codex hammurapi
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* DieAnregungzumvorliegendenAufsatzgehtaufeinSeminarzurück,dasdieVerfasserimSommer-semester1999zusammenmitHerrnProf.HartmutKühneamInstitutfürVorderasiatischeAlter-tumskundederFreienUniversitätBerlinabgehaltenhaben.DerTextbasiertaufeinemVortrag,denM.N.am26.10.2004anderKulturwissenschaftlichenFakultätderUniversitätTübingengehaltenhat.WirdankendenStudierenden,dieamgenanntenSeminarteilgenommenhabensowieFrauDr.IngridLaubeundHerrnDr.AndreasFuchsfürwertvolleAnregungen.
1 ZurFundgeschichtesiehezuletztAndré-Salvini2004,8–11.2 ÜberdiekorrekteSchreibungunddieInterpretationdesNamensherrschtinderwissenschaftlichen
ForschungnachwievorDissens(sieheSasson1995,902).SowohlderersteNamensbestandteilalsauchderzweitelassenunterschiedlicheLesungenzu:DerersteTeilkannalternativalshammu„Hit-ze,Sonne“oderammu„Volk,Ahn,Onkel“gedeutetwerden,derzweitealsrapi„heilen“oderalsrabi„großsein“.DadurchliegenmehrereMöglichkeitenvor:„DieSonneheilt“,„DerAhnheilt“,„DieSonne/Hitzeistgroß“oder„DerAhn/dasVolkistgroß“.DieamweitestenakzeptierteVarian-teinderForschunggehtvoneinerLesung‘ammu-rabi „DerAhn/dasVolkistgroß“aus.M.Streck(2000,38§1.23und208§2.102)schlugdieLesungAmmu-rāpi„DerVatersbruderistheilend“vor.
3 DatennachdersogenanntenUltrakurzchronologievonGascheet al. 1998.4 ZurGeschichteHammurabisundseinesReichessieheu.a.Klengel1991,Charpin2003;vandeMie-
roop2005.Aufgrunddes imPrologbeschriebenenHerrschaftsbereichesmussdieStelenachdem35.RegierungsjahrdesHerrschersaufgestelltwordensein.
5 Potts1999,233.
GABRIeLeeLSeN-NOVáK–MIRKONOVáK
Der„KönigderGerechtigkeit“
ZurIkonologieundTeleologiedes‘Codex’ Hammurapi*
THeMAUNDFRAGeSTeLLUNG
Bei den französischen Ausgrabungen unter der Leitung von J. de Morgan aufderAkropolisderelamischenHauptstadtSusawurde1901–19021eineStelege-funden,dieaufgrundderaufihrangebrachtenInschriftmitderSammlungvonRechtsanweisungendesKönigsHammurapi2vonBabylon(1696–1654v.Chr.3)4als‘Codex’ Hammurapibekanntwurde(Abb.1.2).Siedürfteum1150v.Chr.,alsoca.500Jahrenachihrerentstehung,dorthingelangtsein,alsderelamischeKönigŠutruk-NahhundeimVerlaufseinerFeldzügenachBabylonienDenkmä-lerausTempelnundPalästenraubenundinelamalsTrophäenaufstellenließ5.
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DieInschriftaufderStelestellteinenderbekanntestenundwissenschaftlichammeistendiskutiertenKeilschrifttextedar,dersowohlfürdieGeschichtsschrei-bungderaltbabylonischenZeitwieauchderReligions-undderRechtsgeschichtealsQuelledient6.
WeitwenigerbeachtetalsderTextbliebdasReliefimBildfeld(Abb.3).ZwarmangeltesauchhiernichtanBearbeitungen,dochsinddiesezumeistrechtknapp
6 eineUmschriftdesTextesmitderergänzungdurchParalleltextefindetsichbeiBorger1963;eineÜbersetzungindasDeutschebietetBorger1982.eineneuekompletteTransliteration,TranskriptionundÜbersetzungerfolgtejüngstdurchViel2005.
Abb.1. ‘Codex’ Hammurapi.Frontalansicht(aus:André-Salvini2004,5Abb.1).Abb.2. ‘Codex’ Hammurapi.Seiten-undRückansichten
(aus:André-Salvini2004,13Abb.9–11).
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gehaltenundkommenzueinemehergeringschätzigenFazit.einigeBeispielemö-gendiesverdeutlichen.
Der Begründer der deutschen Vorderasiatischen Archäologie und bedeu-tendsteVertretereinerkunstgeschichtlichenAusrichtungdesFaches,A.Moort-gat,bezeichnetedasBildwerkals„motivlichohneBedeutung“7.DieseMeinungwurdevonU.Seidlgeteilt,die„Themaundeinzelmotive(als)konventionell“8
ansah.J.Börker-KlähnvermerkteinihrerumfassendenAbhandlungzualtvor-derasiatischenBildstelenlapidar:„DiehandwerklicheQualitätdesDenkmalsistdurchweg sehr gut. Die Darstellung hingegen darf wenig Originalität für sichbeanspruchen“9.DerPhilologeF.R.KrausschließlichfällteeinUrteil,welchesinseinerDeutlichkeitnichtszuwünschenübriglässt:„Über(...)dasReliefaufderStelemitdem‘Codex’ HammurapiausSusaimLouvrewüssteichnichtsGuteszusagen;esisteininjederHinsichtschwachesWerk“10.InhaltlichwurdedemBildwerkfolglichnurwenigBedeutungbeigemessen.
Allein die hohe Qualität seiner Ausführung fand Anerkennung: So stellteA.Moortgat11seineBedeutungimHinblickaufstilistischeentwicklungenher-ausundverwiesvorallemaufdieReliefhöhe(Abb.2),worinerdenVersuchdesÜbergangsvom„FlachbildwegzumRundbild“undeinBestrebenzurentwick-lungeinerPerspektiveerkannte.U.Seidlbetontedagegen,dasssichderKünstlernichtvonderparataktischen,vorstelligenKunstdesAltenOrientsgelösthabe,würdigtejedochauchdieungewöhnlich„intensiveBeziehungderbeidenGestal-tenzueinander“,diedadurcherzieltwürde,„dassdiescheinbarimProfildarge-stelltenAugenaufeinanderzublickenscheinen“12.
Das primäre Interesse der traditionellen, kunstgeschichtlichen Richtung derVorderasiatischenArchäologiegaltderaufStilanalyse,MotivforschungundBe-trachtungantiquarischerBesonderheitenaufbauendenDatierung.WeitergehendeUntersuchungenvorallemA.Moortgatswarenzumeistrein ‘intuitiver’Naturundwurdenaufgrundvielerunzureichendbelegter,kulturgeschichtlicherDeu-tungenzumTeilheftigundüberauspolemischkritisiert13.DiesveranlasstediemeistenseinerSchüler,sicheinerreindeskriptivenKunstbetrachtungzuzuwen-den.DadasBildaufdem‘Codex’ HammurapiinscheinbarkonventionellerWeise
7 Moortgat1984,29.8 Seidl1975,300–301.9 Börker-Klähn1982.10 Kraus1972,138.11 Moortgat1984,30–32.12 Seidl1975,300.13 Moortgat1949;kritisiertvonKraus1953.DiepolemischeundinvielenPunktenheftigüberzogene
KritikhieltauchanWerkenvonSchülernMoortgatsan,soanBoese1971durchSürenhagen1975.
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einweitverbreitetesMotivzeigt,wurdediesesfolglichwenigüberraschendalsnichtsonderlichinteressantabgetan.
