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SWP-Studie Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Heinz Kramer Die Türkei und die Kopenhagener Kriterien Die Europische Union vor der Entscheidung S 39 November 2002 Berlin

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SWP-StudieStiftung Wissenschaft und PolitikDeutsches Institut für InternationalePolitik und Sicherheit

Heinz Kramer

Die Türkei und dieKopenhagener KriterienDie Europäische Union vor der Entscheidung

S 39November 2002Berlin

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Inhalt

Problemstellung und Empfehlungen 5

Die Vorgaben der EU 7Der Beschluß von Helsinki 7Das Dokument über die Beitrittspartnerschaft 9Kurz- und mittelfristige Prioritäten 9Das Problem der Beurteilung 11

Die politischen Kriterien von Kopenhagenim türkischen Kontext 13Stabile Institutionen 13Regierung 14Parlament � Wahlen � Parteien 14Organisierte Interessen und Zivilgesellschaft 19Das Militär als politische Institution 20Rechtsstaat 23Menschenrechte 26Todesstrafe 27Folter 27Strafvollzug 29Meinungs- und Vereinigungsfreiheit 30Partei- und Politikverbote 32Minderheitenschutz 33Das Kurdenproblem 34Nichtmuslimische Minderheiten 35

Schlußfolgerungen 36

Abkürzungen 38

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SWP-BerlinDie Türkei und die

Kopenhagener KriterienNovember 2002

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Problemstellung und Empfehlungen

Die Türkei und die Kopenhagener Kriterien.Die Europäische Union vor der Entscheidung

Zwischen der EU und der Türkei ist ein Streit darüberentbrannt, ob die Türkei die politischen Kriterien vonKopenhagen in einem Grade erfüllt, daß die Union ihrein Datum für den Beginn von Beitrittsverhandlungennennen kann � aus türkischer Sicht: nennen muß.Damit geraten jene Bedingungen erstmals umfassen-der in die politische Diskussion, mit denen die EUsicherstellen will, daß ihre künftigen Mitglieder dendemokratischen Standards gerecht werden, die dieUnion in Artikel 6 des EU-Vertrages zur normativenGrundlage ihrer Existenz gemacht hat.

Eine Beilegung des Streits zwischen der Türkei undder EU ist kein leichtes Unterfangen, denn es zeigtsich, daß dafür eine Reihe von Fragen beantwortetwerden müssen: Was verstehen zum Beispiel die EUund die Türkei jeweils konkret unter den verschiede-nen Kriterien? Sind die Vorgaben der EU eindeutiggenug? Wann kann von einer Erfüllung der Bedingun-gen gesprochen werden? Was hat die Türkei tatsäch-lich getan, um den Kriterien gerecht zu werden?

Die nachfolgende Analyse der EU-Bedingungen,ihrer Rezeption durch die Türkei und der bishergetroffenen türkischen Maßnahmen kommt zufolgenden Ergebnissen:! Die politischen Kriterien von Kopenhagen stellenkeine objektive Meßlatte dar. Sie sind für politischeInterpretation hochgradig offen, und die Entschei-dung, ob sie erfüllt sind, ist eine politische. Das istletztlich die Konsequenz aus der unterschiedlichenKonkretisierung so allgemeiner Kriterien wie Rechts-staatlichkeit, Minderheitenschutz oder Garantie derMenschenrechte in den einzelnen EU-Staaten. Nichteinmal die »Übersetzung« dieser Kriterien in konkretepolitische Maßnahmen im Rahmen der sogenanntenBeitrittspartnerschaft und ihre praktische Ausdeutungund Anwendung in den jährlichen Fortschrittsberich-ten der Europäischen Kommission haben zur Entwick-lung eines einheitlichen Musters oder Maßstabs ge-führt.! Das politische Institutionensystem der Türkei zeigtin weiten Bereichen (Regierung, Parteien, Wahlen,Zivilgesellschaft usw.) große Ähnlichkeiten mitden Verhältnissen in der EU oder in den Ländernder anderen Beitrittskandidaten. Es ist im Sinne derKopenhagener Kriterien als »stabil« anzusehen.

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Problemstellung und Empfehlungen

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! Das Militär spielt in der Türkei eine politische Rollewie sonst nirgends in der EU und in anderen Kandi-datenländern. Die Militärführung agiert als selbstän-diger politischer Akteur, dem Politik und Öffentlich-keit das Recht zugestehen, zu allen relevanten innen-und außenpolitischen Fragen Stellung zu nehmen.Und die Stellungnahmen und Präferenzen der Militär-führung haben erhebliches politisches Gewicht. IhreSonderstellung ist durch institutionell-organisato-rische Maßnahmen, wie die Änderung der Zusammen-setzung des Nationalen Sicherheitsrates zugunstender zivilen Seite, kaum nachhaltig zu korrigieren.Nur in einem längeren politischen Prozeß läßt sichdas vorherrschende Verständnis von »nationalerSicherheit« und damit von dem als legitim angesehe-nen Aktionsraum des Militärs im Sinne zivil-demo-kratischer Normen ändern.! Der türkische Rechtsstaat ist nicht vollkommen.Die noch vorhandenen formalen Mängel sind jedochnicht gravierender als die in jenen EU-Mitgliedstaaten,aus denen man in jüngster Zeit zunehmend Klagenüber die Vernachlässigung rechtsstaatlicher Prin-zipien vernimmt. Das gilt gleichermaßen für die poli-tische Einßußnahme auf das Rechtswesen oder dieübermäßig lange Dauer von Prozessen. Die größtenDeÞzite bestehen auf der materiellen Seite der türki-schen Rechtsstaatlichkeit. Immer noch lassen gesetz-liche Regelungen im Bereich der Menschen- und bür-gerlichen Freiheitsrechte hinsichtlich der Erfüllungdemokratischer Mindeststandards Wünsche offen.! Mit der Verfassungsänderung vom Oktober 2001und den nachfolgenden drei Paketen zur Anpassungdes Gesetzesrechts hat die Türkei jedoch wesentlicheSchritte unternommen, um ihre Rechtsnormen mitdem in der Beitrittspartnerschaft geforderten Stan-dard der Menschenrechte in Einklang zu bringen.Insbesondere die Abschaffung der Todesstrafe, dieErmöglichung kurdischer Rundfunk- und Fernsehsen-dungen sowie kurdischen Unterrichts an privatenLehranstalten und die deutliche Abschwächung desGesinnungsstrafrechts haben die rechtlichen Voraus-setzungen dafür geschaffen, daß sich das politischeKlima des Landes entkrampfen kann. Hier ist dieTürkei von politischen Tabus abgerückt.! Es bleibt abzuwarten, wie schnell sich die Gesetzes-änderungen auch in einer veränderten Justizpraxisniederschlagen. Die ersten Erfahrungen in dieserHinsicht sind gemischt. Vor allem bei der Bekämpfungvon »separatistischem Terror« und »islamischemReaktionismus« werden Staatsanwälte und Richternoch häuÞg von den alten Reßexen des absoluten

Staatsschutzes geleitet. Die EU sollte daher ihre Unter-stützung für die »Umschulung« der Justizangehörigenintensivieren.! Das gilt auch mit Blick auf die fortdauernde Praxisvon Folter und unmenschlicher Behandlung im Poli-zeigewahrsam, die für die Aktivitäten der Sicherheits-organe allgemein charakteristisch ist. Hier sind, auchmit umfangreicher EU-Hilfe, die Schulungsmaß-nahmen auf allen Ebenen zu verstärken, um mittel-fristig jene Einstellungsänderungen zu bewirken, diezur strikten Beachtung der eigentlich ausreichendenSchutzgesetze notwendig sind.! Die Türkei kann sicher noch nicht als eine invollem Umfang funktionierende liberale Demokratiewesteuropäischen Zuschnitts bezeichnet werden. Dasgilt allerdings für mehrere andere Beitrittskandidatenebenfalls. Doch haben sich in der Türkei seit Herbst2001 im innenpolitischen Kampf die Pro-EU-Kräftegegen die Bewahrer des Status quo immer wiederdeutlich durchgesetzt. Diesen Trend sollte die EUweiter stützen.

