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Lessing Yearbooki/iJahrbuch XL, 2012/2013

Founded by Gottfried F. Merkel and Guy Sternat the University of Cincinnati in

Monika Fick, managing editorRWTH Aachen University

Carl Niekerk, managing editorUniversity of Illinois, Urbana-Champaign

Monika Nenon, assistant and book review editorh e University of Memphis

Editorial BoardWolfgang Albrecht, Klassik-Stiftung Weimar

Barbara Becker-Cantarino, Ohio State UniversityWolfgang F. Bender, Universität Münster – Emeritus

Helmut Berthold, Lessing-Akademie, WolfenbüttelMatt Erlin, Washington University

Daniel Fulda, Martin-Luther-Universität Halle-WittenbergSander L. Gilman, Emory University, Atlanta

Willi Goetschel, University of TorontoAlexander Košenina, Leibniz-Universität Hannover

Barbara Mahlmann-Bauer, Universität BernThomas Martinec, Universität RegensburgJohn A. McCarthy, Vanderbilt University

Michael Morton, Duke UniversityDavid Price, University of Illinois, Urbana-Champaign

Ritchie Robertson, University of OxfordRichard Schade, University of Cincinnati – EmeritusAnn C. Schmiesing, University of Colorado, Boulder

Birka Siwczyk, Arbeitsstelle für Lessingrezeption – Lessing-Museum KamenzGuy Stern, Wayne State University – Dist. Prof. Emeritus

Stefanie Stockhorst, Universität PotsdamLiliane Weissberg, University of Pennsylvania, Philadelphia

W. Daniel Wilson, University of LondonCarsten Zelle, Ruhr-Universität Bochum

Editorial AssistantSabine Durchholz

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Lessing Yearbook / JahrbuchXL

2012/2013

Edited for the Lessing Society byMonika Fick (RWTH Aachen University)

in cooperation withCarl Niekerk (University of Illinois, Urbana-Champaign)

Book Reviews edited byMonika Nenon (The University of Memphis)

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Die Herausgeber und das editorial board des Yearbooks danken der Hamburger Stif-tung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur für die generöse Finanzierung einer Redaktionsstelle.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Departments of Foreign Languages and Literatures der University of Memphis und des Humanities Councils der Univer-sity of Illinois at Urbana-Champaign.

Das Buch wurde gedruckt mit freundlicher Unterstützung der RWTH Aachen Uni-versity.

Englische Artikel sollten den Regeln des MLA Handbook, deutsche denen des Wall-stein Verlags folgen.

Anschrift:

c/o Prof. Dr. Monika Fick, Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwis-senschaft der RWTH Aachen University, Templergraben , Aachen; E-Mail: [email protected]/o Prof. Dr. Monika Nenon, Department of Foreign Languages and Literatures, The University of Memphis, Memphis, TN ; E-Mail: [email protected]/o Prof. Dr. Carl Niekerk, Germanic Languages and Literatures, University of Illi-nois, Urbana-Champaign, IL -; E-Mail: [email protected]

Wallstein Verlag, Geiststraße , D- Göttingen. Web Site: www.wallstein-verlag.de

Der Umschlag zeigt das von Johann Friedrich Bause nach einem Ölgemälde von Anton Graff gestochene Porträt Lessings (Leipzig : Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Signatur A ).

© 2013 Wallstein Verlag, Göttingenwww.wallstein-verlag.deDruck und Verarbeitung: Hubert & Co, GöttingenISBN 978-3-8353-1247-0ISSN 0075-8833

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Lessing Yearbook / Jahrbuch /, Vol. XL

Contents

Volkhard WelsChristliche Providenz in Gellerts Schwedischer Gräfin . . . . . . .

Karl S. Guthke»Der Güter höchstes nicht«?Lessing und Mendelssohn im Gespräch über den Selbstmord . . .

Birgit TautzDas Original durch die Übersetzung schaffen: Lessing, die Hamburgische Dramaturgie und die neue Komparatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Daniel KramerJohann Jakob Bodmer and Early Representations of Winckelmann’s Greek Ideal on the German Stage . . . . . . .

Waltraud MaierhoferVom bestraften Amor zum Triumph der Liebe. Angelika Kauffmanns Grazien-Zyklus und Amor und die Grazien in Lyrik, Oper und Buchillustration des . Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Stephan BraeseHanswurst und Geniekultur.Die Idee vom Ende der Kritik in Heinrich Leopold Wagners Prometheus Deukalion und seine Recensenten . . . . . . . . . . . .

Brian T. McInnisUnmasking Structures of Opposition: Treitschke, the Berlin Anti-Semitism Debates, and Scherer’s Reading of G. E. Lessing’s Play The Jews . . . . . . . . .

Shmuel FeinerLessing’s Nathan the Wise: A View from Jerusalem . . . . . . . .

Robert KelzGerman Buenos Aires Asunder: Lessing Onstage in the Argentine Capital, - . . . . . . .

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Book Reviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Index to Book Reviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lessing Yearbook / Jahrbuch /, Vol. XL

Das Original durch die Übersetzung schaffen: Lessing, die Hamburgische Dramaturgie

und die neue Komparatistik

Birgit TautzJochen Schulte-Sasse,

in memoriam

Die Rolle, die die Hamburgische Dramaturgie in der Herausbildung der modernen (deutschen) Literatur- und Theaterwissenschaften spielte, ist unumstritten, ebenso die Entwicklung einer Kluft zwischen literaturwis-senschaftlichen und theaterpraktischen Lesarten des Textes. So steht die Dramaturgie am Anfang der modernen deutschen National literatur ge-schichts schreibung, sie initiiert gewissermaßen einen Grundzug deutscher Kulturnation und wird so zu einer markanten Modernitätsschwelle. Diese Relevanz wird nachdrücklich betont im vielfachen, fast immer aber verein-fachenden Zitieren aus dem abschließenden Stück der Hamburgischen Dra-maturgie, worin sich Lessing zur wechselseitigen Bedingtheit von Nation und Nationaltheater äußert (LM, Bd. , S. ).

Die so erzählte Geschichte moderner Literatur fußt auf der Idee des Originals; sie bemüht die Übersetzung als dessen Negativ und Grenze. Demnach konstituiert sich Literatur schriftlich, im kreativen Akt des Neu-schaffens und mit dem Anspruch gelesen zu werden. Als Werk eines Autors kommt Literatur aus ohne Verweise auf legitimierende Modelle, Quellen und fremdsprachige Pendants, die Texte bis ins frühe . Jahrhundert durch zogen, egal ob tatsächlich ein Ausgangstext vorlag oder ob es sich um Pseudoübersetzungen bzw. Adaptionen handelte. Spätestens gegen Ende des . Jahrhunderts erfolgt eine deutliche Unterscheidung zwischen litera-rischem Werk und Übersetzung. Das literarische Werk oder Original – das mit seinem Anspruch auf Neuheit und Eigenständigkeit immer mit dem Begriff der Fiktion kokettiert – positioniert sich als Ursprung; es wird zum Ausgangstext der Übersetzung und weist dieser den Rang des Nach- und Untergeordneten zu. Das resultierende Wertgefälle degradiert die litera-rische Übersetzung in nationalliterarisch orientierten Literaturgeschichten bis heute.

Im Gegenzug erlaubt ein am historischen Status der Übersetzung bzw. des Übersetzens orientierter Blick auf literarische Texte, grundsätzliche Prä-missen moderner Literaturgeschichtsschreibung – wie etwa die des Origi-nals und der nationalen Funktionalisierbarkeit – neu einzuordnen. Indem ich im Folgenden die Hamburgische Dramaturgie aus dem Blickwinkel des Übersetzens betrachte, gelingt es mir, den für das . Jahrhundert oft

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behaupteten und auch in der Dramaturgie konstatierten Mangel an Origi-nalstücken, das heißt, an neuen Werken, die auf Deutsch und ohne fremd-sprachige Vorlage geschrieben wurden, differenziert zu bewerten. In der Dramaturgie, so meine These, plädiert Lessing durchaus dafür, das Original aus der Übersetzung zu schaffen. Damit geht Lessing über Prinzipien seiner eigenen Übersetzungspraxis ebenso hinaus wie über seine Bemerkungen zum Übersetzen in den Briefen, die neueste Litteratur betreffend. Weiterhin zeigt sich in dieser Lesart der Dramaturgie, wie problematisch es ist, von der Gegensätzlichkeit zwischen Original und Übersetzung auszugehen, denn sie erscheint hier als historisch bedingtes Konstrukt, das bestenfalls in Ansätzen existierte und sich erst um voll etablierte. Das unterwandert einerseits ein Fundament nationalliterarischer und moderner Literaturgeschichts-schreibung, andererseits ermöglicht diese Lesart den Blick auf Wurzeln eines Phänomens, das Emily Apter »neue Komparatistik« nennt: Demnach existiert Literatur jenseits von Nationalliteraturen und wird von ihrer wich-tigsten Erscheinungsform, der Übersetzung, bestimmt. Meines Erachtens ist diese Entwicklung kein Resultat des frühen . Jahrhunderts, sondern kann in Ansätzen schon bei Lessing beobachtet werden. Bereits die Ham-burgische Dramaturgie beschreibt das Übersetzen als Bereich literarischer Produktion, Zirkulation und Historisierung.

