das gespielte wort: ein exemplarischer vergleich der medien literatur und videospiel anhand der...
TRANSCRIPT
(755393) Christian Bebek
27.05.2014
Verfasser: Christian Bebek
DAS GESPIELTE WORT
Ein exemplarischer Vergleich der Medien
Literatur und Videospiel
anhand der Adaption von
Lewis Carroll's: Alice im Wunderland
unter Herausstellung didaktischer Perspektiven
(755393) Christian Bebek
"Im Wunderland herrschen neue Gesetze, Alice.
Unrecht aller Orten. Wir sind hier in Gefahr.
Sei... auf der Hut!"
Grinsekatze – Alice: Madness Returns
(755393) Christian Bebek
INHALTSVERZEICHNIS
1 Einleitung...........................................................................................................S.4
2 Kurzvorstellung von Buch und Adaption..........................................................S.5
3 Didaktische Reflexion – Teil I – Sachanalyse...................................................S.6
3.1 Vergleich von Buch und Spiel.............................................................S.6
3.1.1 Handlung und Figuren..........................................................S.6
3.1.2 Narrationsspezifische Verfahren...........................................S.7
3.1.3 Medienspezifika...................................................................S.9
3.1.4 Deutungsversuch der Adaption...........................................S.11
3.2 Vergleich von Textpassage und Spielabschnitt.................................S.14
3.2.1 "Hinab in das Kaninchenloch" –
Zur Rolle des Wunderlandes.............................................S.14
3.2.2 Deutung der unterschiedlichen Umsetzung.......................S.16
4 Didaktische Reflexion – Teil II – Zielstellungen.............................................S.17
4.1 Zielreflexion – Chancen und Möglichkeiten im Unterricht..............S.17
4.2 Wissenserwerb – Literatur und Spiel im Vergleich...........................S.18
4.3 Beispielaufgaben für den Unterricht.................................................S.19
4.4 Ziele für die Aufgaben......................................................................S.19
5 Fazit.................................................................................................................S.21
Anhang................................................................................................................S.23
Quellenverzeichnis..............................................................................................S.26
Eigenständigkeitserklärung.................................................................................S.27
(755393) Christian Bebek
1 Einleitung
In der schulunterrichtlichen Praxis des Deutsch- und Literaturunterrichts wird das
Medium Film vermehrt für vergleichende Analysen herangezogen. Dies erscheint
sinnvoll, da das audiovisuelle Medium heute populären Charakter besitzt und in
sofern die Alltagswelt der zu unterrichtenden Schülerinnen und Schüler nicht
unwesentlich prägt. Im Zuge dessen darf nicht vernachlässigt werden, dass sich in
den vergangenen Jahrzehnten mit dem wesentlich jüngeren Medium Videospiel
ein weiteres erzählendes Medien-Genre etablieren konnte, das neben dem Film
ebenso eine tragende Rolle im Alltag Jugendlicher eingenommen hat.
Laut einer Studie des Bundes Interaktiver Unterhaltungssoftware (BIU)
aus dem Jahr 2011 konsumieren 23 Millionen Deutsche – knapp ein Drittel –
regelmäßig Computer- und Videospiele.1 Bildungsniveau, Alter oder Geschlecht –
Unter keinem dieser Kriterien lassen sich relevante Häufungen oder gar Ballungen
von Zielgruppen registrieren. Videospiele sind stattdessen zum Massenmedium
herangereift und werden tendentiell von allen Bevölkerungsgruppen gespielt.2 Es
erscheint daher nicht verwunderlich, dass bereits auf hohem akademischen Niveau
im Rahmen des Wissenschaftszweigs der Game Studies am modernen Medium
geforscht wird - Eine Entwicklung, die der zunehmenden technischen wie vor
allem auch inhaltlichen Reifung von Videospielinhalten nur allzu gerecht wird.
Es drängt sich die Frage auf, ob Videospiele unter Berücksichtigung ihrer
gesellschaftlichen Relevanz sowie ihrer zu untersuchenden Parallelen zu
konventionellen Medien zum Unterrichtsgegenstand erhoben werden sollten.
Auch muss geklärt werden, wie eine entsprechende didaktisch-methodische
Aufarbeitung des Themas Gestalt annehmen könnte. In der nachstehenden
Auseinandersetzung wird diesen Fragen nebst Voranstellung einer vergleichenden
Analyse der Literaturvorlage und ihrer Videospiel-Adaption von Lewis Carroll's
Alice im Wunderland in ausgewählten Ansätzen nachgegangen.
1 Studie BIU (2011)S. 2, unter Befragung von 25.000 Probanden.2 Ebd.
-- 4 --
(755393) Christian Bebek
2 Kurzvorstellung von Buch und Adaption
Das Buch
Alice im Wunderland zählt bis in unsere Gegenwart zu einer der populärsten
Kinderliteraturen weltweit. Die Urfassung erschien am 4. Juli 1865 und
entstammte der Feder des britischen Autors Charles Lutwidge Dodgson, der
jedoch unter dem Pseudonym Lewis Carroll publizierte. Sein Kinderroman, der
die abenteuerlichen und traumhaft-skurrilen Reisen der Protagonistin Alice in
einem Wunderland beschreibt, avancierte ab Veröffentlichung schnell zu einem
globalen Publikumserfolg. Bis heute wurde Alice im Wunderland in über 80
Sprachen übersetzt sowie in zahlreichen Adaptionen in weitere Medien
konvertiert. Eine Versteigerung der Erstausgabe erbrachte mit über 1,5 Millionen
Dollar den bisher teuersten Verkaufspreis für ein Kinderbuch.
Das Videospiel
Der Plot Alice im Wunderland's wurde in diesem Zuge nicht allein in Comics,
Mangas, Theaterstücken, Filmen und Opern aufgegriffen, sondern fand seine
Übertragung auch im interaktiven Medium Computer- bzw Videospiel. Die erste
Umsetzung dieser Art, die nah genug an der Buchhandlung blieb, ist mit American
Mc' Gees Alice aus dem Jahr 2000 zu betiteln. Es folgten weitere Nachfolger und
eigenständige Titel auf verschiedensten Plattformen.
Für diese Untersuchung wird auf das am 16. Juni 2011 erschienene Alice:
Madness Returns zurückgegriffen, für dessen Entwicklung sich das Software-
Team Spicy Horse verantwortlich zeigte. Das Spiel muss, seiner wesentlichen
Grundstrukturen halber, der Genre-Kategorie Action-Adventure zugeschrieben
werden. Im europäischen Verkaufsraum erschien es mit einer Altersempfehlung
von 16 Jahren. Kommerziell konnte es mit unter einer Million verkauften
Einheiten weltweit nicht mit seinem direkten Vorgänger Schritt halten. Es wird
trotzdem zu dieser Analyse herangezogen, weil die Spielgeschichte
verhältnismäßig nah am ursprünglichen Stoff und der Eigenheiten Carroll's
Kinderbuch zu verorten ist sowie der Titel gegenwärtig die aktuellste Adaption
auf dem Markt darstellt.
