ausarbeitung einer mazedonischen Schriftsprache ein. Dabei orientierte sich das
kyrillische Alphabet des Mazedonischen größtenteils am Vorbild des kyrillischen
Alphabetes des Serbischen, das ebenfalls 1945 kodifiziert wurde. Am 5. Mai 1945
gab die 3. Kommission ihren endgültigen Beschluss über das Alphabet und die
Rechtschreibung bekannt. Die mazedonische Schriftsprache entstand als
Abgrenzung zum Bulgarischen und so wurde der Wortschatz der slawischen
Mundarten im Gebiet der Sozialistischen Jugoslawischen Republik Mazedonien in
der darauf folgenden Zeit von den Bulgarismen gereinigt
108
Nach der Entstehung der Föderation Jugoslawiens wurde 1948 der zum
ehemaligen Serbien gehörende Teil Mazedoniens die sechste Teilrepublik und
konnte mit fast hundertjähriger Verspätung endlich eine mazedonische
Literatursprache normieren und verbreiten.
Als eine der drei anerkannten Amtssprachen Jugoslawiens konnte sich das
Mazedonische durch Schulpflicht und Pressewesen entfalten. Die Anfänge der
modernen mazedonischen Literatur gehen aber schon in das 19. Jahrhundert
zurück und haben neben der Volkspoesie, Lyrik und Prosa hervorgebracht. Zu
den bekannten mazedonischen Lyrikern gehören Kočo Racin (1908 - 1943) und
Kole Nedelkovski (1912 - 1941).
6.1.5. Serbisch
Die Serbische Sprache ist eine Standardvarietät aus dem südslawischen Zweig
der slawischen Sprachen und basiert wie Kroatisch und Bosnisch auf einem
štokavischen Dialekt.
Serbisch wird von ca. 6,7 Millionen Menschen in Serbien, wo es die Amtssprache
ist, als Muttersprache gesprochen. Daneben wird es auch in Bosnien und
Herzegowina, Montenegro, im Kosovo, in Kroatien und Mazedonien von etwa 2
Millionen Menschen gesprochen. In Mittel- und Westeuropa, Australien und den
USA, wo sich eine große serbische Diaspora befindet, von etwa 3,5 Millionen
Auswanderern. Sowohl das lateinische Alphabet als auch das kyrillische Alphabet
werden verwendet.
Ähnlich wie bei den Bulgaren gab es auch bei den Serben eine slawoserbische
Partei der Sprachreformer, die das Kirchenslawische zur Grundlage einer
serbischen Literatursprache machen wollte.
Diese Bewegung trat in der zur Donaumonarchie gehörenden Provinz Vojvodina
auf, in der im 17. Jahrhundert nach einem gescheiterten Aufstand gegen die
Türken serbische Flüchtlinge eine neue Heimat gefunden hatten. In dem 1815
gebildeten autonomen serbischen Fürstentum fand das Slawoserbische, in dem
auch Elemente der Volkssprache zu finden waren, Anhänger, konnte sich aber
auf die Dauer nicht durchsetzen und war nur in den Städten der Vojvodina für eine
109
dünne Gebildetenschicht Kommunikationsmittel. Von der Masse der Serben
wurde diese Sprache nicht verstanden.
Die Schaffung einer wirklichen nationalen Literatursprache aller Serben blieb das
Werk des Sprachreformers Vuk Stefanovic Karadzic (1787 - 1864), der mit der
kirchenslawischen Tradition brach und sich für den von der Mehrheit der Serben
gesprochenen neu-stokavischen Dialekt entschied. Er selbst stammte aus der
Herzegowina, so daß man von einer Einbeziehung auch seiner eigenen Mundart
wohl ausgehen muß. Aus seiner Feder stammt die erste Grammatik, 1814
veröffentlicht84, ein fundamentales Serbisches Wörterbuch (1818) und eine
Sammlung serbischer Volkslieder, die in fünf Bänden 1823-1865 erschien. Erst
1868, vier Jahre nach seinem Tod, wurde seine Orthographie eingeführt, die sich
streng an der Phonetik orientierte. Die Wahl des kyrillischen Alphabets wurde wie
bei den Bulgaren auch von den Serben übernommen.
6.1.6. Kroatisch
Die kroatische Sprache ist eine Standardvarietät aus dem südslawischen Zweig
der slawischen Sprachen und basiert wie Bosnisch und Serbisch auf einem
štokavischen Dialekt.
Kroatisch wird von etwa 7 Millionen Menschen gesprochen. Darüber hinaus gibt
es muttersprachliche Sprecher in Bosnien-Herzegowina und in der Vojvodina,
unter kroatischen Zuwanderern aus jugoslawischer Zeit in Slowenien sowie in der
kroatischen Diaspora, vor allem in Mitteleuropa (Deutschland, Österreich,
Schweiz), Italien, sowie in Übersee. Es ist die Amtssprache Kroatiens, eine (der
drei) Amtssprachen in Bosnien und Herzegowina sowie eine der sechs offiziellen
Minderheitensprachen in der Vojvodina in Serbien.
Die Herausbildung der nationalen Literatursprache bei den Kroaten verlief
aufgrund ihrer ganz unterschiedlichen historischen und politischen Geschichte
unter wesentlich anderen Voraussetzungen. Neben dem Latein der römisch-
katholischen Kirche, der die Kroaten angehören, dem Italienischen, Deutschen
und in geringerem Maße dem Ungarischen, waren seit Mitte des 18.
