das autonome vernunftwesen in der gerechtigkeit als fairness

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Hausarbeit im Fach Philosophie Thema: Das autonome Vernunftwesen in der Gerechtigkeit als Fairneß – zum kantischen Einfluss auf den Urzustand in J. Rawls’ Konstruktivismus vorgelegt von Lara Warlich

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Universität Paderborn WS 2013/14 Seminar: John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit Dozentin: Herr K. Dear

Hausarbeit im Fach Philosophie

Thema:

Das autonome Vernunftwesen in der Gerechtigkeit als Fairneß –

zum kantischen Einfluss auf den Urzustand in J. Rawls’ Konstruktivismus

vorgelegt von

Lara Warlich

Matr.-Nr.: 6714554

4. Fachsemester Studiengang: Bachelor of Education

Philosophie/Deutsch Email: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung ............................................................................................. 2

II. Hauptteil ............................................................................................. 42.1 Einführung in Rawls’ duale Gerechtigkeitskonzeption .......................................... 42.2 Der Urzustand: Die Idee eines hypothetischen Sozialvertrags ............................... 72.3 Rawls Realisierung und Demokratisierung des formalen, liberalen Kant ........... 14III. Schluss ............................................................................................. 20

IV. Literaturverzeichnis ....................................................................... 23

V. Anhang .............................................................................................. 245.1 Plagiatserklärung .................................................................................................. 24

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I. Einleitung

John Rawls konstruiert mit seinem Werk Eine Theorie der Gerechtigkeit die Grund-

struktur für eine politisch liberale, vom Volk regierte Gesellschaft. In Analogie zu Teil-

bereichen Kants metaphysischer und politisch-rechtlicher Schriften thematisiert er die

Frage, wie eine Gesellschaft geordnet sein müsste, damit Menschen in Frieden mitei-

nander zusammenleben können. In den Vordergrund stellen beide Philosophen die Ent-

wicklung einer juridischen Ordnung, da sie anthropologisch festlegen, dass die Triebfe-

dern ethischer Handlungen einzelner Subjekte nicht objektiv zugänglich sind, selbige

jedoch in autonomer Selbstbeschränkung zu jedermanns Wohl durch einen extern gege-

benen Rahmen beschränkt werden können. Rawls nimmt an, dass sich eine historisch

pluralistische Gesellschaft aus moralischen Subjekten1 wie Kant sie beschreibt, konsti-

tuiert und stellt die These auf, dass sich jene in dem von ihm entworfenen Ausgangszu-

stand der Freiheit und Gleichheit einheitlich für eine bestimmte Gerechtigkeitskonzepti-

on entscheiden würden. Nach diesen autonom beschlossenen und selbstauferlegten the-

oretischen Gerechtigkeitsprinzipien würde dann die praktische Grundstruktur für eine

gerechtfertigte, stabile sowie liberale Demokratie geformt werden. 2 Rawls kann in sei-

ner Argumentation belegen, dass die vorgestellten, sich aus dem fairen Prozess des Ur-

zustands ergebenden zwei Gerechtigkeitsgrundsätze einer staatlichen Grundstruktur den

individuell wohlüberlegten Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechen. Er nähert die Prin-

zipien eines Staates an die intuitiven moralischen Urteile vernünftiger Subjekte an, um

sowohl eine Legitimation als auch eine Überprüfungsmethode des aus dem Gesell-

schaftsvertrag im Urzustand hervorgegangenen Staates aufzuzeigen.

Rawls’ Vorgehen lässt sich in zwei wesentliche Abschnitte strukturieren: Im ersten

Schritt beschreibt er eine Auffassung über die Funktion von Gerechtigkeit im Kontext

einer sozialen Gesellschaft, die mit der Abgrenzung zu anderen Theorien insbesondere

zu dem utilitaristischem Gerechtigkeitsprinzip einhergeht, und legt den Urzustand als

hypothetischen Ausgangszustand der fairen Gerechtigkeitskonzeption fest. Anschlie-

ßend führt Rawls’ zweiter Schritt auf Eigenschaften seines Gerechtigkeitsbegriffes hin

und stellt dessen Bedingungen und Prinzipien vor, indem er den Urzustand ausdifferen-

ziert. Diese spezielle Urzustandskonstruktion kann aufzeigen, welche der dort wählba-

ren Grundsätze unter den gegebenen Annahmen und Beschränkungen tatsächlich er-

1 Rawls: TdG, S. 29; 36; 548. 2 Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S. 28.

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wählt werden würden.3 In den zwei Schritten des kontraktualistischen Arguments wer-

den in Rawls’ politischer Theorie aus einem ursprünglichen Zustand heraus Prinzipien

für eine gerechte Gesellschaft gesucht, gefunden und als allgemein gültig beschlossen,

um mit dem Konsens über eine Gerechtigkeitsvorstellung einen legitimen Staat zu

gründen.

In der Argumentationsweise dem kontraktualistischen Zweischritt nacheifernd, wird

in dem ersten Teilabschnitt dieser Arbeit der Vergleich von Kant und Rawls durch eine

Untersuchung der vertragsbegründenden Ursprungssituationen herausgearbeitet und in

dem zweiten Teilabschnitt exemplarisch in einer Analyse der daraus folgenden Prinzi-

pien vertieft werden. Es gilt in dem Vergleich zwischen Kants Moral- sowie Rechtsphi-

losophie und Rawls’ politischer Philosophie aufzuzeigen, dass Rawls’ Urzustandskon-

struktion und Vernunftbegriff in kantischer Tradition stehen und sich dies ausdrücklich

in Rawls’ politischen Anthropologie und dem daraus ergebenden, vorrangigen Gerech-

tigkeitsgrundsatz zeigt. Das erste Kapitel des Hauptteils soll hierzu einleitend die

Grundstruktur der rawlsschen Theorie der Gerechtigkeit aufzeigen und die Bedingun-

gen des hypothetischen Vertragszustandes erläutern. Es werden im Hinblick auf die

Komponenten der normativen Ethik insbesondere das Menschenbild der Akteure im

Urzustand analysiert und die moralischen, politisch-rechtlichen Bedingungen des Ver-

tragszustandes sowie des daraus hervorgehenden Staates erörtert. Anschließend be-

schreibt das zweite Kapitel den Urzustand an sich und vergleicht diesen durch einer

Fokussierung auf den ersten Gerechtigkeitsgrundsatz mit Kants theoretischen sowie

praktischen Theorieteilen der Anthropologie und Staatsphilosophie, inklusive den diese

Bereiche betreffenden Begriffen, Prämissen und Prinzipien. Kapitel drei geht intensiv

auf die Herleitung und Konstruktion des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes von Rawls

ein, um neben den im Vergleich herausgestellten Korrelationen auch auf die Differen-

zen der vorgestellten Theorien hinzuweisen. Summa summarum führt ein Resümee die

vorhergegangenen Argumente in die Konklusion, dass in Rawls’ Urzustand die kantisch

vollkommenen Vernunftwesen mit ökonomischen Prinzipien ausgestattet werden und

daraus hervorgehend, den Handlungen moralischer Subjekte innerhalb des Staates zwei

kategorische Gerechtigkeitsgrundsätze vorgeordnet sind. Abschließend wird Perspekti-

ve des spezifischen Vergleiches geöffnet, um darauf hinzuweisen, dass Rawls keine

internationalen Gesellschaftsnormen festgesetzt und seiner Theorie des Guten argumen-

tative Inkonsistenzen nachgewiesen werden können.

3 Rawls: TdG, S. 19.

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II. Hauptteil

2.1 Einführung in Rawls’ duale Gerechtigkeitskonzeption

Rahmenbildend und die Grundannahmen der Theorie der Gerechtigkeit einordnend,

sollen kurz die verwendeten Argumente und Intentionen sowie einige Begriffe und die

mit ihnen einhergehenden Relationen erläutert werden, um eine Bezugsbasis zu schaf-

fen und eine stringente Verwendung der dargestellten Termini festzulegen.