-- 5 --
(755393) Christian Bebek
3 Didaktische Reflexion – Teil I – Sachanalyse
3.1 Vergleich von Buch und Spiel
3.1.1 Handlung und Figuren
Die sehr sprunghaft und grotesk angelegte Handlung des Kinderbuches führt den
Leser zunächst in die Ausgangssituation ein, in der Alice mit ihrer Schwester auf
einer Wiese ruht. Dort beginnt die Schwester aus einem Buch vorzulesen. Hiervon
gelangweilt, folgt Alice lieber einem sprechenden Kaninchen in einen Bau,
woraufhin sie nach schier endlos langem Fall unbeschadet im Wunderland
einkehrt. Hier erlebt sie nach und nach paradoxe Abenteuer und surreale
Begebenheiten. Wiederholt muss sie sich zum Beispiel mit ihrer eigenen
Körpergröße auseinandersetzen, die sie durch magische Tränke und Kuchen
variieren kann, um sich aus missligen Lagen zu befreien. Im weiteren Verlauf der
Handlung lernt die Protagonistin neben zahlreichen sprechenden Tieren wie der
Grinsekatze die Herzogin und den Hutmacher kennen. Letztlich verschlägt es sie
zur Herzkönigin und dem Herzkönig. Es folgt eine Partie Croquet mit Flamingos
als Schlägern und Igeln als Bällen, ehe eine außerordentliche Gerichtsverhandlung
einberufen wird. Der Herzbube – einer der zahlreichen sprechenden Spielkarten
am Hof der Königin – wird beschuldigt, die Törtchen der Monarchin gestohlen zu
haben. Auch der Hutmacher ist nun wieder vor Ort und wird neben anderen, zum
Beispiel der Köchin, als Zeuge vernommen. Alice, die sich nun erneut durch
magische Geschicke vergrößern kann, während auch sie vernommen werden soll,
richtet durch ihre Größe ein heilloses Chaos im Wunderland an. Die Gefolgschaft
der zornigen Königin weiß sich gegen Alice nicht wirksam durchzusetzen.
Anschließend erwacht das Mädchen wieder am Ufer des Flusses mit der
Gewissheit, das alle Abenteuer nur Inhalt eines seltsamen Traumes waren.
Der Romanhandlung steht die Videospiel-Narration als Fortsetzung gegenüber.
Durch einen Hausbrand verliert Alice mehr als zehn Jahre nach ihrem letzten
Abenteuer im Wunderland ihre Eltern und entkommt der Tragödie selbst nur
knapp mit dem Leben. Hiervon erheblich psychisch belastet, (nicht zuletzt, weil
sie sich selbst für den Schicksalsschlag verantwortlich macht) wird sie in eine
Irrenanstalt eingeliefert. Anschließend findet sie Obhut in einem Londoner
Waiserhaus. Da sie noch immer schwer traumatisiert ist, nimmt sie regelmäßige
-- 6 --
(755393) Christian Bebek
Therapiestunden bei Dr. Angus Bumby wahr. Im Anschluss an eine solche
Behandlungseinheit folgt sie auf den Straßen eines Elendsviertels des
viktorianischen Londons, das von Elend, Schmutz und Prostitution gezeichnet ist,
einer mysteriösen Katze. Hierbei trifft sie auf eine ehemalige Krankenschwester
der Irrenanstalt, Schwester Witless. Als diese versucht, Alice zu erpressen, erreicht
das Mädchen durch heftige Visionen erneut das Wunderland. Dort wird sie von
der ihr bekannten Grinsekatze empfangen. Sie berichtet Alice vom grausamen
Wandel, den das Wunderland vollzogen hat. Es ist zu einem bedrohlich-grotesken
und allzeit grauenhaft und tödlichen Ort geworden. Im Laufe der sich
anschließenden fünf Spielkapitel versucht Alice der endgültigen Zerstörung des
Wunderlands Einhalt zu gebieten, wobei sie viele bekannte Gestalten und
Charaktere wie die Köchin und die Spielkarten wiederfindet. Beinahe alle
Gestalten, die sie auf ihrem erneuten grotesken Abenteuer trifft, sind ihr jedoch
nicht friedfertig gegenüber gestellt, sondern trachten mit teils heimtückischen
Waffen nach ihrem Leben. Im Spielverlauf fügen sich nach und nach Teile Alice's
Erinnerung zusammen, die den Wandel des Wunderlandes zum blutgesäumten
Grauensort erklären. Es stellt sich heraus, dass eine Gestalt namens Dollmaker –
der Puppenmacher – darauf aus ist, Alice's Psyche gänzlich zu zerstören, um sie
willenlos, wie bereits hunderte Mädchen vor ihr, zur Prostitution zu zwingen.
Auch erfährt die Protagonistin, dass er sich für den tödlichen Brand im Haus der
Eltern zu verantworten hat. In einem alles entscheidenden letzten Kampf stellt
Alice sich dem Dollmaker, der in ihrer Traumwelt das Äquivalent zu Dr. Angus
Bumby in der Realität verkörpert. Mit seinem Tod – zunächst in der Traumwelt,
anschließend auch in Alice's realer Umgebung – erhält das Wunderland seine
einstige Schönheit zurück.
3.1.2 Narrationsspezifische Verfahren
Zur Charakterisierung des Erzähltyps und weiterer narrtionsspezifischer Verfahren
wird nachfolgend auf die allgemein anerkannte Erzähltheorie Stanzel's
zurückgegriffen.3
Seiner Erzähltypologie folgend, muss im Roman Alice im Wunderland eine
3 Stanzel, Franz K. (1979/2001).
-- 7 --
(755393) Christian Bebek
auktoriale Erzählperspektive festgestellt werden. Wie sein Kreismodell
verdeutlicht, wird diese durch die peripheren Pole einer vorhandenen
Erzählerfigur sowie der Nicht-Identität der Seinsbereiche zwischen Erzähler und
Romanhandlung definiert.
"»Was ist denn ein Versammlungs-Wettlauf«, fragte Alice [...] »Nun«, meinte der Dodo, »er lässtsich am besten erklären, indem man ihn durchführt.« (Und da Ihr ihn vielleicht an irgendeinemWintertag selbst ausprobieren möchtet, will ich Euch erzählen, wie der Dodo zu Werke ging.) Alserstes legte er die Rennstrecke fest, eine Art Kreis [...]."4
Die hier angeführte Textpassage verdeutlicht die Trennung der Seinsbereiche
deutlich, indem der Erzähler sich spürbar in der in Klammern gesetzten Aussage
an den Leser wendet. Die eigentliche Ebene der Erzählung und Romanhandlung
wird hier merklich verlassen und eine imaginäre Meta-Kommunikation über die
Handlung zwischen Leser und Erzähler angestoßen. Die generelle Existenz des
Erzählers ist somit auch nicht fragwürdig, wodurch die auktoriale
Erzählperspektive belegt scheint.