Wir hoffen, mit dem folgenden Versuch über die Betrachtung von Bild undTextzueinerinhaltlichenDeutungdesBildesunddamitderStelealsGesamt-kunstwerkzugelangen,undaufdieseWeisedasInteressedesJubilars,UweFink-beiner,zuwecken.
DeR‘Codex’ HAmmurApi
Derunregelmäßiggeformte,obenabgerundeteSteindes‘Codex’ Hammurapibe-stehtausschwarzem,glattpoliertemDiorit14(Abb.1.2).ImoberenDritteldervorderen Schauseite befindet sich ein 65 cm hohes und 60 cm breites Bildfeld(Abb.3).DieübrigeOberflächederSteleträgtdieinaltbabylonischerSprachege-halteneInschrift,diesichinhaltlichindreiAbschnitteunterteilenlässt:denPro-log,die‘Gesetze’unddenepilogmitderAufforderungankünftigeKönige,dasBildnisunddenTextzuehrenundzurespektierenundwederZerstörungennochÄnderungenvorzunehmen.Umdemvorzubeugen,werdenallerleiFluchformelnangefügt.ImAufbaufolgtderTexteinemSchema,dasfürBauinschriftenentwi-ckeltwordenist15.
DerTextwurdenachderZeitHammurapisinBabylonienundAssyrienimmerwiederkopiert,wasdaraufverweist,dasseralsWerkderAusbildungvonSchrei-bern,insbesonderevonjuristischtätigen,angesehenwurde.DieVielzahldieserKopienermöglichtdienahezuvollständigeRekonstruktiondesTextes,obgleichdasOriginalimunterenBereichderVorderseitebeschädigtist16.
einRätsel,dasder‘Codex’ HammurapiderwissenschaftlichenForschungauf-gibt,istdieFragenachseinerFunktion:DerWortlautderInschriftlegtnahe,dassessichbeiihrumeinenGesetzestexthandelt,aufdenmanimFalleeinesRechts-streitesreflektierenundihnalsRichtlinieheranziehensollte.Tatsächlichjedochwurde inkeinereinzigenRechtsurkundedieserZeiteindeutigaufden ‘Codex’ Bezuggenommen,auchdeckterkeineswegssämtlicheAspektedeskomplexenRechtswesensBabyloniensab17.
14 einepetrographischeAnalysewurdebislangnichtdurchgeführt.eshandeltsichumeinendemDi-oritverwandtenStein,wieerinderGolfregionsowohlimOmanalsauchimSüdiranauftritt.ZurUntersuchungvergleichbarerSteinskulpturenausMesopotamiensieheLeslie2002.
15 Borger1982,39.16 SiehehierzuBorger1982,39–80.17 Klengel1991,193–195.SiehehierzuweiterhinKraus1972undKraus1984sowieHengstl1999mit
derdortzitiertenLiteratur.
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DARSTeLLUNG,IKONOGRAPHIeUNDTHeMA
ImBildfeldimoberenDrittelder‘Vorderseite’derStele(Abb.3)sindzweiFigurendargestellt,diedurchlangeBärteeindeutigalsmännlichgekennzeichnetsind.DierechteFigursitztaufeinemmehrfachgestaffeltenStuhlohneLehne,ihreFüßesindaufeineninSchuppenreihengegliedertenUnterbaugestellt.DerOberkörperist inFrontalansichtwiedergegeben,währendKopfundUnterkörper imProfilerscheinen.BeideArmesindangewinkelt,derlinkeengandenKörperangelehnt,dieHandzurFaustgeballt,derrechtedagegennachvornegestreckt,inderHandeinenRingundeinenStabhaltend.
Abb.3. Bildfelddes‘Codex’ Hammurapi.Frontalansicht(aus:Orthmann1975,Abb.181)
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Bekleidet ist die Gestalt mit einem langen Stufengewand, das lediglich dierechteSchulterunddenrechtenArmunbedecktlässt.AusbeidenSchulterner-wachsenderFigurstrahlenartigeGebilde,jeweilsindreiwellenförmigeSträngegegliedert.SieträgteinendickenNackenknotenundeinehohekonischverlaufen-deMütze,diemitviergeschwungenenHörnernverziertistunddereinedicke,annähernd im Profil wiedergegebene Scheibe aufgesetzt ist. Diese in der Göt-terikonographie obligatorische, als ‘Hörnerkrone’ bezeichnete Kopfbedeckungerlaubtes,dieFigureindeutigalsGottheitzuidentifizieren.DasStufengewand–eineVariationdesvonGötterngetragenenFalbelgewandes–unterstreichtdie-se Deutung. Die aus den Schultern wachsenden, wellenförmigen Gebilde sindaufgrund zahlreicher Parallelen als Sonnenstrahlen zu deuten, der Aufsatz aufderHörnerkronealsSonnenscheibeundderschuppenverzierte‘Fußschemel’alsstilisierteBergdarstellung.AlledieseAttributelasseneineDeutungderFiguralsSonnengottŠamašalssichererscheinen18,obgleichDarstellungendesthronendenSonnengottesinaltbabylonischerZeitausgesprochenseltensind19.
DemSonnengottgegenüberstehtdiezweitemännlicheFigur,dieebenfallseinlangesGewandträgt,dasdierechteSchulterunddenrechtenArmfreilässt,je-dochnichtinhorizontaleStufengegliedertist,sonderninschweren,vertikalenFaltenbiszudenKnöchelnherunterfällt.Derlinke,vomGewandverdeckteArmistangewinkeltundengandenKörperangelehnt,derrechte,ebenfallsangewin-kelteArmdagegenderarterhoben,dasssichdiegeöffneteHandvordemMundbefindet.AufdemKopfträgtdieFigureineabgerundeteKappemiteinerbreitenKrempe.SiefindetsichaufzahlreichenDarstellungenderneusumerischenundaltbabylonischenZeitwiederundwirdals‘Breitrandkappe’angesprochen–auf-grund gesicherter Parallelen die typische Kopfbedeckung von Königen dieserZeit.DasichdieDarstellungaufeinerSteledesKönigs Hammurapibefindet,derimTextselbstmehrfacherwähntwird,kanndieFigurungeachtetderfehlendeneindeutigenBenennungalsebendieserHerrschergedeutetwerden.DerGestusdererhobenenHandwirdmitdemliterarischbezeugtenAusdrucknīš qātim20„die erhebung der Hand“, genauer „Beten“, in Verbindung gebracht, weswe-gen die Szene als Adoration gedeutet wird. Nicht auszuschließen ist auch ein
18 Dabeiistesunerheblich,obderGottselbstoderseinKultbilddargestelltist,daeinesolcheDiffe-renzierunginderaltorientalischenBildkunstnurseltenangestrebtwurde.SelbstimSprachgebrauchwurdekaumunterschieden:DasBilddesGotteswurdezumeisteinfachalsderGottselbstbezeich-net.SiehehierzuBerlejung1998,61.
19 Braun-Holzinger1996,243.VerbreiteteristderTypusdes‘aufsteigenden’Gottes,dereine‘Säge’inderHandhält(Braun-Holzinger1996,326–327).AlsDeutungderSägewurdendieerstenSonnen-strahlenamfrühenMorgenvorgeschlagen,welchedieDunkelheitzerschneiden(Janowski1989,49Anm.156;Black–Green1992,182–183),oderdieDarstellungeinesgezahntenSchlüssels(Ferioli–
Fiandra1993).20 Aufdem‘Codex’ HammurapibezeugtinKolumneIIIZeile56.