Aus diesen Überlegungen werden folgendeEmpfehlungen abgeleitet:! Im Interesse der eigenen Glaubwürdigkeit solltedie EU die bisherigen erheblichen Anstrengungen derTürkei würdigen und ihr beim Europäischen Rat inKopenhagen im Dezember 2002 einen Termin für denBeginn von Beitrittsverhandlungen nennen. In Fragekäme etwa der Sommer 2004, nach Beendigung deraktuellen Erweiterung um zehn neue Mitglieder. An-fang 2003 könnte die analytische Prüfung der türki-schen Verhältnisse auf Übereinstimmung mit demgemeinschaftlichen Besitzstand durch die Kommis-sion � das sogenannte Screening � beginnen.! Die Union sollte die Eröffnung dieser Perspektiveaber an die strikte Bedingung knüpfen, daß die Türkeibis zum Beginn der Beitrittsverhandlungen in derAbarbeitung der prioritären Aufgaben der Beitritts-partnerschaft weitere Fortschritte macht. Insbesonde-re sollte das Zusatzprotokoll Nr. 6 zur EuropäischenMenschenrechtskonvention (EMRK) bis dahin ebensoratiÞziert sein wie die beiden VN-Pakte, die 2000unterzeichnet wurden. Darüber hinaus müssen dieFoltervorwürfe deutlich seltener werden. Eine Rück-nahme bereits verabschiedeter Reformen, wie sie vonder Nationalistischen Aktionspartei (MHP) beabsich-tigt wurde, wäre völlig inakzeptabel.

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Der Beschluß von Helsinki

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Die Vorgaben der EU

Der Europäische Rat beschloß auf seiner Tagung inHelsinki am 10./11. Dezember 1999, die Türkei mitden zwölf anderen Beitrittskandidaten der laufendenErweiterungsrunde auf eine Stufe zu stellen. Auch inbezug auf Ankara sollten demnach die verschiedenenMaßnahmen der Beitrittsvorbereitung in Gang gesetztwerden, die in Verhandlungen über eine türkischeEU-Mitgliedschaft münden sollen. Der konkrete Be-ginn dieser Verhandlungen hängt von der Erfüllungder an sie geknüpften Bedingungen ab.

Mittlerweile ist zwischen Ankara und Brüssel einStreit darüber aufgekommen, ob die Türkei dieseBedingungen nunmehr erfüllt hat, die EU ihr folglicheinen Termin für den Beginn von Beitrittsverhandlun-gen nennen muß. Ankara bewertet insbesondere denjüngsten Fortschrittsbericht der Europäischen Kom-mission1 als »weit davon entfernt, zufriedenstellendzu sein«,2 und erhebt den Vorwurf, die jüngstenReformmaßnahmen würden nicht objektiv gewür-digt.3 Eine Klärung � sie wird nicht leicht sein � sollauf dem Treffen des Europäischen Rates im Dezember2002 in Kopenhagen erfolgen.

Die EU hat die Bedingungen für den Verhandlungs-beginn � wie für den Beitritt überhaupt � im wesent-lichen in zwei Erklärungen bzw. Dokumenten nieder-gelegt: einmal im Beschluß von Helsinki selbst, wie erin den »Schlußfolgerungen des Vorsitzes« zum Aus-druck kommt,4 und zum anderen im Dokument überdie Beitrittspartnerschaft, das dem Beschluß des Ratesvom 8. März 2001 als Anhang beigefügt ist.5 In

1 Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Regelmäßi-ger Bericht 2002 über die Fortschritte der Türkei auf demWeg zum Beitritt, Brüssel, 9.10.2002 (SEK[2002] 1412).2 Pressemitteilung des Präsidialamtes vom 10. Oktober 2002zu dem Regelmäßigen Bericht der Kommission über die Fort-schritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt und densich auf die Türkei beziehenden Textabschnitt des Strategie-Papiers, <http://www.tcberlinbe.de/de/archiv/2002/al1410021.htm>.3 Für türkische Reaktionen vgl. Özgür Ekşi, Progress ReportIs Another Milestone of Mutual Mistrust between EU andTurkey, in: Turkish Daily News (TDN), 13.10.2002, S. 3.4 Europäischer Rat von Helsinki am 10./11. Dezember 1999,Schlußfolgerungen des Vorsitzes, <http://ue.eu.int/de/Info/eurocouncil/index.htm>.5 Beschluß des Rates vom 8. März 2001 über die Grundsätze,

Helsinki wurde vor allem festgehalten, daß auch fürdie Türkei die Kriterien von Kopenhagen maßgebendsind. Insbesondere muß deren politischer Teil erfülltsein, bevor mit Beitrittsverhandlungen begonnenwerden kann. In der Beitrittspartnerschaft für dieTürkei sind diese Kriterien im Detail deÞniert und istder Zeitraum vorgegeben worden, innerhalb dessendie Türkei sie erfüllen muß. Die Union unterscheidetzwischen kurzfristigen und mittelfristigen Prioritäten.Erstere waren bis März 2002 abzuarbeiten, letztereanschließend, ohne daß ein konkretes Datum genanntworden wäre.

Der Beschluß von Helsinki

Die Kopenhagener Kriterien sind für alle Beitritts-kandidaten gleich. Der Europäische Rat hatte aufseiner Tagung in Kopenhagen im Juni 1993 im einzel-nen beschlossen, daß ein Beitritt neuer Mitglieder vonder Erfüllung folgender Bedingungen abhängig sei:! »eine institutionelle Stabilität als Garantie für

demokratische und rechtsstaatliche Ordnung,für die Wahrung der Menschenrechte sowie dieAchtung und den Schutz von Minderheiten«;

! »eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie dieFähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Markt-kräften innerhalb der Union standzuhalten«;

! »daß die einzelnen Beitrittskandidaten die auseiner Mitgliedschaft erwachsenden Verpßichtungenübernehmen und sich auch die Ziele der politi-schen Union sowie der Wirtschafts- und Währungs-union zu eigen machen können.«6

Außerdem darf eine Erweiterung nicht dazu füh-ren, daß die EU ihren Integrationsprozeß nur mitAbstrichen fortsetzen kann.

Während die allgemeine Integrationsfähigkeit derKandidaten erst zum Zeitpunkt des Beitritts vollstän-

Prioritäten, Zwischenziele und Bedingungen der Beitritts-partnerschaft für die Türkische Republik, Amtsblatt der Euro-päischen Gemeinschaften (ABl.), L 85, 24.3.2001, S. 13�23.6 Europäischer Rat in Kopenhagen, 21. und 22. Juni 1993,Schlußfolgerungen des Vorsitzes, Punkt 7. A) iii), in: Bulletindes Presse- und Informationsamts der Bundesregierung(Bonn), (8.7.1993) 60, S. 632.