Weiterhin ist festzustellen, dass die Erzählung vergangenes Geschehen
wiederspiegelt, was am Tempus des einheitlich verwendeten Präteritums
auszumachen ist. Hierdurch ergeben sich Nicht-Übereinstimmungen zwischen
Erzählzeit und erzählter Zeit, da es wiederholt zu Zeitsprüngen, Zeitdehnungen
und Zeitraffungen auf der Erzählebene kommt.
Mit der Videospiel-Adaption verglichen, müssen Unterschiede bezüglich
des Narrationstypus festgestellt werden. Während des interaktiven Spielaktes
steuert der Spieler Alice in Form eines digitalen Avatars durch virtuelle
Räumlichkeiten. Hierbei betrachtet er die Spielfigur aus einiger Entfernung mit
dem Blick zu ihrer Kehrseite gewandt. (Bild 1 – siehe Anhang) Hierdurch wird
nicht nur das Maß an Übersichtlichkeit beim Manövrieren durch die
Spielabschnitte erhöht und die klassische Third-Person-Perspektive5 realisiert,
sondern auch der Rückschluss auf die zutreffende Erzählperspektive möglich: Der
Spieler erfährt alle Handlungen und Begebenheiten im virtuellen Raum scheinbar
4 Carroll, Lewis (1865/2011), S. 34.5 Die im Genre des Action-Adventures üblicherweise realisierte Spielperspektive.
-- 8 --
(755393) Christian Bebek
an der Spielfigur projeziert, indem sie z.B. erkundend oder mit anderen NPC's6 in
Kontakt tretend in der Spielwelt interagiert. Mithilfe Stanzel's Erzähltheorie kann
an dieser Stelle die personale Erzählform angenommen werden. Eine
Erzählerfigur tritt nicht wahrnehmbar in Erscheinung, während die Handlung
anhand einer Reflektorfigur vielmehr unvermittelt "erzählt" wird. Erhebliche
Anteile des Erzählprozesses selbst scheinen sich darüber hinaus in Hand des
Spielers zu befinden, der durch seine Kontroll-Eingaben das Geschehen in erster
Linie selbst initiiert.7
Das Erzählte kann in diesem Sinne keine Vermittlung mehr im Tempus des
Präteritums erfahren, sondern entfaltet sich vielmehr spontan und nahezu parallel
zu den Eingaben des Spielers, also gegenwärtig im Präsens. Lediglich Cutscenes8
greifen mitunter vergangenes Geschehen auf, um den Spieler über Handlungen zu
informieren, die seiner eigentlichen Spieltätigkeit vorangingen. Hierdurch wird
nicht zuletzt der Spielauftrag selbst verdeutlicht. Solange sich der Spieler jedoch
im Interaktions-Loop9 befindet, wird die Handlung der Spiel-Geschichte ohne
Zeitraffungen oder Dehnungen vermittelt. Ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen
Erzählzeit und erzählter Zeit ist demnach festzustellen.10
3.1.3 Medienspezifika
Besonders in der Betrachtung dieser konkreten Literaturadaption werden einige
Eigenheiten der Medienkategorie Videospiel deutlich. So soll der Spieler
beispielsweise vor vielfältige Probleme gestellt werden, die er unter Investition
spielerischen Aufwandes überwinden kann. Im Rahmen dieser Problemstellungen
muss der Spieler in Alice: Madness Returns wiederholt nach Wegen zur
Fortsetzung seiner virtuellen Reise suchen, die mitunter versteckt sind oder nur
6 Kurzbezeichnung für "Non-Player-Characters" – also alle anderen Spielfiguren z.B. Gefährten oder Monster, außer des Spieler-Avatars selbst.
7 Vgl. hierzu meine Ausführungen in: Bebek, Christian (2014), S. 66ff, sowie: Kocher, Mela (2007), S. 39 sowie Jannet Murray (2000), S.153, die in diesem Zusammenhang den Begriff des prozeduralen Autors prägte.
8 Filmisch inszenierte Zwischensequenzen ohne Interaktivität, die den Plot vorantreiben. 9 Der Kreislauf von (I) Spielereingabe, (II) der daraufhin folgenden Veränderung auf dem
Bildschirm und innerhalb der virtuellen Welt sowie (III) der sich abermals hierauf anschließenden erneuten Spielerreaktion.
10 Eine Ausnahme bilden an seltener Stelle bewusst eingesetzte Slow-Downs. Dies sind Zeitdehnungen, die z.B. beim Angriff eines Widersachers einsetzen können, um dem Spieler mehr Zeit für eine angemesse Reaktion einzuräumen.
-- 9 --
(755393) Christian Bebek
durch Zuhilfenahme spezieller Items11 erreicht werden können. Oft handelt sich in
diesen Bereichen der Spielabschnitte auch um Geschicklichkeitsprüfungen, die
erfahrungsgemäß im Progress der Spielhandlung steigenden Schwierigkeitsgrad
aufweisen (Bild 2 – siehe Anhang).
So gestaltet sich das Schrumpfen und Wachsen der Protagonistin Alice im
Gegensatz zur Literaturvorlage nicht allein als narratives Kuriosum, sondern wird
essentieller Bestandteil der Spielerfahrung selbst, indem es als häufig auftretendes
Rätselelement fungiert. Ehe der Spieler also seinen Weg durch einen winzigen
Tunnel fortführen kann, muss die Spielfigur schrumpfen, was voraussetzen kann,
dass ein entsprechendes Item gefunden wurde. An anderer Stelle müssen zunächst
die Bestandteile eines Schieberätsels gefunden, eingesetzt und anschließend in die
richtige Anordnung sortiert werden, um einen Gang zu öffnen, der den weiteren
Spielverlauf möglich macht. Auch Kämpfe gegen feindliche NPC's sind ein
ebenso wichtiger Bestandteil des Spiels. Durch geschicktes Ausweichen und
präzisen Einsatz von Angriffen werden gegnerische Charaktere aus dem virtuellen
Raum entfernt, um den Weg durch die Spielpassage unbescholten fortführen zu
können. (Bild 3 – siehe Anhang) Eine ungeschickte Handhabung der spielerischen
Optionen führt indes zum Tod der Protagonistin und somit zur spielerischen
Niederlage für den Rezepienten, der in Folge dessen die misslungene Spielpassage
wiederholen muss.