Jahrhunderts zwei regionale Literatursprachen in Gebrauch. Größere Bedeutung
110
erlangte die auf dem čakavischen Dialekt Nordwestkroatiens basierende
Schriftsprache, deren Zentrum Zagreb war. Von der Mehrheit der Kroaten wurde
aber der stokaviše Dialekt gesprochen und auch geschrieben.
Im Zeitalter der Renaissance wurden in Städten wie Split, Dubrovnik oder Zadar
Schriftstücke in lokalen Dialekten verfasst. Die ersten Ansätze der Bildung einer
Hochsprache schuf Faust Vrančić (1551-1617) in seinem Wörterbuch
Dictionarium quinque nobilissimarum Europae linguarum – Latinae, Italicae,
Germanicae, Dalmati[c]ae et Ungaricae im Jahr 1595. Das erste die Grammatik
vereinheitlichende Werk schuf Bartol Kašić: Institutionum linguae illyricae libri duo
im Jahr 1604.
Der Jesuit Bartol Kašić (1575-1650) übersetzte in den Jahren 1622–1636 die
Bibel in die kroatische Sprache (in den štokavisch-ijekavisch Dialekt). Die Werke
von Kašić hatten einen besonders großen Einfluss auf die Entwicklung der
kroatischen Hochsprache.
Die bedeutendsten literarischen Vertreter des Barock sind Ivan Gundulić (1589–
1638), Ivan Bunić und Junij Palmotić (1607–1657), die ihre Werke im in Dubrovnik
gebräuchlichen ijekavisch-štokavischen Dialekt verfassten. Deren Sprache ist in
ihren Grundlagen, ebenso wie die Sprache Kašićs, mit der heutigen kroatischen
Standardsprache vergleichbar.
Obwohl Anfang des 19. Jahrhunderts noch keine Vereinheitlichung der
Schriftsprache vorlag, war doch schon eine weitgehende Übereinstimmung
vorhanden. Ein Hindernis stellte die politische Zersplitterung Kroatiens dar, deren
Bevölkerung auch in Slawonien, Dalmatien und Bosnien lebt.
Mit der Ideologie des Zusammenschlusses aller Südslawen entstand auch eine
Sprachreformgruppe unter den Kroaten, die Illyrische Bewegung unter Führung
von Ljudevit Gaj (1809-1872), die die Schaffung einer einheitlichen
Literatursprache auf der Grundlage des Štokavischem für den gesamten
südslawischen Raum anstrebte. Allerdings hielten sie am lateinischen Alphabet
fest, einer graphischen Unterschiedlichkeit, die bis heute erhalten geblieben ist.
Gleichzeitig legte Gaj auch die Grundlagen für die heutige kroatische
84 Ins Deutsche übersetzt von Jakob Grimm 1824.
111
Orthographie.85 1836 wurde das Stokavische als offizielle Literatursprache der
Kroaten eingeführt, als die Zeitschrift Danica in dieser Sprache und einer neuen
phonematischen Orthographie erschien. Das ursprüngliche Ziel einer
gemeinsamen Schriftsprache für alle Südslawen blieb Utopie, aber 1850 kam es
in Wien zwischen Vuk Karazic und seinen serbischen Anhängern und den
kroatischen Ideologen des Illyrismus zu einem Abkommen, bei dem sich beide
Seiten auf eine gemeinsame Serbokroatische Literatursprache festlegten.
Berechtigterweise nehmen die Kroaten heute für sich in Anspruch, die neue
Schriftsprache schon einige Jahrzehnte vor den Serben benutzt zu haben. Die
gemeinsame Literatursprache86 existierte von Anfang an in zwei Varianten, einer
östlichen serbischen und einer westlichen kroatischen, die sich nicht nur durch die
verschiedenen Schriftsysteme, sondern auch in anderer Hinsicht unterscheiden.
Dies betrifft vor allem die lexikalischen Unterschiede, da die Kroaten frühzeitig
versuchten, ihre Schriftsprache von fremden Einflüssen zu reinigen und
Fremdwörter durch slawische Neubildungen zu ersetzen, wobei sie sich oft am
Tschechischen orientierten.
Das Königreich Jugoslawien (1918–1941) bezeichnete seine Amtssprache in
beiden Verfassungen (von 1921 und 1931) als ‘serbokroatoslowenische Sprache’.
Gesetze, Vorschriften und staatliche Verordnungen wurden überwiegend in der
serbischen Variante des Serbokroatischen veröffentlicht..
Zu Beginn des zweiten, sozialistischen Jugoslawien wurde eine
Gleichberechtigung aller südslawischen Sprachen eingeführt. Die
Gleichberechtigung der kroatischen, slowenischen, makedonischen und
serbischen Sprache wurde gesetzlich verankert.