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ZusammenhangmitdemGestusappa labānu „dieNase streichen“,womitdasPreisenundRühmeneinesGottesdurchdenAdorantensignalisiertwird21.
DasdargestellteMotivkannalsverkürzteVersiondesseitderneusumerischenZeitbekanntenThemasdersogenannteneinführungsszenegedeutetwerden22.BeidieserwirdderKönigvoneiner‘einführendenGottheit’23anderHandge-haltenundvoreinender‘GroßenGötter’geführt,wobeierzudemvoneinersogenanntenFürbittendenGöttin,akkadischLama,begleitetwird.Inaltbabylo-nischerZeitwirdaufdie‘einführendeGottheit’zunehmendverzichtet.Ledig-lichdie‘FürbittendeGöttin’erscheintmeistnoch,kannaber–wieimFalledes‘Codex’ Hammurapi –ebenfallsentfallen.
Als Besonderheiten der Darstellung auf dem ‘Codex’ Hammurapi könnenerstens die feinherausgearbeitete Körperlichkeitder Figuren undzweitens diestrikteProfildarstellungderKöpfe– insbesonderederAugenundderHörner-kronedesGottes–gelten,stellensiedocheineNeuerungdieserepochedar.
DerältesteBelegfürdieProfilansichtderHörnerkronefindetsichaufdernurwenigeJahrefrüherentstandenenWandmalereiimHof106imPalastvonMari,dersogenannten‘InvestiturdesZimrī-Lim’24.Hier,wieauchaufeinerReihevonRollsiegeln,liegtdieengsteikonographischeParallelezum‘Codex’ Hammurapi vor.
Sowohlaufdem‘Codex’alsauchaufder‘Investitur’stehtderKönigvoreinerGottheit, die ihm Stab und Ring entgegenstreckt. Im unmittelbaren VergleichzeigensichjedochdeutlicheUnterschiede,aufdiebislangnurvereinzelthinge-wiesenwordenist.ImGegensatzzuHammurapistrecktZimrī-LimseinerseitsdieHandausundscheintRingundStabergreifenzuwollen25.
DasDarreichenvonRingundStablässtsichinderaltorientalischenBildkunstvonderAkkad-Zeitbisindiesāsānidische26epoche,alsoüberzweieinhalbJahr-tausende,nachweisen.DieInsignienwerdendabeivonunterschiedlichen,entwe-derthronendenoder‘aufsteigenden’Götterngehalten,vordenenderKönigalsAdorantoderalssiegreicherTriumphatorerscheint.IneinigenFällen–wieder‘InvestiturdesZimrī-Lim’–ergreiftderHerrscherdenRing,worausgeschlossenwurde,dassderGestusalsÜberreichenvonHerrschaftsinsignienzudeutenist.
21 Magen1986,104–108.22 ZurVerkürzungder‘einführungsszene’inaltbabylonischerZeitsieheMoortgat1984,24undBoeh-
mer1975,336–337.23 AufdenBildwerkenundSiegelbildernGudeasvonLagaš istdiese eindeutig alsNingišzidda,der
FamiliengottundpersönlicheSchutzgottGudeas identifiziert.Spätererfolgt ikonographischeine‘Anonymisierung’der‘einführendenGottheit’.
24 Parrot1958;Moortgat1964.25 ZurThese,dassdieSzeneeininRaum66desPalastesvonMariangesiedeltesRitualdarstellt,siehe
al-Khalesi1978.26 ZumBeispielaufdenFelsreliefsvonFiruzabadundNaqš-iRustam,diedieInvestiturdesArdašīrI.
zeigen(erdmann1969,Taf.19.20.24.27.28;sieheweiterhinSchippmann1990,123–125).
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einschränkendmussjedochdaraufhingewiesenwerden,dassesindergesamtenaltorientalischenIkonographiekeineDarstellunggibt,indereinKönigRingundStabalsköniglicheAttributebeisichträgt.
WasgenaudurchRingundStabsymbolisiertwerdensoll,wirdkontroversdis-kutiert.DiemeistenAutorengehenvoneineraufallenDarstellungenidentischenFunktionvonRingundStabaus.OftwurdedieThesegeäußert,eshandelesichum ein aufgerolltes und daher ringförmig erscheinendes Maßband und einenMessstab, beides Instrumente, die den Charakter des Herrschers als BauherrnvonTempelnsymbolisieren27.DanebenistjedochauchdieVermutunggeäußertworden,dassderRingmitdemNasenringidentischsei,dengefangeneFeindezutragenhabenundmittelsdessensieaneinemLeitseilgehaltenwürden28.DerStabseidaheralsschematischeWiedergabedesLeitseilszusehen.
WenighilfreichbeiderDeutungsinddieTexte.Sowerdenimaltbabylonischenetana-Mythos lediglich eine Kappe kubšum, eine Tiara me‘ānum, ein SzepterhattumundeinStabšibirrumalsInsigniendesKönigtumsgenannt29.DieshatzuderVermutunggeführt,derStabaufdenDarstellungenseimitdemhattum zuidentifizieren,fürdenhäufigerbezeugtenRingkannjedochkeinBegriff inAnspruchgenommenwerden30.
InderbislangjüngstenStudiezumThemahate.Bosshard-Nepustilheraus-gearbeitet,dassbeideDeutungen inderBildkunstzubelegensind,eineDiffe-renzierungfolglichvorgenommenundjedeDarstellungeigensbetrachtetwerdenmuss31.Sokönne imFalledes ‘Codex’ HammurapibeigenauererAutopsiedesObjektesbeobachtetwerden,dassessichbeidemvermeintlichenStabumeinenkeilförmigen,untenspitzzulaufendenSchreibgriffelhandele.einsolcherseiauchaufanderenDarstellungenzuerkennen,wiedasBeispieleinesRollsiegelszeige.DerRingselbstseidemnachalsallgemeingültigeInsigniederMachtzudeuten,währendderGriffeleinendirektenBezugzum ‘Codex’, einerInschriftenstele,aufweise.
STRUKTUR32
BereitsderVergleichdermitRingundStabverbundenenGestenaufdem‘Codex’ Hammurapi(Abb.4)undder‘InvestiturdesZimrī-Lim’(Abb.5)zeigtauffällige
27 André-Salvini2004,22–23;zurälterenLiteraturüberdieseDeutungsieheBosshard-Nepustil2003,52–54
28 Bosshard-Nepustil2003,54–55.29 Krecher1976–1980,109–111.30 Braun-Holzinger1996,243.31 Bosshard-Nepustil2003.32 DieStrukturforschung,dienicht,wieoftfälschlicherweisevermutetwird,aufdenStrukturalismus
vonC.Lévi-Strausszurückgeht,wurdeindenzwanzigerunddreißigerJahrendes20.Jh.geprägtund
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UnterschiedederbeidenDarstellungen,diesichaufdieWahrnehmungderBezie-hungzwischendenjeweiligenProtagonistenauswirken.WirddieKompositions-strukturderDarstellungeneinmalgenauerbetrachtet,solassensichKompositi-onsachsenfinden,diedieseUnterschiedeformalunterstützen.
