dnebm: misshandlung von saeuglingen und kleinkindern - zwangsvorsorge-untersuchungen sind der...

1
DNEbM: Misshandlung von Sa ¨uglingen und Kleinkindern – Zwangsvorsor- ge-Untersuchungen sind der falsche Weg Johannes Forster Wirksame Vorbeugung sollte auf gezielte Fu ¨ rsorge fu ¨ r Risikofamilien setzen. Im Jahr 2006 hat der Tod von Kindern durch Vernachla ¨ ssigung, Misshandlung und unterblie- bene Fu ¨ rsorge fu ¨ r großes Aufsehen gesorgt. Lo ¨ sungen werden gesucht, solche Ereignisse zu verhindern. Ein Vorschlag lautet, Kinder- vorsorge-Untersuchungen verpflichtend ein- zufu ¨ hren und damit Fa ¨ lle von Kindesmiss- handlung oder Vernachla ¨ssigung zu erkennen. Das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Me- dizin (DNEbM) nimmt hierzu folgendermaßen Stellung: Das Ziel, die Zahl von Kindesvernachla ¨ ssigung und Kindesmisshandlung zu vermindern, wird vom DNEbM ausdru ¨ cklich unterstu ¨ tzt. Es gibt jedoch keinen Beleg dafu ¨ r, dass ein Zwang zu Vorsorgeuntersuchungen beim Kin- derarzt eine wirksame Vorbeugung gegen Vernachla ¨ ssigung oder Gewalt gegen Kinder ist. Solche eindeutigen Belege gibt es hingegen fu ¨ r die aufsuchende Fu ¨ rsorge von Hochrisiko- familien durch ausgebildetes Personal. Es gibt keinen Grund, eine unbelegte und mo ¨ glicherweise wirkungslose Zwangsvorsorge einzufu ¨ hren, wenn es eine nachgewiesener- maßen wirksame Alternative gibt. Mo ¨ glichst lu ¨ ckenlose Vorsorgeuntersuchun- gen bei Kindern sind wu ¨ nschenswert, aber nicht um Vernachla ¨ ssigung, sondern um sich anbahnende medizinische Defizite zu erken- nen und entsprechende Gegenschritte zu ver- anlassen. Erla ¨ uterung: In der Frage, mit welchen Methoden Kindes- vernachla ¨ ssigung und Kindesmisshandlung vorgebeugt werden kann, gibt es eine an- sehnliche Basis wissenschaftlicher Untersu- chungen. Belgische Wissenschaftler haben im Jahr 2004 eine Analyse der internationalen Studien vorgelegt, in denen Fru ¨ hpra ¨ vention durch Aufsuchen von Hochrisikofamilien un- tersucht wurde . Diese Programme zeigten ei- nen signifikanten Ru ¨ ckgang der Vernachla ¨ s- sigung von und der Gewalt gegen Sa ¨ uglinge und Kinder durch diese Maßnahme. Solche Belege fehlen aber fu ¨ r die Wirkung von Zwangsuntersuchungen. Keine Untersu- chung oder Studien zeigt, dass mit einer Zwangs-Vorsorgeuntersuchung Vernachla ¨ s- sigungen und/oder Misshandlungen von Sa ¨ uglingen und Kleinkindern vorgebeugt wer- den ko ¨ nnte. Das wa ¨re auch nicht zu erwar- ten. Gegen Zwangsuntersuchungen spricht na ¨ mlich, dass misshandelnde oder ver- nachla ¨ ssigende Eltern ha ¨ ufiger den Arzt wechseln, so dass ein einzelner Arzt sich kein solides Bild machen oder einen langja ¨ hrigen Patienten-Arzt-Kontakt aufbauen kann. Dies wa ¨ re zur Entdeckung von Vernachla ¨ ssigung von oder Gewalt gegen Kinder jedoch not- wendig. Der politischen Forderung, Zwangsuntersu- chungen zur Einda ¨ mmung von Misshandlung und Vernachla ¨ ssigung einzufu ¨ hren, fehlt also nicht nur ein Beweis oder zumindest Hinweis auf einen Nutzen fu ¨r die Kinder. Der Vor- schlag la ¨ sst auch mo ¨ gliche ‘‘Nebenwirkun- gen’’ außer Acht. Die Vorsorgeuntersuchun- gen fu ¨ r Kinder werden heute von u ¨ ber 90 Prozent der Eltern akzeptiert. Diese Eltern bringen ihre Kinder zum Kinderarzt, weil sie ihm und seiner Kompetenz vertrauen, Ent- wicklungsdefizite rechtzeitig zu erkennen und betroffene Kinder optimal zu fo ¨ rdern. Dieses bei u ¨ ber 90% der deutschen Eltern bestehen- de Vertrauen ginge verloren gegenu ¨ ber ei- nem Kinderarzt, der einen staatlich verordneten ‘‘Misshandlungs-Check’’ durch- fu ¨ hren mu ¨ sste. Außerdem lenken Zwangsun- tersuchungen von sinnvolleren Alternativen ab. Schlussfolgerung: Die Forderung, zwangsweise Vorsorgeunter- suchungen fu ¨ r Kinder einzufu ¨ hren, ist der nicht ausreichend durchdachte Versuch, ein soziales Problem auf medizinischem Weg zu lo ¨ sen. Nach den bislang vorliegenden Unter- suchungen gibt es dafu ¨ r keine Erfolgsgaran- tie. Vielmehr lenkt der Vorschlag von nachgewiesenermaßen wirksamen Maßnah- men ab. Das DNEbM befu ¨ rwortet aufgrund der aktuel- len internationalen wissenschaftlichen Litera- tur die aufsuchende Fu ¨ rsorge in Hochrisiko- familien um die Zahl der Misshandlungen und Vernachla ¨ ssigungen von Sa ¨ uglingen und Kleinkindern signifikant zu senken. Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Johannes Forster, MME (Bern) - Mitglied des Vorstands des DNEbM - Kinderabteilung St. Hedwig St. Josefskrankenhaus Sautierstr. 1 D-79104 Freiburg Tel. +49 (761) 2711 2800 E-Mail: [email protected]. ARTICLE IN PRESS 172 Z.a ¨ rztl. Fortbild. Qual.Gesundh.wes. (ZaeFQ) doi:10.1016/j.zgesun.2007.02.015 Evidenz im Blick