Rawls’ politische Theorie zeichnet sich durch Gedankenexperimente, Entwick-

lungs- und Sozialmodelle sowie Menschenbilder aus, deren wirtschaftswissenschaftli-

che oder philosophische Erkenntnisse er transformiert und selbige auf neue Problemla-

gen, Analyseziele und Fragestellungen angewendet. Seine Argumentationsstruktur

schließt sich an das normative Vorgehen der kontraktualistischen Tradition an und geht

von einer Legitimationsbedürftigkeit politischer Herrschaft aus. Rawls folgt nicht nur

dem systematischen Schema der Vertragstheorie, sondern geht auch in seiner politi-

schen Anthropologie wie schon Hobbes, Locke, Rousseau und Kant von vernunftbegab-

ten und somit autonomen Individuen aus, die in einer vorzivilisatorischen Situation

durch einen gemeinsamen Akt unter gleichgestellten Individuen einen Staat gründen

würden. In diesem stets hypothetischen, ideellen Akt soll aus dem Konsens der beteilig-

ten Subjekte ein staatsbegründender Vertrag geschlossen werden, um die Verpflichtung

der Einzelnen zur Einhaltung der im Vertrag festgeschriebenen, rechtlich-politischen

Normen auf eine autonome Selbstverpflichtung der Individuen zurückzuführen.

Rawls formuliert, dass er sich mit seiner Theorie von den traditionellen Kontraktua-

listen dort abwendet, wo er die gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung des gesellschaft-

lichen Konsens auf einer verallgemeinerten und „höheren Abstraktionsebene“4 darstellt

und den Prozess der herkömmlichen Vertragstheorie methodisch verfeinert. Rawls

schließt sich in der Mehrheit seiner Prinzipien der positiv gehaltenen Anthropologie

Kants an, um die hobbessche Ansehung der menschlichen Natur als unvernünftiges,

triebgeleitetes Wesen zu überwinden und den Menschen als Vernunftwesen auszuzeich-

nen. 5 Mit der Annahme einer rationalen Zustimmung aller Personen zu den Gerechtig-

keitsprinzipien im Urzustand legt Rawls seinem Vertragsgedanken ein Menschenbild zu

Grunde, das von einer ursprünglich unbedingten Autonomie moralischer Subjekte aus-

4 Rawls: TdG, S. 19. 5 „Was auch immer seine Vernunft ersinnt wird hinfällig, sobald sich seine Triebe dagegen stemmen.“ Hobbes, Thomas: Leviathan oder der Stoff, Form und Gehalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates (Suhrkamp-Studienbibliothek 18) Berlin: Suhrkamp 2011, Kapitel XIV.

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geht. Er stellt den Anspruch, dass dieselbe Autonomie weder durch die Bedingungen

des Urzustands noch durch die anschließenden staatlich geforderten Einschränkungen

der (Handlungs-)Freiheit zum Wohl und zur Sicherheit aller Beteiligten, an Qualität

verliert: „[...] eine Gesellschaft, die den Grundsätzen der Gerechtigkeit als Fairneß ent-

spricht, [...] entspricht den Grundsätzen, denen freie und gleiche Menschen unter fairen

Bedingungen zustimmen würden. In diesem Sinne sind ihre Mitglieder autonom und die

von ihnen anerkannten Pflichten selbstauferlegt.“6 In dem Begriff der moralischen Sub-

jekte ist demnach die Autonomie derselben inbegriffen und ihnen die freie und gleiche

Fähigkeit zu eigen, objektive Prinzipien zu praktischen Prinzipen zu machen. Rawls’

Auffassung des Menschen als von Natur aus moralisches Subjekt ist unmittelbar an die

Anthropologie Kants angelehnt. Indem er die These übernimmt, dass Menschen ihrer

Natur als Vernunftwesen dann am besten gerecht werden oder diese am besten zum

Ausdruck bringen können, wenn sie dem objektiv Rechten einen Vorrang vor dem sub-

jektiv Guten einräumen, zeichnet er alle Menschen als moralische Subjekte aus.7 Sie

verfügen, in dem von Rawls an Kants dualistische Konzeption der Triebfedern des

menschlichen Willens8 angelehnten Argument, über einen Gerechtigkeitssinn und eine

Vorstellung des Guten.9

Der notwendige Vorrang der Autonomie des ersten Grundsatzes liegt somit in dem

Argument begründet, dass Menschen ihrem Wesen nach stets die eigene Freiheit zur

Moralität im Staat gesichert wissen wollen. Die primäre Intention eines gleichen Maßes

an Freiheit für jeden Menschen realisiert sich in einer lexikalischen Ordnung der zwei

Prinzipien der Gerechtigkeit, die Rawls als die einzig im Urzustand zu beschließende

Alternativen vorstellt. Selbige sollen hier aufgrund ihres zentralen Stellenwerts kurz in

ausdifferenzierter Form zitiert werden: Erster Grundsatz

Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.

Zweiter Grundsatz Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein: (a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am we-nigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und

6 Rawls: TdG, S. 30. 7 Rawls: TdG, S. 50. 8 Kant benennt als die Triebfedern des Willens auf der einen Seite die Sittlichkeit, bzw. das moralische Gesetz, welches Handlungen der reinen praktischen Vernunft als moralisch gute Handlungen ausweist und die sinnlichen Antriebe, bzw. Neigungen auf der anderen Seite, welche die subjektiven und somit willkürlichen Bestimmungsgründe von Handlungen ausmachen. Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der prakti-schen Vernunft (=Kant's gesammelte Schriften, Bd. V) Berlin: Reimer 1913, AA 128-129. 9 Rawls: TdG, S. 548.

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(b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen.

Erste Vorrangregel (Vorrang der Freiheit) Die Gerechtigkeitsgrundsätze stehen in lexikalischer Ordnung; demgemäß können die Grundfreiheiten nur um der Freiheit willen eingeschränkt werden, und zwar in folgenden Fällen: (a) eine weniger umfangreiche Freiheit muß das Gesamtsystem der Freiheiten für alle stärken; (b) eine geringere als gleiche Freiheit muß für die davon Betroffenen annehmbar sein.

Zweite Vorrangregel (Vorrang der Gerechtigkeit vor Leistungsfähigkeit und Lebensstandard) Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz ist dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit und Nutzenmaximierung lexikalisch vorgeordnet; die faire Chancengleichheit ist dem Unterschiedsprinzip vorgeordnet, und zwar in folgenden Fällen: (a) eine Chancen-Ungleichheit muß die Chancen der Benachteiligten verbessern; (b) eine besonders hohe Sparrate muß insgesamt die Last der von ihr Betroffenen mildern.

(Rawls: TdG, S. 336)

Den Rahmen der normativen Ethik erweiternd, führt Rawls mit dem zweiten Gerechtig-

keitsgrundsatz den Fairnessgedanken einer praktischen, politischen Philosophie ein, der

Interessenkonflikte aufgrund unfairer natürlicher sowie ökonomischer Unterschiede der

Bürger eines Staates durch ein allgemein als gerecht anerkanntes Prinzip zur Güterver-

teilung verhindert. Das hier angewendete Unterschiedsprinzip eröffnet die Perspektive

auf „die am schlechtesten Gestellten in der Gesellschaft“10 und hält die Bürger einer

sozialen Gesellschaft an „auf solche Vorteile [zu] verzichten, die nicht jedermanns Aus-

sichten verbessern“11.

Die soziale Gerechtigkeit in dieser demokratischen und offenen Form zieht somit

in dem ersten, liberalen Prinzip die Freiheit als obersten Wert heran und garantiert eine

autonome und faire Grundposition der Bürger. Aus dieser kann nach dem zweiten öko-

nomischen Prinzip durch die Anwendung der rationalen Entscheidungstheorie 12 eine

faire Güterverteilung beschlossen werden, um eine in harmonischem Pluralismus leben-

de Gesellschaft zu bilden. Da der Urzustand Ausgangspunkt der induktiven Normfin-

dung sowie Kernstück und zugleich rechtfertigender sowie hinreichend Gerechtigkeit

garantierender Teil der Theorie der Gerechtigkeit ist, soll er im Fokus dieser Untersu-

chung stehen und das Fundament für den Vergleich mit der Philosophie Kants bilden.

10 Rawls: TdG, S. 336. 11 Rawls: TdG, S. 206. 12 Rawls: TdG, S. 67.

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2.2 Der Urzustand: Die Idee eines hypothetischen Sozialvertrags

„[D]er Begriff des Urzustands [bildet] den Grundgedanken [...], an dem sich unsere Überlegungen ausrichten sollen“, da „[d]ie Entscheidung, die vernünftige Men-schen in dieser theoretischen Situation der Freiheit und Gleichheit treffen würden, [...] die Grundsätze der Gerechtigkeit [bestimmt].“

(Rawls: TdG, S. 28; 73)

Die von Rawls im englischsprachigen Grundtext so bezeichnete original position, ist als

eine hypothetische, verhaltenstheoretisch hinterlegte „Konkretisierung [...] des Aus-

gangszustands“13 zu verstehen, die zum Ziel hat, der „Theorie der Gerechtigkeit als

Fairneß von Anfang an [...] reine Verfahrensgerechtigkeit“14 zugrunde zu legen. Im Ur-

zustand sollen das ökonomische, individuelle Prinzip der Güterverteilung und das mora-

lische, universelle Prinzip der Autonomie vereint werden, um eine vom Vernunftwesen

allgemein anerkannte, sich selbst erhaltende Grundstruktur der Gesellschaft zu schaffen.