Vernachlässigtmanbeim‘Codex’ HammurapidieTatsache,dassŠamašimGe-gensatzzumKönigsitztunddadurch faktischgrößer ist, liegtkompositorischeineIsokephalievor.
einunmittelbarerKontaktzwischendenFigurenwirdlediglichdadurchher-gestellt,dassderlinkeellenbogendesKönigsvondemRingtangiertwird.
einedirekte,miteinanderkommunizierendeBeziehungderFigurenwirddemBetrachterdesWeiterendurchdenfürdamaligeDarstellungenungewöhnlichen
voralleminderKlassischenArchäologieindenfünfzigerJahrenstarkdiskutiert(sieheBachmann1996, 9–11; Borbein 2000, 122–124; Hölscher 2002, 89–90; Weissenrieder – Wendt 2005, 19–20).DieStrukturforschungsiehtinderformalenStruktureingeneratives,hinterdeneinzelphänomenenstehendesPrinzipeinesFormensystems.DieserAnsatzdientalsAusgangspunktfürdieAnalysederentstehungsbedingungendesObjekts,deserwartungshorizontsderRezipienten,derhistorischenerwartungenunddersozialenFunktionderArtefakte.
Abb.4. ‘Codex’ HammurapimitKompositionsachsen(Zeichnung:elsen-Novák).Abb.5. ‘InvestiturdesZimrī-Lim’mitKompositionsachsen(nachParrot1958,pl.XI).
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Blickkontakt,der inderProfildarstellungderAugenbegründet ist, suggeriert.WirdeineAchsevomAugeHammurapiszumAugedesGottesgezogen,sozeigtsichdeutlich,dassletzteresimBildfeldtieferzuliegenscheint,derKönigsomitgewissermaßenaufdenGottherabblickt.Diesstellteinungewöhnliches,nursel-tenbezeugtesPhänomeninderaltorientalischenIkonographiedar,wiewieder-umderVergleichmitder‘InvestiturdesZimrī-Lim’zeigt.
DurchdasAugedesGottesverläuftzudemeineKompositionsachse,die imRockzipfeldesKönigsbeginnt,überdenUnterkörperdesGottesverläuftundinderSonnenscheibeaufderHörnerkroneendet.DieTatsache,dassderBildhauerzuderenerzeugunggezwungenwar,einatypisches,leichtesVorschwingendesRockzipfelsdesKönigszugestalten,zeugtvonderbewusstenAnlagedieserwiewohlauchderübrigenAchsen.
FürdieBeziehungzwischendenbeidenFiguren ergeben sichweiterewich-tigeKompositionsachsen,wenndieArmbegrenzungsliniendesGottesverlängertwerden.esentstehengefächerteAchsen,dieallesamtineinemPunktamrech-tenellenbogendesKönigszusammenlaufen.VerbundenmitdemausgestrecktenArmundderaufHammurapiweisendenHanddesŠamaš,diedieBewegungs-richtungvorgeben,offenbartsichdadurchdemBetrachtereinevonderGottheitausgehendeAktion,dieihrZielimKönighat.DeraktivePartderBeziehungbe-ziehungsweisederBewegungscheintsomitvonŠamašeingenommenzuwerden,währendderKönigdenFokusderAktiondarstellt.
DieVerwendungsolcher,einedynamischeBewegungerzeugenderAchsenistinderälterenundgleichzeitigenBildkunstVorderasiensnichtbezeugtundbleibtauchinderFolgezeiteherungewöhnlich.AlsGegenbeispielseiwiederumaufdie‘InvestiturdesZimrī-Lim’hingewiesen,beiderzwarimGegensatzzum‘Codex’ auchderKönigaktivist,dieaberaufdieVerwendungvonverbindendenKompo-sitionsachsenweitgehendverzichtet.
STIL33UNDÄSTHeTIK34
DochnichtnurimHinblickaufdiebeschriebenenKompositionselementeimBild-feldstelltder ‘Codex’ HammurapieineBesonderheitdar.Keinesderbekannten
33 UntereinemStilverstehtmandieästhetischeeigengesetzlichkeitdervisuellenkünstlerischenAn-eignungderWirklichkeit (Riegl1893;Wölfflin1948).IndermodernenKunstgeschichtesowie indenkunstgeschichtlichenZweigenderArchäologiedientdieStilanalysebeziehungsweisedieStilkri-tikdereinordnungvonKunstwerkenineinebestimmteepoche,einebestimmteRegionoderauchderZuordnungzueinembestimmtenKünstler.
34 ZumBegriffderÄsthetikinderbildendenKunstschriebJ.Burckhardt:„DieHauptsacheistimmerdieWirkungdesKunstwerkesaufdenMenschen,dasentzündeneinerentgegenkommendenPhantasie“
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älteren altorientalischen Reliefs zeigt die bereits angesprochene, schon von A.Moortgathervorgehobene,plastischeDarstellungsformderFiguren.
DieteilweisekräftigmodelliertenKörperscheinensichgeradezuausdemRe-liefgrundherauszuheben,sodassdieperspektivischanmutendeProfildarstel-lungderGesichterundinsbesonderederAugenerzeugtwerdenkann:WährendNaseundMundnurleichterhabendargestelltsind,wölbensichWangeundBartstarknachvorneundbildensomitgewissermaßeneinedemBetrachternäherlie-gendeRaumebene.DieAugensitzendabeigenauimBereichderzurückfallendenFlankenderWangen,wodurchsievomBetrachtertatsächlichimProfilwahrge-nommenwerden.InsofernkanndereingangszitiertenBewertungA.Moortgatszugestimmtwerden.
DiefeineModellierungderFigurenwirdnichtzuletztauchdurchdasextremharteMaterialderStele,demschwarzenDiorit,ermöglicht.Dieserüberauswert-volle,daausdemLande‘Magan’,alsodemSüdiranoderOman,importierteSteinstelltealleineschonwegenseinerSeltenheiteinenbesonderenWertdarundsym-bolisierteWohlstandundProsperität35.DieDauerhaftigkeitdesSteinswarnachAussage mehrerer Textbelege zur erschaffung von ‘Statuen für die ewigkeit’besondersgeeignetundwurdebeiderHerstellungvonHerrscherbildernselbstBronzevorgezogen36.
InderInschriftaufderebenfallsausDioritbestehendenStatueBdesneusume-rischenKönigsGudeaheißtes:
„AndieserStatuewirdniemandwederedelmetallundauchnichtLapislazuli,wederKupfernochZinnnochBronzeverarbeiten;siebestehtnurausDiorit(na4esi)“37.
(Burckhardt1992,35).WährendimantikenundhumanistischenVerständnisdie‘Kunstalserkennt-nis’giltund somitdieAufgabederÄsthetik inderBetrachtungdesmetaphysischenewig ‘Schö-nen’,desallgemeingültigenIdeals,liegt,wirdindermodernenForschungmitihrerAuffassungvon‘KunstalsHandeln’derkulturelleAspektderÄsthetikzunehmendindenVordergrundgestellt:DasResultatistdieerkenntnis,dassein‘Schönheit’definierendesästhetischesempfindenkulturimma-nentundsomitnichtallgemeingültigundunveränderlichist(Gethmann-Siefert1995undHauskeller1999).DerForschungsrichtungderSemiotikzufolgeistdieÄsthetikeinkommunikativesWertesys-tem,dasdieFormderBotschaftundihreStrukturdeterminiert.Diesgeschieht,wenndieBotschaftzweideutigstrukturiertundautoreflexivistunddadurchdieAufmerksamkeitdesBetrachtersaufdieFormdesObjekteslenkt(eco1994,145–146).KünstlerischesGestalten–gleichobinMalerei,SkulpturoderArchitektur–bedeutet,eineAussagezuerzielen,diesichhinterdemkünstlerischenObjekt,demDargestellten,verbirgt.AkzeptiertmandiekommunikativeundästhetischeFunktiondesSchaffensals‘Kunst’,sodarfmanauchvoneineraltorientalischenKunstsprechen.