Lessing selbst verdrängt zunächst eine solche Lesart, wenn er im ersten Stück der Dramaturgie von einem Wunsch schreibt nach »einem deutschen Originale […], welches hier noch den Reitz der Neuheit habe« (LM, Bd. , S. ). Er trägt damit zum entstehenden Begriff des literarischen Werkes bei, vielleicht initiiert er ihn sogar. Und doch behauptet sich das Übersetzen in Lessings Text ebenso hartnäckig wie in Hamburgs Theaterpraxis. Vor diesem Hintergrund bildet die Dramaturgie nicht nur zeitlich ein Über-gangsstadium mit Bezug auf literarische Werk- und Übersetzungsbegriffe des . Jahrhunderts. Vielmehr ist sie ein von Brüchen und Verschiebungen gekennzeichneter Text, der im Hinblick auf das Übersetzen zwischen der Kritik an den Übersetzungen gespielter Stücke, modellgebender Überset-zungspraxis und -korrektur einzelner Textpassagen, und allgemeineren Überlegungen anhand von Übersetzungsvergleichen oszilliert. Eindeutig und klar präsentiert sich lediglich die instrumentalisierende Übersetzung bestimmter Begriffe – wie etwa »Furcht« und »Mitleid« in der Diskussion Aristotelischer Poetik. Damit fächert die Hamburgische Dramaturgie die in den Literaturbriefen formulierten Gedanken zur Übersetzung weiter auf.

Übersetzungstheoreme reihen sich an andere Kernthesen der Hamburgi-schen Dramaturgie – sei es zum Verhältnis von Schauspiel und dramatischem Text, sei es zur Genretheorie, sei es zur Aristotelischen Wirkungspoetik –, deren Synthese zu einem stringenten Zusammenspiel immer wieder Lessings Stil, sein »diskursives« bzw. »unsystematisches« Schreiben, ver-

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weigert. Doch indem Lessing das Übersetzen facettenreich diskutiert und korrelierende Begriffe dehnbar benutzt, legt er den Grundstein für eine Übersetzungstheorie, die über inhaltlich-formale Konzepte wie Texttreue, Korrespondenz- und Äquivalenzprinzipien hinausgeht und stattdessen Ein-blicke gibt in den Umgang mit Literatur, in ihr Lesen, ihre Interpretation und Zirkulation. Die Hamburgische Dramaturgie markiert darin nicht nur eine nationalliterarische Zäsur, sondern sie initiiert auch ein komparatives und interdisziplinäres Nachwirken.

Hier geht es mir weder darum, Übersetzungen im . Jahrhundert um-fassend darzustellen, noch ihre Rolle in der Herausbildung eines genreüber-greifenden, deutschsprachigen Literaturmarktes oder in der nationalen Tra-ditionsbildung zu diskutieren. Auch ist hier nicht der Ort, die pragmatische Ausdifferenzierung der Übersetzungen nach geographischer Region, Stil-modus oder Ausgangssprache zu behandeln. Ich möchte meiner Analyse der Dramaturgie aber einen knappen Forschungsüberblick voranstellen, der sich auf folgende Aspekte beschränkt: die Gründe, aus denen Mitte des . Jahrhunderts übersetzt wurde; die Prinzipien, die für Lessings Über-setzungspraxis ermittelt wurden; und zwei Aufsätze, die Ansätze einer Theorie der Übersetzung in Lessings Literaturbriefen sehen. Diese Aspekte strukturieren anschließend meine Betrachtungen zu Übersetzung und Hamburgischer Dramaturgie.

Warum übersetzte man in der Mitte des . Jahrhunderts? Zunächst gab es finanzielle Gründe, um das Überleben als freier Schriftsteller zu sichern. Man übersetzte, um Wissen – auch Sprachwissen – zu demonstrieren bzw. zu vermitteln. Es gab auch Übersetzungen aus reiner Lust an der Sache. Allmählich wurde das Übersetzen zur Dienst- bzw. Hilfsleistung, was sich unmittelbar auf den Ruf des Übersetzers und der Übersetzung auswirkte. Nachgeordnet, zweitrangig und zweckbestimmt, kokettierte das Übersetzen mit dem Markt und war vom Zeit- und Publikationsdruck des Marktes bestimmt. Übersetzen kompromittierte schnell den Schriftsteller, da es als Tätigkeit galt, die ihn von Literatur und Autorschaft fernhielt, entfremdete und anonymisierte. Anders als vielen seiner Zeitgenossen schadete Les-sings engagierte Übersetzungspraxis seinem Ruf als Autor nicht, obwohl sich Spuren aller Übersetzermotivationen in Lessings Übersetzertätigkeit finden. Zwar hat die Forschung oft auf Lessings Übersetzertätigkeit ver-wiesen, insgesamt »stellen [die] Übersetzungen [aber] ein recht junges Forschungsgebiet dar.« Das lässt sich auf die bis vor kurzem unvollstän-dige und unübersichtliche Edition von Lessings Übersetzungen zurück-führen, aber auch als Ergebnis der Marginalisierung von Übersetzungen in der modernen Literaturgeschichte darstellen.

Zweifelsfrei ist, wie Monika Fick feststellt, Das Theater des Herrn Diderot in mancher Hinsicht Lessings wichtigste Übersetzungsleistung, wohl

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auch, weil Lessing hier Übersetzung konsequent in den Dienst der Dramen-theorie stellt. Er übersetzt, um Wissen zu erweitern und theoretische und wirkungsästhetische Debatten zu befördern. Entsprechend bewertet Hel-mut Berthold Lessings grundsätzliche Herangehensweise an Übersetzungen als intentional und pragmatisch, »grundiert von Prinzipien, die sich nicht auf das Gebot der Texttreue beschränken«. Mit anderen Worten: Lessings Übersetzungspraxis ist innovativ. Aber worin besteht die Innovation? Rückt Lessing tatsächlich von Texttreue, semantischer Äquivalenz und formalen Korrespondenzen zwischen Ausgangstext und Übersetzung ab? Immerhin zeigt Lessings Sprachgebrauch in deutschen Zieltexten, wie stark er dem Stil des Ausgangstextes verpflichtet bleibt, den er interpretiert und passend um-zusetzen versucht. Susan Bernofsky hält Lessings Diderot-Übersetzungen für ein frühes Beispiel einer Praxis, die die Übersetzung von Autorambitio-nen abkoppelt und die dem Ausgangstext folgt (»dient«). Sie räumt ein, dass die Übersetzungen wenigstens so erfolgreich wie Lessings eigene Stücke wa-ren und suggeriert damit zumindest, dass sie eine innovative Dimension hatten. Dirk Oschmann klassifiziert diese Innovation aus der Perspektive des Literaturhistorikers, wenn er in der »Literaturfähigkeit« von Lessings Sprache, die er als Resultat des Übersetzens sieht, Lessings dauerhaften Bei-trag zur deutschen Literatur wahrnimmt. Diese These ist einerseits nicht neu, andererseits legt sie in ihrer Anspielung auf die Übersetzungen aber auch nahe, dass Lessings Übersetzungsdiskurs in einem größeren literatur- und kulturtheoretischen Kontext gesehen werden muss.

Das leisten die Beiträge von John Hamilton und Katherine Arens. Hamilton entdeckt Übersetzung – über die in den Literaturbriefen verstreu-ten Kommentare zu Übersetzungen, Übersetzungstheorie und -philosophie – als konstitutives Element in Lessings Darstellungen deutscher National-kultur. Dabei setzt er durchaus problematisch an, mit Bezug auf die von Lessing im . Brief geschätzte europäische Sprachvielfalt und das düstere Szenarium einer Welt, in der nur deutsche Bücher und deutsche Überset-zungen existieren: »Wenn durch eine grosse wunderbare Weltveränderung auf einmal alle Bücher, die deutsch geschriebenen ausgenommen, untergin-gen; welch eine erbärmliche Figur würden die Virgile und Horaze, die Shaf-tesburys und Bolingbroks bei der Nachwelt machen!« (LM, . Bd., S. ) Lessing kritisiert hier implizit die Qualität der Übersetzungen, die den deut-schen Buchmarkt überschwemmen. Die in der Aussage mitschwingenden Sprach- und Kulturhierarchien sind ebenfalls eindeutig: Deutschsprachige literarische Texte gelten als minderwertig gegenüber klassisch-antiker und englischer Literatur, egal ob sie geschaffen oder übersetzt sind. Damit nimmt Hamilton ein oft benanntes, unter anderem von Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie angesprochenes Problem zum Ausgangspunkt: Sowohl Quantität als auch Qualität deutschsprachiger Texte genügen nicht.