Den vernünftigen Akteure des Urzustands kommt der Auftrag zu, den Gedanken der

Gerechtigkeit als Fairness inhaltlich zu konkretisieren. Der Urzustand als künstliche,

vorzivilisatorische Situation ist Rawls’ vertragstheoretisches Mittel, dem losgelöst von

Raum und Zeit, unbegrenzt in seiner Zahl durch bestimmte Bedingungen, allgemeine

Gültigkeit zukommt. Rawls stellt hier den Anspruch, dass der Urzustand so beschaffen

sein soll, „daß die Grundsätze, die in ihm gewählt würden, welcher Art sie auch seien,

moralisch richtig sind“15. Die jenes Ziel realisierenden Bedingungen des Urzustands

müssen außervertraglicher Natur sein, da der Konstruktivismus keine Inhalte oder Er-

gebnisse normiert, sondern Verfahrensprinzipien vorschreibt, Normen zu finden.

Die hypothetische Situation des Urzustands beschreibt Rawls in einer Art Gedan-

kenexperiment: „Wir wollen uns also vorstellen, daß [...]“16 in einer „rein theoreti-

sche[n] Situation“17 in „Zusammenarbeit zwischen Gleichen zum gegenseitigen Vor-

teil“18 ein „System von Grundsätzen bestimmt“19 wird, das der „Gerechtigkeit als Fair-

neß“20 entspricht und somit „einem freiwilligen System noch am nächsten“21 kommt. Er

stellt den Urzustand als einen vorstaatlichen Zustand vor, der in der Theorie der Ge-

rechtigkeit „[...] dieselbe Rolle wie der Naturzustand in der herkömmlichen Theorie des

13 Rawls: TdG, S. 143. 14 Rawls: TdG, S. 142. 15 Rawls: TdG, S. 142. 16 Rawls: TdG, S. 28. 17 Rawls: TdG, S. 29. 18 Rawls: TdG, S. 31. 19 Rawls: TdG, S. 30. 20 Rawls: TdG, S. 19. 21 Rawls: TdG, S. 30.

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Gesellschaftsvertrags“22 einnehmen soll. Der von Rawls konstruierte ursprüngliche Zu-

stand ist jedoch nicht ohne weitere Anmerkungen mit der kantischen Auffassung des

Naturzustands gleichzusetzen, wie schon die unterschiedlich verwendeten Begriffe na-

helegen. Denn nach Kant ist der Naturzustand nichts anderes als ein rein natürlicher,

vorzivilisatorischer Kriegszustand: „[...] [S]ie [die Menschen] mögen auch so gutartig

und rechtliebend gedacht werden, wie man will, so liegt es doch a priori in der Vernunf-

tidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustandes, daß, bevor ein öffentlich gesetzlicher

Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Ge-

walttätigkeit gegeneinander sicher sein können [...]“23. Die bürgerliche Gesellschaft

entsteht nach Kant erst, wenn sich Individuen einem „öffentlich gesetzlichen äußeren

Zwange [...] unterwerfen“24. Ein Staat entsteht somit nicht aus einer autonomen Ent-

scheidung, den Naturzustand durch einen gemeinsamen Akt zu verlassen, sondern er ist

die unmittelbare Wirkung einer Rechtspflicht. Die Gesellschaft geht aus einem Recht

zum Staat beziehungsweise einer Rechtspflicht hervor und statt der unmittelbaren Ursa-

che eines a priori den Staat legitimierenden, praktischen Vertrags, ist der Staat demnach

die Auswirkung eines Vertrags. Kant setzt keinen vorzivilisatorischen oder ursprüngli-

chen Zustand an, einen Staat daraus zu gründen, sondern stellt den Vertragszustand als

Gedanken vor, aus welchem vernünftige Personen in Staaten Prinzipien für ihre Gesell-

schaft ziehen können.

Rawls’ Urzustandskonstruktion ist demnach nicht direkt als Transformation des

kantischen Naturzustands anzusehen, wie Rawls es vorstellt und nur mittelbar mit Kants

Theorie über den Naturzustand zu vergleichen. Einschlägige Bezugnahme von Rawls’

auf Kant gibt es zu Kants idealer Konstruktion des ursprünglichen Vertragszustandes

und den dort agierenden Subjekten. Mit der Annahme, dass eine von allen Beteiligten

gleichermaßen gewollte und vernunftgesteuerte Prinzipienfindung, das heißt, eine Sinn-

lichkeit, Subjektivität und Realität ausschließende Situation, das bestmögliche Verfah-

rensergebnis bedingt, schließt sich Rawls dem Vernunftbegriff von Kant an.

In den ersten drei von Rawls als a priorische Prinzipien des Urzustands erwiese-

nen Zuständen der Freiheit, Gleichheit und Vernunft spiegelt sich Kants ideales Men-

schenbild des reinen Vernunftwesens, welches unter den Prämissen der Freiheit,

Gleichheit und Selbständigkeit einen Vertrag beschließen würde. Nach Kant liegt hier-

22 Rawls: TdG, S. 28. 23 Vgl. Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten (=Kant's gesammelte Schriften, Bd. V 203-493) Ber-lin: Reimer 1913, AA 163-164. 24 Vgl. ebd., AA 163-164.

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bei „[d]ie angeborene Gleichheit [...] schon im Prinzip der angeborenen Freiheit“25 und

die Selbstständigkeit in einer Gesellschaftsposition, welche die Bürger zur Mitgesetzge-

bung befähigt.26 In der von Kant als „bloße[...] Idee der Vernunft“27 bezeichneten Ver-

tragssituation, verfügen Individuen nicht nur über eine relative oder mittelbare Ver-

nunftfähigkeit, die selbige veranlasst einen Gesellschaftsvertrag zu schließen, sondern

über „wahre und unbedingte Vernunftnotwendigkeit.“28 Diese Art Vernunft ist es, die

einem jeden zur Vernunft fähigen Wesen angeboren ist und unter Ausschluss weiterer

Handlungsmotive die Menschen veranlassen würde, den nicht-rechtlichen Naturzustand

(status naturalis) zu überwinden und einstimmig einen demokratischen, sozialen

Rechtsstaat (statuts civilis) zu begründen.29 Indem Kant annimmt, dass Gebote der prak-

tischen Vernunft für reine Vernunftwesen eindeutige Handlungsnormen darstellen, wäre

eine Zustimmung zu sich als vernünftig erwiesenen Prinzipien, wie zum Beispiel der a

priori bestehenden Rechtspflicht zur Staatsgründung, notwendig gegeben. Das Gesetz

der öffentlichen Gerechtigkeit ist in Kants ursprünglichem Kontrakt ein von den

Stimmberechtigten einstimmig anerkanntes Rechtsprinzip,30 welches jedoch nicht prak-

tisch in einem vorzivilisatorischen Akt vollkommener Vernunftwesen beschlossen wer-

den kann. Nach Kant ist die für jenen Akt hinreichend „[...]kollektive Einheit des verei-

nigten Willens[...]“31 „in einer gesetzlichen Verfassung nach Freiheitsprinzipien zu le-

ben“32, aufgrund divergierender subjektiver Ziele nicht-idealer Vernunftwesen, imprak-

tikabel. Die ursprüngliche Übereinkunft einer Gesellschaft zur Begründung eines ge-

rechten Staates ist für Kant eine rein ideelle Situation: Allein dieser Vertrag [ein ursprünglicher Kontrakt] [...], [...] ist keineswegs als Faktum vorauszusetzen nötig (ja als solches gar nicht möglich), [...]. Sondern es ist eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können [...].