35 Vogel2000,70–71.36 Mythos „Lugal ud me-lám-bi nir-gal“, Zeilen 463–497, siehe Vogel 2000, 71 und v. a. Selz 2001,
389–391.DioritwurdeauffälligerweisenurfürHerrscherbilderbenutzt.Götterbilderdagegenwur-denalsKompositstatuenausverschiedenenMaterialienhergestellt.ZurmöglichenDeutungdiesesUmstandessieheSelz2001,392–393.
37 Steible1991,173Kolumne7Zeile49–54.
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VermutlichliegtimWertdesMaterialsauchderGrunddafür,dassderetwasun-förmigeMonolithnichtweiterzubehauenundgleichmäßigabgearbeitetwurde,wodurcherehereinerMassebegleichtalseiner‘echten’Stele(Abb.2).
DerstarkpolierteDioritbesitzteinebesondereWirkung:SeineglatteOber-flächereflektiertdasLichtinerheblichemMaße.BetrachtenwirdieDarstellungdahingehend,zeigtsich,dassaufdieseWeisenichtnurihreräumlicheWirkungunddieohnehinkräftigeModellierungderFigurenunterstrichenwird,sondernauchdievorspringendenBereichegeradezuzuglänzenbeginnen,wodurchdereindruckerwecktwird,dassdieFigurenaussichselbstherauszustrahlenschei-nen.Hinzukommt,dassjenachLichteinfallundLichtquellevölligunterschied-licheLicht-Schatteneffekteerzeugtwerdenkönnen,wasdemBildwerkeinege-wisseLebendigkeitverleihtundzugleichaucheinegewisse‘mystische’Wirkunghervorruft.
AntikeTextelehrenuns,dassmansichderbeschriebenenLichteffektedurch-ausbewusstwarundihrerbediente.WenneinObjektals‘schön’qualifiziertwer-densollte,wurdennichtseltenAusdrückewiezumBeispielnamru„scheinend“benutzt oder es wurde mit barīru „Strahlen“, šalummatu „Schimmer“ oderrašubbatu„Glühen“verbunden38.
Das Zusammenspiel der wohldurchdachten, ausgewogenen Harmonie derKomposition,derplastischenDarstellungsformderkräftigmodelliertenFigurenund der diese Plastizität unterstützenden und gleichzeitig sich verselbständi-genden erscheinungsweise des verwendeten Materials macht im WesentlichendenästhetischenReizderDarstellungaufdem‘Codex’ Hammurapiaus.Zuräs-thetischenWirkungderStele imGesamtengehörtauchdieerscheinungsweisederInschrift,dieineinerarchaischen,sehrgleichmäßigausgebildetenPaläogra-phiegehaltenundinklarstrukturiertenKolumnenangeordnetist.SelbsteinderSchriftunkundigerBetrachterkannsichderAnziehungskraftdesSchriftfeldeskaumentziehen.DasLesendesTextesdürfteindessenwohlselbstsomanchemSchriftkundigendieserZeitnichtallzuleichtgefallensein.
IKONOLOGIe39
AufbauendaufdenbisherigenZwischenergebnissenkannnuneinVersuchderikonologischen deutung des Bildwerks unternommen werden. Allerdings stel-lendiekulturelleDistanzunddie immernoch sehr lückenhafteKenntnisvon
38 Winter1995,2573–2575.Zum‘Strahlen’alsTeildesgewünschtenerscheinungsbildeseinerStatueoderStelesieheauchBerlejung1998,59.
39 eineinderKunstgeschichtelangeetablierteMethodezurBetrachtungvonKunstgegenständenbildetdieikonologiee.Panofskys(Panofsky1932.1939.1978.1985.1993).DieseanalysierteinBildwerkalserzeugniseineskulturellen,sozialenoderideologischenUmfeldesundversucht,seinen‘Inhalt’
2006 DeR„KöNIGDeRGeReCHTIGKeIT“ 143
SymbolwertendesAltenOrientsgroßeHindernissehierfürdar,dienuransatz-weiseüberbrücktwerdenkönnen.Hierinbegründet liegtdieTatsache,dass inderVorderasiatischenArchäologiebislangnurwenigeVersucheeinerIkonologieunternommenwurden.
Betrachtenwirzunächsteinmal,welcheHinweiseunsdieInschriftaufdem‘Codex’ Hammurapibietet.ImTextwirddasVerhältniszwischenderInschrif-tensteleundeinemBildnisdesKönigsfolgendermaßenumschrieben:
awâtīja šūqurātim ina narīja ašturma ina mahar salmīja šar mīšarim ukīn(XLVII,74–78).„MeinekostbarenWortehabe ichaufmeineStelegeschriebenundvormeinBildnamens‘KönigderGerechtigkeit’gesetzt.“
etwasspäterheißtes:awīlum hablum ša awātam iraššû ana mahar salmīja šar mīšarim lillikma narî šatram lištassima awâtīja šūqurātim lišmema narî awātam likallimšu(XLVIII,3–16).„eingeschädigterBürger,dereineRechtssachebekommt,mögevormeinBildnisnamensšar mīšarim‘KönigderGerechtigkeit’treten,meinebeschrifteteStelemögeerlesen,meinekostbarenWortemögeerhören,meineStelemögeihmdieRechtssa-cheerklären.“
esbleibtindiesemKontextzunächstunklar,obdasgesamteObjektsamtBild-feldalsnarû„Stele“verstandenwirdunddas salmu„Bild“namens„KönigderGerechtigkeit“eineStatuebezeichnet,diederStelegegenüberstand,oderobmit
beziehungsweiseseine ‘Bedeutung’zuerfassen.Hierfürerstellte.PanofskyeindreistufigesVer-fahren,dasüberdieBeschreibungderphänomenologischenSpezifikaunddieerfassungderIkono-graphieaufdieeigentlicheIkonologieabzielt.DiesemModellzufolgewirdineinemerstenSchrittmittelsdervitalenDaseinserfahrung–alsoderVertrautheitmitGegenständenundereignissen–dasPhänomen selbst betrachtet. Als Korrektiv dient dabei die Gestaltungs- beziehungsweise Stilge-schichte,dieaufdereinsichtindieArtundWeisebasiert,wieunterwechselndenhistorischenBe-dingungenGegenständeundereignissedurchFormenausgedrücktwerden.DerAktderInterpre-tationisteineVor-ikonographische BeschreibungdesKunstwerkes.IneinemzweitenSchrittwirdaufderGrundlagederKenntnis literarischerQuellenderBedeutungssinnerfasst,wasalsikono-graphische Analysebezeichnetwird.DerenKorrektivistdieTypengeschichte,alsodieeinsichtindieArtundWeise,wieunterwechselndenhistorischenBedingungenbestimmteThemenoderVor-stellungendurchGegenständeundereignisseausgedrücktwerden.DiedritteStufedientderiko-nologischen interpretationdesKunstwerkes,alsoderBestimmungdereigentlichenBedeutungoderdesGehaltes,derdieWeltsymbolischerWertebildet.Hierzuisteine ‘synthetischeIntuition’,dieVertrautheitmitdenwesentlichenTendenzendesmenschlichenGeistes,vonnöten.Diesewirddurchdie Kenntnis der ‘Weltanschauung’ einer epoche ermöglicht. Als Korrektiv dient die GeschichtekulturellerSymptomeoderSymbole,alsodieeinsicht indieArtundWeise,wieunterwechseln-denhistorischenBedingungenwesentlicheTendenzendesmenschlichenGeistesdurchbestimmteThemen und Vorstellungen ausgedrückt werden. Das in der kunstgeschichtlichen Forschung vieldiskutierteSysteme.Panofskys(Kaemmerling1994)stehtineinemgewissenSpannungsverhältniszuderausihrentwickelten,heutedominierendenRichtungderkunstgeschichtlichen Hermeneutik,dienichtden‘Sinn’einesKunstwerkes,alsoseineBedeutung,sonderndasKunstwerkselbstjenseitsseinerimmanentenÄsthetikuntersucht(Bätschmann1978.1988.1996.ZudenGrenzeneinerHer-meneutikaltorientalischerKunstwerkesieheBonatz2000,5).