Im Frühjahr 1967 verstärkte sich der Widerstand einiger Intellektueller,
Schriftsteller und kultureller Organisationen gegen die Degradierung der
kroatischen Sprache innerhalb Kroatiens. Diese Bewegung wurde von der
Kommunistischen Partei Jugoslawiens als „nationalistisch“ bezeichnet. Nach dem
85 Ljudevit Gaj, der wohl wichtigste Vertreter des Illyrismus, gab seit 1835 eine Zeitung und vor allem die
wöchentliche Literaturbeilage Danica (Morgenstern) heraus. 1836 ging Gaj in diesen vom Kajkavischen der
Region um Zagreb zum Štokavischen über. 86 Vgl. Mario Grčević, Die Entstehung der kroatischen Literatursprache. Böhlau, Köln/Weimar/Wien 1997.
112
„Kroatischen Frühling“ im Jahr 1974 wurde in Kroatien Kroatisch als
Unterrichtsfach in den Schulen eingeführt.
Nach der Unabhängigkeitserklärung 1991 wurde das Kroatische in Kroatien
endgültig als eigenständige Sprache anerkannt.
6. 1. 7. Slowenisch
Die slowenische Sprache und der kajkavische Dialekt der kroatischen Sprache
ähneln sich in vielerlei Hinsicht, da es sich beim kajkavischen kroatischen Dialekt
um einen offensichtlichen und fließenden Übergang des Slowenischen in das
Kroatische handelt. Die Sprache wird mit einer eigenen Variante des Lateinischen
Alphabets (latinica), dem Slowenischen Alphabet, geschrieben.
Mit der Gründung des sozialistischen Jugoslawiens 1945 wurde Slowenisch –
neben Mazedonisch und Serbokroatisch mit seinen beiden Schriftvarianten
Kroatisch und Serbisch – erstmals zu einer gleichberechtigten Staatssprache. Seit
der Unabhängigkeit Sloweniens 1991 ist es dessen alleinige Amtssprache mit
etwa 2,2 Millionen Sprechern.
6.1.8. Albanisch
Die albanische Sprache gehört zur balkan-indogermanischen Sprachgruppe der
indogermanischen Sprachfamilie und zum Balkansprachbund. Sie ist seit dem
15. Jahrhundert schriftlich belegt und heute Amtssprache in Albanien und im
Kosovo sowie Minderheitensprache in anderen Ländern Südosteuropas und in
Italien. Eigenbezeichnungen sind Gjuha Shqipe und kurz Shqipja.
Der geschlossene albanische Sprachraum umfasst Albanien, Kosovo, die
westlichen und nordwestlichen Teile Mazedoniens sowie einige angrenzende
Landstriche in Serbien und Montenegro. Alteingesessene albanischsprachige
Minderheiten leben in Süditalien und auf Sizilien sowie auf der Peloponnes, in
Attika und weiteren südgriechischen Regionen und Inseln, Im Weiteren gibt es in
Bulgarien (Mandriza), Rumänien (Bukarest, Timișoara, Iași, Constanța, Cluj-
Napoca) und in der Ukraine (Oblast Saporischschja und Budschak) kleinere
Minderheiten. Insgesamt sprechen über 7,2 Millionen Menschen die albanische
113
Sprache, davon etwa 2,5 Millionen in Albanien, etwa 2,6 Millionen in den übrigen
Balkanländern sowie mehr als zwei Millionen Auswanderer weltweit.
Die Herkunft der Sprache ist ungeklärt, wegen der räumlichen Nähe der historisch
bekannten Illyrer versuchten viele Forscher, das Albanische mit dem Illyrischen
zu verbinden, was allerdings wegen völlig unzureichender Belege kaum beweisbar
bleibt. Als erster äußerte der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716)
diese Vermutung.
Das Albanische hat zwei große Dialektgruppen, im Norden das Gegische und im
Süden das Toskische, die sich in zum Teil sehr unterschiedliche lokale
Unterdialekte gliedern lassen. Die heutige albanische Schriftsprache wurde erst in
der Mitte des 20. Jahrhunderts auf der Grundlage der toskischen Dialektgruppe
entwickelt. 1972 kam dieser Prozess auf einem Kongress in Tirana zum
Abschluss. Seit einigen Jahren wird gefordert, verstärkt gegische Varianten in der
Sprachpolitik zu berücksichtigen.
Auch das Auftreten einer Unabhängigkeitsbewegung in Albanien enthielt eine
sprachpolitische Komponente. Es war die Bewegung der nationalen
Wiedergeburt, 'Rilindja Kombetare', deren Hauptziel die Schaffung und
Durchsetzung einer nationalen albanischen Literatursprache war. Eine besondere
Schwierigkeit lag in der in zwei Sprachzweige zerfallenen Sprachsituation. Im
Norden wurde das Gegische gesprochen, das in viele Dialekte zerfiel, im Süden
das relativ einheitliche Toskische. Zunächst entwickelten sich mehrere
voneinander isolierte Schriftdialekte. In den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts
wurden Fibeln, Lesebücher und die ersten Zeitungen in albanischer Sprache
herausgegeben, allerdings von Emigranten im Ausland, auf deren Aktivitäten die
albanische Nationalbewegung zunächst beruhte. In Albanien selbst, das durch die
Türkenherrschaft an der Entfaltung einer eigenen Kultur gehindert worden war,
gab es erst ab 1887 Schulen, in denen das Albanische Unterrichtssprache war.
Durch die religiöse Zersplitterung der Bevölkerung in Moslems, Katholiken,
Orthodoxe waren das Türkische, Griechische und Lateinische Unterrichtsspra-
chen, das Türkische darüber hinaus Verwaltungssprache. Die albanische
Muttersprache wurde in ihren zahlreichen Dialekten nur mündlich gebraucht.