(Kant: ÜdG, AA 249)

Da das moralische Subjekt in seinen Urteilen und Handlungen nach Kants Anthropolo-

gie ebenso durch sinnliche Neigungen wie durch den vernünftigen Willen angeleitet

25 Vgl. Kant: MS, AA 45-46. 26 Kant, Immanuel: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (=Kant's gesammelte Schriften, Bd. VIII 273-313) Berlin: Reimer 1923, AA 244. 27 Kant: ÜdG, AA 250. 28 Kant: KpV, AA 20-23. 29 Kant: MS, AA 432. 30 Kant: ÜdG, AA 248. 31 Kant, Immanuel: Zum Ewigen Frieden (=Kant's gesammelte Schriften, Bd. VIII 341-386) Berlin: Rei-mer 1923, AA 371. 32 Kant: EF, AA 371.

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wird, ist eine voluntaristische Staatsgründung aus dem Naturzustand praktisch nicht

möglich. Diesen in Kants Rechtsphilosophie unüberwindbaren Konflikt zwischen einer

Staatsnotwendigkeit aus der Rechtspflicht zur Friedensstiftung und einer freiwilligen

Staatsgründung kann Rawls mit der Konstruktion des durch den „Schleier des Nicht-

wissens“ 33 geprägten Urzustands aufheben. Er übernimmt den kantischen Gedanken

einer notwendigen Einigung auf Rechtsprinzipien durch von Natur aus freie und gleiche

sowie vernünftige moralische Subjekte, um zwischenmenschliche Interessenkonflikte

zu vermeiden und definiert daher die Rolle des Urzustands als analoge Rolle zum Na-

turzustand, obwohl sich die tatsächlich natürlichen Bedingungen der rawlsschen Urzu-

standskonstruktion auf die Eigenschaftszuschreibungen der Akteure beschränken. Wei-

terhin bestehen nach Rawls Interessenkonflikte nicht nur in vorzivilisatorischen Situati-

onen, sondern ebenfalls in staatlichen Institutionen und Gesellschaften, sodass der Ur-

zustand eine Situation vor jeder Gesellschaftsgründung darstellen kann, wie nach Kant

der vorzivilisatorische Vertragszustand, oder er aber eine Alternative zu bereits existen-

ten Gesellschaften aufweist.

Sowohl nach Kants idealistischer Vertragsidee als auch in Rawls’ Urzustand er-

klären sich moralische Subjekte aus Vernunftgründen dazu bereit, die objektiv fairen,

gesellschaftsgründenden Kooperationsvereinbarungen des ursprünglichen Zustands als

Handlungsnormen festzusetzen, obwohl dieser unbedingte Gehorsam in der Praxis ent-

gegen subjektiven Interessen stehen kann. Kant formuliert als primäre Ursache morali-

scher und vernünftiger Handlungen den Kategorischen Imperativ, der wie ein Kompass

handelnde Personen in ethischen Tätigkeiten und Urteilen leitet: „Handle nur nach der-

jenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz

werde.“34 Jedem Menschen ist nach Kant von Geburt an ein moralisches Bewusstsein

gegeben,35 das bei einer singulären Handlung unabhängig von externen Einflüssen oder

Folgebeurteilungen zu einer rechten, moralisch guten Handlung führen kann. Eine Tä-

tigkeit ist somit nicht, wie zum Beispiel die Goldene Regel beschreibt,36 von einer Mo-

tivation wie der Gegenseitigkeit als recht oder unrecht einzustufen, sondern von einem

intrinsisch gegebenen Bewusstsein, das jedem zur Vernunft fähigem Wesen mitgegeben

ist. Kategorisch kann Kant somit Wünsche, Zwecke und weitere sinnliche Ansprüche

33 Vgl. Rawls: TdG, S. 29; 36; 159-166. 34 Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (=Kant's gesammelte Schriften, Bd. IV 385-463) Berlin: Reimer 1911, AA 421. 35 Kant, Immanuel: GMS, AA 391. 36 „Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu.“ Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg.): Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Bibeltext in der revidierten Fas-sung von 1984. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1999, Tobit 4,16.

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des Willens als hinreichende Motive für moralische und vernünftige Handlungen aus-

schließen. Rawls überträgt diese Handlungsprinzipien auf den Urzustand und stellt die

These auf, dass jeder Mensch angesehen als moralisches Subjekt einen Gerechtigkeits-

sinn und eine Vorstellung des Guten hat. Der Gerechtigkeitssinn entspricht im wesentli-

chen Kants Gedanken des angeborenen moralischen Bewusstseins und bedingt die Au-

tonomieforderung in Form des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes. Die zweite moralische

Fähigkeit einer Vorstellung des Guten muss Rawls ergänzen, damit Personen neben

ihrer Eigenschaft der Freiheit ebenso als in ihren natürlichen Eigenheiten gleiche Wesen

definiert sind. Unter den Beschränkungen des Urzustands sind moralische Subjekte, da

sie rational und nur nach diesen beiden Moralprinzipien handeln, vollkommen vernünf-

tig. So entsprechen die Bedingungen der Urteile und Handlungen in Rawls’ Urzustand

den Prinzipien in Kants hypothetischer Vertragssituation. Rawls übernimmt mehrheit-

lich die Ideale des kantischen Gesellschaftsvertrags, ergänzt die den moralischen Sub-

jekten zuweisenden Eigenschaften jedoch noch um ökonomische Prinzipien und grenzt

in dem Gründungszustand keine Gesellschaftsgruppen explizit aus.37

Der intuitive Gedanke, dass alle Menschen im gattungsbegrifflichen Sinne ver-

nünftige und damit autonomiebegabte, sich selbst zwecksetzende Wesen sind, muss

nach näherer Analyse von Rawls’ praktischer Anwendung der Gerechtigkeitsgrundsätze

eingeschränkt werden. Da Kants ideale Moralitätsprinzipien ebenfalls Differenzen zu

deren Anwendung in seiner Rechtsphilosophie aufweisen, kann hier in Teilen eine wei-

tere Analogieebene zu Rawls aufgezogen werden. Kant setzt die Selbstständigkeit mo-

ralischer Subjekte als Prämisse zur Staatsgründung fest und unterteilt Bürger in aktive

und passive Glieder der Gesellschaft. Praktisch kann in dem Staat, der als bürgerlicher

Zustand definiert wird und im Idealfall das Ergebnis des Kontrakts ist, jeder Stimmbe-

rechtigte durch politische Mitbestimmung sein Recht auf politische Freiheit wahrneh-

men,38 wobei jedoch nicht jeder Bürger gleich stimmberechtigt ist.39 Frauen, Kindern

und dienstleistenden Personen, also einerseits jene Gesellschaftsgruppen, die laut Kant

von Natur aus keine Qualität zum Stimmrecht aufweisen können oder jene Bürger, die

keine Autonomie in ihren Handlungen aufweisen und „nicht [...] [ihr] eigener Herr“40

sind, kommt kein demokratisches Stimmrecht zu. Jene Personengruppen sind von die-

sem Standpunkt aus betrachtet keine gesetzgebenden Mitglieder und können den Staat

37 Vgl. Rawls: TdG, S. 549-550. 38 Kant: ÜdG, AA 248. 39 Vgl. Kant: ÜdG, AA 245-246. 40 Kant: ÜdG, AA 246.

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demnach nicht aktiv mitorganisieren oder die Verfassung mitbestimmen. Hieraus lässt

sich der Rückschluss ziehen, dass Kant die Pflicht zum Staat schon im Naturzustand

nicht auf alle Menschen ungeachtet ihres Geschlechtes oder Alters bezieht und in der

hypothetischen Vertragssituation bereits keine gattungs- und handlungsunabhängige

Rechtspflicht zum aktiven Vertragsschluss besteht. Passive Bürger sind nach Kant so-

mit in der Praxis des Rechtsstaats Individuen, die kein Recht auf gleiche moralische und

rechtliche Handlungsräume haben, sodass ihnen ein anderer Status der Würde und

Selbstständigkeit zukommt als den aktiven Personen. Sie haben jedoch gleichermaßen

Anspruch auf die natürlichen Rechte der Freiheit und Gleichheit und sind ebenso wie

aktive Bürger, den von jenen beschlossenen oder zumindest in Teilen von jenen mitbe-

stimmten Rechten und Prinzipien des Staates verpflichtet.41 Aktive Bürger können den

„ursprünglichen Vertrag“42, der nur aus dem „allgemeinen (vereinigten) Volkswillen“43

entspringen kann und so zum Grundgesetz des Staates wird, als Mitgesetzgeber mitbe-

stimmen, passive Staatsbürger beziehungsweise „Schutzgenossen“44 nicht. So zeigt sich

die Differenz zwischen Kants These einer demokratischen, sozialen Gesellschaft, die

durch die Voraussetzungen der Freiheit, Gleichheit und Selbstständigkeit des ursprüng-

lichen Vertrages begründet wird und dem in seiner Praxis angenommenen, nicht-idealen

sowie konservativen Menschenbild.