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Die Vorgaben der EU

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dig erreicht, die wirtschaftlichen Kriterien erst dannerfüllt sein müssen, sind die politischen Kriterienschon vor dem Beginn der Verhandlungen zu erfüllen.Dadurch wird der Anspruch der EU unterstrichen,eine Union auf der Grundlage gemeinsamer demo-kratischer Werte zu sein, die sie etwa in der Präambelund in Artikel 6 des Vertrages über die EuropäischeUnion (EUV) ausformuliert hat.

Im türkischen Beitrittsprozeß kommt den politi-schen Kriterien insofern eine große Bedeutung zu, alsdas Verhältnis der EU zu Ankara schon seit längeremdurch deutliche Kritik aus EU-Kreisen an den politi-schen Verhältnissen in der Türkei bestimmt wird. Sowaren es unter anderem Bedenken der skandi-navischen EU-Staaten wegen der Lage der Menschen-rechte in der Türkei, die verhinderten, daß der Euro-päische Rat in Köln dem Land schon im Juni 1999 denStatus eines Beitrittskandidaten eingeräumt hat.

Der Europäische Rat in Helsinki beschloß allerdingsnicht nur, die seit 1993 geltenden Beitrittskriterienauch auf die Türkei anzuwenden, einschließlich derErfüllung der politischen Kriterien vor Aufnahme vonBeitrittsverhandlungen. Er formulierte darüber hin-aus weitere politische Bedingungen für einen türki-schen Beitritt, die aus der besonderen politischen Lageder Türkei und der Entwicklung ihrer Beziehungenzur EU resultieren. Sie betreffen den lang andauern-den Konßikt zwischen der Türkei und dem EU-Mit-glied Griechenland sowie das Zypernproblem.7

Daneben beschloß der Europäische Rat eine Reihevon Maßnahmen, die die Gleichstellung der Türkeimit den anderen zwölf Kandidatenländern verdeut-lichten. Dazu zählen die Verabschiedung einer Bei-trittspartnerschaft, »in deren Rahmen Prioritäten fest-gelegt werden, auf die sich die Beitrittsvorbereitungenim Lichte der politischen und wirtschaftlichen Krite-rien und der Verpßichtungen eines Mitgliedstaateskonzentrieren müssen, und zwar in Verbindung miteinem nationalen Programm für die Übernahme desBesitzstandes.«8

7 Vgl. Europäischer Rat von Helsinki (Fn. 4), Ziffern 4 und 9sowie Ziffer 12. Die Klärung des Zypernproblems und die Bei-legung der griechisch-türkischen Grenzstreitigkeiten in derÄgäis spielen für die Frage der Festlegung des Verhandlungs-beginns ebenfalls eine Rolle, selbst wenn dies in Helsinkinicht ausdrücklich so festgelegt wurde. Es hat jedoch wenigSinn, mit Verhandlungen zu beginnen, wenn keinerlei Aus-sicht auf die Beseitigung gravierender Beitrittshemmnissebesteht. Die zuletzt genannten Faktoren sind jedoch nichtGegenstand dieser Arbeit.8 Ebd., Ziffer 12.

Es sollten Überwachungsmechanismen geschaffenwerden, mit denen die EU die Einhaltung der Beitritts-partnerschaft und des nationalen Programms kontrol-lieren kann. Um die Angleichung der türkischenRechtsvorschriften und der Verwaltungspraxis an dengemeinschaftlichen Besitzstand zu forcieren, sollte dieKommission den bisher erreichten Stand systematischüberprüfen. Des weiteren soll die Finanzhilfe, die dieTürkei für die Vorbereitung des Beitritts erhält,künftig in einem einheitlichen Rahmen abgewickeltwerden.9 Schließlich wurde der Türkei die Gelegenheitgegeben, sich wie die anderen Kandidaten an be-stimmten Gemeinschaftsprogrammen zu beteiligenund an den Treffen der EU mit den Kandidatenländernteilzunehmen.

Mit den Beschlüssen von Helsinki gab die EU lang-jährigem türkischem Drängen nach. Ankara wollte dieaus seiner Sicht diskriminierende Haltung der Unionrevidiert sehen, die mit dem Beschluß des Europäi-schen Rats von Luxemburg im Dezember 1997 zumAusdruck gebracht worden war, nach dem der Türkeiim größeren Rahmen der Erweiterungspolitik eineSonderstellung zugewiesen wurde.10 Gleichzeitigwurde die politische Hauptverantwortung für einenErfolg des türkischen Beitrittsstrebens nach Ankaraverlagert, kam es doch jetzt vor allem darauf an, daßdie Türkei zunächst die Bedingungen für den Beginnvon Beitrittsverhandlungen und darüber hinaus füreinen späteren Beitritt zur EU erfüllt. In manchenHauptstädten der Union war damit die Erwartungverbunden, das Problem des türkischen EU-Beitrittsfür längere Zeit »vom Tisch zu haben«. Man glaubteaufgrund der bis dahin gesammelten Erfahrungennicht, daß die Türkei in der Lage wäre, gerade diepolitischen Bedingungen in absehbarer Zeit zurZufriedenheit der EU zu erfüllen.

9 Hierzu wurde inzwischen die Verordnung (EG)Nr. 390/2001 vom 26. Februar 2001 verabschiedet(ABl., L 58, 28.2.2001, S. 1f).10 Vgl. zum Luxemburger Europäischen Rat und zu dennachfolgenden türkischen Reaktionen Heinz Kramer,A Changing Turkey. The Challenge to Europe and the UnitedStates, Washington, D.C. 2000, S. 192�200; Alan Makovsky,Turkey�s Faded European Dream, in: The Parameters of Part-nership: Germany, the U.S. and Turkey, Washington, D.C.1998 (Conference Report, American Institute for Contem-porary German Studies), S. 51�64; als türkische Analyse vgl.Haluk Kabaalioğlu, The Relations between Turkey and Europe� A Turkish Perspective, in: H. Bağci/J. Janes/L. Kühnhardt (Hg.),Parameters of Partnership: The U.S. � Turkey � Europe, Baden-Baden 1999, S. 19�67 (45�52).

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Das Dokument über die Beitrittspartnerschaft

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Das Dokument über dieBeitrittspartnerschaft

Die Kriterien von Kopenhagen, auch die politischen,scheinen auf den ersten Blick klar und eindeutig zusein. In Wirklichkeit jedoch sind sie keineswegs inallen Einzelheiten und mit großer Eindeutigkeitbestimmt. Die Mitgliedstaaten der EU weisen hin-sichtlich der Ausprägung von Demokratie oderRechtsstaatlichkeit, aber auch hinsichtlich desSchutzes von Minderheiten ein hohes Maß an Unter-schiedlichkeit auf. Selbst die Bestimmung von Min-deststandards ist angesichts der tatsächlichen Vielfaltin der EU letztlich von politischen Erwägungen abhän-gig.11 Deshalb ergibt sich für die EU die Notwendig-keit, den Beitrittskandidaten im einzelnen zu erläu-tern, was sie unter diesen Kriterien konkret verstehtund wie sie sich deren Erfüllung jeweils vorstellt.