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Der zweite Teil von Hamiltons These führt zwar zu weit: »To mistranslate, then, would be to threaten the very ground of Germany’s historical and global place in the world«; Lessing argumentiert in den Literaturbriefen sicher nicht von einer Position historischer und globaler Bewusstheit und wohl auch nicht vordergründig nationalistisch. Doch Hamilton zeigt, wie Übersetzen als Tätigkeit und die poetische Prosa des Zieltextes, das heißt, die Form der Übersetzung, zusammenspielen und zu wichtigen Bausteinen in Lessings kritischer Innovation werden.

Für den Lessing der Literaturbriefe bedeutet deutsche Kultur deutsche Sprache; geographische, territoriale, politische Gegebenheiten zählen nicht: »Der einzige Deutsche, wollte ich fast sagen, hat die Freyheit, seine Prosa so poetisch zu machen, als es ihm beliebt«, sagt Lessing mit Bezug auf den Schweizer Breitinger im . Brief (LM, Bd. , S. ). Dabei fällt auf, dass relativ abstrakte, ästhetische Kriterien (»Freyheit«), formale Entscheidun-gen des Übersetzers und Merkmale des Zieltextes zusammenfallen. Der sprachschöpferische, formale Anteil macht den Wert der Übersetzung aus. Das wiederum, so Hamilton, erlaube es dem Übersetzer, Intentionen kon-zeptuell umzusetzen und damit eine kulturelle Praxis der Intervention zu verfolgen.

Durch die kreative Freiheit des Übersetzers etabliert sich der autonome, freie Leser: »In Lessing’s opinion – and this view is held consistently across the Literaturbriefe – poetic prose is the preferable genre; for it leaves the reader free to experience the flow of the piece, to find his or her own way into and through continuous print, without the restrictive or misleading directions of verse-lines«. Folgt man Hamilton, koppelt Lessing hier die Übersetzung vom Ausgangstext ab und orientiert sie konsequent an der Zielsprache. Der Akt des Übersetzens erscheint nicht als Lese- und Interpre-tationsakt eines Einzelnen, der seine Spuren in der gedruckten Übersetzung hinterlässt, sondern er ist motiviert durch die Kommunikation mit dem Leser, die eine neue Form literarischer Produktion erzeugt. In diesem Sinn bedeutet Lessings Übersetzung mehr als ein neuer Sprachstil. Sie schafft auch Fiktion, eine Vorstellungswelt auf dem Papier und im Kopf des Lesers, die von anderssprachigen Modellen emanzipiert und neu ist. Das Neue und Fiktive wird zum Originalen, der Kritiker und Übersetzer Lessing etabliert sich als Autor. Die Möglichkeit entsteht, das Original – etwa das Origi-nalstück – aus der Übersetzung zu schaffen. Hamilton vertieft diesen Ge danken nicht genretheoretisch, sondern kulturphilosophisch und kultur-politisch. Letztendlich, so folgert er, schaffe der sprachschöpferische Akt die Voraussetzungen zum Entstehen der Gemeinschaft, einen sensus communis. Damit etabliere Lessing deutsche kulturelle Identität im Akt des Überset-zens. Auch wenn sich die entsprechende Absicht Lessings meiner Meinung nach nicht eindeutig feststellen lässt, verdeutlicht Hamilton, wie Lessings

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ästhetische Innovation im Verlauf des literarhistorischen Prozesses zur ethischen Intervention mutieren konnte und letztendlich zum nationalen Auftrag wurde. Denn heute wird die »deutsche Denkungsart« des . Literaturbriefs national-patriotisch – um nicht zu sagen: nationalistisch – gelesen.

Katherine Arens plädiert für andere Akzente in der entstehenden Debatte um die Übersetzungsleistungen Lessings. Sie schlägt vor, deren Schwer-punkt von der ästhetischen Dimension – und dem sich immer wieder ein-schleichenden latenten Nationaldiskurs und der Beförderung nationaler Identitäten – zu verlagern und stattdessen den Übersetzer Lessing in einem größeren kulturellen Kontext zu sehen, nämlich dem Einfluss, den Überset-zungen und Übersetzer auf die Sprachentwicklung des Deutschen hatten. Dabei betrachtet Arens Sprachentwicklung als philosophisches Paradigma. Sie assoziiert keine national-kulturelle Intentionen, die Hamilton den Übersetzern in ihrer quasi freien Sprachsetzung unterstellt; noch weniger unterstreicht sie die literarischen Qualitäten der Sprache, die Oschmann anmahnt. Arens’ Lessing findet sich im mimetischen Diskurs befangen. In-novation, ein Schlüsselelement in Hamiltons Bild des modernen Überset-zers, entzieht sich ihrer Lesart. Vielmehr steht Übersetzung laut Arens in der Tradition des Empirismus; Übersetzung verhilft Sprache zu zunehmender Klarheit und Deutlichkeit. Arens schließt sich damit jener Forschungsrich-tung an, die Lessings Übersetzungen als praktische Umsetzungen seiner Theorie sprachlicher Transparenz einordnet.

Obwohl Innovation irrelevant für dieses Übersetzerbild ist, wertet auch Arens Lessings Übersetzungsphilosophie als Ausdruck von Modernität. Das Moderne ergibt sich für sie allerdings nicht aus Spracherneuerung, sondern daraus, dass der Übersetzer Vergangenes ins Gegenwärtige überträgt, Wis-sen transportiert und nutzbar macht. Kultur- und literaturhistorisch rele-vante Übersetzung besteht demnach in der Transposition von Konstellatio-nen. Es sei wichtig, die Ausgangsperiode und den Entstehungskontext des zu übersetzenden Werkes zu übertragen, das Verständnis der Ausgangs-sprache sei weniger relevant. Damit ignoriert Arens einerseits Schlüsselsätze Lessings aus den Literaturbriefen, in denen er die schlechten Sprach-kenntnisse der Übersetzer bemängelt, andererseits stellt sie Übersetzung als treibende Kraft der Literaturgeschichtsschreibung vor. Denn hinter den zu übertragenden Konstellationen steht ein Literaturbegriff als Übersetzungs-motivation, der nicht nur formal, genre-theoretisch oder wirkungsästhe-tisch greift, sondern sich in erster Linie historisch, als Prozess, entfaltet.

Beide Ansätze ergänzen sich aufgrund eines komplementären Verständ-nisses von Modernität: Hamilton definiert Modernität, indem er überset-zerbestimmte Erneuerung – sprich: Erfindung – als grundsätzlich moderne Funktion begreift, die eine latent ästhetisch-ethische Wirkungsabsicht über-haupt erst vorstellbar macht. Arens sieht die nicht-linguistische Überset-

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zung als Gradmesser der Modernität an, das heißt, sie ist an der Übertra-gung und Nutzbarmachung tradierter Ideen für die Gegenwart interessiert. Beider Verständnis von Modernität ähnelt zum einen dem reflexiven Moment des Kantschen Aufsatzes »Beantwortung der Frage: Was heißt Aufklärung?«, in dem sich das sprechende Subjekt seiner eigenen Abhängig-keit von Zeitlichkeit und Historizität, aber auch seiner eigenen Gegenwart – summa summarum: seiner Modernität – bewusst wird. Zum anderen wer-den damit linguistische Formalität und geschichtliche Modernität, nicht Nationalität, zum wichtigen Kriterium literarischer Kommunizierbarkeit; Übersetzung agiert als ein integraler, nicht marginaler Bestandteil literari-scher Produktion.

Die diesem Modernitätsverständnis anhaftende allgemeinliterarische – und letztlich vergleichende – Betrachtung der Übersetzung als kulturell-historisches Werk geht über eine schematische Übersetzungskritik hinaus, die sich auf linguistische Theorien stützt und die Fehler schlechter Überset-zungen durch ein Idealbild der guten Übersetzung bzw. des guten Überset-zers korrigiert. Dabei legen die Literaturbriefe zunächst solch einen korrigie-renden Impetus nahe, bestimmt doch Lessings Kritik an Übersetzern und ihren Arbeiten die ersten Briefe. Lessing bekrittelt den Überschuss an Über-setzungen (LM, Bd. , S. ), und er klagt über die finanziellen Motive der Übersetzer, ihre mangelnden Sprachkenntnisse und den gleichzeitigen Missbrauch des Übersetzens zum Sprachenlernen (S. ). Er hält die meisten Übersetzungen keiner konstruktiven Kritik würdig (S. ) und stellt fest, dass schlechte Übersetzer »nun schon den zweyten englischen Dichter ver-dorben« haben (S. ). Lessing kritisiert die Übersetzer; ihre Werke erlauben ihm, über ihre Fähigkeiten zu spekulieren und ihre Motivationen zu hinter-fragen. Er bringt prägnant auf den Punkt, was ihnen fehlt, für das Gelingen ihrer Arbeit aber unverzichtbar ist: »Am wenigsten aber sind sie vermögend, ihrem Originale nachzudenken«. (S. ) Lessing etabliert hier den Übersetzer ex negativo. Ein guter Übersetzer ist abhängig, treu und nachgeordnet. Al-lerdings ist er gebunden an die Wirkungsabsicht des Autors und des Textes, nicht nur an die inhaltlich-formale Vorlage. Denn »nachzudenken« heißt hier auch, den Ausgangstext zu lesen und zu interpretieren und dabei eine ähnlich reflexive Distanz aufzubringen wie der Autor, um die Integrität des Werkes bewahren zu können.