Rawls übernimmt nicht Kants traditionelle Kategorisierung der moralischen Per-

sonen im Vertragszustand oder der Bürger und erkennt in der praktischen Anwendung

der Freiheit und Gleichheit moralische Subjekte nicht erst durch die Verwirklichung

ihrer moralischen Fähigkeiten als Teile einer Gesellschaft an. Er weist allen aus dem

Urzustand hervorgegangenen Bürgern durch die darin beschlossenen, sich selbst aufer-

legten Rechten und Pflichten einen Anspruch auf die autonome Mitbestimmung der

gesellschaftlichen Grundstruktur zu. Nach seiner Theorie der Gerechtigkeit, ist bereits

die Möglichkeit oder die Anlage moralischer und rationaler Fähigkeiten hinreichend für

den „Genuß gleicher Gerechtigkeit“45 und selbige somit von Natur aus für alle morali-

schen Subjekte gültig. Rawls’ Beschränkung in der Zuweisung von Autonomie und dem

Recht auf Mitbestimmung im Staat beläuft sich demnach nicht auf eine gattungstheore-

tische Kategorisierung und auch nicht auf eine handlungsorientierte Differenzierung der

Personen, jedoch in Teilen auf eine kantgetreue Vernunftzuweisung. Er rechtfertigt die

41 Vgl. Kant: MdS, AA 433; Kant: ÜdG, AA 245-246. 42 Kant: ÜdG, AA 245. 43 Kant: ÜdG, AA 248. 44 Kant: ÜdG, AA 244. 45 Rawls: TdG, S. 553.

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Unterdrückung einzelner Bürger gleich welchen Alters oder Geschlechtes zur Sicher-

stellung der Stabilität des Staates beziehungsweise der Sicherheit der Personen im Staat,

indem er den Genuss gleicher Gerechtigkeit für Einzelne auch durch bestimmte paterna-

listische Handlungen verwirklicht sieht. Paternalistische Handlungen sind für Rawls in

solchen Fällen legitim, in denen einzelne Personen im Staat nicht „die Fähigkeit [ha-

ben], vernünftig zu ihrem Wohl zu handeln“46. Diese Tatsache nimmt Rawls bei Kin-

dern, die noch nicht über vollständig entwickelte moralischen Fähigkeiten verfügen

oder Personen in „unglücklichen Umständen“47 an, bei welchen die Vernunft und der

gerechtfertigte Wille fehlen oder versagen. Die paternalistische Entscheidung anderer,

die sich durch das Fehlen einer aktuellen Willensbekundung des Betroffenen auszeich-

net, ist nach Rawls dann legitim, wenn sie dasjenige beabsichtigt, was der Betroffene

für sich selber tun würde, wenn er vernünftig wäre.48 Weiterhin muss der paternalistisch

Handelnde sicherstellen, dass er sich von den Bedürfnissen des Betroffenen selbst hat

leiten lassen, sodass dieser „nach Entwicklung oder Wiedergesundung [die] für ihn er-

gangene Entscheidung billigen [würde] und anerkennen [würde], daß [...] das Beste für

ihn getan [wurde] [...].“49 Laut Rawls ist eine solche Handlungsorientierung gegeben,

sofern der für den Unmündigen Handelnde sich nach den beiden Gerechtigkeitsgrund-

sätzen richtet. Der Paternalismus in Rawls’ Konstruktivismus wird damit gerechtfertigt,

dass der Betroffene ursprünglich diese Handlungsprinzipien autonom, als freie und glei-

che sowie vernünftige Person, mitbestimmt hat. Rawls beschreibt für den Fall der Kin-

der im Staat, die „unterentwickelt sind“ und noch „nicht vernünftig“ handeln können,50

dass Erziehungsmethoden als paternalistische Eingriffe, die den beiden Gerechtigkeits-

grundsätzen entsprechen, Kinder vor der eigenen Unvernunft schützen. Die Übernahme

des Vernunft- und Autonomiebegriffes von Kant führt in Rawls’ Gesellschaftstheorie

demnach ebenfalls zu einer Sonderstellung von Kindern und nicht vernunftbegabten

Personen, wobei er eindeutig die noch von Kant vertretene Geschlechterdifferenzierung

auflöst. Rawls expliziert seine Vernunftzuschreibung der Bürger nicht für den Vertrags-

zustand und lässt offen, wie praxisfreundlich die Anwendungsbedingungen legitimer

paternalistischer Handlungen sind.

In der lexikalischen Ordnung der Gerechtigkeitsgrundsätze ist die Erfüllung des

zweiten Grundsatzes dem Erfüllen des ersten Prinzips der Freiheit nachgeordnet, sodass

46 Rawls: TdG, S. 281. 47 Rawls: TdG, S. 281. 48 Rawls: TdG, S. 281. 49 Rawls: TdG, S. 282. 50 Rawls: TdG, S. 281.

14

stets das Rechte einen Vorrang vor dem Guten hat. Diese strukturelle, der objektiven

Freiheit einen größeren Wert als der subjektiven Freiheit zuschreibende Anordnung von

Rawls ist vergleichbar mit Kants Kategorisierung moralischer Handlungen. Kant nennt

eine Handlung einer Pflicht gemäß und somit moralisch gut, sofern sie eine Handlung

des Prinzips des autonomen Wollens ist, da selbige nicht aufgrund von materiellen

Zwecken, Trieben oder Neigungen, sondern aus einer inneren Einstellung heraus, einem

guten Willen folgend, ausgeübt wird. Indem also moralische Handlungen stets einen

Zweck haben, der als Zweck an dem Einzelnen und mithin im Ganzen als Zweck an der

Menschheit selbst Zweck ist, schließt Kants Kategorischer Imperativ egoistische Hand-

lungen vollkommener Vernunftwesen grundsätzlich aus.51 Rawls setzt mit der gemein-

samen Gerechtigkeitsvorstellung aus dem Urzustand ein neues Prinzip an die Stelle des

Kategorischen Imperativs, das die Rechtfertigung und die Verpflichtung der Einhaltung

der Gerechtigkeitsprinzipien des Staates garantiert. Handlungen in der von Rawls ent-

worfenen, auf den im Urzustand selbstauferlegten Prinzipien aufbauenden Gesellschaft,

sind somit genau dann als moralisch wertvolle und autonome Handlungen auszuzeich-

nen, wenn sie sich nach den Gerechtigkeitsgrundsätzen des Staates richten, da selbige

ihren Ursprung in der freien und gleichen Entscheidung der vernünftigen Übereinkunft

verzeichnen.

2.3 Rawls Realisierung und Demokratisierung des formalen, liberalen Kant

Rawls’ grundlegend mit Kants Voraussetzungen des ursprünglichen Vertrags überein-

stimmende Prämissen des Urzustands Freiheit, Gleichheit sowie Vernünftigkeit werden

durch die zusätzliche Prämisse der Rationalität ergänzt. Das Prinzip eines ökonomisch

handelnden Menschen bezieht Rawls aus der in den Wirtschaftswissenschaften ange-

wandten Spieltheorie. Rawls legt fest, dass der Mensch, angesehen als homo oeconomi-

cus52, in der interaktiven Entscheidungssituation des Urzustandes das Entscheidungs-

problem der Güterverteilung rational lösen kann. Selbige rational-choice-Theorie unter-

scheidet sich von dem Vernunftbegriff Kants in wesentlichen Punkten und beschreibt

den handlungsmotivationalen Aspekt der Prinzipienwahl im Urzustand näher, um die

Vernunft als alleiniges Prinzip des Willens auch bei der Formung des zweiten Gerech-

51 Kant: GMS, AA 429. 52 Vgl. Granovetter, Mark: „Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness“, in: American Journal of Sociology 91 (1985) H. 3, S. 481-510; Rawls, John: „Justice as Fairness: Political not Metaphysical“, in: Philosophy & Public Affairs 14 (1985) H. 3, S. 223-251.