Diese genannten Beispiele, die als generelles Charakteristikum des
Mediums Videospiel festgehalten werden können, machen den Unterschied zum
literarischen Genre deutlich: Die Interaktivität, die zwischen Spieler und Spiel
vonstatten geht, lässt sich als wesentliches Kontrast-Merkmal zu den Medien
Literatur und Film herausstellen. In permanenter Wechselwirkung zwischen
Rezipient, Bedienoberfläche und Programmcode wird ein Wettkampf um Sieg und
Niederlage initiiert. Im Falle eines stark narrativ geprägten Spiels wie Alice:
Madness Returns kann ein Spielerfolg für den Spieler nicht zuletzt das reine
"Vorankommen" in der Spielwelt bedeuten, was ihm die weitere Vermittlung der
Hauptgeschichte sowie einiger erzählerischer Nebenstränge eröffnet. Ein im
Gegensatz dazu literarisches oder filmisches Produkt ist im Bezug auf seinen
11 Virtuelle Bereicherung des Avatars, die in der Spielwelt gefunden werden kann. z.B. Waffen, Heilgegenstände und Vergleichbares.
-- 10 --
(755393) Christian Bebek
Rezeptionsprozess daher eher passiv als aktiv – also in aller Regel auch nicht
interaktiv – zu beschreiben. Besonders deutlich wird dies an Spielproduktionen,
deren narrativer Rahmen abhängig vom Spieler-Input mehrere Verläufe und
Enden der spielinternen Geschichte aufweisen können. Bücher und Filme
"erzählen" demgegenüber stets nur eine Geschichte. Ohne den Medien defizitären
Charakter zu bescheinigen, muss in diesem Punkt dem Videospiel Überlegenheit
zugesprochen werden. Die Sonderstellung des Videospiels unter den erzählenden
Medien-Formaten liegt hierin sehr wesentlich begründet.
3.1.4 Deutungsversuch der Adaption
Die Literaturvorlage setzt sich prägnant mit der kindlichen Perspektive auf die
"Erwachsenenwelt" auseinander. Die zuweilen recht naiv und unverständlich
anmutenden Betrachtungsweisen der Protagonistin Alice werden im Buch
besonders auf logischer und sprachlicher Ebene deutlich. Immer wieder sieht sich
das Mädchen mit Kommunikationsproblemen im Wunderland konfrontiert, die
auf Deutungsebene als Äquivalent zur aus kindlicher Sicht viel zu komplexen und
verworrenen Alltagswelt der Erwachsenen wirken.
"»Warum sollte sie?«, brummte der Hutmacher; »Zeigt deine Uhr etwa das Jahr an?«, »Natürlichnicht«, entgegnete Alice prompt, »Aber nur deshalb, weil es so lange dasselbe Jahr bleibt.«»Genau so ist es auch bei meiner«, sagte der Hutmacher. Darauf konnte sich Alice keinen Reimmachen. Die Erklärung des Hutmachers schien ihr keinerlei Sinn zu ergeben, und doch hatte erklar und deutlich gesprochen."12
Auch gehören Auseinandersetzungen über logische Kausalzusammenhänge mit
beinahe philosophischem Charakter zur wiederholt eingesetzten Stilistik, um die
Sinn- und Kontrollsuche der Protagonistin zu verdeutlichen:
"»Trink ruhig noch mehr Tee«, sagte der Märzhase sehr ernsthaft zu Alice. »Ich habe ja überhauptnoch keinen getrunken«, erwiderte Alice gekränkt, »Also kann ich gar nicht noch mehr trinken.«»Du meinst, du kannst nicht noch weniger trinken«, sagte der Hutmacher; »Es ist sehr leicht, mehr
als nichts zu trinken.«"13
Noch deutlicheren Ausdruck findet das kindliche Unverständnis, wenn Alice im
12 Carroll, Lewis (1865/2011), S. 85.13 Ebd., S. 90.
-- 11 --
(755393) Christian Bebek
Wunderland wiederkehrend skurrile Begebenheiten erlebt, die ihren Ursprung in
sprachlichen Redewendungen besitzen. So ertrinkt sie vor Verzweiflung beinahe
in ihren eigenen Tränen kurz nachdem sie das Wunderland das erste mal betritt.
Im Englischsprachigen – dem der Originaltext entstammt – ist das Idiom "to
drown in someones tears – in Jemandes Tränen ertrinken" bekannt, das hier von
der sprachlichen Ebene Eins-zu-Eins auf die Wirklichkeitsebene projeziert wird.
Auch die bekannte Grinsekatze des Wunderlandes entspringt der Phantasie des
Kindes, das noch nicht im Stande ist, die Redensart "to grin like a cheshire cat –
über das ganze Gesicht wie eine Cheshire-Katze grinsen" von seiner lexikalischen
Ebene enthoben zu betrachten.
Die Verständnissuche Alice's, die in der Buchvorlage als Leitmotiv
beschrieben werden kann, erfährt in der Videospieladaption eine erhebliche
Neuinterpretation. Die deutlich ältere, reifere und verständlichere Protagonistin
begibt sich vielmehr auf eine Suche mit detektivischem Charakter, da sie
herausfinden möchte, was es mit dem Wandel des Wunderlandes auf sich hat. Wie
Britta Neitzel, eine angesehene Medienforscherin, postuliert, ist dies ein
klassisches Merkmal des interaktiven Adventures:
"Es geht vor allem darum, Rätsel zu lösen, um einen Weg durchs Terrain fortzusetzen oderherauszufinden, was passiert ist. [...] Verglichen mit narrativen Genres, erinnern Adventures an
Abenteuer- oder Detektivgeschichten."14
Insgesamt ist das Erscheinungsbild des Wunderlandes im Spiel als Horror-Vision
aufzufassen, womit es zwar nicht weniger fantastisch ist als im Kinderbuch, sich
aber weit von seiner ursprünglichen Schönheit in der Romanvorlage entfernt. Es
ist gekennzeichnet durch eine allgegenwärtige physische wie psychische
Bedrohung sowie des permanentes Überlebenskampfes der Protagonistin. Die
Sinnhaftigkeit dieser Merkmale wird zugänglich, wenn der Schluss des narrativen
Rahmens betrachtet wird. Der Puppenmacher, der wie bereits angemerkt eine
Reinkarnation des Dr. Angus Bumby im Wunderland darstellt, trachtet dem
Mädchen nach völliger Willenlosigkeit. Sein Ziel ist ihre wiederstandslose
Zwangsprostitution in den Straßen des sittenwidrigen Londons sowie die
14 Britta Neitzel (2001), S. 219.
-- 12 --
(755393) Christian Bebek
Verschleierung seiner eigenen Untaten. So wird das Wunderland, das in der
Kinderbuchvorlage einst ein Komplex der kindlichen Fantasie war, zum gezielt
eingesetzten Manipulationswerkzeug des Psychiaters. Die Videospieladaption
setzt sich somit unter Realitätsbezug mit der kontroversen Thematik der Zwangs-
und Kinderprostitution auseinander. Da es Alice letztendlich durch das Zutun des
Spielers gelingt, diesem perfiden Plan zu entrinnen, wird das Wunderland
gleichzeitig zur Wehr-Instanz, zu einem Medium, in dem Alice den Lauf ihres
Schicksals beeinflussen kann und in dem ihr vielfältigere Möglichkeiten zur
Verfügung stehen als in der Realität – Eine Hommage an den Wert und die schier
unendliche Kraft der kindlichen Fantasie.