144 GABRIeLeeLSeN-NOVáK–MIRKONOVáK BaM37
narû lediglichdasTextfeldaufdem ‘Codex’undmitdem„Bild“dasRelief imoberenBereichderStelegemeintist40.InsbesonderedieletztgenanntePassagederInschriftverführteeinigeForscherdazu,diezweiteInterpretationvorzuziehen41.SoverlockenddieseDeutungist,stehtihrzunächstderWortlautina/ana mahar entgegen,dereindeutigeineräumlicheBeziehung,nämlichdiedes„davor“,be-zeichnet.Nunkönnteman–würdemandenTextstrapazierenwollen–einese-mantischweitergefassteLesungannehmenundvermuten,dasBild,welchesineinemgewissenAbstandbetrachtetwerden sollte, sei „vor“demText,dernurausnächsterNähegelesenwerdenkann,wahrnehmbar.AuchwurdebereitsvonI.WinterderStandpunktvertreten,dassinaoderana maharmit„inAnwesen-heitvon“zudeutenseiundfolglicheineIdentitätdesBildnissesšar mīšarimmitdemReliefaufdem‘Codex’gegebensei42.
AlsGegenargument istangeführtworden,dassnachAusweisder Jahres-namenslistendasJahr22Hammurapisalsdasjenigebezeichnetwird,indemdasBildnisvonHammurapials„KönigderGerechtigkeit“aufgestelltwordenist:mualamHammurabilugalníg-si-sá.Dader‘Codex’erstnachdemJahr35hergestelltwordenseinkann,sprächediesfürzweigetrennteObjekte.Demistwiederumentgegenzuhalten,dassdieals‘Codex’ HammurapibezeichneteStelekeineswegseineinzelstückwar; alleine inSusa sindFragmenteweiterer,wohl identischerObjektegefundenworden43.ZudemwirdausderInschriftselbstdeutlich,dassdieOriginalstele imMarduktempelesangila inBabylonaufgestelltwordenist.DievonŠutruk-Nahhundegeraubten,nahedes ‘Codex’gefundenenBildwerkestammenjedochlautSekundärinschriftzumeistausSipparoderešnunna.erstseinSohnKutir-NahhunderaubteObjekteausBabylonselbst,darunterdieSta-tuedesMarduk44.esließesichdaherdurchausvermuten,dasbislangnichtauf-gefundeneOriginalsei imJahr22 inBabylonaufgestelltworden,währenddasunsbekannteObjekteinejüngereKopieausdemJahr35oderspätermiteinemaktualisiertenTextimPrologsei,welchesinSipparaufgestelltwar.
40 DassemantischeFelddesakkadischenTerminus salmuistentsprechendweitgesteckt:DerBegriffkannsichsowohlaufeinrundplastischesAbbildalsaucheineReliefdarstellungbeziehen.Ausschlag-gebendwar,dassdemsalmueineeigeneIdentitätbeigemessenwurdeundinihmwenigereinreinesAbbildalsvielmehreinenStellvertreterdesDargestelltensah.SiehehierzudieAusführungenvonWinter1992undBonatz2002,insbesondere13.
41 eineBeziehungdesNamens„KönigderGerechtigkeit“zudemBildwerkaufdem‘Codex’ Hammurapi wirdvoneinigenForschernangenommen,daruntervonRenger1975–76,234undSeidl2001,120.AuchAndré-Salvini2004,27magdieseDeutungtrotzeinschränkungennichtausschließen.SieheweiterhinBelegebeiBosshard-Nepustil2003,63Anm.72.
42 Winter1997,366.43 Kraus1984,62–63.44 Nun ist natürlich nicht auszuschließen, dass der ‘Codex’ erst von Kutir-Nahhunde verschleppt
wurde,aufgrunddesFundkontextesistjedochwahrscheinlicher,dasservonŠutruk-NahhundeausSipparentferntwurde.ZurGeschichtederelamischenRaubzügesiehezuletztPotts1999,233–238.
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LetztendlichwirdkaumeinebefriedigendeLösungdesProblemsgebotenwer-denkönnen,obdenndieDarstellungimBildfelddes‘Codex’selbstals‘BilddesKönigsderGerechtigkeit’45zudeutenistoderletztereseinederStelegegenüberaufgestellteStatuemeint.InjedemFallzeigtdieerwähnungeinesBildwerkesna-mens„KönigderGerechtigkeit“,dasseseinenentsprechendenBildtypusgegebenundsichdieserformalundinhaltlichvonanderenKönigsdarstellungenwiedemdes‘KönigsalsKrieger’oderals‘Bauherr’oderebenauchderWiedergabeeiner‘Investitur’unterschiedenhat.DassdasBildaufdem‘Codex’ HammurapiebendiesenTypusdarstellte,erscheintäußerstwahrscheinlich.
WiewirbeiderformalenAnalysegesehenhaben,übernimmtderthronendeSonnengottdenaktivenHandlungspartderbeidenFiguren.ŠamašgaltimAltenOrientalsoberster,göttlicherRichter46,derinvielenTexten–darunterauchdemepilogdes‘Codex’–dasepithetondajjānum rabûm ša šamê u ersetim„GroßerRichterdesHimmelsunddererde“trägt.DahinterstehtdieVorstellung,dassdasLichtderSonnealleDingeerreicht,derGottsomitallessehenundbeobach-tenkann.ŠamašnunerteiltHammurapinachAussagedesTextesdieAufgabe,mīšarum„Gerechtigkeit“herbeizuführenundzugarantieren.
HammurapiseinerseitsbehauptetimPrologkīma dŠamaš ana salmāt qaqqadim„wiederSonnengottüberdenSchwarzköpfigen“aufzugehen(I,40–41).ZudemisterdŠamaš Bābilim mušēsi nūrim ana māt Šumerim u Akkadim„derSonnen-gottvonBabylon,derdasLichtaufgehenlässtüberdemLandSumerundAkkad“(V,4–9).ImbabylonischenOnomastikonfindensichNamenwieHammurapi-Šamšī„HammurapiistmeinSonnengott“47.
Die Rechtsanleitungen werden vom König erlassen, worin ein wesentlicherUnterschiedzudenGebotenderThoraliegt,dievonGottselbststammenundanMoseslediglichübergebenwerden.Hammurapiistderjenige,derSorgedafürträgt,dass„derStarkedenSchwachennichtschädigt“,undder„derWaiseundder Witwe zu ihrem Recht“ (XLVII, 59–61) verhilft. er fungiert dabei als ir-discherStellvertretervonŠamaš,unddiesindessenAuftrag48.
ebendieseAspektekommenimBildzumTragen.DiedurchdendirektenBlick-kontakthervorgerufeneengeBeziehungzwischendenFigurenerhebtdenKönigineinebesonderePositionundstelltihnineineungewöhnlichvertrauteNähezumGott. Die Darstellungsachsen verdeutlichen die vom Gott ausgehende Aktion,
45 Dafür,dassdieDarstellungaufdem‘Codex’grundsätzlichalsKönigs-undnichtalsGottes-Bildzudeutenist,sprichtdieVerwendungvonDiorit,welches–zumindestbeiStatuen–aufHerrscherbild-nissebeschränktwar.SiehehierzuSelz2001.