Dem setzt Lessing im . Brief die Vorstellung eines idealen Übersetzers entgegen, bei dessen Benennung er aber unscharf bleibt: Der »Verfasser« ist »Uebersetzer« ist »Schriftsteller« (LM, Bd. , S. ); schließlich »mußte sich der schöne Geist mit dem Philosophen in dem Übersetzer vereinigen« (S. ). Die sich herauskristallisierende Absicht, künstlerische Reife und Wirkung des Übersetzers lassen ihn zum Original werden, das dem Autor ebenbürtig ist. Damit verlagert sich in diesem Brief die wesentliche

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Bedeutung des Originaltextes. Lessing versteht Original nicht mehr als text-lich Anderes, das von inhaltlich-formaler Geschlossenheit, Stimmung und Resonanz geprägt ist und dem es in all diesen Aspekten »nachzudenken« galt. Kurz gesagt, das Original steht nicht länger für den Ursprungs- oder Ausgangstext. Stattdessen verlagert er sein Verständnis hin zum Ziel der Übertragung, der »Neuheit« des übersetzten Textes (S. ). Die wiederum verdankt sich dem Übersetzer und seiner Intervention, seinen »kleinen Ver-besserungen und Berichtigungen« (S. ). Ganz nebenbei arbeitet Lessing einen Vergleich europäischer Literaturen heraus, der sich in und durch Übersetzung ergibt.

In diesem Brief sind Spannungen verborgen, die, je nachdem, wie sie in der Folgezeit aufgelöst wurden, Methoden der Übersetzung und Schulen literaturwissenschaftlichen Denkens prägten: Sollte die Übersetzung auf linguistisch-formale oder inhaltliche, das heißt Wesens-Äquivalenz abzie-len? Die Fremdheit des Ausgangstextes bewahren oder mittels des Zieltextes eindeutschen? Lessing löst diese Spannungen nicht, genauso wie er keinen klaren Unterschied zwischen Original (dem Ausgangstext) und Überset-zung (dem Zieltext), dem Autor und dem Übersetzer macht. Während Übersetzungspraxis und -theorie im Verlaufe des . Jahrhunderts diesen Unterschied etablieren, hält Lessing beide Begriffe in der Schwebe. Indem Lessing Übersetzung nicht nur als Übertragung einer Einzelsprache in eine andere, also nicht nur linguistisch, sondern auch institutionell, kulturell und historisch versteht und entsprechende Kontexte berücksichtigt, lehnt er letztendlich die Geringschätzung der Übersetzung ab und entwirft stattdes-sen vielschichtige Begriffe des Originals und der Übersetzung, worin sich wiederum seine Modernität zeigt.

*

Lessings Übersetzungskonzept in der Hamburgischen Dramaturgie ist noch komplexer. Zunächst übersetzt er kein vollständiges Stück. Über set zungs-kritiken und Übersetzungen unterschiedlich langer Textpassagen dienen mehreren Funktionen, die zum Teil denen der Übersetzung in den Litera-turbriefen ähneln, zum Teil neue Sichtweisen auf die Dramaturgie eröffnen – vor allem mit Blick auf das Hamburger Theater, den allgemeinen Litera-turbegriff und die Dramentheorie. Indem ich mich auf diese Aspekte des Übersetzungsdiskurses konzentriere, ergänze ich einerseits die Studien zur Übersetzung von »Furcht« und »Mitleid« und der Rezeption der Aristoteli-schen Poetik, andererseits versuche ich, den Übersetzungsdiskurs von In-terpretationsproblemen zu unterscheiden, mit denen sich Lessing konfron-tiert sah. Schließlich schlage ich am Ende des Aufsatzes einen weiteren, figurativen Gebrauch des Übersetzungsbegriffs vor, der sich ablöst von

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linguistischer und kulturhistorischer Übertragung. Stattdessen markiert er metonymische Verschiebungen, die den Eindruck »unsystematischen« Schreibens in der Dramaturgie erzeugen, und soll weitere Arbeiten anregen.

Lessings Kommentare zur Übersetzung spiegeln Gegenstand und Inten-tion der Dramaturgie. Am Ende seiner Rezensionen zu Aufführungen und Schauspielern finden sich oftmals karge Kurzkommentare: »Die Ueberset-zung ist in Versen und vielleicht eine von den besten, die wir haben; sie ist wenigstens sehr fliessend und hat viele drollige Zeilen.« (LM, Bd. , S. ). Doch ebenso wie die Dramaturgie präskriptive Züge annimmt, sich auf die Analyse von Dramentexten konzentriert und die Aristotelische Poetik reinterpretiert, gleitet auch die Übersetzungskritik in den Bereich der Theorie über, nicht selten über einen Kommentar zum Talent des Überset-zers. So beschließt Lessing die Besprechung von Corneilles Rodogune:

Itzt nur noch ein Wort von der Uebersetzung […] eine ganz neue, hier verfertigte, die noch ungedruckt lieget; in gereimten Alexandrinern. Sie darf sich gegen die beste von dieser Art nicht schämen, und ist voller starken, glücklichen Stellen. Der Verfasser aber, weiß ich, hat zuviel Ein-sicht und Geschmack, als daß er sich so einer undankbaren Arbeit noch einmal unterziehen wollte. Corneillen gut zu übersetzen, muß man bes-sere Verse machen können, als er selbst. (LM, Bd. 9, S. 319)

Die Kritik gibt Einblick in den historischen Status des Übersetzens. Situativ und an die örtliche Aufführung gebunden, konkurrieren Neuübersetzun-gen mit weitverbreiteten und gedruckten Übersetzungen, bleiben selbst aber ungedruckt. Sie übertragen formale Eigenschaften des Ausgangstextes und werden gleichzeitig durch seine Mängel begrenzt. Um diese Grenzen durch die Übersetzung zu überwinden, braucht auch der Übersetzer des Dramas Qualitäten, die ihn zum Dichter – und damit zum Original – wer-den lassen.

Sobald Lessing konkrete Maßstäbe guter Übersetzungen setzt, geht er schematisch vor; nichts erinnert mehr an die beiläufig formulierten Gedan-ken, mit denen er Übersetzungen aufgeführter Stücke kommentiert. Auf Kriterien wie Sprach-, Inhalts- und Gefühlsäquivalenz bedacht, bewertet Lessing die Übersetzungsqualität durch ein Abgleichen mit dem Ausgangs-text. Er fordert eindeutige Übersetzungen, die sich durch hohe Effizienz und Umkehrbarkeit in Form, Inhalt und Konnotation auszeichnen, die er aber selten findet. Darin bleibt er dem Prinzip des empirischen Instrumen-talismus verpflichtet, das Arens in den Literaturbriefen nachgewiesen hat und das bis heute als allgemeines Übersetzungsprinzip fungiert. Rheto-risch artikuliert Lessing diese Forderungen durch Beispiele. Er übersetzt eine Passage, die er durch Verweise auf die Handlung und den französischen Ausgangstext an die Vorlage bindet: »Ich will ihrer genießen, ich will euch

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alle glücklich machen!« (LM, Bd. , S. ) Danach interpretiert er nach seinen Kriterien; dem unaufmerksamen Leser entgeht, ob Lessing von Aus-gangstext, Übersetzung oder beiden spricht. Denn was Lessing als Einheit von »Herz« und »Mund« in der Sprache des dramatischen Charakters bewertet, erstreckt sich auf die Übersetzung: »[E]r spricht, als ob er das nehmliche zweymal spräche, als ob beide Sätze wahre tautologische Sätze, vollkommen identische Sätze wären; ohne das geringste Verbindungswort.« Dann lässt er die zur Diskussion stehende Übersetzung – zumeist den Spiel-text – folgen, die er oft einer beißenden Kritik unterzieht; im hier zitierten Beispiel richtet sie sich gegen die Gottschedin: »Unerträglich ! Der Sinn ist vollkommen übergetragen, aber der Geist ist verflogen, ein Schwall von Worten hat ihn erstickt !« (S. ). Der Leser muss wählen, entweder die ideale Übersetzung aus dem misslungenen Versuch ableiten und diesen ver-bessern oder Lessings Version als neue, »korrekte« Übersetzung akzeptieren.