Auch weicht der psychische Konflikt in der Londoner Realität einer eher
physisch und kämpferisch geprägten Auseinandersetzung im Wunderland. Es wird
zum Ort der Aufarbeitung und Erkenntnisgewinnung, was schlussendlich auch am
Sammel-Item der "Erinnerungen" sehr deutlich wird.15 Der Hutmacher, der in der
Literatur kaum bedrohliche Züge besaß, erfährt im Spiel durch den Puppenmacher
eine völlig neue Handlungsperspektive. Sie wird jedoch zu Teilen
nachvollziehbarer, wenn man seinen Namen in der Originalausgabe des Buches
betrachtet: "The mad hatter – der verrückte Hutmacher". Interessant sind darüber
hinaus auch weitere intertextuelle Bezüge, die den Sinnwandel des Wunderlandes
erneut unterstreichen. So beginnt das spielerische Abenteuer im "Tal der Tränen",
in dem eine große steinerne Statue betrachtet werden kann, die offensichtlich die
Protagonistin aus der Romanvorlage zeigt. (Bild 4 – siehe Anhang) Das aus ihren
Augen quellende Wasser verdeutlicht ihre verzweifelten Tränen aus der
entsprechenden Romanpassage "Der Tränenteich", die innerhalb der Videospiel-
Neuinterpretation jedoch eher der gesamten melancholischen und freudlosen
Neuordnung des Wunderlandes gelten.
Abschließend kann die Hypothese festgehalten werden, dass im
betreffenden Videospiel eine Neuauflage des fantastischen Plots unter deutlichem
Einbezug gesellschaftskritischer Andeutungen unternommen wurde.
15 Der Spieler kann in der Spielwelt verstreute Flakons finden, die nach dem Aufsammeln sehr kurze und traumhaft inszenierte Rückblenden offenbaren, wodurch sich nach und nach die Hintergründe der Handlung erschließen.
-- 13 --
(755393) Christian Bebek
3.2 Vergleich von Textpassage und Spielabschnitt
3.2.1 "Hinab in das Kaninchenloch" – Zur Rolle des Wunderlandes
Im Nachstehenden wird der Versuch unternommen, eine konkrete Textpassage mit
seiner Umsetzung in der Videospiel-Adaption zu vergleichen. Da sich beide
Medienprodukte jedoch nicht unwesentlich voneinander in der Handlung
unterscheiden und die Parallelen besonders auf Intertextueller Ebene zu finden
sind, wird die Vergleichsanalyse an dieser Stelle erweitert. Es soll mit der
Fähigkeit Alice's, das Wunderland betreten zu können, daher vielmehr ein
einzelner Aspekt, ein erzählerisches Element, anstelle lediglich eines Abschnittes
betrachtet und verglichen werden, das in Literatur und Spiel jeweils
unterschiedlich motiviert ist.
Das eigentliche skurrile Abenteuer der Protagonistin Alice beginnt in der
Literaturvorlage mit ihrer mysteriösen Ankunft im Wunderland. Auf der Wiese,
wo ihre Schwester aus einem Buch vorzulesen beginnt, fällt ihr ein Kaninchen
auf, das mit den Worten: "Herrjemine! Herrjemine! Ich werde mich sicher
verspäten!" zu seinem Kaninchenbau eilt.
"Augenblicks sprang Alice ihm nach, ohne auch nur kurz darüber nachzudenken, wie in aller Weltsie da wohl wieder herauskäme. Eine Weile führte der Gang geradeaus, wie in einem Tunnel, dannaber ging es so jählings abwärts, dass Alice gar keine Zeit hatte, ans Anhalten zu denken, ehe siemerkte, dass sie in etwas hinunterfiel, das ein sehr tiefer Brunnen zu sein schien."16
In Folge dessen fällt Alice scheinbar endlos tief und lange, wobei sie genügend
Zeit findet, ihre nähere Umgebung zu betrachten:
"[...] dann betrachtete sie die Wände des Brunnens und bemerkte, dass sie mit Küchenschränkenund Bücherregalen bedeckt waren; hier und da sah sie Landkarten und Bilder, die an Hakenhingen. Im Vorbeisausen nahm sie von einer der Bretter ein Einmachglas mit der Aufschrift»Orangenmarmelade« herunter, doch zu ihrer großen Enttäuschung war es leer."17
Im gesamten Verlauf der Literaturvorlage bis zu deren Ende handelt es sich beim
Beschriebenen um das einzige Mal, dass Alice den Weg in das Wunderland
aufsucht. Im Gegensatz hierzu steht die Videospiel-Adaption, die bewusst
16 Carroll, Lewis (1865/2011), S. 10.17 Ebd., S. 11.
-- 14 --
(755393) Christian Bebek
mehrfach zwischen den Schauplätzen des realen Wohnumfeld Alice's und ihrem
Wunderland wechselt. Für den Antritt ihrer Reisen in die wundersame Traumwelt
gibt es jedes Mal eine Initial-Situation, die die Protagonistin zu schweren,
halluzinösen Abschweifungen anhält. Der erste Kontakt des Spielers mit dem
Wunderland wird hergestellt, wenn dieser im Rahmen des Spiel-Intros18 einer
psychotherapeutischen Sitzung Bumby's beiwohnt. Während auf dem Bildschirm
verstörende Sequenzen in Scheerenschnitt-Optik ablaufen, vernimmt der Spieler
die teilweise verzerrten Stimmen Alice's und des Doktors, was am Rande bemerkt
als wirksame Stilistik zur Verdeutlichung des Trance-ähnlichen Zustandes der
Protagonistin während ihrer Hypnose zu verstehen ist:
»Komm schon Alice, es ist nur ein Traum!« - »Es ist kein Traum, sondern eine Erinnerung – undsie macht mich ganz krank!« - »Vergiss es, Alice. Und jetzt: Konzentration ... warte ... du schwebstwieder ... schwerelos ... eine Chiffre ...entspann dich!« - »Feuer! Ich bin in der Hölle!« - »Vergissdas! Gib diese Erinnerung auf! Sie ist unproduktiv. Lass sie los! Geh ins Wunderland!« - »Ich bingefangen! Im Früher!« [...] »Lösche diese Wahnvorstellungen. Geh ins Wunderland!«
Der folgende Spielprogress eröffnet dem Spieler weitere fünf Male den Weg in
das Wunderland. So geschieht es chronologisch gesehen das nächste Mal, (1) als
Schwester Wittless sie zu erpressen versucht sowie weitere Male, (2) als ein
Frauenhändler sie schlägt und sie kurzzeitig benommen zusammensackt, (3) Alice
einen Wutanfall beim ehemaligen Anwalt der Familie erleidet, (4) sie aus dem
Gefängnis entlassen wird, und ein fünftes Mal, (5) als sie erkennt, dass Bumby der
Schänder ihrer Schwester und Mörder ihrer Familie ist, woraufhin sie ein letztes
Mal ins zerstörte Wunderland reist.