114
Allerdings gab es seit Jahrhunderten die Tradition mündlicher Überlieferung der
Volksdichtung.
Es gab auch kein einheitliches Alphabet, das griechische und das arabisch-
türkische Alphabet wurden benutzt, später verschiedene Originalalphabete
geschaffen, am häufigsten solche mit lateinischen Schriftzeichen, ergänzt durch
diakritische Zeichen oder Zeichen aus dem griechischen bzw. kyrillischen
Alphabet. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts gab es keine einheitliche Schrift,
was die Verbreitung der albanischen Schriftsprache stark behinderte. Die Träger
der nationalen Befreiungsbewegung lebten als Emigranten im Ausland, der
bedeutendste Repräsentant moderner albanischer Literatur war der Dichter Naim
Frasheri (1846-1900).
Bereits 1845 erschien in Bukarest die erste albanische Fibel in einem von Naum
Veqilharxhi (1797-1854) geschaffenen Alphabet. Als "Vater des Albanischen" wird
Konstantin Kristoforidhi (1826-1895) bezeichnet, der u. a. das Neue Testament
ins Gegische und Toskische übersetzte, eine albanische Grammatik, ein
Albanisch-Griechisches Wörterbuch schrieb und auch literarisch in beiden
Dialekten tätig war. Der deutsche Philologe Franz Bopp (1791-1867) hat bereits
1854 den indogermanischen Charakter des Albanischen nachgewiesen.
Auf dem Kongreß, von Manastir 1908 wurde ein allgemein verbindliches Alpha-
bet, bestehend aus 36 Buchstaben, verabschiedet, dem das lateinische Alphabet
mit zwei zusätzlichen diakritischen Zeichen zugrunde liegt. Mit der Gründung
eines unabhängigen albanischen Staates nach dem ersten Balkankrieg (1912)
wurde Albanien auch Zentrum der Bemühungen um eine Literatursprache. Eine
Vereinheitlichung der inzwischen drei existierenden Varianten der Literaturspra-
che erwies sich als schwierig. Es gab eine toskische südliche Form und zwei
gegische Schriftvarianten, eine mittelalbanische und eine nordwestalbanische.
Die Vorkämpfer der Nationalen Wiedergeburt setzten sich besonders für eine
Reinigung der Sprache von den zahlreichen türkischen Lehnwörtern ein, ließen
aber Wörter lateinischen und romanischen Ursprungs gelten.
115
Mit der Entstehung der Volksrepublik Albanien nach 1945 kommt es zu einer
Normierung der Literatursprache auf toskischer Grundlage Südalbaniens. Die
endgültige Regelung einer einheitliche Orthographie kam 1972 zum Abschluß.
Albanischsprachige Bevölkerungsgruppen leben außerhalb Albaniens im Kosovo,
der ehemaligen autonomen jugoslawischen Provinz, Montenegro, Mazedonien,
außerdem in Bulgarien, Bessarabien, Ukraine, Türkei, Mittelgriechenland,
Süditalien, Westeuropa und Übersee.
Die albanische Literatursprache der Gegenwart kann als eine Synthese aus
toskischen und gegischen Elementen angesehen werden. Um die Sprache zu
modernisieren, mußten zahlreiche Entlehnungen aus anderen Sprachen
vorgenommen werden.
Die im Kosovo lebenden Albaner, die die gegische Mundart sprechen, schreiben
das Gegische als alleinige Schriftsprache. Auf einer 1968 stattfindenden
Sprachkonferenz in Prishtina wurde dann der Beschluß gefaßt, die in Albanien
verbindliche Literatursprache zu übernehmen.
6.1.9. Romani/Romanes
Romani (auch Romanes genannt) ist die Sprache der Roma. Sie gehört
gemeinsam mit Sprachen wie Urdu und Hindi zum indoarischen Zweig der
indoeuropaischen Sprachfamilie und ist die einzige neuindoarische Sprache, die
ausschlieslich auserhalb des indischen Subkontinents gesprochen wird.
Die Sprache weist Gemeinsamkeiten sowohl mit zentralindischen wie auch mit
nordwestindischen Sprachen auf. Der sprachliche Befund legt nahe, dass Romani
zunächst an einer frühen Entwicklung der zentralindischen Sprachen teilhatte und
sich dann über einen längeren Zeitraum der Entwicklung der nordwestindischen
Sprachen wie Sindhi anschloss. Man nimmt deshalb an, dass die Sprecher des
Romani aus Zentralindien kamen und ihre Siedlungsgebiete seit dem
3. Jahrhundert v. Chr. nach Nordwestindien verlegten. Über den Zeitpunkt der
weiteren Migration nach Westen besteht keine Einigkeit, man kann ihn jedoch
zwischen dem 5. und 10. Jahrhundert ansetzen und muss innerhalb dieser Zeit
wahrscheinlich auch von mehreren Migrationsbewegungen ausgehen. Romani hat
sich somit seit mehr als 800 Jahren unabhängig von anderen indischen Sprachen
116
entwickelt, davon seit mindestens 700 Jahren in Europa. Es unterlag in der
Anfangszeit in Wortschatz und auch Syntax besonders dem Einfluss der
Balkansprachen, und zwar hauptsächlich des Mittelgriechischen der
byzantinischen Periode, das sich auf alle Untergruppen des Romani ausgewirkt
hat.87
Eine übliche Kategorisierung, die lange Bestand hatte, war die Einteilung in Vlach
und non-Vlach-Dialekte. Vlach waren demnach diejenigen Roma, die viele
Jahrhunderte im Territorium von Rumänien in Sklaverei lebten. Das
Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen beiden Gruppen war der Grad der
Lehnwörter aus dem Rumänischen. Vlach sprechende Gruppen stellten die größte
Anzahl Sprecher.