Für diesen Zweck hat die Union im wesentlichenzwei Instrumente entwickelt: die sogenannte Beitritts-partnerschaft und den jährlichen Fortschrittsberichtder Europäischen Kommission. Beide Instrumentewurden auch auf die Türkei angewandt. Der erste Fort-schrittsbericht wurde 1998 veröffentlicht, also nochbevor der Türkei der Kandidatenstatus zuerkanntworden war.12 Damit brachte die Kommission dieZugehörigkeit der Türkei zum gesamten Beitritts-prozeß zum Ausdruck, auch wenn ihr in Luxemburgmit der »Europäischen Strategie« wie erwähnt einSonderweg zugewiesen worden war.

Am 8. März 2001 verabschiedete der Rat den Be-schluß über die Beitrittspartnerschaft. Er enthält imAnhang jene kurz- und mittelfristig prioritären Ziele,die die Türkei erreichen muß, damit die politischenKriterien von Kopenhagen als erfüllt angesehenwerden können.13 Doch auch Fortschrittsberichte undBeitrittspartnerschaft bilden letztlich keinen objek-

11 Diese Problematik der Kopenhagener Kriterien ist in derpolitischen Debatte über die Erweiterung kaum thematisiertworden. Sie spiegelt sich allenfalls in wiederkehrenden Un-mutsäußerungen der Kandidaten über Ungleichbehandlungund Doppelstandards der Union. Vgl. zum Problem: HeatherGrabbe, European Union Conditionality and the Acquis Commu-nautaire, in: International Political Science Review, 23 (2002)3, S. 249�268.12 Vgl. Europäische Kommission, Regelmäßiger Bericht der Kom-mission über den Fortschritt der Türkei auf dem Weg zumBeitritt, Brüssel, November 1998, <http://europa.eu.int/comm/enlargement/report_11_98/pdf/de/turkey_de.pdf>.13 Beschluß des Rates vom 8. März 2001 [wie Fn. 5], S. 16fund S. 19. Die folgende Analyse, einschließlich der Zitate,bezieht sich auf dieses Dokument.

tiven Maßstab, an dem sich die Erfüllung der politi-schen Kriterien eindeutig ablesen ließe. Ein solcherBezug wird auch im Dokument selbst nicht ausdrück-lich hergestellt. Es läßt sich also aus der Beitritts-partnerschaft nicht zweifelsfrei oder »objektiv« ab-leiten, wann in der Sicht der EU die Türkei einenZustand politischer EU-Kompatibilität erreicht hat,der die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zurFolge hätte. Allerdings läßt die Unterteilung in kurz-und mittelfristige Prioritäten erkennen, daß die EUnicht unbedingt mit einer schnellen Erfüllung derKriterien gerechnet hat, da »mittelfristig« alles ist,dessen Verwirklichung mehr als ein Jahr Zeit braucht.

Kurz- und mittelfristige Prioritäten

Das wirft die Frage auf, ob diese »mittelfristigen priori-tären Ziele« auch sämtlich vollständig verwirklichtsein müssen, bevor die Verhandlungen beginnenkönnen. Eine solche Vorgabe erschiene zumindest imBereich der Menschenrechte und Grundfreiheiten pro-blematisch, wo die EU von der Türkei mittelfristig die»vollständige Garantie aller Menschenrechte undGrundfreiheiten für alle Individuen, ohne jede Artvon Diskriminierung und unabhängig von derenSprache, Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, politischerMeinung, Weltanschauung oder Religion« fordert.

Wenn damit mehr als die rechtliche Garantiegemeint ist, kann allein diese Bestimmung bei engerAuslegung den Beginn von Beitrittsverhandlungen aufunbestimmte Zeit hinausschieben. Schließlich wirddiese Bedingung im Wortsinn auch in keinem Mit-gliedstaat der Union oder in den anderen Kandidaten-staaten erfüllt, wie zum Beispiel die anhaltende Dis-kussion um die Roma in verschiedenen europäischenLändern zeigt. Und selbst eine Einschränkung auf dieVerwirklichung der Rechtsgarantie eröffnet angesichtsder in der EU herrschenden Vielfalt bei der recht-lichen Konkretisierung dieses allumfassenden Prinzipseinen weiten Interpretationsspielraum für die Beurtei-lung türkischer Verhältnisse.

Ähnlich klärungsbedürftig bleibt letztlich die For-derung der EU, daß die Garantie der Rechte und Frei-heiten, die in der Europäischen Konvention zumSchutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten(EMRK) festgelegt sind, in »Übereinstimmung mit denPraktiken in den Mitgliedstaaten der EuropäischenUnion« erfolgen soll. Welche der in vielen Fällendurchaus unterschiedlichen nationalen Praktiken soll

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Die Vorgaben der EU

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dabei Maßstab sein: französisches Minderheitenrecht,schwedische Meinungsfreiheit, griechische Rundfunk-gesetzgebung, italienische Rechtsstaatlichkeit?

Hinzu kommt, daß diese Formulierungen in denEU-Mitgliedstaaten in eine Staats- und Politiktraditioneingebettet sind, die von jener der Türkei deutlich ver-schieden ist. Die Türkei hat mit der kemalistischenRevolution zwar die Idee des europäischen National-staates übernommen, sich bei ihrer Verwirklichungaber nicht immer und gänzlich von den eigenenTraditionen und Erfahrungen lösen können. Vieles,was für die EU-Politiker auch vage formuliert relativklar ist, wird von türkischen Politikern und Staats-vertretern deshalb häuÞg abweichend interpretiert.14

Hinreichend Klarheit herrscht nur bei einigen,allerdings sehr zentralen Punkten wie der Abschaf-fung der Todesstrafe und der RatiÞzierung des ent-sprechenden Protokolls Nr. 6 der EMRK, bei der Forde-rung nach Aufhebung des Ausnahmezustandes imSüdosten, der Forderung nach Aufhebung aller recht-lichen Vorschriften, die türkischen Staatsangehörigenden Gebrauch ihrer Muttersprache in Fernsehen undRadio verbieten, oder der Forderung, den Internatio-nalen Pakt über bürgerliche und politische Rechteund dessen fakultatives Protokoll sowie den Inter-nationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kul-turelle Rechte zu ratiÞzieren. In diesen Punkten istdas Urteil darüber, ob die Türkei den Forderungen derEU nachgekommen ist, einfach zu fällen und unum-stritten.

Weniger klar und eindeutig ist wiederum die Forde-rung, daß der Nationale Sicherheitsrat (MGK) mittel-fristig in ein Beratungsorgan der Regierung umge-wandelt wird. Die Umwandlung habe im Einklang mitden Praktiken in den Mitgliedstaaten der EU zu ge-schehen. Diese Formulierung soll wohl zum Ausdruckbringen, daß die EU auch in der Türkei in sicherheits-politischen Fragen den Primat des Zivilen gegenüberdem Militär gewährleistet sehen will.15 Hier hätte mandeutlicher werden müssen, denn auch nach der

14 Vgl. für eine grundlegende Analyse dieser Zusammen-hänge Dietrich Jung/Wolfango Piccoli, Turkey at the Cross-roads. Ottoman Legacies and a Greater Middle East, London/New York 2001.15 Diese Interpretation folgt jedenfalls aus der Bemerkungder Kommission im Fortschrittsbericht 2001, daß darauf zuachten sein wird, wieweit die Verfassungsänderung vom4. Oktober 2001 »faktisch zu einer verstärkten Zivilkontrolleüber das Militär führen wird« (Kommission der EuropäischenGemeinschaften, Regelmäßiger Bericht 2001 über die Fort-schritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt, Brüssel,13.11.2001 [SEK(2001)]1756, S. 19).