Diese Reisen sind ebenso wie im Roman stets durch einen langen Fall ins
scheinbare Nirgendwo gekennzeichnet. Anstelle von Schränken und
Marmeladengläsern beobachtet der Rezipient hier allerdings bizarre Kreaturen,
Totensymbole wie blasse Gesichter mit inhaltslos starrenden Augen, und ähnlich
verstörende Kreaturen, die die Tunnelwände säumen (Bild 5 – siehe Anhang).
18 Eine filmisch inszenierte Zwischensequenz, die unmittelbar zu Beginn des Spiels und aller spielerischen Handlungen steht. Sie führt in die Narration ein und verdeutlicht dem Spieler in Ansätzen seinen Spielauftrag.
-- 15 --
(755393) Christian Bebek
3.2.2 Deutung der unterschiedlichen Umsetzung
Es wird recht deutlich, dass die wundersamen Ereignisse der Alice aus der
Literaturvorlage ihrer eigenen Fantasie entspringen und die vorrangig positiv bzw.
wenigstens nicht akut bedrohlich ausgeprägt sind. Während ihres Falles wird sie
mit lediglich alltäglichen Haushaltsgegenständen wie Schränken und
Marmeladengläsern konfrontiert. Weiterhin spiegeln die Geschehnisse in den
verwunschenen Welten, wie bereits an früherer Stelle angemerkt, ihr
Unverständnis gegenüber der Erwachsenenwelt wieder, was als Phantom ihrer
kindlich naiven Denkweisen herauszustellen ist.
Die Spielfassung des Plots interpretiert an dieser Stelle den Gang in das
Wunderland differenzierter. Geprägt von den tragischen Ereignissen rund um den
Hausbrand, den Tod der Eltern und Schwester sowie der lebensunfreundlichen
Umstände in London wirkt das Wunderland in Alice: Madness Returns weniger
als Reich ihrer Fantasie, vielmehr jedoch als Spiegel ihrer geschundenen Seele
und ihres zerrütteten Inneren. Doch auch hierauf kann die Rolle des Wunderlandes
nicht ohne Weiteres reduziert werden. Beachtet man die unterschiedlichen
Auslöser ihrer Illusionen, so wird verständlich, dass das Wesen der Traumwelten
weit komplexer zu strukturieren ist. Zum Einen kann es als
Manipulationsinstrument wirken, indem Dr. Angus Bumby es im Zuge seiner
Therapien künstlich und gewaltsam zugänglich macht, um über diesen Umweg
Alice's Seele und Moralempfinden für seine Zwecke zu sabotieren. Zum anderen
wird in den ersten drei darauffolgenden Besuchen im Wunderland klar, dass die
Protagonistin auf passivem Wege dort hin gelangt, indem sie zum Beispiel
bewusstlos oder von ihren Emotionen übermannt wird. In diesen Abschnitten
nimmt das Wunderland die aktive Instanz ein, die das Mädchen wenig behutsam
mit ihren eigenen Gewissenskonflikten und Erinnerungen konfrontiert. In dieser
Funktion ist es als überforderter Geist Alice's zu begreifen, dessen Ausgeburten
sie sich nicht erwehren kann. Sie werden ihr ungeschönt vorgehalten, was sie –
und in diesem Zuge den Rezipienten – dringlich zum Bestehen der Prüfungen
auffordert.
Die verbleibenden beiden Male, in denen Alice das Wunderland betritt,
werden durch sie selbst, also aktiv, einberufen. Deutlich wird dies an der
-- 16 --
(755393) Christian Bebek
vorletzten Weltenreise, wenn der Spieler in einer Sequenz beobachten kann, wie
Alice sich bewusst über den Rand einer Klippe begibt, um wohlwissentlich kurz
darauf im Wunderland einzutreffen. Schlussendlich ist auch der abschließende
fünfte Tranfer dort hin ihrer eigenen Willenskraft zuzuschreiben. Als sie die
vermeintliche Tarnung Bumby's entlarvt, dringt sie für einen alles entscheidenden
Endkampf in das böse Wunderland ein. In diesen Beispielen tritt erstmals eine
gestärkte und bewusste Auseinandersetzung mit den Missständen ihrer Psyche ein.
Das Wunderland wird somit in den Status einer Meta-Ebene berufen, in dem Alice
die Möglichkeit zu ihrer eigenen Heilung bekommt. Die hierzu nötigen
Interventionen manifestieren sich im Endkampf gegen schrecklichste Kreaturen
und schlussendlich gegen das grauenhafte Abbild Bumby's selbst (Bild 6 – Siehe
Anhang).
4. Didaktische Reflexion – Teil II – Zielstellungen
4.1 Zielreflexion – Chancen und Möglichkeiten im Unterricht
Es kann keine sinnvolle Argumentation dafür getroffen werden, dass Videospiele
den Literaturunterricht ersetzen sollten. Im Angesicht der hohen Präsenz des
Mediums in der Alltagswelt von Kindern und Jugendlichen sollten sie jedoch an
geeigneter Stelle Einzug in das Unterrichtsgeschehen finden dürfen. Die Chancen
dieser Ausrichtung sind besonders darin zu benennen, dass hierdurch
gewährleistet werden kann, dass junge Spielerinnen und Spieler
verantwortungsvoller und bewusster mit ihrem eigenen Konsumverhalten digitaler
Spiele umgehen können. Allem voran muss das Ziel die Manifestation einer
ausreichenden Reflexionsfähigkeit und -bereitschaft sein, damit Videospielinhalte
nicht "ungefiltert" von jungen Konsumenten aufgenommen werden. Es bietet sich
außerordentlich an, mit Schülerinnen und Schülern gemeinsam zu hinterfragen,
weche Rolle z.B. Gewalt in einem betreffenden Spiel zukommt, um letztlich auch
offen darüber zu kommunizieren, warum gerade gewalthaltige Software oftmals
großen Reiz auf Jugendliche ausübt.