15

tigkeitsgrundsatzes zu fundieren. Rawls argumentiert, dass rein rational handelnde Per-

sonen im Urzustand keine Interessen an dem Wohlergehen anderer haben und geeignete

Mittel suchen, ihre eigenen ökonomischen, lebensplanverwirklichenden Ziele zu ver-

wirklichen. Um sinnlich gestiftete Wünsche, Endziele und individuelle Lebensplanun-

gen in dem konstruktivistischen Prozess der Normfindung einer Staatsverfassung aus-

zuschließen und zugleich Freiheit und Gleichheit der Handelnden in der Vertragssitua-

tion zu garantieren, etabliert Rawls das Prinzip des Schleiers des Nichtwissens. Er be-

steht aus „natürlichen Beschränkungen“53, welche den moralischen Subjekten im Urzu-

stand subjektive Kenntniss über Klassenzugehörigkeit, Status, natürliche Gaben wie

Intelligenz, Körperkraft, persönliche Lebensplanung oder Vorstellung des Guten, Risi-

kobereitschaft oder Neigung zu Optimismus und Pessimismus versagt. Ebenfalls unbe-

kannt sind die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse der Gesellschaft, der Ent-

wicklungsstand der Zivilisation und Kultur sowie die Generationenzugehörigkeit. Nicht

hinter dem Schleier verborgen ist den Personen ein grundlegendes Wissen über Politik,

Wirtschaft, soziale Organisation und menschliche Psychologie, welches ihnen erlaubt,

eine gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung zu finden.

Um in einer, in Bezug auf die praktische Vorstellung vom Guten heterogenen

Gruppe, die Konsensfindung gemeinsamer Gerechtigkeitsgrundsätze durch das Verfah-

ren zu normieren, eröffnet Rawls das Prinzip der Rationalität. Über Kants Gedanken

hinaus nimmt er an, jedes moralische Subjekt habe „die [rationale] Fähigkeit, die Mög-

lichkeit und die Absicht, zu einer richtigen Entscheidung zu kommen.“54 Die in diesem

zusätzlichen Prinzip angenommene rational-choice-Theorie legt rein rationale Entschei-

dungen für die Fälle fest, in denen „[...] das Kriterium für die Wahl die Frage ist, welche

unter den jeweils effektiv gegebenen Handlungsalternativen unter Berücksichtigung

aller damit verbundenen Vor- und Nachteile den Präferenzen des betreffenden Indivi-

duums am meisten entspricht, d.h. seinen (zu erwartenden) Nutzen maximiert.“55 Mit

der Prinzipienwahl auf Basis einer wie es im Originaltext heißt „theory of rational

choice“ 56, verfolgt Rawls die Intention, nicht nur alle Individuen als moralische Sub-

jekte zu definieren, sondern darüber hinaus ein einheitliches Entscheidungsverhalten auf

Grundlage gleicher Interessensbasis zu garantieren, sodass eine Vervollkommnung bei-

53 Rawls: TdG, S. 290. 54 Rawls: TdG, S. 67. 55 Zimmerling, Ruth: „‚Rational Choice’-Theorien: Fluch oder Segen für die Politikwissenschaft?“, in: Druwe, Ulrich/Kunz, Volker (Hrsg.): Rational Choice in der Politikwissenschaft Grundlagen und An-wendungen. Opladen: Leske/Budrich 1994, S. 14-25. 56 Rawls: TdG, S. 28.

16

der moralischer Fähigkeiten im Staat möglich ist. Moralische Subjekte verfolgen erstens

die bestmögliche Förderung ihres Gerechtigkeitssinnes, das heißt die Ausbildung der

moralischen Fähigkeit, berechtigte Ansprüche auf subjektive Rechte unabhängig von

institutionell vorgegebenen Konzeptionen zu formulieren. Zweitens streben selbige

nach der autonomen Verwirklichung der Kompetenz zur Förderung der reflektierten

Lebensplanverfolgung, die unabhängig vom späteren sozialen Status sein muss, bezie-

hungsweise nach einer Kompetenz zur Ausbildung der Fähigkeit zur Konzeption des

Guten und deren rationaler, kritischer Überprüfung und Festlegung. Dieser auf die Pra-

xis der staatlichen Institutionen fokussierte Theorieteil legt eine „gegenseitig desinteres-

sierte[...] Vernünftigkeit“57, mit der „Zusatzannahme[,] [...] daß ein vernunftgeleiteter

Mensch keinen Neid kennt“ 58, als Bedingung neben der Moralität der Personen im Ur-

zustand fest, um das Ziel der Vervollkommnung des moralischen Subjekts als homo

oeconomicus zu verwirklichen. Ein homo oeconomicus versucht stets für sich das

größtmögliche Maß an Grundgütern zu sichern.59 Die Rationalität in der Vorstellung

des Guten ist somit ein empirisches Element, welches Rawls dem moralisch vollkom-

men vernünftigen Wesen zuordnet, um nicht nur durch die Moralität der Handlungen

des intelligiblen Ichs60 die Gerechtigkeitsgrundsätze zu legitimieren, sondern ebenfalls

auf einer allgemeinen, der von Rawls angestrebten höheren Abstraktionsebene. Er er-

kennt die Zweckgebundenheit menschlicher Handlungen an und legt über Kants Ge-

danken, dass Menschen als Vernunftwesen moralisch vernünftig handeln, das Rationali-

tätsprinzip fest. Somit ist der Urzustand eine Einigung neidfreier, autonomer und glei-

cher Parteien auf ein System von vernünftigen Prinzipien,61 das vorläufig dem apriori-

schen Entscheidungsverhalten vollkommener Vernunftwesen nach Kant entspricht, je-

doch mit der Zusatzannahme eines empirischen homo oeconomicus darüber hinausgeht.

Diese Bedingungen führen die moralischen Subjekte im Urzustand auf eine Fest-

legung der Grundgüterverteilung nach dem Unterschiedsprinzip62, welches die ökono-

mischen Vorteile der von Natur aus Begabteren auf das Maß beschränkt, wie sie dem

57 Rawls: TdG, S. 168. 58 Rawls: TdG, S. 167. 59 Rawls: TdG, S. 168. 60 Vgl. Kant: KpV, AA 180-184, 189. [Anmerkung: Die intelligible Bestimmtheit der Menschen im Urzustand ist ein kontrovers diskutiertes Thema. Rawls wird unter anderem vorgeworfen, dass durch seine Konzeption des Guten und der Rationa-lität im Wissen um empirische Bedingungen im Staat den Personen im Urzustand eben nicht das intelli-gible Wollen nach Kant zugeschrieben werden kann, sondern ein Wollen aus empirischer Bewusstheit heraus. Vgl. Gabler – Gesellschaft/ Gesellschaft und Christentum V (Hrsg.): Theologische Realenzyklo-pädie (=Theologische Realenzyklopädie, Bd. 12) Berlin [u.a.]: de Gruyter 1984, S. 446-447. 61 Rawls: TdG, S. 83. 62 Vgl. Rawls: TdG, S. 95-104.

17

Wohl der am wenigsten begünstigten Personen und somit zugleich dem Allgemeinwohl

dienen. Die moralischen Personen im Urzustand können aufgrund ihres rationalen Stra-

tegievorgehens das Verteilungsproblem mit dem Entscheidungsprinzip nach der Spiel-

theoretischen Annahme einer „Maximin-Regel“63 lösen, indem sie durch das Unter-

schiedsprinzip diejenige Alternative wählen, deren schlechtmöglichstes Ergebnis besser

ist als das jeder anderen. Die von der Natur oder den Gesellschaftsbedingungen willkür-

lich verteilten Grundgüter: Freiheit, Chancen, Einkommen, Vermögen, Selbstachtung,64

die Rawls als jene von den Personen im Urzustand in einer schwache Theorie des Guten

primär verlangten Güter vorschreibt, werden nach dem gemeinsam im Urzustand be-

schlossenen zweiten Gerechtigkeitsprinzip im moralischen Sinne fair und im ökonomi-

schen Sinne gerecht verteilt. Die „Verkettung“65 der Verteilungsauswirkungen garan-

tiert darüber hinaus eine Güterverteilung zu jedermanns Vorteil. Durch rationale Ent-

scheidungen kann sich das Urzustandspersonal somit unabhängig ihrer praktischen Rol-

le in der Gesellschaft, ein individuell erreichbares Minimum des möglichen Wohls si-

chern.