Türkischen Verfassung von 1982 (TV) kommt denBeschlüssen des MGK nur empfehlender Charakter zu;er ist der Regierung gegenüber nicht weisungsbefugt.Allerdings sind seine Empfehlungen vom Kabinett»mit Vorrang« zu berücksichtigen (Artikel 118 TV).Legt man diese Verfassungsbestimmung extensiv aus,könnte man dennoch sagen, daß sie bereits das Erfor-dernis des »beratenden Organs« erfüllt. Dieses Argu-ment ist in der türkischen Diskussion von Vertreterneiner legalistischen Strategie im Umgang mit den EU-Forderungen auch immer wieder vorgebracht worden.

Eine weitere Grauzone bilden jene Bedingungender Beitrittspartnerschaft, die auf eine allgemeineVerbesserung der Menschen- und Bürgerrechte ab-zielen. So fordert die EU eine »Stärkung der gesetz-lichen und verfassungsrechtlichen Garantien für dasRecht auf Meinungsfreiheit gemäß Artikel 10 derEuropäischen Menschrechtskonvention.« In diegleiche Richtung geht die Forderung nach einem»Ausbau der gesetzlichen und verfassungsrechtlichenGarantien für das Recht auf Vereinigungsfreiheit ...sowie [nach] Förderung der Entwicklung der Zivil-gesellschaft« oder nach dem »Ausbau der Möglich-keiten, gegen Menschenrechtsverletzungen vorGericht zu klagen.« Mit diesen Forderungen wird derTürkei zwar relativ eindeutig eine bestimmte Rich-tung für die demokratische Entwicklung gewiesen,doch bleibt unklar, an welchen Kriterien die EUbemißt, daß die genannten Garantien in einem Grade»gestärkt« oder »ausgebaut« worden sind, daß Beitritts-verhandlungen beginnen können.

Daß die EU eine Verbesserung der demokratischenVerhältnisse in der Türkei aber nicht nur von Gesetzes-änderungen erwartet, zeigen Forderungen wie jene,daß Beamte, die mit der Rechtsdurchsetzung betrautsind, intensiver in Menschenrechtsfragen ausgebildetwerden sowie »Arbeitsweise und EfÞzienz der Gerichte... im Einklang mit internationalen Normen« verbes-sert werden sollen,16 wobei auch eine bessere Ausbil-dung der Richter und Strafverfolger im Bereich derMenschenrechte gefordert wird. In die gleiche Rich-tung zielt die Forderung nach einer »Anpassung derHaftbedingungen in den Gefängnissen an die Stan-dardmindestregeln der Vereinten Nationen« sowienach weiterer Angleichung der rechtlichen Unter-suchungshaftverfahren an die EMRK und die Empfeh-

16 In der deutschen Fassung des Amtsblatts hat sich indieser Passage ein Fehler eingeschlichen: Es wird vom »Staats-sicherheitsrat« gesprochen, während »Staatssicherheits-gericht« gemeint ist; vgl. Beschluß des Rates vom 8. März2001 [wie Fn. 5], Ziffer 4.1, 8. Spiegelstrich, S. 16.

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Das Dokument über die Beitrittspartnerschaft

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lungen des Ausschusses des Europarates zur Verhü-tung von Folter.

Ein Problem besonderer Art könnte für die EU dasder Kurden darstellen. In der Beitrittspartnerschaftwird lediglich die »Erarbeitung eines umfassendenKonzepts für den Abbau des Regionalgefälles und ins-besondere zur Verbesserung der Lage im Südosten imHinblick auf die Verbesserung der wirtschaftlichen,sozialen und kulturellen Möglichkeiten aller Bürger«gefordert. Ausdrückliche Forderungen nach Verbesse-rung der politischen Rechte der Kurden, gar nacheiner wie auch immer im einzelnen ausgestaltetengrößeren politischen Autonomie werden nichterhoben. Sie verbergen sich auch nicht in der Forde-rung nach »Gewährleistung der kulturellen Vielfaltund Garantie der Menschenrechte für alle Bürger,unabhängig von ihrer Abstammung«, oder in derForderung, daß »alle Rechtsvorschriften, die die Wahr-nehmung dieser Rechte behindern, einschließlich imBildungsbereich,« abgeschafft werden sollen.

Gewährung der individuellen Menschen- und Bür-gerrechte, kultureller Rechte sowie Verbesserung derwirtschaftlichen und sozialen Lage im Südosten � dasist das Konzept der EU für den Umgang mit demKurdenproblem der Türkei. Es fällt auf, daß in der Bei-trittspartnerschaft die Begriffe »Kurde/kurdisch« oder»Minderheit« überhaupt nicht auftauchen. Mit dieserAussparung sollte wohl türkischen Befürchtungen, dieEU fördere den Separatismus, der Boden entzogenwerden. Allerdings werden durch diese Rücksicht-nahme auf türkische EmpÞndlichkeiten auch kurdi-sche Hoffnungen enttäuscht, mit Hilfe der Unionweitergehende politische Forderungen an den türki-schen Staat durchsetzen zu können. Gleichzeitig wirdfatalerweise suggeriert, daß die EU in der grundlegen-den Sichtweise der Kurdenproblematik mit Ankaraübereinstimmt. Anders in den Fortschrittsberichtender Kommission, in denen die EU die seitens der Tür-kei inkriminierten Termini regelmäßig gebraucht.17

Das Problem der Beurteilung

Mit den in der Beitrittspartnerschaft gestellten politi-schen Bedingungen hat die EU der Türkei einenbeachtlichen Aufgabenkatalog vorgegeben. Die

17 Vgl. zu diesem Problem auch Chris Rumford, Failing the EUTest? Turkey�s National Programme, EU Candidature and theComplexities of Democratic Reform, in: MediterraneanPolitics, 7 (Frühjahr 2002) 1, S. 51�68, bes. S. 55�61.

Unbestimmtheit vieler Formulierungen hat in derTürkei zu einer Diskussion darüber geführt, welcheMaßnahmen im einzelnen zu ergreifen sind, damitdie Forderungen der Union als erfüllt angesehenwerden können.

In dieser Diskussion stehen Gruppen, die nachminimalistischen Lösungen suchen, anderen Gruppengegenüber, die möglichst weitgehende Reformen an-streben. In die erste Gruppe fallen jene Kräfte, die vonder Erfüllung der EU-Forderungen eine Desintegrationdes nationalen Zusammenhaltes und des unitarischenStaates der Republik befürchten. Zu ihnen zählen vorallem Teile des hohen Militärs und der staatlichenAdministration sowie die nationalistischen Kräfte impolitischen Bereich. Zur zweiten Gruppe gehören jeneKräfte, die über das Vehikel der EU-Forderungen dieEntwicklung der Türkei zu einer liberalen Demokratieeuropäischen Musters beschleunigen wollen. SieÞnden sich überwiegend in den verschiedenen Grup-pierungen der Zivilgesellschaft, einschließlich der tür-kischen Großindustrie, und unter den europäischorientierten, liberal eingestellten Politikern. Im politi-schen Kampf, der über diese Fragen in der Türkei ent-brannt ist, geht es letztlich um die Bestimmung derIdentität des Landes im 21. Jahrhundert.18