An anderer Stelle verfolgt Lessing eindeutig das Prinzip der Literatur-briefe, »dem Originale nachzudenken«. Der Übersetzer muss interpretieren, um in der Übersetzung zwischen Prosa und Vers navigieren zu können, um die rechte Balance und das Feingefühl der Sprache im Ausgangstext zu er-fassen und diese dann entsprechend zu übersetzen. Letzteres »erfodert etwas mehr als Genauigkeit […] etwas anders«, dazu gehört der Mut zu Hinzu-fügung und Weglassung:

Wenn nun der Übersetzer dieses [d. h. die Sprache des Verses vis-à-vis der Sprache der Prosa] nicht zu unterscheiden weiß; wenn er nicht Ge-schmack, nicht Mut genug hat, hier einen Nebenbegriff wegzulassen, da statt der Metapher den eigentlichen Ausdruck zu setzen, dort eine Ellipsis zu ergänzen oder anzubringen, so wird er uns alle Nachlässigkeiten des Originals überliefert und ihnen nichts als die Entschuldigung benommen haben, welche die Schwierigkeiten der Symmetrie und des Wohlklanges in der Grundsprache für sie machen. (LM, Bd. 9, S. 214 f.)

Lessing privilegiert hier, wie schon in den Literaturbriefen, Prosa als Form des Zieltextes. Er vertieft seine Empfehlungen im . Stück, wenn er DuBeloys Zelmire und die Aufführung in Hamburg bewertet (LM Bd. , S. ff.). Dabei rückt er ab vom »Geschmack«, den Kritiker zum Maßstab der Bewertung des Dramatischen gemacht hatten, aber auch vom »Mut« zur Entscheidungsfreiheit, den er selbst als Eigenschaft des guten Übersetzers nahelegt. Lessing verhandelt nicht ästhetisches Wissen oder kreative Frei-heit. Er erprobt vielmehr das Wirkungspotential einer spezifischen, lokalen Theateraufführung und ihr Verhältnis zur Alltagssprache. Seine Kritik be-ginnt mit einem Plädoyer für Prosa, die den Reim ersetzen soll, nimmt aber Bezug aufs Situative: »Aber wer wird nicht lieber eine körnichte, wohlklin-gende Prosa hören wollen als matte, geradebrechte Verse? Unter all unseren

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gereimten Übersetzungen werden kaum ein halbes Dutzend sein, die erträg-lich sind« (S. f.). Zwei Gründe nennt Lessing: erstens, den unglückli-chen Ausgangspunkt in Gestalt schlechter Verse im Französischen, die sich der Übertragung ins Deutsche doppelt sperren, formal wie sprachnatürlich. Der Verstext, so Lessing, wäre nicht sprechbar und damit kaum spielbar. Zweitens verweist er auf das Wesen der individuellen Sprachen und kontras-tiert formale Eigenschaften des Französischen mit denen des Deutschen. Doch er lenkt ein, beharrt nicht auf der starren Form einer Sprache, sondern auf ihrem kreativen Potential. Lessing wendet sich der Aufführung zu, denn die Empfehlung der Prosa orientiert sich ausdrücklich an der Bühne. Die Aufführungssprache muss sich einerseits über den Alltag erhe-ben, andererseits aber doch dynamisch, lebendig, eben situativ-flexibel sein. Zwar könne die Übertragung eines Dramentextes in Prosa leicht verflachen, nichts wirke aber so gestellt wie das Gekünstelte und die unnötige Drama-tisierung der Übersetzung durch formale Übertreibung: »Der Ausdruck wird sich höchstens über die alltägliche Sprache nicht weiter erheben, als sich die theatralische Deklamation über den gewöhnlichen Ton der gesell-schaftlichen Unterhaltungen erheben soll«. (LM, Bd. , S. ) Überset-zungen müssen Genrekonventionen beachten, vor allem aber müssen sie, um auf der Bühne erfolgreich zu sein, das Wesen der natürlich gewachsenen Alltagssprache absorbieren.

Daraus lässt sich Lessings Verständnis des Originalstücks nuanciert ablei-ten. Er erweitert den Gebrauch des Wortes »Original« und verwendet es nicht mehr nur für ein ursprünglich auf Deutsch verfasstes Werk, wie das . Stück der Dramaturgie suggeriert, und nicht nur für eine fremdsprachige Vorlage, den Ausgangstext einer Übersetzung. »Original« bedeutet auch mehr als die Neuheit der Übersetzung (wie in den Literaturbriefen). Es steht hier für die Literalisierung eines diskursiven Momentes bzw. steht – in der Welt des Theaters – für die Aufführung eines Schauspiels, die Möglich-keiten und die Grenzen seiner Verschriftlichung. In dieser Hinsicht wird die besondere Rolle deutlich, die Übersetzung in der Lessingschen Dramaturgie spielt. Wenn fremdsprachige Dramen ins Deutsche übertragen werden, geht das mit einer doppelten sprachlichen Übersetzungsleistung einher: der linguistischen Übertragung, aus der wiederum die Bühne eine neue Art lebendige mündliche Sprache schafft. Lessing fordert eine sprechbare Über-setzung, wenn er sagt, dass sie »die Deklamation […] erleichtern« soll (S. ). Das Theatralische und Performative – das immer auch eine Art Fiktion, etwas Neues und Momenthaft-Unwiederholbares enthält – wird durch die Aufführung realisiert. Die Sprache des Theaters fungiert als Sub-strat des Fiktiven, und »Original« bezieht sich zunächst auf das gespielte Stück, nicht den gelesenen Text. Das Originalstück bleibt somit situativ oder lokal bedingt.

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In dieser Forderung nach harmonisierender Prosa schwingen die Merk-male des »Verständlichen und Schönen« mit, die von der Übersetzungskri-tik des . Jahrhunderts immer wieder als wünschenswert angemahnt wur-den. Vereinbarkeit mit der Alltagssprache und ihr Widerhall sind es auch, die das Originalstück dauerhaft übertragbar machen. Denn literaturfähig und gemeinschaftsstiftend wird die Fiktion der Aufführung erst in einem Text, der die emotionale Zirkulation des Theatralischen (sprich: die Verbin-dung zwischen Publikum und Bühne während der Aufführung) verschrift-lichen und so bewahren kann. Erst dadurch verlässt das Stück seine lokale Gebundenheit und wird zum dramatischen Text, zu einem öffentlich aner-kannten und etablierten Genre.

Christopher Wild hat auf das Paradoxon dieses Literalisierungsprozesses in seinem Buch zur Antitheatralität des Theaters hingewiesen, in dem er zeigt, dass Theater geschichtlich nur nicht-theatralisch als Text – das heißt, literarisiert und medialisiert – rezipiert werden kann. So gesehen ist die im Konzept des Originalstücks gebündelte emotionale Zirkulation des Theat-ralischen eine im Zuge der Historisierung und Literaturgeschichtsschrei-bung gefühlte, tatsächlich aber in den Text rückprojizierte Funktion des Theaters. Lessing steht am Anfang dieser Funktionalisierung. Er initiiert sie mit der Hamburgischen Dramaturgie, indem er die intendierte, rezeptiv ge-stützte Kritik – die Rezensionen der gespielten Stücke – in die richtungwei-sende Dramentheorie übersetzt. Lessing wollte Theater schaffen, er schuf Sprache (auch durch Übersetzung) und historisierte Genres und Literatur auf eine Weise, die modern ist und die Voraussetzungen für nationale und vergleichende Literaturgeschichtsschreibung schuf.

Einen ersten Schritt in diese Richtung unternimmt Lessing mit der Lite-rarisierung von Prolog und Epilog in der Dramaturgie. In einer weiteren Facette des Übersetzungsdiskurses zeigt sich, wie Lessing mit dem Nationa-len liebäugelt. Nicht nur mit seinen Vergleichen von Übersetzungen und Übersetzermotivationen in verschiedenen Sprachen, sondern auch mit sei-ner Interpretation des zur Eröffnung der Hamburger Bühne gesprochenen Prologs und Epilogs präzisiert Lessing die Wechselwirkungen von Original-stück und Übersetzung, nationalem und allgemeinem Literaturbegriff.

Im . Stück der Dramaturgie veröffentlicht Lessing den Prolog und Epi-log des »ersten Abends«. Er will die Monologe als Text aufbewahren und für sich selbst sprechen lassen, denn »[s]ie bedürfen keines Commentars« (LM, Bd. , S. ). Dabei verorten Prolog und Epilog in Hamburg (wie auch anderswo) das Theater. Sie verweisen auf Aufführungsbedingungen, bewah-ren aber auch Spuren der Aufführungssituation, des emotional Theatra-lischen. Indem sie die Aufführung lokalisieren und so an Hamburg binden, hinterfragen sie implizit die Übertragbarkeit auf den gesamten deutschen Sprachraum über die Stadt hinaus. Lokalisierung macht nicht nur Über-

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setzungen verständlich am Aufführungsort, sondern benennt immer auch ein potentielles kulturelles Übersetzungsproblem. Erklärtermaßen legen aber die in der Dramaturgie veröffentlichten Texte die Gleichsetzung von aufgeführtem, »lokalem« Stück und nationalliterarischer Relevanz nahe, indem der Prolog Hamburg, Bühnentradition und beabsichtigte Wirkung im gesamten deutschen Sprachraum zusammenbringt: »Und denkt, o denkt daran, ganz Deutschland sieht auf euch!« (S. ) Lessing selbst verstärkt diesen Eindruck, wenn er im . Stück Prolog und Epilog wirkungsästhe-tisch theoretisiert, damit rhetorisch von der Gebundenheit an den Ort Hamburg ablöst und Schauspiel und dramatischen Text gleichsetzt.