Romani war bis in die jüngere Zeit eine überwiegend nur gesprochene und
mündliche überlieferte Sprache, aus der seit dem 16. Jahrhundert Sprachproben
meist nur von Sprechern anderer Sprachen aufgezeichnet wurden. Versuche,
Romani als Schriftsprache zu standardisieren, begannen erst im 20. Jahrhundert.
Federführend ist dabei heute die Sprachkommission der Internationalen Romani
Union (Romano Internacionalno Jekhetani Union), die seit den 1980er Jahren eine
standardisierte Orthographie auf der Basis der lateinischen Schrift und eine
sprachlich standardisierte Schriftsprache auf der Basis des Vlach-Romani
propagiert. Romani wird mit mehreren Alphabeten geschrieben: Lateinisch,
Kyrillisch und Devanagari.
Obwohl die Roma bedeutende literarische Werke und autobiographische
Zeugnisse in anderen Sprachen hervorgebracht haben, wurde der Gebrauch des
Romani als Literatursprache lange Zeit durch die soziale und kulturelle
Stigmatisierung dieser Sprache verhindert. Eine der Ersten, die sich schreibend
zu ihrer Herkunft und Sprache bekannten, war die in Serbien lebende
Schriftstellerin Gina Ranjičić (1831–1890). In jüngerer Zeit haben Autoren wie
Slobodan Berberski (1919–1989), Rajko Đurić, Leksa Manus, Nedjo Osman und
Sejdo Jasarov der Romani-Literatur zunehmend Geltung verschafft. Begünstigt
durch die Emigration von Romani schreibenden Autoren aus Südosteuropa,
87 Norbert Boretzky, Die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den südbalkanischen Romani-Dialekten.
Lang, Frankfurt am Main [u. a.] 1999.
117
insbesondere aus dem früheren Jugoslawien, ist auch in Deutschland eine rege
Kulturszene entstanden, in der Romani als Literatur- und Bühnensprache gepflegt
wird. Institutionell wird die Entwicklung der Romani-Literatur gefördert durch die
2002 in Finnland gegründete International Romani Writers’ Association.88
6. 2. Weltliteratur vom Balkan
Von Goethe stammt das Wort "Weltliteratur". Weltliteratur muß nicht die ganze
Welt zum Schauplatz haben, sondern das allgemein Menschliche und Zeitlose
muß sich darin spiegeln.
Der Beginn moderner Literatur liegt in den Balkanländern bei sehr unter-
schiedlicher nationaler Entwicklung erst etwa hundert Jahre zurück, damit ist nicht
ihre viel ältere Kirchen- und Volksliteratur gemeint, deren Tradition bereits ins
Mittelalter verweist.
Wie die nationalen Bewegungen, so zeigt auch die moderne Literatur der
Balkanländer deutliche Einflüsse aus Westeuropa, vor allem französische, und
andererseits gingen auch von der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts
starke Impulse aus, vor allem auf die slawophonen Völker. Eine erstaunliche
Vielfalt der literarischen Genres ist in dem kurzen Zeitraum der Entwicklung
entstanden, wovon nur ein kleiner Teil durch Übersetzungen über die nationalen
Grenzen hinaus bekannt geworden ist. Immerhin werden in einem Katalog
"Bulgarische Belletristik 1945-1987" allein 264 Titel aufgeführt, die in der
ehemaligen DDR in deutscher Übersetzung erschienen sind, darunter auch
mazedonische Schriftsteller.
Zahlreich sind auch deutsche Übersetzungen rumänischer Literatur. Nicht immer
sind die übersetzten Schriftsteller die besten Repräsentanten der nationalen
Literatur. Ein gutes Beispiel dafür ist Mircea Eliade (1907-1986). Er verließ 1938
für immer Rumänien, lebte in Paris und Chicago, wo er als einer der
bedeutendsten Religionswissenschaftler lehrte und ein umfangreiches Werk in
englischer und französischer Sprache verfaßte. Daneben schrieb er Zeit seines
88 Rajko Đurić, Die Literatur der Sinti und Roma. Edition Parabolis, Berlin 2002.
118
Lebens in rumänischer Sprache Romane und Novellen, deren literarische
Bedeutung eher mittelmäßig ist, von denen aber zahlreiche Übersetzungen in die
deutsche89 und andere europäische Sprachen veröffentlicht wurden.
Nach 1950 erschienen auch vermehrt deutsche Übersetzungen neugriechischer
und serbokroatischer Literatur.