46 ZurFunktiondesSonnengottesals‘morgendlicherRetterundRichter’inMesopotamiensieheJa-nowski1989,19–97.
47 Klengel1976,157.48 DiesstehtinkeinemWiderspruchzuderseitdieserZeiteinsetzendenerhöhungMarduks,desStadt-
gottesvonBabylon,andieSpitzedesPantheons(Sommerfeld1982).DerRechtsaspektbliebweiter-hindemSonnengottvorbehalten.
146 GABRIeLeeLSeN-NOVáK–MIRKONOVáK BaM37
sprichdieerteilungdesAuftragsandenKönig.DieAugenhöheschließlich,diedenKönigaufdenGotthinabsehenlässt,stelltinVerbindungmitderdurchdieextremeGlättungdesMaterialserreichten,geradezumystischverklärten, strah-lendenWirkungderFigurenaufsubtileWeiseeineÜberhöhungHammurapisalsPersondar.DurchRingundGriffelwirdderBezugzurMachtundzumAuftrag,dieStelemitdemGesetzeswerkzuerrichten,hergestellt.
DasBildistkeineswegsalsreineIllustrationderTextaussagezuwerten.Bild-typen besitzen ihre eigene, veränderliche inhaltliche Dynamik, während ihreschriftlichfixierteDeutungeinejeweilszeitgebundene,spezifischeist.DieTat-sache,dasssichdasBildaufdem‘Codex’ HammurapiausdemMotivder‘ein-führungsszene’entwickelthat,belegtdies:DieMotivgeschichtequalifiziertdasBildalsDarstellungeinesbestimmtenThemas–derAdorationdesKönigsvoreinemder‘GroßenGötter’.DurchdieReduktiondesMotivsaufKönigundGottwird jedochdeutlich,dassderKönigdasMediumder ‘einführenden’undder‘FürbittendenGottheit’nichtmehrbenötigt.GemäßseinergesteigertenPositiontritteralleinevordenGott.
DasBildprogrammdes‘Codex’ HammurapierweistsichinseinerIkonologiealsvölliganderskonzipiertalsdasjenigeaufderetwa400JahreälterenSteledesakkadischen Königs Narām-Sîn, des ersten mesopotamischen Herrschers, derseinen Namen mit einem Gottesdeterminativ schreiben und sich selbst mit ei-nerHörnerkronedarstellenließ.TrotzallerzurSchaugestellter‘Bescheidenheit’Hammurapis,dersichniedirektvergöttlichenließ,erscheinteraufseinemBild-werkdennochalseinePersoninerhabenerPosition,dienichtnurüberbesondereFähigkeitenzuverfügen,sonderngeradezuindiegöttlicheSphäreentrücktzusein scheint. es ist diese propagierte, von den Göttern verliehene, persönlicheQualifikationdesKönigs,die imSinneM.Webers als ‘Charisma’49bezeichnetwerdenkann.BildundTextergänzendabeieinanderinderFormulierungdieserquasi-ideologischenAussage.
FUNKTIONUNDTeLeOLOGIe
Aufbauend auf dieser erkenntnis kann nun der Frage nach der Funktion desBildwerkes nachgegangen werden. Als ein mögliches Hilfsmittel hierfür kann
49 InderRealitäthandeltees sichbeidembabylonischenKönigtumnichtumeinaufdasCharismabezogenes;HammurapiwurdeKönig,weilerderSohnseinesVorgängerswar.Ungeachtetdesexis-tierenden dynastischen Prinzips basierte ideologisch die Herrscherlegitimation auf persönlicherTüchtigkeitundderUnterstützungdurchdieGötter,ebeneineszumindestpropagiertenCharismas(Novák1999,25–38).DiepolitischenerfolgeHammurapisverdeutlichtendessenCharismaebensowiesein–durchvieleBriefeanseineBeamteattestiertes–engagementbeiderSicherungsozialerOrdnung.
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einParadigmaausdenkommunikationstheoretischenWissenschaftenderSemi-otik50unddesKonstruktivismus51aufgegriffenwerden.DenenzufolgeistKulturgrundsätzlich als ein Kommunikationsprozess zu verstehen und folglich jedesKulturphänomenalsZeichensystemaufzufassen.DiesgiltgleichermaßenfürAr-chitekturwiefürDenkmälerderBildkunst.
Bis zu einem gewissen Grade wurde die semiotische Botschaft des ‘Codex’ HammurapibereitsimRahmenderIkonographieundIkonologieangesprochen,diejaansichschonTeilderSemiotiksind52.WieaberistderenÜbermittlungvon-stattengegangen?AuchhierzuisteinBlickindenTextderInschriftvonnöten.
InderbereitszitiertenStelleimepilogheißtes,dasseingeschädigterBürgerimFalleeinerRechtsunsicherheitvordasBildnisdes‘KönigsderGerechtigkeit’tretenundaufderbeschriftetenSteledieRechtslageüberprüfenmöge.Nunkannmit großer Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die meisten BewohnerMesopotamiensIlliteratenwaren.Selbstdiejenigen,diebeispielsweisealsHänd-lerübergenügendSchriftkenntnisseverfügten,umUrkundenanzufertigenoderzumindestzulesen,warensicherlichkauminderLage,deninarchaischenZei-chenfestgehaltenen,fastschonliterarischenTextzuentziffern.Immerhinkannvermutetwerden,dassesnahedemAufstellungsortderSteleLeute–eventuellprofessionelleSchreiberoderPriester–gab,diedenTextvorlesenkonnten.
Angesichts der Ikonologie geht man wohl kaum fehl in der Annahme, dassdiedamalsgängigenBildtypenvondenantikenBetrachterninihrerjeweiligenBedeutung verstanden wurden, so sicherlich auch das Relief auf dem ‘Codex’ Hammurapi.DerBetrachterdesBildesdürfte–gemäßdes semiotischenPara-digmas–dieBedeutungverstandenhaben,wusstefolglich,welcheFunktionBildundStelegemeinsamhatten.DiesewirdimepilogderInschriftauchgenannt:DasBild sollteebensowiedieStelemīšarī ina mātim lištēpi„meine (d.h.desKönigs)GerechtigkeitimLandesichtbarwerden“(XLVII,87–88)lassen.Diese„Gerechtigkeit“warTeileinerkonnektivenStruktur,die–wieJ.Assmannaus-führt–„alssymbolischeSinnwelteinengemeinsamenerfahrungs-,erwartungs-
50 eco1994;elsen-Novák–Novák2005.51 WiedieSemiotik,sopostuliertauchderKonstruktivismus,dassBilderkeineauthentischenWie-
dergaben der Wirklichkeit sind, sondern dass sie „durch gesellschaftliche Konventionen geprägt“(Hölscher2000, 161)unddadurchkulturellkodierteKonstrukte sind. Während die Semiotik je-dochdiedurchdasBildtransponierteBotschaftzumGegenstandihrerUntersuchungmacht,gehtderKonstruktivismusverstärktdenMechanismenderÜbermittlungnach,alsoderFrage,wiederVorgangdesSehensunddamitdesVerstehenserzeugtunddadurcheineWirklichkeitkonstruiertwird.InnerhalbderkonstruktivistischenAnsätze lassensichzweiRichtungendifferenzieren:derradikaleundderSoziale Konstruktivismus.BeidegehenvonderPrämisseaus,dassMenschenkei-nenodernureinenindirektenZugangzueinerobjektivenRealitäthaben.InderAnnahmederselbstorganisierendenProzesseunterscheidensichdiebeidenAnsätzejedochgrundlegend.SiehehierzuzusammenfassendWeissenrieder–Wendt2005,38–48.