Betrachtet man diese Theoriebildung aber im Kontext des englischen Theaters (und der in Hamburg häufig anzutreffenden Übersetzungen aus dem Englischen), ergibt sich ein differenzierteres Bild. Lessing definiert die Genres in Anlehnung an die Engländer, bei denen Prolog und Epilog der geographischen Verortung dienen, dem Relevant-Machen des Sujets für Zeit und Ort der Aufführung (»Art von Nutzanwendung«, S. ). Damit erinnert er an die in Prolog und Epilog deutschsprachiger Stücke häufigen Anspielungen auf linguistische Übersetzungen, den Import von Stücken und die Zirkulation von Dramen über Sprachgrenzen hinweg, aber auch an die dem englischen Theater eigene, sentimentale Verortung nationaler Interessen . Tatsächlich werden Übersetzungen aus dem Englischen lokali-siert, das heißt, neben der linguistischen Übertragung verständlich gemacht für den Erfahrungshorizont des Hamburger Theaters, sowohl vor als auch nach Lessings Zeit. Sie verlieren dadurch ihre Verankerung im englischen Kulturkontext. In der Dramaturgie möchte Lessing die Verortungsstrategien aus dem engen Wirkungsbereichs Hamburgs lockern und überall in deut-schen Landen verbreiten. Mittels der Prologe und Epiloge werden Schau-spiele zu deutschen »Originalstücken«: »Wenn ich daher wünschte, daß auch bei uns neue Originalstücke nicht ganz ohne Einführung und Emp-fehlung vor das Publikum gebracht würden, so versteht es sich von selbst, daß bei dem Trauerspiele der Ton des Epilogs unserm deutschen Ernste angemessener sein müßte«. (S. ) Das Nationale wird hier zwar verbal eingefordert. Aber was als deutsches Theater posiert, hatte vorerst nur lokale Präsenz in Hamburg – und Wurzeln in der anderen, nationalliterarisch be-reits etablierten Tradition Englands – und musste übersetzt werden.

Doch kann der Übersetzer tatsächlich das Nationale schaffen, das sich dem Autor entzieht? Hier, so scheint es, entgleitet Lessing sein Text. Zwar setzt er seine Vorstellungen von einer knappen und effizienten, fließenden und gut lesbaren deutschen Übersetzung um, indem er Übersetzungen um-fangreicher Passagen des Grafen von Essex mit Hilfe seiner eigenen Überset-zungen, Korrekturen und Interpretationen vergleicht. Alles in allem äußert sich Lessing aber nicht eindeutig, er nähert sich einer Antwort bestenfalls

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an, verschiebt sie aber teilweise aus dem Bereich des Literarischen. Letztlich umgeht Lessing die Frage des Nationalen, insofern es mehr bedeutet als eine Spracheinheit bzw. nur eine Einzelsprache: Er kann seinen Essex nicht au-ßerhalb der Dramaturgie, das heißt literarisierend, verorten. So bleibt der Text »nur« Übersetzungsbeispiel und -vergleich. Doch Lessing stellt eine disziplinäre Vielfalt vor, eine vergleichende Literatur- und Kulturwissen-schaft, die von verschiedenen Zugängen geprägt ist. Ihre Konturen mani-festieren sich in Übersetzungen. Diese »neue Komparatistik« ist weniger von einzel- bzw. nationalsprachlich fundierten Texten geprägt als von den Fähigkeiten der Übersetzer.

Diese Vorstellung zeigt sich im . Stück der Dramaturgie, in dem Les-sing das Merope-Drama des Italieners Maffei mit dem Voltaires vergleicht. Hier entwickelt Lessing ein Profil des übersetzenden Dramatikers über den Gedanken der Arbeit, das heißt des handwerklichen Könnens und der pro-fessionalisierten Expertise. Verweise auf das Geschick finden sich verstreut in der gesamten Dramaturgie. Durch Lessings Beschreibungen von begab-ten »Versificateuren« wird das Handwerkliche zum Hauptmerkmal des neuen, spezialisierten Übersetzers, der sich vom Autor absetzt. Die zweite Komponente des Dramatikers fällt allerdings auf. Maffeis Konzepte der Dichtung, Übersetzung bzw. Neubearbeitung seien, so Lessing, gleicherma-ßen von seiner Ausbildung und seiner Methode als Altphilologe bestimmt. Die Kombination von philologischer Präzision, gelehrter Intention und Mühelosigkeit überschatte Maffeis Potential als Künstler: »Was indeß ein Gelehrter, von gutem klassischen Geschmacke, der so etwas mehr für eine Erholung als für eine Arbeit ansieht, die seiner würdig wäre, leisten kann, das leistete auch er« (LM, Bd. , S. ). Sprachliche Exaktheit durch Über-setzungsäquivalenz und das Wesen der vergangenen Epoche prägten sein Werk; er übertrage Form, Ausgangsperiode und Entstehungskontext – und schaffe Geschichte aus seinem Fachwissen heraus. Lessing bewertet Maffeis Übersetzung als Form seiner spezifischen Zunft: »Seine Anlage ist gesuchter und ausgedrechselter, als glücklich; seine Charaktere sind mehr nach den Zergliederungen des Moralisten, oder nach bekannten Vorbildern in Büchern, als nach dem Leben geschildert; sein Ausdruck zeugt von mehr Phantasie, als Gefühl; der Litterator und der Versificateur läßt sich überall spüren, aber nur selten das Genie und der Dichter« (S. ). Maffei schei-tert als Dramatiker, aber er etabliert sich als Historiker. Er scheitert am angemessenen Sprachgebrauch, aber er ist modern. Vor allem aber kann Maffei Konstellationen der Vergangenheit ins Jetzt übertragen, er ist Schriftsteller, der Literaturgeschichte erzählen kann.

Begnügt Lessing sich hier mit dem Kriterium literarischer Produktion und Kommunizierbarkeit, das Katherine Arens als Wesen der Lessingschen Übersetzungstheorie anhand der Literaturbriefe dargestellt hat? Gibt Lessing

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hier, mit dem Eingeständnis, dass es nur wenige Genies und Dichter gibt, auch das Prinzip der Sprachinnovation und das vermeintliche Ziel der Dra-maturgie auf, den eingangs ausgesprochenen Wunsch nach »dem Original«? Ja und nein. Lessing umgeht meines Erachtens dieses Problem: Lessing nutzt Übersetzung gezielt, wenn er seine allgemeine Dramentheorie ent-wickelt, und er lehnt jene politische Inanspruchnahme von Theater und Drama ab, die vom sprachlich-ästhetischen Moment abstrahiert. Und Ori-ginalität verschiebt sich in einen Bereich, der über die Dramaturgie hinaus-geht, und der von Lessing lediglich angeregt wird.

Lessing kontrastiert im .-. Stück Aristoteles-Übersetzungen in meh-reren Sprachen, indem er die Äquivalenz der Zieltexte anhand von Bedeu-tung und Intention des Ursprungstexts vergleicht (LM, Bd. , S. -). Sie ergänzen die Übersetzung und Interpretation von »Mitleid« und »Furcht« (.-. Stück). Lessing modifiziert den Übersetzungsdiskurs mit weitreichenden Konsequenzen. Es geht ihm nicht mehr um die Sprache der Zieltexte schlechthin; vielmehr interessiert er sich für die Wirkungsmecha-nismen des Dramas, insbesondere der Tragödie und Komödie. Er versucht – mittels Übersetzung – dramatische Essenz aufzudecken, die jenseits einer Einzelsprache existieren kann. Übersetzung bleibt textgebunden, andere Übertragungs-Experimente verfolgt Lessing nicht weiter. Als Hilfsmittel dient das Übersetzen also dem Interpretieren Aristotelischer Theorie, und Lessing bewegt sich vom empirischen Instrumentalismus – in dem Überset-zungen eindeutig sind – hin zur tendenziell hermeneutischen Deutung, bei der sich im Akt des Übersetzens das Verständnis der Tragödientheorie (und damit der Literaturtheorie) und der vergleichenden Literaturwissenschaft etabliert.