Am beliebtesten sind Anthologien, in denen einzelne Erzählungen verschiedener
Schriftsteller vorgestellt werden. Die Tatsache, daß ein Schriftsteller in andere
Sprachen übersetzt wird, macht sein Werk noch nicht zur "Weltliteratur". Es
entsteht aber durch den Literaturaustausch Anerkennung und Verständnis, ja eine
Art der Gleichberechtigung literarischer Kultur. Das Wichtigste ist vielleicht, daß
der Leser die Welt von einem anderen Standpunkt als seinem eigenen nationalen
kennenlernen kann.
Einige Schriftsteller vom Balkan haben heute weltliterarische Geltung :
Der Rumäne Mihai Eminescu (1850-1889), mit bürgerlichem Namen Mihail
Eminovici, gilt als der bedeutendste klassische rumänische Dichter des 19.
Jahrhunderts und Schöpfer einer literarischen Sprache. Mit seinem lyrischen
Werk verschaffte er der rumänischen Literatur Weltgeltung. Sein Hauptwerk, die
Gedichtsammlung "Der Abendstern", wurde bereits 1892 ins Deutsche übersetzt.
Neben seinem lyrischen Hauptwerk, das mehrere Bände umfaßt, schrieb er
Märchen, Novellen und Essays, die zuerst 1913 und 1927 auf Deutsch
erschienen.
Eminescu, der in Wien und Berlin Philosophie studiert hat, war stark von
deutscher Kultur geprägt. Seine pessimistische Weltanschauung führte er auf
seine Berührung mit dem Werk Arthur Schopenhauers zurück. Im "Amtlichen
Verzeichnis des Personals und der Studierenden der Königlichen Friedrich-
Wilhelms-Universität zu Berlin" wird er zwischen 1873 und 1875 aufgeführt, als
einer von sechs rumänischen Studenten, die damals in der Reichshauptstadt
studierten. Als Eminescu nach Berlin kam, war er dreiundzwanzig Jahre alt, ein
Jahrzehnt blieb ihm danach noch für sein gesamtes literarisches Schaffen.
89 Eliades belletristisches Werk wurde vor allem im Suhrkamp Verlag herausgegeben, die Übersetzungen
sind von edith Silbermann. Einzelne romane erschienen im Hanser- und Insel-Verlag.
119
Zum hundertsten Geburtstag von Mihai Eminescu gab ein Berliner Verlag 1989
einen zweisprachigen Gedichtband heraus.
Im wahrsten Sinne des Wortes weltberühmt wurde der Sirtaki tanzende Grieche
"Alexis Sorbas", die Titel- und Romanfigur des griechischen Schriftstellers Nikos
Kazantzakis (1883-1957). In Kreta geboren, studierte er Jura in Athen und
Philosophie in Paris, war als Generaldirektor im Fürsorgeministerium tätig,
unternahm zahlreiche Reisen, war Regierungsmitglied (1945) und tat Dienst bei
der UNESCO. Als er 1957 in Freiburg im Breisgau starb, hinterließ er ein
literarisches und wissenschaftliches Werk von imponierender Vielfalt. Während
seine großen Romane "Alexis Sorbas" (1946, deutsch 1952), "Griechische
Passion" (deutsch 1957), "Freiheit oder Tod" (deutsch 1954), auch durch die
Verfilmung der beiden ersten Werke, seinen weltweiten Ruhm begründet haben,
sind seine Übersetzungen ins Neugriechische wenig bekannt. Dazu gehören
Goethes "Faust" und "Gespräche mit Eckermann", besonders aber der deutsche
Philosoph Friedrich Nietzsche, unter dessen philosophischem Einfluß Kazantzakis
zeitlebens gestanden hat. Obwohl mehrfach dafür vorgeschlagen, hat er den
Nobelpreis für Literatur nicht mehr erhalten. 1963 ging dieser Preis an seinen
Landsmann Giorgos Seferis (1900 - 1971) für dessen schmales und weitgehend
unbekanntes lyrisches Werk. Als höchste literarische Auszeichnung erhielt
Kazantzakis 1956 den Internationalen Friedenspreis
Anläßlich des Kulturprogramms, das Berlin als "Kulturstadt Europas 1988"
veranstaltete, wurde bekannt, daß Kazantzakis in den Jahren 1922 - 1923 in
Berlin lebte und hier die erste Fassung seines philosophisch-weltanschaulichen
Werkes "Asketik" schrieb, deren veränderte Version zuerst 1953 in deutscher
Übersetzung erschienen ist.90
Kazantzakis beschreibt in seinen Romanen die Vergangenheit und Gegenwart
Griechenlands, dennoch ist er nicht nur ein Nationaldichter, die ihn bewegende
Problematik ist allgemeingültig. Am schönsten ist diese Allgemeingültigkeit in
der "Griechischen Passion" formuliert:
90Zur Erinnerung an diesen auch literarisch fruchtbaren Berlin-Aufenthalt wurde am 22. April 1988 in Anwesenheit der inzwischen verstorbenen griechischen Kulturministerin Melina Mercouri eine Gedenktafel im Stadtbezirk Lichterfelde, (Unter den Eichen 63) enthüllt, wo der Schriftsteller damals lebte.
120
"Wie sollen wir Gott lieben? Indem wir die Menschen lieben. Wie sollen wir die
Menschen lieben? Indem wir uns Mühe geben, sie auf den rechten Weg zu
führen. Und welches ist der rechte Weg? Der Weg empor. "
Der Nobelpreis für Literatur wurde 1961 dem aus Bosnien stammen den
jugoslawischen Schriftsteller Ivo Andrić (1892 -1966) verliehen.