Post on 31-Oct-2016

212 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: DNEbM: Misshandlung von Saeuglingen und Kleinkindern - Zwangsvorsorge-Untersuchungen sind der falsche Weg

ARTICLE IN PRESS

1

DNEbM: Misshandlung von Saugling

Evidenz im Blick en und Kleinkindern – Zwangsvorsor-ge-Untersuchungen sind der falsche Weg

Johannes Forster

Wirksame Vorbeugung sollte auf gezielteFursorge fur Risikofamilien setzen.Im Jahr 2006 hat der Tod von Kindern durchVernachlassigung, Misshandlung und unterblie-bene Fursorge fur großes Aufsehen gesorgt.Losungen werden gesucht, solche Ereignissezu verhindern. Ein Vorschlag lautet, Kinder-vorsorge-Untersuchungen verpflichtend ein-zufuhren und damit Falle von Kindesmiss-handlung oder Vernachlassigung zu erkennen.Das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Me-dizin (DNEbM) nimmt hierzu folgendermaßenStellung:Das Ziel, die Zahl von Kindesvernachlassigungund Kindesmisshandlung zu vermindern, wirdvom DNEbM ausdrucklich unterstutzt.Es gibt jedoch keinen Beleg dafur, dass einZwang zu Vorsorgeuntersuchungen beim Kin-derarzt eine wirksame Vorbeugung gegenVernachlassigung oder Gewalt gegen Kinderist.Solche eindeutigen Belege gibt es hingegenfur die aufsuchende Fursorge von Hochrisiko-familien durch ausgebildetes Personal.Es gibt keinen Grund, eine unbelegte undmoglicherweise wirkungslose Zwangsvorsorgeeinzufuhren, wenn es eine nachgewiesener-maßen wirksame Alternative gibt.Moglichst luckenlose Vorsorgeuntersuchun-gen bei Kindern sind wunschenswert, abernicht um Vernachlassigung, sondern um sichanbahnende medizinische Defizite zu erken-nen und entsprechende Gegenschritte zu ver-anlassen.