52 Hölscher2000,160.
148 GABRIeLeeLSeN-NOVáK–MIRKONOVáK BaM37
und Handlungsraum bildet, der durch seine bindende und verbindliche KraftVertrauenundOrientierungstiftet“53.einesolchermaßendefinierte‘Gerechtig-keit’stellteimVerständnisdesAltenOrientskeinenzuschaffendenNeuzustanddar,sonderndenvondenGötternfestgelegtenUrzustand,derimLaufderZeitverunstaltetwordenwarunddenesdaherwiederherzustellengalt54. IndiesemSinneistunteršākin mīšarim,dem„StiftervonGerechtigkeit“,eigentlich–wieF.R.Krausbetont–der„WiederherstellervonGerechtigkeit“zuverstehen55.eintüchtigerKönigzeichnete sichdadurchaus,dasserdenIdealzustandder ‘Ge-rechtigkeit’restaurierte.UnterebendiesenGesichtspunktensinddieRechtsver-ordnungendesAltenMesopotamiensaufzufassen.
LetztendlichsolltedieserAkt–wieauchderepilogdes‘Codex’ Hammurapi bestätigt (XLVIII,20–59)–dazuführen,dassalleMenschenderWeisheitundGerechtigkeitdesKönigsgegenwärtigwerdenunddiesenvordenGötternprei-sen,umihnalstüchtigenKönigauszuweisen.DochUntertanenundGöttersindnichtdieeinzigen,vielleichtnichteinmaldiewesentlichenRezipientenderBot-schaftdes‘Codex’ Hammurapi:AlsletztendlicheAdressatenwerdenimepilogdie„künftigenKönige“,alsodieNachweltgenannt.Diesewerdenaufgefordert,BildnisundInschriftzuehrenundwederZerstörungennochÄnderungenvor-zunehmen.
Darauslässtsichschließen,dassder‘Codex’ Hammurapieinikonischesundtextliches Instrument der Mnemotechnik darstellt. Sein Zweck bestand darin,diebesondereQualifikationunddamitauchdieLegitimationHammurapisderUmwelt,denGötternundinsbesondereauchderNachweltvorAugenzuführenundihnalsHerrscherfigurimkulturellenGedächtnis56Mesopotamienszuver-ankern;einUnterfangen,dasihmletztendlichgelungenist57.
FAZIT
DasBildwerkaufderals‘Codex’ HammurapibezeichnetenStelestelltdieinderInschriftbeschriebeneBeziehungzwischendemSonnengottundoberstenRich-terŠamašunddemKönigdesneugeschaffenenGroßreichesvonBabylonikonischdar.DieseBeziehunggehteinhermitdemvonŠamašandenHerrschererteiltenAuftrag,durchdasGesetzeswerksozialeGerechtigkeit,RechtundOrdnungaufderWeltfestzusetzen.KompositorischwieikonographischwirdaufsubtileWei-sederKönigindiegöttlicheSphäredesSonnengotteserhoben.Indemsichder
53 Assmann1997,16.54 ZumidealisiertenVergangenheitsverständnisimAltenOrientsieheMaul1997,112–113.55 Kraus1984,10.56 Zum‘kulturellenGedächtnis’sieheAssmann1997.57 Braun-Holzinger–Frahm1999,144–147.
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Herrscherals‘SonnengottderMenschen’zumoberstenRichterauferdenmachtundfürGerechtigkeitsorgt,kommterseinerVerpflichtungnachundweistsichsowohlalslegitimerMittlerzwischenMenschenundGötternwieauchalsGarantder irdischenOrdnungaus.Auch illiterateBetrachterdes ‘Codex’ HammurapikonntenmittelsderbesonderenBildsprache,DarstellungsformundÄsthetikdesBildwerkesdieseAussagewahrnehmenundverstehen.DasZiellagdarin,dieLe-gitimitätdesKönigsgegenüberdenGötternundderNachweltdarzustellen.
ObgleichdasBeispieldes‘Codex’ HammurapiAndereszuvermittelnscheint,mussabschließend festgehaltenwerden,dass sichdieerschließungvonIkono-logieundTeleologieeinesaltorientalischenBildwerkesweitaus schwierigerge-staltetalsbeiDenkmälernderModerneoderselbstderKlassischenAntike.DertiefekulturelleGraben,derdenmodernenForschervomantikenObjektbezie-hungsweiseseinemerschaffertrennt,erschwertdieinhaltlicheDeutunginkaumüberwindbaremMaße.AuchdieDeutungderTexteistnichtohnesemantischeProbleme,wodurch jeglicheHarmonisierungvonTextundBildbeeinträchtigtwird. Dennoch erscheint es in einzelfällen – und ein solcher ist der ‘Codex’ Hammurapi –möglich,durcheinselektivesZurückgreifenaufeinzelneInstru-menteausverschiedenenMethodenundderenKombinationzustichhaltigenRe-sultatenzugelangen.Zubedenkenistjedoch,dasskaumeinBildwerksogünstigeVoraussetzungenhierfürbietetwieder‘Codex’ Hammurapi.erstensistdasBildikonographisch wenig komplex und daher verhältnismäßig leicht dekodierbar,zweitenslässtsicheinebetonteKonzeptionimHinblickaufÄsthetikundIko-nologiefassenunddrittensfindenwiraufdemObjektselbsteineInschriftmitdirektenundindirektenHinweisenzurDeutungvor.
Gerade dies zeichnet dieses Bildwerk jedoch als etwas Besonderes aus, undzwarauchimHinblickaufMotivundIkonographie.
KURZFASSUNG
Dieals‘Codex’ HammurapibekannteSteledesbabylonischenKönigsHammurapierlangteihreeminentekulturgeschichtlicheBedeutungdurchdasGesetzeswerk,dasinKeilschriftaufihrangebrachtist.DasRelief,welchesdenoberenBereichziert, zeigt den Herrscher im Gebetsgestus vor dem thronenden Sonnengott.Obgleichdieseszudenherausragendenkünstlerischenerzeugnissenderaltba-bylonischenZeitzählt,istesbislangnurseltenGegenstandkunstgeschichtlicherInterpretationengewesen.DieTatsache,dasssichimRahmentextderInschrifteinigewichtigeHinweiseaufseineIkonologieundTeleologiefinden,wurdeda-beizumeistnurunzureichendberücksichtigt.DieaufderBetrachtungvonBildundTextbasierendeinhaltlicheDeutungderStelezeigt,dassdiesedieLegitimitätundQualifikationdesKönigsgegenüberdenGötternundderNachweltverdeut-lichensollte.
150 GABRIeLeeLSeN-NOVáK–MIRKONOVáK BaM37
Adresse:
Gabriele elsen-Novák m.A.pd dr. mirko NovákAltorientalisches Seminareberhard Karls universität TübingenSchloss72070 Tübingen
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