Im Mittelpunkt dieser Preisverleihung stand der Roman "Die Brücke über die
Drina", ein historisches Epos über jene berühmte Brücke, die der türkische
Großwesir Mehmed Pascha in der Mitte des 16. Jahrhunderts unweit der
bosnischen Stadt Višegrad über den Fluß Drina erbauen ließ. Diese auf elf
starken Pfeilern ruhende Brücke, auf der jahrhundertelang Armeen und
Karawanen die Drina überschritten, als Symbol des Brückenschlags zwi-
schenOrient und Okzident , wird auch Symbol für das Bleibende mitten im Wandel
der Menschheitsgeschichte.
"Von allem, was der Mensch in seinem Lebenstrieb errichtet und erbaut, scheint
meinen Augen nichts besser und wertvoller zu sein als die Brücken. Sie sind
wichtiger als die Häuser, heiliger, weil gemeinsamer als Kirchen. Allen gehörig
und allen gegenüber gleich nützlich, immer sinnvoll errichtet an dem Orte, an dem
die meisten menschlichen Bedürfnisse sich kreuzen; sie sind ausdauernder als
andere Gebäude und dienen keinem heimlichen oder bösen Zweck. "
Dennoch endet das Werk mit der Zerstörung der Brücke im ersten Weltkrieg. Als
der Roman 1945 erschien, war eine neue, noch furchtbarere Zerstörung über
Jugoslawien hingegangen. Die Heimat des Schriftstellers Ivo Andricć, der als
junger serbischer Student in der nationalen Freiheitsbewegung Junges Bosnien
vor dem ersten Weltkrieg aktiv war und deshalb ins Gefängnis kam, hatte in der
Geschichte selbst Brückenfunktion. Über Jahrhunderte existierten Halbmond und
Kreuz nebeneinander, gerieten im 18. Jahrhundert in das Spannungsfeld
Europas, aus denen immer neue historische Katastrophen entstanden. In dem
Werk "Wesire und Konsuln", das mit einem weiteren Band zur "Bosnischen
Trilogie" gehört und zur Zeit der napoleonischen Kriege spielt, schildert Andrić in
epischer Breite das Gegeneinander französischer und österreichischer
Konsulatsbeamter in der entlegenen Residenz eines türkischen Wesirs. Gleich-
zeitig werden die Aufstände der serbischen Bauern, die religiösen Spannungen
121
zwischen Moslimen, Christen und Juden zum Brennpunkt der Handlung. Andrić
nimmt nicht Partei, seine Sympathie gilt den Menschen, die er mit ihren
Gebrechen und Absonderlichkeiten schildert und mit ihnen auch die orientalischen
und europäischen Lebensformen.
Es ist eine traurige Ironie der Zeitgeschichte, daß gerade zum hundertsten
Geburtstag des Autors 1992 in Bosnien der Krieg ausbrach, der mit ungeheurer
Grausamkeit die Geschichte fortschreibt. Beide Ereignisse waren Anlaß dafür,
daß der Nobelpreisroman "Die Brücke über die Drina", in Deutschland zuerst 1957
in Berlin erschienen, 1992 gleich von zwei Verlagen erneut herausgebracht
wurde.
Als jugoslawischer Botschafter in Berlin erlebte Andrić 1939 in dieser Stadt den
Kriegsausbruch, 1940 verließ er Berlin, wenige Stunden nach seiner Ankunft in
Belgrad erlebte er die Bombardierung der Stadt durch deutsche Flugzeuge. Er
überstand die grausame Zeit der Besetzung Jugoslawiens durch faschistische
Truppen, während er seine drei bedeutendsten Romane schrieb.
Die Brücke über die Drina wurde am Ende zerstört, nicht aber der Glaube an die
Erneuerung des Lebens.
". . . und seine Existenz lehrte ihn, daß das Leben ein unbegreifbares Wunder ist,
denn mag es auch nicht davon ablassen, sich zu verbrauchen und zu erschöpfen,
so fährt es nichtsdestoweniger fort, anzudauern und Bestand zu haben wie die
Brücke über die Drina."
Die moderne albanische Literatur war in Europa, abgesehen von den
ideologischen Werken und Reden des Enver Hodscha, die Anfang der siebziger
Jahre in kleinen westdeutschen Verlagen erschienen, völlig unbekannt. Dem
Schriftsteller Ismail Kadare (geb. 1945) gelang mit seinem Roman "Der General
der toten Armee", der 1963 in albanischer Sprache erschien, der Durchbruch zur
Weltliteratur. Die furiose Verfilmung des Generals der toten Armee mit Marcello
Mastroianni und Michel Piccoli in den Hauptrollen erregte weltweites Aufsehen.