Der Gegensatz zwischen den beiden Richtungenbestimmte auch die regierungsinternen Diskussionenum die Ausarbeitung des »Nationalen Programms fürdie Übernahme des Gemeinschaftlichen Besitzstands«,mit dem die Türkei am 20. März 2001 auf die Forde-rungen der EU reagierte. In wesentlichen Punkten wiepolitische Rolle des Militärs, Abschaffung der Todes-strafe oder Verbesserung der kulturellen Rechte derKurden konnten zwischen den verschiedenen Lagernnur Formelkompromisse erzielt werden. Entsprechendzurückhaltend war das Echo der EU auf dieses Pro-gramm, das in der Türkei als wesentlicher Schritt aufdem Weg zum Beitritt angesehen wurde.19

In der Folge bekamen aber die EU-freundlichenKräfte in Öffentlichkeit und Politik immer stärkerenAuftrieb. Die Bedingungen der EU wurden nach undnach erfüllt. Die Politik der Konditionierung gegen-über der Türkei zeitigte nunmehr vor dem Hinter-grund der relativ deutlichen Aussage von Helsinki

18 Ersel Aydõnlõ/Dov Waxman, A Dream Become Nightmare?Turkey�s Entry into the European Union, in: Current History,649 (November 2001), S. 381�388.19 Vgl. Rumford, Failing the EU Test [wie Fn. 17], S. 59�61;Heinz Kramer, Das Nationale Programm der Türkei für dieÜbernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes, <http://www.swp-berlin.org/fgs/02/NatProgTur.pdf>.

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Die Vorgaben der EU

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eine Wirkung, die sich so lange nicht eingestellt hatte,wie die Beitrittsperspektive verschwommen blieb.20

Konditionierung als Mittel der Politik bleibt abernur dann wirksam, wenn die an die Bedingungengeknüpften Folgen auch eintreten, wenn also die EUzu erkennen gibt, daß ihre Beitrittszusage ernstgemeint ist. In einem längerfristig angelegten Prozeßist es dabei notwendig, bekräftigende Zwischen-maßnahmen zu ergreifen, die der anderen Seitezeigen, daß sie auf dem richtigen Weg ist. Im vor-liegenden Fall kommt es darauf an, der türkischenÖffentlichkeit zu verdeutlichen, daß die EU-freund-lichen Kräfte die richtige Politik verfolgen.

Dies muß allerdings in einer Form geschehen, diedeutlich als Zwischenschritt erkennbar bleibt undinsofern nicht dazu verleitet, in den Bemühungen umdie vollständige Erfüllung der Bedingungen nachzu-lassen. Angesichts der wechselvollen Geschichte derEU�Türkei-Beziehungen und der auch nicht immerklaren Haltung der Union wird eine verbale Bekräfti-gung der türkischen Politik durch den EuropäischenRat allein allerdings nicht ausreichen.

Im Gegensatz zur Türkei hat es weder in derEU-Öffentlichkeit noch unter den Regierungen derMitgliedstaaten eine größere Diskussion darübergegeben, welche konkreten Schritte der Türkei als Er-füllung der Vorgaben anzusehen wären. In den euro-päischen Hauptstädten scheint ein stillschweigenderKonsens darüber zu herrschen, das Problem eines tür-kischen EU-Beitritts tunlichst nicht � und schon garnicht detailliert � öffentlich zur Diskussion zu stellen.

Notwendige Konkretisierungen überläßt man denjährlichen Fortschrittsberichten der EuropäischenKommission. Sie lassen jedoch ebenfalls einen EU-im-manenten Katalog oder Maßstab vermissen, an demsich die Kommission orientieren würde. Welches Maßan Einschränkung, Abweichung oder Verletzung derkurz- und mittelfristigen Prioritäten ist noch hin-nehmbar und wo überschreitet die Türkei die Grenzezur Nichterfüllung der politischen Kriterien vonKopenhagen?

Die Antwort auf diese Fragen wird letztlich ineinem politischen Prozeß zwischen EuropäischerKommission, Mitgliedsregierungen und Europäischem

20 Vgl. Saban Kardas, Human Right and Democracy Pro-motion: The Case of Turkey�EU Relations, in: Alternatives.Turkish Journal of International Relations, 1 (Herbst 2002) 3,S. 136�150. Zur Politik der Konditionierung in den EU-Außen-beziehungen allgemein vgl. Jolanda van Westering, Condition-ality and EU Membership: The Cases of Turkey and Cyprus, in:European Foreign Affairs Review, 5 (März 2000) 1, S. 95�118.

Parlament gefunden. In ihm spielen allerdings auchweitergehende politische Erwägungen über die gene-relle Opportunität einer türkischen EU-Mitgliedschafteine Rolle, die selten explizit gemacht werden.Schließlich gibt es ebenso wie in der Türkei auch inder EU erhebliche Meinungsverschiedenheiten dar-über, ob das Land überhaupt Mitglied der Unionwerden sollte. Schon im Frühjahr 1980 wurde in dendamaligen EWG-Kreisen erwogen, der Türkei die Bei-trittsperspektive durch großzügige Þnanzielle undwirtschaftliche Hilfen »abzukaufen« und die Beziehun-gen in eine umfassende Entwicklungskooperation um-zuwandeln.21

Doch hat der EU und ihren Mitgliedern entwederder Wille gefehlt oder die jeweiligen Umstände ließenes nicht opportun erscheinen, diese Frage wirklichangemessen zu erörtern und eine Entscheidung zufällen, aus der sich eine langfristige Strategie für dieBeziehungen zur Türkei hätte ableiten lassen.22 Stattdessen wurde der 1964 eingeschlagene Weg, der aufeine Beitrittsoption hinauslief, mit vielen Irrungenund Wirrungen weiter beschritten. Damit rückte imLaufe der Zeit aber auch die Perspektive des Beitrittsimmer mehr aus dem Bereich einer eher abstraktenMöglichkeit in den einer realen politischen Eventua-lität. Für die EU-Mitglieder wird folglich die Frageimmer drängender, ob sie den Kurs der quasi-auto-matischen Beitrittsverwirklichung beibehalten wollenoder ob die nie ernsthaft debattierte, geschweige ent-schiedene grundsätzliche Frage doch noch Gegen-stand der EU-internen Meinungsbildung werden soll.

Diese Frage wird hier nicht erörtert. In dieser Arbeitgeht es einzig darum, das Problem des türkischenBeitritts ausschließlich im Kontext des 1999 in Hel-sinki vorgegebenen Rahmens zu untersuchen. Dabeikann jedoch nicht völlig davon abstrahiert werden,daß die europäische Antwort auf die Frage nach derErfüllung oder Nichterfüllung der politischen Kri-terien von Kopenhagen nicht allein � vielleicht nichteinmal entscheidend � davon beeinßußt wird, was dieTürkei in dieser Hinsicht tut oder unterläßt.23

21 Vgl. Heinz Kramer, Die Europäische Gemeinschaft und dieTürkei, Baden-Baden 1988 (Internationale Politik und Sicher-heit, Bd. 21), S. 76f.22 Vgl. dazu ausführlich Mehmet Uğur, The European Unionand Turkey: An Anchor/Credibility Dilemma, Aldershot u.a.1999.23 Vgl. Laurent Zecchini, La Turquie européenne?, in: LeMonde, 13.10.2002, S. 1 und S. 13; Sophie Bessis/Driss ElYazami, Ostracisme antiturc, in: Le Monde, 24.10.2002, S. 15.