Die Parteien im Urzustand sollen über gerade so viel Wissen verfügen, dass sie

ihre zwei moralischen Fähigkeiten ausleben, das Freiheitsrecht als gesellschaftliches

Grundgut erkennen und eine Güterverteilung mit Perspektive auf die am schlechtesten

Gestellten der Gesellschaft beschließen können. So schließt das im Urzustand beschlos-

sene, selbst auferlegte Differenzprinzip auch in der Praxis ungerechte und willkürliche

Verteilungsmuster aus, während Kants Rechtsphilosophie mit formalen Gerechtigkeits-

grundsätzen ungerechte Verteilungen von Gütern zulässt. Eine rein formale Gerechtig-

keit wie sie Kant vertritt, widerspricht nach Rawls unseren intuitiven Moralvorstellun-

gen, da selbige eine willkürliche Verteilung des Einkommens und des Vermögens durch

den Einfluss der natürlichen Fähigkeiten zulassen. Denn nach Rawls’ anthropologi-

schem Standpunkt, fühlen die sich als moralisch freie und gleiche Menschen betrach-

tenden Bürger, sich in einer Gesellschaft, die eine „natürlicher Lotterie“66 zulässt, unge-

rechtfertigt benachteiligt oder unfair behandelt und es entstünden Neid, Scham sowie

Erniedrigungsgefühle. Eine formale Gerechtigkeit führt demnach zu gesellschaftsinter-

ne Konflikten und würde somit das System inkonsistent machen würden. Den Begriff

der fairen Chancengleichheit vorstellend, stehen in Rawls’ sozialem, liberal demokrati-

63 Vgl. Rawls: TdG, S. 104; 177-181. 64 Rawls: TdG, S. 83. 65 Rawls: TdG, S. 101. 66 Rawls: TdG, S. 94.

18

schem Gesellschaftssystem die Chancen proportional zu den Fähigkeiten der Personen

und korrelieren nicht mit ihrer sozialen Schicht.67 Kant bezieht die Gleichheit im Rech-

ten aus der natürlichen Autonomie des Menschen und die Gleichheit in der Moralität

aus dem angeborenen Prinzip, dass der moralische Wert einer Maxime sich aus dem

Prinzip des Willens ergibt, welches nach Kant nur „unangesehen der Zwecke“68 von

Handlungen gegeben ist und somit ein Ideal bleibt. Rawls bezieht die Gleichheit im

Rechten aus einem künstlichen Zustand, der die natürlichen Eigenschaften freier und

gleicher Menschen auf Kooperationsbereitschaft, Vernunfturteile, ökonomisches

Grundwissen und Selbsterhaltungsbestreben begrenzt, um eine subjektive Zweckgebun-

denheit der Gerechtigkeitsgrundsätze ausschließen zu können und objektive Verhal-

tensnormen zu finden. So kann durch den Schleier des Nichtwissens egoistisches Han-

deln kategorisch ausgeschlossen werden, wie Kant es mit der moralischen Bewusst-

seinszuschreibung intendiert, diesen Gedanken jedoch für die Praxis bei einer Idealvor-

stellung vollkommener Vernunftwesen belassen muss.

Für Kant ist die Möglichkeit, dass das Volk in einem ursprünglichen Vertragszu-

stand zusammen für ein Gesetz stimmen würde, ein „Probierstein“69. Mit diesem gilt es,

zu überprüfen, ob ein öffentliches Gesetz für gerecht gehalten werden kann, wobei sel-

biges bei Bejahung notwendig als rechtmäßiges Prinzip angenommen wird und die

Verwirklichung der Zustimmungssituation rein hypothetisch gedacht ist. Rawls über-

nimmt die Idee einer Überprüfung des Staates durch autonome Individuen und be-

schreibt ein „Schema zur Anwendung der Gerechtigkeitsgrundsätze“70, das auf den Ur-

zustand folgende Dimensionen vorstellt, die in einzelnen Stufen zum Rechtsstaat hin-

führen. Nach dem Schema des Vier-Stufen-Gangs71 begründen sich zuerst in den theo-

retischen Dimensionen der Urzustand und die verfassungsgebende Versammlung, um

darauf aufbauend eine Gesetzgebung festzuschreiben und selbige Regeln auf Einzelfall-

urteile anzuwenden. In dieser Abfolge der Gesellschaftsformung lüftet sich der frie-

densstiftende und rationalitätsichernde (Selbst-)Erkenntnisschleier auf jeder weiteren

Prozessebene etwas mehr. Rawls stellt die These auf, dass sich aus allen Positionen in

die je anderen Stufen hineingedacht werden kann, sodass eine immerwährende Kon-

trollmöglichkeit der Umsetzung der Gerechtigkeitsgrundsätze gegeben ist. Das Hinein-

denken in die verschiedenen Stufen soll in einem reflexiven Austarieren zwischen den

67 Rawls: TdG. S. 93. 68 Kant: GMS, AA 400. 69 Kant: ÜdG, AA 250. 70 Rawls: TdG, S. 229. 71 Vgl. Rawls: TdG, S. 223ff.

19

theoretischen Stufen und den praktischen Stufen geschehen und die Anwendung der

Gerechtigkeitsgrundsätze stets begleiten.72 Als Überprüfungselement dient ein Ver-

gleich des aktuellen Anwendungsstaus der Gerechtigkeitsgrundsätze mit dem „Überle-

gungs-Gleichgewicht“73. Selbiges bezeichnet einen optimalen Zustand, in dem die mo-

ralischen sowie rationalen Personen wissen, dass ihre intuitiven sowie wohlüberlegten

Urteile mit den Gerechtigkeitsgrundsätzen übereinstimmen. Da ein Überlegungs-

Gleichgewicht im Urzustand durch dessen Beschränkungen notwendigerweise gegeben

ist, können die Prinzipien einer Gesellschaft stets durch das Hin- und Hergehen zwi-

schen den verschiedenen Dimensionen des Vier-Stufen-Gangs überprüft oder neu ge-

formt werden.74 Hier zeigt sich, dass der Urzustand bei Rawls als theoretische Aus-

gangssituation ein praktisches Mittel zur Prüfung und Rechtfertigung der Gesellschafts-

prinzipien und institutionellen Strukturen innerhalb eines Staates darstellen soll, wobei

der Urzustand an sich jedoch stets hypothetisch und ahistorisch bleibt, da dessen Bedin-

gungen nur in Annäherungen erfüllt werden können.

72 Vgl. Rawls: TdG, S. 226-227. 73 Rawls: TdG, S. 38. 74 Rawls: TdG, S. 223.

20

III. Schluss

Rawls erkennt die von Kant durch den Naturzustand beschriebene Notwendigkeit einer

staatlichen Ordnung zur Sicherung und Durchsetzung juridischer, friedensstiftender

Prinzipien an und legitimiert durch sein kontraktualistisches Verfahren eine intersubjek-

tiv verbindliche und allgemein akzeptierte Grundstruktur eines Staates. Die für Kant

noch notwendig gewaltvolle Durchsetzung des Rechten,75 welcher die moralischen Sub-

jekte nur rein hypothetisch zustimmen, kann Rawls durch die Beschränkungen des

Schleiers des Nichtwissens überwinden. In seiner konstruktivistischen Argumentation

geht er von einer notwendigen Ausgangssituation in Form des Urzustands aus, der das

Rechte vor das Gute stellt und so das utilitaristische Nutzenprinzip als Gesellschafts-

ordnung ausschließt. Rawls nimmt zur Legitimierung der Gerechtigkeitsgrundsätze

Kants Gedanken der vollkommen gleichen und freien Vernunftwesen im Urzustand auf

und garantiert durch die Bedingung der ökonomisch geprägten Rationalität eine Will-

kürvermeidung in der Grundsatzwahl. Zusätzlich zu Kants liberalen Prinzipien etabliert

er somit Wohlfahrtsüberlegungen sowie moderne demokratische Prinzipen. Rawls be-

schreibt analog zu der Funktion des Kategorischen Imperativs bei Kant mit dem objek-

tiven, allgemeinen Gesetz nach den Gerechtigkeitsprinzipien, einen a priori im Urzu-

stand selber auferlegten Kompass, der den Menschen in seinen a posteriori, materiell

entstehenden singulären Handlungen und Ideen anleitet. So kann sich jeder Einzelne auf

einer abstrakten, rationalen Ebene bewusst machen, wie in einer bestimmten Situation

innerhalb des Gesellschaftssystems moralisch richtig gehandelt wird. Rawls bezieht die

gesellschaftliche Situation der Handelnden ein, erzwingt deren Autonomie durch Un-

wissenheit und schafft somit gegenseitige Achtung und Selbstachtung, um kategorische

Imperative in Form von Gerechtigkeitsgrundsätzen festzulegen. Die freie Wahl einer

Vorstellung des Guten unter den Bedingungen des Gerechtigkeitssinns ist in Rawls’

Vertragszustand in Analogie zu Kants hypothetischer Vertragssituation gegeben.76

Ralws’ Argumentationsstruktur weist jedoch eine Beschränkung der Autonomie

des Urzustandspersonals in der Theorie des Guten auf. Das Überlegungsgleichgewicht

legt fest, dass etwas ist nur dann gut ist, wenn es zu den Lebensformen passt, die mit

den vorhandenen Grundsätzen des Rechten übereinstimmen. Dieses Faktum ergibt sich

75 „Im Zustande der äußeren Gerechtigkeit muß der Anfang seyn die Errichtung einer gnugsamen Gewalt, weil sonst die Gesetze selbst nichtig sind.“ Kant, Immanuel: Handschriftlicher Nachlaß. Moralphiloso-phie, Rechtsphilosophie und Religionsphilosophie (=Kant's gesammelte Schriften, Bd. XIX) Berlin: Rei-mer 1934, S. 564. 76 Rawls: TdG, S. 50

21

aus der Zielgerichtetheit des von Rawls verwendeten kontraktualistischen Arguments.