Erlauterung:

In der Frage, mit welchen Methoden Kindes-vernachlassigung und Kindesmisshandlung

72

vorgebeugt werden kann, gibt es eine an-sehnliche Basis wissenschaftlicher Untersu-chungen. Belgische Wissenschaftler haben imJahr 2004 eine Analyse der internationalenStudien vorgelegt, in denen Fruhpraventiondurch Aufsuchen von Hochrisikofamilien un-tersucht wurde . Diese Programme zeigten ei-nen signifikanten Ruckgang der Vernachlas-sigung von und der Gewalt gegen Sauglingeund Kinder durch diese Maßnahme.Solche Belege fehlen aber fur die Wirkungvon Zwangsuntersuchungen. Keine Untersu-chung oder Studien zeigt, dass mit einerZwangs-Vorsorgeuntersuchung Vernachlas-sigungen und/oder Misshandlungen vonSauglingen und Kleinkindern vorgebeugt wer-den konnte. Das ware auch nicht zu erwar-ten. Gegen Zwangsuntersuchungen sprichtnamlich, dass misshandelnde oder ver-nachlassigende Eltern haufiger den Arztwechseln, so dass ein einzelner Arzt sich keinsolides Bild machen oder einen langjahrigenPatienten-Arzt-Kontakt aufbauen kann. Diesware zur Entdeckung von Vernachlassigungvon oder Gewalt gegen Kinder jedoch not-wendig.Der politischen Forderung, Zwangsuntersu-chungen zur Eindammung von Misshandlungund Vernachlassigung einzufuhren, fehlt alsonicht nur ein Beweis oder zumindest Hinweisauf einen Nutzen fur die Kinder. Der Vor-schlag lasst auch mogliche ‘‘Nebenwirkun-gen’’ außer Acht. Die Vorsorgeuntersuchun-gen fur Kinder werden heute von uber 90Prozent der Eltern akzeptiert. Diese Elternbringen ihre Kinder zum Kinderarzt, weil sieihm und seiner Kompetenz vertrauen, Ent-wicklungsdefizite rechtzeitig zu erkennen undbetroffene Kinder optimal zu fordern. Dieses

Z

bei uber 90% der deutschen Eltern bestehen-de Vertrauen ginge verloren gegenuber ei-nem Kinderarzt, der einen staatlichverordneten ‘‘Misshandlungs-Check’’ durch-fuhren musste. Außerdem lenken Zwangsun-tersuchungen von sinnvolleren Alternativenab.

Schlussfolgerung:

Die Forderung, zwangsweise Vorsorgeunter-suchungen fur Kinder einzufuhren, ist dernicht ausreichend durchdachte Versuch, einsoziales Problem auf medizinischem Weg zulosen. Nach den bislang vorliegenden Unter-suchungen gibt es dafur keine Erfolgsgaran-tie. Vielmehr lenkt der Vorschlag vonnachgewiesenermaßen wirksamen Maßnah-men ab.Das DNEbM befurwortet aufgrund der aktuel-len internationalen wissenschaftlichen Litera-tur die aufsuchende Fursorge in Hochrisiko-familien um die Zahl der Misshandlungen undVernachlassigungen von Sauglingen undKleinkindern signifikant zu senken.

Korrespondenzadresse:Prof. Dr. med. Johannes Forster, MME (Bern) -Mitglied des Vorstands des DNEbM -Kinderabteilung St. HedwigSt. JosefskrankenhausSautierstr. 1D-79104 FreiburgTel. +49 (761) 2711 2800E-Mail: [email protected].

.arztl. Fortbild. Qual.Gesundh.wes. (ZaeFQ)doi:10.1016/j.zgesun.2007.02.015