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Stabile Institutionen

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Die politischen Kriterien von Kopenhagen im türkischen Kontext

Anders als bei den meisten anderen Beitrittskandi-daten hat die Debatte über die Erfüllung der politi-schen Kriterien von Kopenhagen im Fall der Türkeihistorische Vorläufer. Spätestens seit dem drittenMilitärputsch von 1980 werden die politischen Ver-hältnisse in der Türkei von der EU und ihren Institu-tionen kritisiert. Bemängelt werden vor allem einunzureichender Reifegrad der türkischen Demokratie,Verletzungen von Menschen- und Bürgerrechten, ins-besondere der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit,die endemische Anwendung von Folter und Gewaltdurch staatliche Ordnungsorgane sowie die Unter-drückung jeglicher Versuche, die Interessen derkurdischen Minderheit zur Geltung zu bringen.24

Die europäische Diskussion über den Umgang mitder Türkei unterlag politischen Schwankungen, dieunter anderem verhindert haben, daß die EU eineneindeutigen Katalog von Maßnahmen entwickelt hat,an deren Realisierung sie Fortschritte der Türkei aufdem Weg zu einer »europäischen Demokratie« messenkönnte. Die folgenden Überlegungen versuchen, derkonzeptionellen Unschärfe der Kriterien wenigstensansatzweise durch Ziehen von Konturen abzuhelfenund so der politischen Debatte über deren Erfüllungoder Nichterfüllung einen »objektiveren« Rahmen zugeben. Konkret sollen die Zustände in der Türkei unddie einzelnen Maßnahmen seit dem Beschluß vonHelsinki daraufhin überprüft werden, ob die Türkeiim Sinne der Kopenhagener Kriterien näher an Europaherangerückt ist. Dabei kann für ein besseres Ver-ständnis der dargestellten Entwicklung nicht daraufverzichtet werden, in der gebotenen Kürze auf diestrukturellen Hintergründe der türkischen Verhält-nisse einzugehen.

24 Ihren deutlichsten Ausdruck Þndet die Kritik der EU inden zahlreichen Resolutionen, die das Europäische Parlamentseit Anfang der achtziger Jahre zur Lage in der Türkei ver-abschiedet hat. Für einen Überblick der EU-Reaktionenvgl. Uğur, The European Union and Turkey [wie Fn. 22],S. 218�237.

Stabile Institutionen

Am leichtesten fällt es noch, das Kriterium »stabileInstitutionen« zu bestimmen. Hierbei handelt es sichum die grundlegenden Einrichtungen des Staates unddes politischen Systems: Regierung, Parlament, Judi-kative. Mit Blick auf die Entwicklung moderner, libe-raler Demokratien sind in diesem Zusammenhangwohl auch noch die Institution der Wahlen, Parteien,die organisierten Interessen (Verbände) und die Zivil-gesellschaft zu nennen. Aufgrund ihrer von vielenwesteuropäischen Ländern abweichenden politischenEntwicklung ist in der Türkei eine weitere Institutionzu beachten: das Militär, das in der Vergangenheitohne Zweifel eine wesentliche Rolle bei der Stabilisie-rung des republikanischen Systems der modernenTürkei gespielt hat.25

Minimalistisch betrachtet sind diese Institutionenals stabil zu bezeichnen, wenn sie gemäß den dafürgeltenden Regeln efÞzient funktionieren. Unterdiesem Gesichtspunkt müssen zum Beispiel häuÞgeRegierungswechsel, Koalitionsregierungen oder Regie-rungen, die sich auf schmale Mehrheiten im Parla-ment stützen, nicht von vornherein als Zeichen man-gelnder Regierungsstabilität angesehen werden. Ausdieser Sicht hat die Türkei stabile Institutionen.

Institutionelle Stabilität allein ist aber noch keineGarantie für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, wiees die Formulierung von Kopenhagen nahezulegenscheint. Auch Militärregime oder Einparteienstaatenkönnen durchaus stabile Institutionen haben. Derdemokratische Charakter eines Institutionengefügesberuht auf zusätzlichen, vor allem qualitativenFaktoren. Dazu zählen unter anderem die Art desMachtwechsels, die Art der Gewaltenteilung, dieDurchlässigkeit der Institutionen, Reformfähigkeit,»accountability« oder öffentliche Akzeptanz undLegitimation.

In diesem Sinne könnte die Kopenhagener Formu-lierung als Forderung nach »konsolidierter Demokra-tie« mit entsprechend funktionierenden Institutionenzu interpretieren sein. Wie die anhaltende wissen-

25 Einen umfassenden Überblick dieser Rolle gibt WilliamHale, Turkish Politics and the Military, London 1994.

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schaftliche Debatte jedoch zeigt, ist die Frage, wanneine Demokratie im Prozeß der Transformation alskonsolidiert zu bezeichnen ist und welche Faktorendafür ausschlaggebend sind, keineswegs einfach zubeantworten.26 In der Forschung werden jedenfallsviele der mittel- und osteuropäischen Beitrittskandi-daten (noch) nicht in die Kategorie voll konsolidierter,liberaler Demokratien eingeordnet.27 Selbst mit Blickauf diesen scheinbar so einfachen Sachverhalt der»stabilen Demokratie« sind deshalb letztlich politischeBewertungen ausschlaggebend dafür, ob ein Beitritts-kandidat den Test der politischen Kriterien von Kopen-hagen besteht.28

Regierung

Gegenwärtig erleben wir in Ankara den Beginn derAmtszeit der 58. Regierung seit Gründung der Repu-blik im Jahre 1923.29 Das ergibt pro Kabinett einedurchschnittliche Amtsdauer von knapp 1,4 Jahren.Die ersten vierzehn Kabinette wurden auf der Grund-lage des Einparteiensystems der republikanischenGründerzeit gebildet und waren im wesentlichenOrgane, die den politischen Willen des Staatsgründersund ersten Präsidenten Mustafa Kemal (Atatürk)sowie seines Nachfolgers İsmet İnönü ausführten.

Seit den ersten freien Wahlen zur National-versammlung (im Mai 1950) nach dem Übergang zumMehrparteiensystem hat sich die durchschnittlicheAmtsdauer der Regierungen nicht wesentlich geän-dert, wohl aber der Grund für den Regierungswechsel:Jetzt zwang dazu in der Regel der tatsächliche oder

26 Vgl. für einen Überblick der Problematik Juan Linz/AlfredStepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation,Baltimore 1996; Wolfgang Merkel, Systemtransformation,Opladen 1999.27 Auffallend an der neueren Forschung zu Demokratisie-rungsprozessen ist die Tatsache, daß die Türkei nur seltenGegenstand detaillierter Untersuchungen wird. Das könntedarauf hindeuten, daß dieser Fall nur schwer in die verschie-denen Konzeptionalisierungs- und Typologisierungsmodelleeinzuordnen ist. Vgl. zum Beispiel Petra Bendel u.a. (Hg.),Zwischen Diktatur und Demokratie. Zur Konzeption undEmpirie demokratischer Grauzonen, Opladen 2002.28 Die folgenden Ausführungen zur türkischen Demokratiestützen sich vor allem auf Ergun Özbudun, ContemporaryTurkish Politics. Challenges to Democratic Consolidation,Boulder/London 2000.29 In dieser Zählung sind auch Kabinettsumbildungen unterdemselben Ministerpräsidenten während einer Legislatur-periode berücksichtigt. Vgl. Chronological List of TurkishGovernments, <http://www.mfa.gov.tr/grupe/eb/01.htm>.

drohende Verlust der parlamentarischen Mehrheit.Ausnahmen bildeten die nach den Putschen von 1960,1971 und 1980 vom Militär eingesetzten oder erzwun-genen Regierungen � insgesamt sieben Kabinette miteiner addierten Amtszeit von 91 Monaten.30

Von den insgesamt 39 Regierungen, die seit 1950amtierten, konnten sich nur die Kabinette von AdnanMenderes zwischen 1950 und 1960, die Kabinette vonSüleyman Demirel zwischen 1965 und 1971 sowie dieAnaP-Regierungen unter Turgut Özal, YõldõrõmAkbulut und Mesut Yõlmaz zwischen 1983 und 1991auf eine absolute Mehrheit der Regierungspartei inder Nationalversammlung stützen. In der übrigen Zeitwaren insgesamt 16 Koalitionsregierungen, zweiMinderheitenkabinette unter Bülent Ecevit (1977 und1999) und eine sogenannte Technokratenregierungzur Vorbereitung der Wahlen vom März 1975 im Amt.