Um die zwei Grundsätze der Gerechtigkeit im Urzustand zu begründen, muss Rawls

Annahmen über die Beweggründe der Parteien im Urzustand treffen, wozu er einen

Begriff des Guten vorschreibt. Er nimmt hierfür eine Separation zwischen der schwa-

chen Theorie des Guten und der vollständigen Theorie des Guten vor. 77 Die schwache

Theorie des Guten, über die Personen im Urzustand verfügen, indem sie nur das „Aller-

notwendigste“78 der Theorie des Guten zur Begründung der Gerechtigkeitsgrundsätze

heranziehen können, ist dabei den Grundsätzen der Gerechtigkeit vorgeordnet. Die voll-

ständige Theorie des Guten bezieht sich dann a posteriori auf die durch die schwache

Theorie begründeten Gerechtigkeitsgrundsätze und lässt die Bürger individuelle Le-

benspläne entwerfen.79 So ist der Vorrang des Rechten vor dem Guten in Rawls’ Theo-

rie der Gerechtigkeit nur bedingt gegeben, weil ein vorhergehender Begriff des Guten

unabhängig von den Gerechtigkeitsgrundsätzen angenommen wird, obwohl selbiger erst

von freien und gleichen Personen im Urzustand geformt werden soll.

Auch wenn die Fixierung der Grundgüter Rawls’ liberalistische Intention durch

den Gedanken des zweiten Grundsatzes nicht gänzlich von dem ihm selbst gegen den

Utilitarismus formulierten Vorwurf, „die Verschiedenheit der einzelnen Menschen nicht

ernst [zu nehmen]“80 freigesprochen werden kann, so gewinnt Rawls’ bürgerliche Ver-

fassung gegenüber dem Utilitarismus und der kantischen Staatsgründung dennoch mit

Hinblick auf die demokratischen Maßstäbe der Autonomie, Freiheit und Würde wesent-

lich an Gehalt durch den ersten Grundsatz. Den Kontraktualismus auf eine höhere Abs-

traktionsebene hebend, die Ideale Kants in den Schleier des Nichtwissens transformie-

rend, die Spieltheorie in die Prinzipienfindung eines gerechten Staates integrierend, legt

sich nach Rawls eine bürgerliche Gesellschaft autonom ein gerechtes System selbst auf,

das sich intern kontrolliert und stabilisiert. Nicht eingehen kann und möchte81 er näher

auf den Gedanken internationaler Gerechtigkeitsprinzipien. Da Rawls’ ein in sich ge-

schlossenes Wirtschafts- und Prinzipiensystem entwirft und das Differenzprinzip nicht

als universal gültige Prämisse für Frieden ausweist, bedarf die Theorie der Gerechtig-

keit noch einer Untersuchung ihrer Potentiale für eine Übertragung auf internationale 77 Rawls: TdG, S. 434 78 Rawls: TdG, S. 434. 79 Rawls: TdG, S. 50. 80 Rawls: TdG, S. 45. 81„Ich bin zufrieden, wenn es gelingt, einen vernünftigen Gerechtigkeitsbegriff für die Grundstruktur einer Gesellschaft zu formulieren, wobei wir uns diese Gesellschaft vorerst als geschlossenes System vorstellen, das keine Verbindung mit anderen Gesellschaften hat.“ (Rawls: TdG, S. 24) Vgl. auch § 58, in welchem die Urzustandssituation ansatzweise auf eine internationale Dimension, die Gerechtigkeit zwischen Saaten, erweitert wird. (Rawls: TdG, S. 415-420).

22

Dimensionen. Während Kant seine Prinzipien auf einen global friedensstiftenden Ge-

danken ausrichtet,82 beschreibt Rawls keine Beziehung zwischen der Gerechtigkeit als

Fairneß, wirtschaftlichem Fortschritt und einem universalen Frieden. Er weist jedoch

darauf hin, dass seine Gesellschaftskonzeption ausbaufähige Erweiterungspotentiale

offen lässt: „Mit entsprechenden Abänderungen dürfte eine solche Theorie den Schlüs-

sel für manche [...] anderen Probleme bilden.“83 Einen modernen philosophischen Ent-

wurf, der den kontraktualistischen Gedanken von Rawls so modifiziert, dass durch

Konsensfindung eine universale Rechtssicherheit hergestellt und dadurch Frieden si-

chergestellt wird, gilt es erst noch zu entwickeln.

82 Das „Weltbürgerrecht“ ist „notwendig in Beziehung auf die Idee vom ewigen Frieden“ „zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung“ (vgl. Kant: EF, AA 347-350) befindet, der einen Idealzustand bleibt, dessen Maximen der Belehrung von Staaten dienen können (vgl. Kant: EF, AA 368-369). 83 Rawls: TdG, S. 24.

23

IV. Literaturverzeichnis

Immanuel Kant Für die Zitierung von Kants Schriften ist Akademie-Ausgabe verwendet worden: Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften. Hrsg.: Bd. 1-22 Preussische Akademie der

Wissenschaften, Bd. 23 Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Berlin 1900ff.

Kant, Immanuel: Handschriftlicher Nachlaß. Moralphilosophie, Rechtsphilosophie und

Religionsphilosophie (=Kant's gesammelte Schriften, Bd. XIX) Berlin: Reimer 1934.

KpV Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft (=Kant's gesammelte Schrif-ten, Bd. V) Berlin: Reimer 1913.

MS Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten (=Kant's gesammelte Schriften, Bd. V 203-493) Berlin: Reimer 1913.

GMS Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (=Kant's gesammelte Schriften, Bd. IV 385-463) Berlin: Reimer 1911.

ÜdG Kant, Immanuel: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (=Kant's gesammelte Schriften, Bd. VIII 273-313) Berlin: Reimer 1923.

EF Kant, Immanuel: Zum Ewigen Frieden (=Kant's gesammelte Schriften, Bd. VIII 341-386) Berlin: Reimer 1923.

John Rawls Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975. Rawls, John: „Justice as Fairness: Political not Metaphysical“, in: Philosophy & Public

Affairs 14 (1985) H. 3, S. 223-251. Sekundärliteratur Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg.): Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin

Luthers. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984. Stuttgart: Deutsche Bi-belgesellschaft 1999.

Gabler – Gesellschaft/ Gesellschaft und Christentum V (Hrsg.): Theologische Realen-zyklopädie (=Theologische Realenzyklopädie, Bd. 12) Berlin [u.a.]: de Gruyter 1984.

Granovetter, Mark: „Economic Action and Social Structure: The Problem of Embedde-dness“, in: American Journal of Sociology 91 (1985) H. 3, S. 481-510.

Hobbes, Thomas: Leviathan oder der Stoff, Form und Gehalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates (Suhrkamp-Studienbibliothek 18) Berlin: Suhrkamp 2011, Kapitel XIV.

Zimmerling, Ruth: „‚Rational Choice’-Theorien: Fluch oder Segen für die Politikwis-senschaft?“, in: Druwe, Ulrich/Kunz, Volker (Hrsg.): Rational Choice in der Po-litikwissenschaft Grundlagen und Anwendungen. Opladen: Leske/Budrich 1994, S. 14-25.

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V. Anhang

5.1 Plagiatserklärung