Das wiederum hat Auswirkungen auf die Funktionalisierbarkeit des Dramas. Während Übersetzung Nation im Sinne einer Sprachgemeinschaft befördert und das örtliche Theaterpublikum erden kann, verweigert sich die Hamburgische Dramaturgie ansatzweise einer national-politischen Wir-kungspoetik und Geschmacksästhetik. So schreibt Lessing im . Stück: »Die Absicht der Tragödie ist weit philosophischer als die Absicht der Ge-schichte; und es heißt sie von ihrer wahren Würde herabsetzen, wenn man […] sie gar den Nationalstolz zu nähren mißbraucht« (LM, Bd. , S. ). Gleichzeitig kann Genretheorie nicht Theaterpraxis regulieren bzw. nicht präskriptiv in Praxis umgesetzt werden, weil ein Aspekt des verorteten Diskurses nicht durch Regeln steuerbar ist: das Publikum. So gesehen, resümiert Lessing im . Stück, »bekennen [nicht nur] die Deutschen, dass [sie] noch kein Theater haben«, sondern »[auch die Franzosen haben] noch kein Theater«(LM, Bd. , S. f.).

Nationalliteratur liegt anderswo und zeigt sich im durch Übersetzung sichtbaren Literaturvergleich und als historische Erscheinungsform der

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Literaturgeschichte . Sie hängt damit nicht in erster Linie von den Einzel-sprachen ab. Unterschiedliche Übersetzerintentionen fördern sie, signali-sieren dabei aber mehr als sprachspezifische Besonderheiten. Sie verweisen auf historische Kontexte und interdisziplinäre Konstellationen. Je mehr das »Originalstück« – das latent Nationale – Lessing entgleitet, umso deutlicher manifestiert sich Übersetzung als Wesensform von Literatur.

Mit Bezug auf Übersetzungstheorie und -praxis der Dramaturgie gilt des-halb, was Profitlich mit Blick auf den das . Stück abschließenden Absatz und Lessings Scheitern an Hurd konstatiert. So wie Lessing die Auslegung Hurds aufgab, unzufrieden mit ihren Widersprüchen, aber nicht in der Lage, dessen Theorien für seine [Lessings] Aristoteles-Auslegung zu nut-zen, muss er sich auch bezüglich des Übersetzens umorientieren. Inan-spruchnahme und Zurückweisung der Übersetzung – ihre ausführliche Diskussion und Versuche der Theoretisierung – können die Absichten der Hamburgischen Dramaturgie nicht vollständig erklären und dementspre-chend auch nicht einlösen. Obwohl Lessing – in übertragener Hinsicht – Übersetzungsabsichten verfolgt, indem er die Praxis des Hamburger Natio-naltheaters für Leser verständlich mitteilen will, scheitert er am Gebot der Deutlichkeit. Und selbst wenn man Übersetzung analog zu ihrer Funktion in der Wirkungspoetik als Hilfsmittel sehen möchte, lösen sich die inneren Widersprüche des Textes nicht auf. Übersetzung kann Lessings »unsystema-tisches« Schreiben in der Dramaturgie nicht ordnen.

Stattdessen weist der Übersetzungsdiskurs in mehrfacher Hinsicht über die Dramaturgie hinaus. Übersetzung etabliert Lessings Modernität, indem sie die Unmöglichkeit des systematischen Schreibens hervortreten lässt. Les-sing erkennt diese Unmöglichkeit; er ist sich auch des Gefangenseins im Moment, des Dazwischenseins, bewusst. Hamburg ist mehr als eine biogra-phische Zwischenstation. Weiterhin geht Lessing über den im . Jahr-hundert dominierenden philosophischen Übersetzungsbegriff hinaus, wo-nach Übersetzung in erster Linie formal und linguistisch gesehen und der Zieltext in Übereinstimmung zum Ausgangstext gebracht wurde. Dagegen impliziert Lessings Begriff die Übertragung von Kontexten und Konstellati-onen; seine Übersetzungstheoreme verwischen die Grenzen zwischen Aus-gangs- und Zieltexten (und letztlich auch die zwischen verschiedenen Dis-ziplinen und Diskursen). In diesem Sinne schafft Lessing das Original aus der Übersetzung. Er verweist damit auf die historische Konstruiertheit des Gegensatzes von Original (im Sinne des Ursprungstextes) und Übersetzung (im Sinne des abhängig Nachgeordneten) und etabliert die Hamburgische Dramaturgie, avant la lettre, als Beispiel einer »neuen Komparatistik«.

In diesem Sinne regt die Dramaturgie auch an, »Übersetzung« figurativ zu benutzen, als Lesart des Werkes oder Denkfigur, durch die sich weitere In-terpretationen der Hamburger Dramaturgie erschließen, und die hier nur

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angedeutet werden können. Vielleicht ist es an der Zeit, das »Original-stück«, dessen Wesen zu beschreiben erklärtermaßen das Ziel der Ham-burgischen Dramaturgie ist, als leere Mitte des Lessingschen Textes anzu-erkennen: Diese Mitte kann nur durch Übersetzungen in die Sprach- und Begriffsinstrumentarien anderer Bereiche artikuliert werden; deshalb greift Lessing zurück auf Kritik der Regie und Schauspieler, auf Genretheorie, auf Beispiele aus Dramenliteratur und Theaterpraxis anderer Länder. So gese-hen, kann man auch Lessings Driften ins Dramentheoretische als Überset-zung lesen. Gleichzeitig gilt es, das Hamburger Nationaltheater, »die Enter-prise«, global zu betrachten. Es war ohne die importierten, übersetzten und bearbeiteten Stücke nicht vorstellbar; sein Publikum orientierte sich – be-dingt durch die Internationalität der Stadt – durchaus kosmopolitisch. All das geriet natürlich in Lessings Blickfeld und sickerte so in die Hamburgi-sche Dramaturgie, nicht nur als Realität des Spielplans, sondern auch als kulturelles Umfeld. Diese Überschneidung von Internationalem und Loka-lem bedarf einer Neubewertung, die sich dann wiederum in die von Fick angeregte grundlegende »neuere Untersuchung der Hamburgischen Drama-turgie« eintakten muss. Schließlich ist die Dramaturgie gerade eben auch dem verpflichtet, was von nationalen Literaturgeschichten nur unterschwel-lig wahrgenommen wird: einer Sprache, die jenseits von Einsprachigkeit und nationaler Intention existiert und deren Zirkulation und »Literatur-fähigkeit« sich aus und in Übersetzungen bestätigt.

Bowdoin College

Lessings Werke werden zitiert nach Gotthold Ephraim Lessing, Sämtliche Schrif-ten, hg. von Karl Lachmann, . aufs neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker, Stuttgart -. Die Angabe erfolgt im Text als LM, gefolgt von Band- und Seitenzahl, bei aufeinanderfolgenden Zitaten aus dem gleichen Band nur durch Seitenzahl.

Siehe dazu unter anderem Peter Höyng, Lessing’s Drama Theory. Discursive Writ-ings on Drama, Performance, and Theater, in: Companion to the Works of Gotthold Ephraim Lessing, hg. von Barbara Fischer und Thomas C. Fox, Rochester , S. -.

Vgl. dazu Bethany Wiggin, Novel Translations. The European Novel and the Ger-man Book, -, Ithaca , S. ; Judith Woodsworth, History of Transla-tion, in: Routledge Encyclopedia of Translation Studies, hg. von Mona Baker, New York , S. -, hier S. .

Diese Unterscheidung impliziert ein Statusgefälle zwischen Autor und Übersetzer. Vgl. Susan Bernofsky, Foreign Words. Translator-Authors in the Age of Goethe, Det-roit , S. f.

Höyng (Anm. ), S. . Zwar bestätigt ein kursorisches Lesen von Meyers Bibliographien diesen Mangel für die Mitte des . Jahrhunderts, siehe dazu: Reinhart Meyer [Hg.], Bibliographia dramatica et dramaticorum, Tübingen -.

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Robertson konstatiert für die zweite Spielzeit einen Anstieg an Originalstücken, siehe dazu John Robertson, Lessing’s Dramatic Theory, Cambridge, S. ; zit. nach: Monika Fick, Lessing Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, . Aufl., Stutt-gart , S. . Andererseits hat Unger diesen Mangel an Originalstücken als Klischee – und zwar für die gesamte deutsche Theaterlandschaft – entlarvt. Vgl. dazu Thorsten Unger, Das Klischee vom Mangel an deutschen Stücken. Ein Dis-kussionsbeitrag zur Internationalität des Hof- und Nationaltheaters, in: Theater-institution und Kulturtransfer II. Fremdkulturelles Repertoire am Gothaer Hoftheater und an anderen Bühnen (Forum Modernes Theater. Schriftenreihe ), hg. von Anke Detken, Thorsten Unger, Brigitte Schultze u. Horst Turk, Tübingen , S. -.

Vgl. dazu Emily Apter, The Translation Zone. A New Comparative Literature, Princeton . Apter schlägt vor, Weltliteratur (und ihre institutionelle Veranke-rung in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft) neu zu durchden-ken und zwar von der Übersetzung her, dem einzig konstanten Zentrum literari-scher Zirkulation und Existenz im globalen Zeitalter.