Über dies alles hinaus konnte in den vorangegangenen Kapiteln
ansatzweise aufgezeigt werden, dass die Medien Literatur und Videospiel
durchaus sehr deutliche Parallelen aufweisen können, die im Rahmen von
-- 17 --
(755393) Christian Bebek
Literatur-Adaptionen das höchste Maß an Anlehnung finden. Es darf weiterhin
vermutet werden, dass über die Einbindung des Mediums Videospiel äußerst
motivierende Diskurse für alle Beteiligten des Unterrichtsgeschehens entstehen
können, die sich noch nicht einmal allzu weit vom Medium Literatur entfernen
müssen. Gerade vergleichende Analysen von Medienprodukten besitzen das
Potenzial, ohne Verlust von gesellschaftlicher Relevanz und Fachlichkeit
interessanten Unterricht zu konzipieren.
4.2 Wissenserwerb – Literatur und Spiel im Vergleich
Auf diese Weise erweiterte Unterrichtsinhalte lassen die Schülerinnen und Schüler
zunächst erkennen, dass die grundlegende Unterschiedlichkeit der Medien in der
zum Einen passiven Rezeption des Lesers und zum Anderen in der interaktiven
Aneignung des Spielers liegt. Direkt hieraus ergeben sich weitere Differenzen, die
im Zeitpunkt und Umfang der Interaktionsmöglichkeiten sowie ihrer
Auswirkungen auf die Spielhandlung zu benennen sind.19 Moderne
Spielproduktionen erlauben heutzutage tiefsinnige Geschichten zu erzählen, die
zuweilen mit einer großen Menge interaktiv beeinflussbarer Enden ausgestattet
sind. In diesem Punkt ist Überlegenheit des Videospiels gegenüber der unflexiblen
Erzählform Literatur festzustellen, was zahlreiche Schuldiskurse über
Handlungsoptionen und Handlungsentwicklungen ermöglicht. Weiterhin kann die
Erkenntnis gewonnen werden, dass Videospiele auf sehr eigensinnige Art und
Weise narrativ sind (Siehe Einbezug des Rezipienten in den Erzählakt) und deren
Erzählperspektiven sich mitunter stark von Filmen und Literatur unterscheiden
können. Viele dieser Unterschiede sind folglich medienspezifisch, wodurch auch
Defizite und Schwierigkeiten der interaktiven Erzählkunst aufgezeigt werden
können. Besonders innerhalb vergleichender Untersuchungen zum Medium Film
sind jedoch auch erneut Gemeinsamkeiten bezüglich der verwendeten
Erzähltechnik wie Kamerawinkel, -einstellungen und Schnitttechniken auffindbar.
Eine Auseinandersetzung hiermit kann das Verständnis theoretischer Grundlagen
von Erzähltheorien und erzählerischen Mitteln befruchten, zugänglicher machen
und allem voran im Rahmen des Dreigespanns Literatur-Film-Videospiel
19 Vgl. Die Beschreibungskategorien frequency, range und significance von Brenda Laurel. Beschrieben in: Laurel, Brenda (1986), S. 67 – 85.
-- 18 --
(755393) Christian Bebek
komplettieren.
4.3 Beispielaufgaben für den Unterricht
Die nachstehenden Überlegungen sollen einen Ideen-Anstoß für eine
schulunterrichtliche Auseinandersetzung mit dem Medium Videospiel bilden.
Jeder schulischen Beschäftigung mit einem bestimmten Medium sollte die
Bildung eigener Rezeptionserfahrungen vorausgehen. In diesem speziellen Fall
bedeutet dies, dass Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, selbst zu spielen
oder zumindest unfangreichere Spielpassagen zu beobachten, eingeräumt werden
sollte. Im Anschluss daran kann eine Beschäftigung des Klassenverbandes mit
dem Thema z.B. anhand eines Fragenkataloges erfolgen, der wie im unten
stehenden Beispiel verschiedene Aspekte des Mediums aufgreift und deren
kritische Reflexion anregen kann.20
1. Welche Handlung geschieht im Spielkapitel? Verfasse eine knappe
Inhaltsangabe!
2. Wie wird die Handlung vermittelt? Tauscht euch in Gruppen über die Bedeutung
und Wirkung von Erzähler, Erzählperspektiven und der Rolle des Spielers im
Erzählakt aus!
3. Untersucht die Interaktionsmöglichkeiten im Spiel! Wie umfangreich sind sie?
Inwiefern beeinflussen sie die Handlung? Gibt es Momente, in denen nicht
interagiert werden kann?
4. Wisst ihr mehr, gleich viel oder weniger als eure Spielfigur von der Spielwelt und
Handlung? Welche Wirkungen werden hiermit erzielt?
5. Welche Rolle spielt Gewalt im gezeigten Videospiel? Wäre das Spiel auch
komplett ohne Gewalt denkbar oder ist es Bestandteil der ganz eigenen Stilistik?
6. Zusammenfassung: Welche Unterschiede kannst du zwischen dem Roman und
seiner Videospielumsetzung ausmachen? Welche Unterschiede sind
medienspezifisch, also allein auf das Medium zurückzuführen, welche nicht?
4.4 Ziele für die Aufgaben
Mit Hilfe der aufgezeigten Beispielfragen erörtern die Schülerinnen und Schüler
20 Vgl. die methodischen Anregungen in: Leubner/Saupe (2012), S. 292.
-- 19 --
(755393) Christian Bebek
verschiedene Kategorien des Mediums Videospiel und stellen sie unter
Gegenüberstellung der Literaturvorlage in Frage. Die Prüfung von
Erzählperspektiven und weiteren narrationsspezifischen Verfahren eröffnet den
Schülerinnen und Schülern ein komplexeres Verständnis von Erzähltheorie und
motiviert sie, am gegebenen Beispiel Untersuchungen hierzu anzustellen sowie
ihre Hypothesen am Beispiel zu belegen. Es sollte sich herauskristallisieren, dass
Videospiele eine sehr individuelle Erzähltechnik unter Einbezug des Rezipienten
als Co-Erzähler realisieren. Hier sind scharfe Abgrenzungen zu den
konventionellen Medien vorzunehmen. Mit den Fragen nach der
Interaktionsstruktur im Medium erhält der Klassenverband einen rein
medientheoretischen Input, der helfen kann, Videospiele und ihre Wirkungsweise
besser zu verstehen. Wenn es darüber hinaus um Fragen zum Wissenshorizont,
dem point of view geht, wiederholen und schulen die Jugendlichen essentielle
Beschreibungskategorien, wie sie gleichermaßen in den Medien Literatur und
Film aufzufinden sind. Grund hierfür ist ihre häufige Nutzung als
Spannungselement, wodurch sich die gemeinschaftliche Nutzung in allen drei
Medien legitimiert. Ein besonderer Stellenwert sollte der Frage nach dem
Bedeutungsgehalt von Gewalt im Videospiel zukommen. Die hier
herauskristallisierten Erkenntnisse in Gruppendiskussionen und in
Klassengesprächen schaffen ein nachhaltiges Verständnis und somit zukünftige
Sensibilität für Videospielinhalte und deren visuelle Aufarbeitung. Auf dieser
Grundlage ist zu erwarten, dass Jugendliche selbstbestimmter mit interaktiven
Medien umgehen können und angehalten sind, diese ebenso selbstständig zu
hinterfragen.21 Letztlich kann und sollte das Videospiel hierdurch auch in seiner
Gesellschaftsrelevanz als Massenmedium und als Teil kommerzieller
Marktstrategien begriffen werden können.