Das Werk ist inzwischen in zwanzig Sprachen übersetzt, 1973 erschien die
122
deutsche Übersetzung, der die französische Ausgabe 1970 zugrunde liegt.91 Die
Handlung des Romans beschreibt die Entsendung eines italienischen Generals
von seiner Regierung nach Albanien, um die sterblichen Überreste der
italienischen Soldaten in die Heimat zurückzuführen, die dort während des
zweiten Weltkrieges im Kampf gegen die Albaner gefallen sind. Doch ergreifende,
oft groteske Begegnungen erschüttern den General in seinem Patriotismus, der
ihn auf das ehemalige Kolonialvolk herabblicken ließ. Er beginnt die Albaner und
ihren Freiheitskampf zu verstehen, was ihn allerdings in eine persönliche Tragödie
führt. Mit einer neuen Erzähltechnik ließ Kadare den damals üblichen
Sozialistischen Realismus hinter sich. Er wurde mehrfach für den Literatur-
Nobelpreis nominiert.
Ein bulgarischer Schriftsteller, der über die Grenzen seiner Heimat hinaus auch in
Europa bekannt wurde, ist Georgi Danailov (*1936). In Sofia arbeitete er als
Schriftsteller, Dramaturg und Drehbuchautor für Theater und Film. Seine
Bühnenwerke wurden in vielen Ländern Europas aufgeführt. Er ist einer der
wichtigen zeitgenössischen Schriftsteller Bulgariens. Unter den zahlreichen
Auszeichnungen, die er gewann, zählt auch der 1997 in Paris ausgeschriebene
internationale Rousseau-Wettbewerb, an dem 566 Autoren aus dreißig Ländern
teilnahmen.92 Er ist auch Autor von vielen Filmen und Drehbüchern.
Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Ende der ideologischen
Abgeschlossenheit kam es auch unter den bulgarischen Schriftstellern zu einer
Rückbesinnung auf ihre europäischen Wurzeln.
Ein herausragender Vertreter des Geisteslebens ist der aus Slowenien
stammende international bekannte Philosoph und Kulturkritiker Slavoj Žižek (geb.
1949), der sich der Postmoderne sowie der Gesellschaftskritik widmet. Für sein
Forschungsprojekt „Antinomien der postmodernen Vernunft“ erhielt Žižek 1999
91 2004 erschien eine neue Übersetzung aus dem Albanischen von Joachim Röhm im Verlag Amman Für
diesen und seine zahlreichen anderen Romane, die alle auch in deutscher Überwetzung erschienen sind,
erhielt Kadare zahlreiche internationale Preise und Auszeichnungen 92 Zu seinen Buchveröffentlichungen gehören: Kinder spielen draußen (1970); Bei niemandem (1973); Der
Mord an Mozart (1982); Erinnerungen an den städtischen Idioten (1993); Bis Chicago und zuriick —
Hundert Jahre später (1990); Über Jean Jacques Rousseau und andere Dummheiten (1997); Soweit ich mich
erinnere (2000-2002); Ein lustiges Buch über das bulgarische Volk (2004); Ein Haus jenseits der Welt (1997)
123
den mit einer Million Deutsche Mark dotierten Kulturwissenschaftlichen
Forschungspreis des Landes Nordrhein-Westfalen.
Der Roma-Schriftsteller Rajko Djuric hat 2002 eine „Geschichte der Roma-
Literatur“ vorgelegt, in der er den Nachweis darüber erbringt, dass bereits im 19.
Jahrhundert die serbische Romni Schriftstellerin Gina Ranjicic (1831-1890) das
Romani verwendet hat und sich auch zu ihrer Roma-Identität bekannte.
Rajko Djuric (geb. 1947) studierte an der Philosophischen Fakultät der Universität
Belgrad und promovierte über die Kultur der in Jugoslawien lebenden Roma. Er
gehört selbst dieser Volksgruppe an und war von 1990 bis 2000 Präsident der
International Roma Union.
Als politischer Dissident übersiedelte er 1991 nach Deutschland, wo bereits 1989
sein Buch Zigeunerische Elegien. Gedichte in Romani und Deutsch erschienen
war. Mit dem Essay Roma und Sinti im Spiegel der deutschen Literatur. Ein
Essay, 1995 sowie der o.gen. Literaturgeschichte (2002) wurde er im
deutschsprachigen Raum bekannt.93
Er verfasst Lyrik, Essays und Bücher zu historischen, kultur- und
literaturwissenschaftlichen Themen. Seit 2001 ist er Generalsekretär des
Internationalen Roma-PEN-Zentrums.
Inzwischen gibt es eine stetig wachsende Roma-Literatur, bekannte Roma
Schriftsteller sind u.a.: Bronislaw Wajs Papuscha (1909-1987), Rom Lebedev
(1903-1989), Gina Ranjicic, Mateo Maximof (1917-1985), Slobodan Berberski,
Jovan Nikolic, Ruzdija Sejdovic, Ali Krasniqi, Dezider Bang, Mariela Mehr, Bari
Karoly, Philomena Franz, Veijo Baltzar, Ceia Stojko , Ilija Jovanovic, Monika
Kalanyu.94
93 vgl. Zigeunerpoesie? Rajko Djuric hat die erste systematische Literaturgeschichte der Roma und Sinti
geschrieben , in: Neues Deutschland 16.01.2003, Martin Hatzius.
94 Dagmar Burkhart, Kulturraum Balkan: Studien zur Volkskunde und Literatur Sudosteuropas
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Zülch, Tilman (Hrsg.): Ethnische Säuberung - Völkermord für "Großserbien" Eine Dokumentation der Gesellschaft für bedrohte Völker. Sammlung Luchterhand, Hamburg 1993, 170p.