Hugh Nisbet, Lessing. Eine Biographie, München , S. f. Demnach wur-den meistens Übersetzungen gespielt, wobei wiederum der größte Teil aus dem Französischen kam – trotz der ausgesprochenen »Anglophilie« Lessings und der starken Präsenz des Englischen in Hamburg. Zu letzterem vgl. u. a. Jutta Meise, Lessings Anglophilie, New York .

Höyng (Anm. ), S. . Martinson versucht demgegenüber jene Aspekte, die den Leser in den Text bringen, stärker in die Diskussion einzubeziehen und in Abgrenzung von bzw. Verbindung mit polemischem Stil herauszukristallisieren. Vgl. dazu Steven Martinson, Lessing and the European Enlightenment, in: Fischer und Fox (Anm. ), S. -, hier S. .

Ulrich Profitlich, Fermenta cognitionis. Zum . Stück der Hamburgischen Dramaturgie, in: Lessing Yearbook / Jahrbuch XXXVIII /, S. -, hier S. .

Bernofsky (Anm. ), S. ; Woodsworth (Anm. ), S. -. Hier kann ich nur auf einige Beispiele verweisen. Die umfassendste Darstellung

zur deutschen Praxis und Theorie der Übersetzung um bietet Bernofsky (Anm. ). Exemplarische Studien zur Entstehung eines national- und weltliterari-schen Genres aus dem Prozess der Übersetzung sind Wiggin (Anm. ) und Mary Helen McMurran, The Spread of Novels, Princeton . Vgl. auch Birgit Tautz, Cutting, Pasting, Fabricating. Eighteenth-Century German Travel Texts and their Translators between Legitimacy and Community, in: German Quarterly . (), S. -.

Vgl. dazu Fick (Anm. ), S. . Zur Herausbildung des Übersetzens als Dienstleistung vgl. Bernofsky, The Rise of

Service Translation, in: Bernofsky (Anm. ), S. -. Fick (Anm. ), S. . Folgende Einschätzung gilt noch immer, vor allem mit Bezug auf die Hambur-

gische Dramaturgie und Lessings Briefe: »Die Hamburgische Dramaturgie bietet überall eine Fülle von (sicher flüchtig hingeworfenen, aber doch saftvoll frisch erfühlten) Übertragungen [ ] überall spürt man die Klaue des Löwen, spürt man den Sprachstraffer, den wahren Verdichter, den Kenner der Wirkung am Werk –

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Eine zusammenhängende Wirkung dieser ›steigernden Übersetzungskunst‹ ist noch nicht erschienen.« (Vgl. den Brief des Bruders Karl vom . Februar .) Zitiert nach: Karl Balser, Kommentar, in: Lessings Werke in fünf Bänden. Vierter Band. Hamburgische Dramaturgie, Berlin , S. . Eine willkommene Ausnahme bildet Helmut Berthold (Hg.), »ihrem Originale nachzudenken«. Zu Lessings Übersetzungen, Tübingen .

Fick (Anm. ), S. . Seit liegt die Edition in digitaler Form vor, als Gemeinschaftsprojekt der

Lessing-Akademie und der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. Zugriff über Portal der HAB oder Permalink http://diglib.hab.de/edoc/ed/start.html.

Fick (Anm. ), S. . Berthold (Anm. ), S. IX, Hervorhebung durch B. T. Berthold, Übersetzung Riccobonis, Auszug aus Sainte-Albine – Aspekte des Illu-

sionsbegriffs, in: Berthold (Anm. ), S. -. Bernofsky (Anm. ), S. . Dirk Oschmann, Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller

und Kleist, München , S. . John Hamilton, Modernity, Translation and Poetic Prose in Lessing’s »Briefe, die

Neuste Literatur betreffend«, in: Lessing Yearbook XXXVI, /, S. -; Katherine Arens, Translators who are not Traitors. Herder’s and Lessing’s Enlight-enments, in: Herder-Jahrbuch / Herder-Yearbook, Stuttgart , S. -.

Hamilton (Anm. ), S. . Hamilton (Anm. ), S. . Obwohl er Breitinger als Schweizer identifiziert, macht Hamilton nirgendwo

explizit deutlich, dass die Sprachgemeinschaft von der politischen Gemeinschaft abzugrenzen ist. Vgl. dazu Hamilton (Anm. ), S. .

Hamilton (Anm. ), S. . Vgl. dazu Jan Philipp Reemtsma, Lessing in Hamburg, -, München ,

S. , und Martinson (Anm. ). Das bildet m. E. eine scheinbar kleine, aber wichtige Akzentverlagerung vom

Übersetzer – und den Bedingungen, unter denen er Genie bzw. Original werden kann – hin zum Resultat seiner Arbeit. Zu einer überzeugenden Darstellung des idealisierten Übersetzers in den Literaturbriefen siehe Fick (Anm. ), S. . Vgl. auch Anm. .

Einen knappen Überblick zur sich inzwischen ausdifferenzierenden Forschungs-lage gibt Höyng (Anm. ), S. -.

Arens ordnet ihre Gesamtargumentation zu Beginn des Aufsatzes in ein übergrei-fendes Anliegen ein, nämlich auf lokale Erscheinungsformen von Aufklärung achten zu wollen. Allerdings verfolgt sie diesen Ansatz nicht. Vgl. dazu Arens (Anm. ), S. -. Als Anregung werde ich ihn in der Diskussion der Hambur-gischen Dramaturgie aufgreifen, allerdings nicht mit dem Ziel, Orte der Aufklä-rung zu diskutieren.

Lawrence Venuti, Translation, Empiricism, Ethics, in: Profession , S. -, hier S. .

Apter hat ihre Theorie der neuen Komparatistik inzwischen stärker historisch ver-ortet. Ein besonders prägnantes Beispiel dafür – mit wichtigen Implikationen für Studien zum . Jahrhundert – ist das Wörterbuch des philosophisch Unüber-

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setzbaren. Vgl. dazu Emily Apter, Philosophical Translation and Untranslatability: Translation as Critical Pedagogy, in: Profession , S. -. In diesem Kontext illustrieren die Literaturbriefe die Rolle älterer literarischer Texte und ihre Rele-vanz für einen literaturtheoretischen Ansatz, der nationale Literaturgeschichts-schreibung im Kontext einer neuen Weltliteratur verankert und somit auch die Übersetzung grundsätzlich neu positioniert.

Bündig dargelegt von Fick (Anm. ), S. . Fick (Anm. ), S. : »Indem Lessing solchermaßen ›Geist‹ und ›Buchstabe‹

gegeneinander ausspielt, geht er deutlich über die rationalistische Sprach- und Übersetzungskonzeption z. B. Gottscheds hinaus«.

Vgl. dazu Fick (Anm. ), S. -. Vgl. dazu Profitlich (Anm. ). Venuti (Anm. ), S. . Walter Fränzel, Geschichte des Übersetzens im . Jahrhundert, Leipzig , S. .

Zit. nach Bernofsky (Anm. ), S. . Ich entwickle diesen Ansatz in Anlehnung an Gotthart Lerchner, Mustermischung

und Sprachausgleich im trivialliterarischen Diskurs des . Jahrhunderts, in: Zeit-schrift für germanistische Linguistik . (), S. -, hier S. -.

Christopher Wild, Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters, Freiburg . Lokalisierung ist ein gängiges Verfahren der Übersetzungspraxis und bezieht sich,

grob gesagt, auf die Berücksichtigung kultureller, sozio-historischer und situativer Komponenten in der Übersetzung. Es wird selten im Kontext des literarischen Übersetzens thematisiert, wohl auch, weil man annimmt, das Literatur universal kommunizierbar und ihr Wesen somit verständlich ist.

Birgit Tautz, Traveling Ideas of (the British) Empire: Translating the Caribbean World for the Eighteenth-Century German Stage, in: Publications of the English Goethe Society . (), S. -.

Er suggeriert zwar zuweilen eine Verschiebung von Übersetzungsregeln in die dramatische Kunst, wie etwa wenn er das Verhältnis von Regelbefolgung und Erfindung verschreiben will (LM, Bd. , S. f.). Hier wird Übersetzung zur Metapher dramatischen Gebarens; außerdem stellt Lessing dadurch im poeti-schen Bild die Spannung zwischen Original und Übersetzung dar.

Profitlich (Anm. ), S. . Neben der Fülle des Materials, das es zu verschriftlichen galt, war sich Lessing der

schmalen Gratwanderung zwischen Theaterpraxis und Dramentheorie bewusst. In seinen Briefen hadert er mit der Entscheidung, nach Hamburg zu gehen, und nimmt nur aus finanziellen Gründen die Position am Nationaltheater an. Die ironische Parallele zum Status des Übersetzers ist nicht nur nicht zu übersehen, sie wird verdoppelt durch die vermittelnde Rolle, die dem Dramaturgen lokal, im Raum des Theaters, angetragen war.

Fick (Anm. ), S. .

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