Über alle dem ist die Anerkennung des Mediums als zunächst
künstlerisches Machwerk mit ebenbürtigem Stellenwert neben anderen
erzählenden Medien wünschenswert.
21 So fordert es auch die KMK in den Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss: "zwischen eigentlicher Wirklichkeit und virtuellen Medien unterscheiden" Bildungsstandards MSA im Fach Deutsch (2003), S.15.
-- 20 --
(755393) Christian Bebek
5 Fazit
Die vorangegangene Gegenüberstellung der Medien Literatur und Videospiel hat
vor allem Eines deutlich werden lassen: Das interaktive Erzählgenre ist trotz
einiger Berührungspunkte mit den konventionellen Medien als weitreichend
individuell herauszustellen. So erheben sich Erzählperspektiven, die grundlegende
Frage nach dem Vorhandensein einer Erzählerfigur oder der Diskurs über die
Rolle des Rezipienten im Narrationsprozess zu speziellen Charakteristika des
Mediums selbst. So war zu beobachten, dass trotz aller Gemeinsamkeiten in
Alice: Madness Returns eine weitreichend eigenständige Interpretation des Stoffes
vorzufinden ist, die in ihrem Erscheinungsbild mit typischen Medienkonventionen
korreliert. So ist das Videospiel vorrangig Spiel und die schriftliche Erzählung ein
Akt der Handlungsvermittlung. Im hier betrachteten Sonderfall einer Videospiel-
Adaption mit literarischer Quelle konnten überdies auch einige intermediale
Kontaktpunkte aufgefunden und untersucht werden. Es durfte veranschaulicht
werden, dass auch das interaktive Medium potenziell erzählt, überhaupt
konzeptionell dazu in der Lage ist, und durch mitunter komplexe Narrationen
gelenkt sein kann. Im Rahmen von z.B. Zwischensequenzen, die sich filmischer
Darstellungsformen bedienen oder intertextuellen Bezügen, die
Wechselbeziehungen mit dem Schriftmedium aufzeigen, werden diese
Annäherungen unter den Medienkategorien weiterhin spürbar. Es resultiert ein
Medien-Trigon, das die bisherige Gegenüberstellung von Literatur und Film auch
und besonders im Rahmen des Schulunterrichts erweitert und komplettiert:
Im Zuge der unterrichtlichen Betrachtung dieses Dreigespanns werden
theoretische Grundlagen wie die Stanzel'sche Erzähltheorie in allen Fasetten
greifbarer und zusammenhängend verständlich. Es konnte hierüber hinaus für die
Notwendigkeit einer schulpraktischen Beschäftigung mit interaktiven Medien
-- 21 --
(755393) Christian Bebek
plädiert werden, indem seine gesellschaftliche Relevanz in Ansätzen
herausgestellt wurde. Schülerinnen und Schüler konsumieren seit Jahrzehnten
Videospiele, während die Zahl der Rezipienten kontinuierlich steigt. Ebenso
vergrößert sich das mediale Angebot derartiger Produktionen zusehens, was
Jugendlichen den Erwerb geeigneter Kompetenzen im Umgang mit ihnen
dringlich abverlangt und die Aufnahme des Mediums in geltende Curricula
überfällig erscheinen lässt.
-- 22 --
(755393) Christian Bebek
Bild 1 – Third Person Perspektive
Bild 2 - Geschicklichkeitspassage
Bild 3 – Kampf gegen NPC's
Bild 4 – Statue im "Tal der Tränen"
-- 24 --
(755393) Christian Bebek
Bild 5 – Fall ins Wunderland
Bild 6 – Der Puppenmacher (Dollmaker)
-- 25 --
(755393) Christian Bebek
QUELLENVERZEICHNIS
BILDQUELLEN:
Bild 1:
http://web-vassets.ea.com/Assets/Richmedia/Image/Screenshots/Alice%20Madness%20Returns%20Screenshot%203.jpg?cb=1343151725Bild 2:
http://www.videogameszone.de/screenshots/original/2012/09/alice__madness_returns_by_xzhoutaix-d3jhblc-1.jpgBild 3:
http://bloody-disgusting.com/galleryvg/images/508/Exe//3.jpgBild 4:
http://cloud.steampowered.com/ugc/542927164198736489/47B044990D4F4C7CDD23D6C5852D0BCE2CF21881/Bild 5:
Eigener ScreenshotBild 6: http://polyetilen.lt/en/files/2012/12/AliceMadnessReturns-2011-07-28-23-25-46-62.jpg
LITERATURQUELLEN:
Primär:
Carroll, Lewis (1865/2011): Alice im Wunderland. Anaconda Verlag GmbH: Köln.
Sekundär:
Bebek, Christian (2013): Liest du noch oder spielst du schon? - MultidisziplinäreAnnäherungen an die Videospielanalyse am Beispiel von Heavy Rain. Norderstedt: BoD-Verlag.
Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss im Fach Deutsch.http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2003/2003_12_04-BS-Deutsch-MS.pdf. Letzter Zugriff: 26.05.2014.
Kocher, Mela (2007): Folge dem Pixelkaninchen!: Ästhetik und Narrativität digitalerSpiele. Zürich: Chronos Verlag.
Laurel, Brenda (1986): Interface as Mimesis. In: Donald, A. Norman/ Draper, Steven(Hrsg): User centered System Design: New Perspektives on Human-ComputerInteraction. Hillsdale: Lawrence Erlbaum Associates.
Leubner/ Saupe (2012): Erzählungen in Literatur und Medien und ihre Didaktik. 3. akt.Auflage. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Murray, Janet H. (2000): Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace. Cambridge: MIT Press.
Neitzel, Britta (2001): Gespielte Geschichten. Struktur- und prozessanalytischeUntersuchungen der Narrativität von Videospielen. Weimar: Bauhaus-Universität, Diss.
Stanzel, Franz K. (2001): Theorie des Erzählens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Videospiele:
Alice: Madness Returns. Spicy Horse, Electronic Arts. 2011.
-- 26 --