Diese Daten liefern schon den ersten Anhaltspunktzur Erklärung der oft beklagten Reformunfähigkeitdes türkischen Systems. Politische Entwicklungs-schübe waren nur unter Regierungen möglich, diesich auf die absolute Mehrheit einer Partei stützenkonnten. Alle Legislaturperioden von Koalitionsregie-rungen hingegen waren geprägt von politischen undsozialen Krisenerscheinungen oder von weitgehendemStillstand der demokratischen Entwicklung.

Die politische Kultur der türkischen Parteien hatstark konfrontative und wenig konsensorientierteZüge. Koalitionen führen deshalb selten zu einemElitenkonsens, sondern eher zu einer von allen Betei-ligten peinlich genau kontrollierten Machtteilungzwischen den Regierungspartnern. ErfolgreichesRegieren in Koalitionen wird nahezu unmöglich,wenn auch noch die gemeinsame ideologische Basisder Koalitionspartner relativ schmal ist. Dieser Befundist im europäischen Kontext jedoch nicht außer-gewöhnlich; auch in anderen Ländern haben sichKoalitionsregierungen in der Regel nicht durch beson-dere Erfolge ausgezeichnet.

Parlament � Wahlen � Parteien

Die Abgeordneten des türkischen Parlaments, derGroßen Nationalversammlung der Türkei, werden seit1950 durch allgemeine, freie und geheime Wahlen auf

30 Es handelt sich im einzelnen um die RegierungenGürsel I und Gürsel II (30.5.1960�20.11.1961), Erim I,Erim II, Melen und Talu (26.3.1971�26.1.1974) sowie Ulusu(20.9.1980�13.12.1983).

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der Grundlage eines Mehrparteiensystems bestimmt.Zweimal hat das Militär seitdem durch einen Putschdie Nationalversammlung aufgelöst und das parla-mentarische Regierungssystem vorübergehend auf-gehoben: 1960 und 1980.31 Das tat die Junta jedochbeide Male mit der erklärten Absicht, zum Parlamen-tarismus zurückzukehren, was mit den Wahlen von1961 bzw. 1983 auch geschah.

Beim Coup von 1971 erzwang das Militär den Rück-tritt der Regierung Demirel durch ein Memorandumund die Neuwahl einer dem Militär genehmen »über-parteilichen« Regierung durch das Parlament. Ein ähn-liches Vorgehen legte die Militärführung 1997 an denTag, als sie nach entsprechenden politischen Vor-warnungen eine öffentliche Kampagne gegen dieKoalition Erbakan/Çiller initiierte und dadurch denersten islamistischen Ministerpräsidenten der moder-nen Türkei zu Fall brachte. Anders als 1971 wurde dieRegierung diesmal durch ein parlamentarisch gebil-detes Kabinett unter Führung des Vorsitzenden derMutterlandspartei (AnaP), Mesut Yõlmaz, abgelöst.32

Das parlamentarische System der Türkei kann alsodurchaus als stabile Demokratie gelten, die sich auffunktionierende öffentliche Wahlen stützt, und dieüberwiegende Mehrheit der Bevölkerung akzeptiertsie auch als die »richtige« Regierungsform. DieseWertung bleibt jedoch weitgehend formal und sagtwenig über die Qualität des türkischen Mehrparteien-parlamentarismus aus.

Dieser Parlamentarismus ist aufgrund der Bedin-gungen seiner Entstehung nach dem Zweiten Welt-krieg von der parlamentarischen »Machtergreifung«der anatolischen Peripherie gegen das Zentrum derStaatsbürokratie geprägt. Das hat zu einem Über-gewicht traditionaler politischer Prozesse geführt, indenen personalistische vertikale Beziehungsgeßechtebestimmend sind.33 Die Durchdringung des Staats-apparates mit den neuen Kräften der Peripherie bliebjedoch auf jene Leistungsbereiche beschränkt, die inden Dienst der Patronagemechanismen gestelltwurden. Die »Kernsektoren« des Staates, insbesondereMilitär, Finanzverwaltung und Justiz, konnten

31 Vgl. für eine ausführliche Analyse dieser Ereignisse Hale,Turkish Politics and the Military [wie Fn. 25], S. 119�152 undS. 246�275.32 Vgl. Gareth Jenkins, Context and Circumstance:The Turkish Military and Politics, Oxford u.a. 2001(IISS, Adelphi Papers 337), S. 59�64.33 Vgl. Ersin Kalaycõoğlu, Turkish Democracy: Patronageversus Governance, in: Turkish Studies, 2 (Frühjahr 2001) 1,S. 54�70.

dagegen die traditionelle Staatskultur mit ihrenantiliberalen Affekten konservieren, die die moderneRepublik weitgehend aus der osmanischen Zeit über-nommen hatte.34 Das heutige parlamentarischeSystem der Türkei ist immer noch deutlich von dieserDichotomie in patronagegeprägten Parteienpluralis-mus und staatszentrierter Kernbürokratie geprägt. Amdeutlichsten kommt dies in der Haltung des Militärszum Ausdruck, das seine umfassende politische Rollemit der Aufgabe legitimiert, die übergeordnetenStaatsinteressen gegen die parteipolitischen Partiku-larinteressen zu sichern und zu verteidigen.

Vor diesem Hintergrund klientel- und verteilungs-orientierter Parteipolitik einerseits und systemorien-tierter Haltung des »Kernstaates« andererseits konntesich insbesondere eine moderne Oppositionskulturnur mühsam entwickeln. Opposition bedeutet inPatronagesystemen immer auch einen Angriff aufbestehende exklusive soziale Beziehungsgeßechte;unter staatszentrierten Aspekten gerät sie schnell inden Geruch von Illoyalität oder gar Systemfeindschaft.Es kann also nicht verwundern, wenn sich in derTürkei unter diesen Bedingungen weder ein freiesSpiel der parteipolitischen Kräfte noch ein unbefan-genes Nebeneinander der verschiedenen Parteieneingestellt hat.

Die Zusammensetzung des Parlaments und dasWahlverfahren wurden im Laufe der Zeit mehrfachgeändert, immer mit dem Ziel, stabile Mehrheits-verhältnisse zu ermöglichen. Wie im Abschnitt zuvorgezeigt wurde, ist dieses Ziel nur zum Teil erreichtworden. Auch die relativ hohe Zehnprozenthürde, diefür den Einzug ins Parlament überwunden werdenmuß, und die sich aus anderen Vorschriften des Wahl-gesetzes ergebende Begünstigung der siegreichenPartei haben zum Beispiel nicht verhindern können,daß bei den Wahlen im Mai 1999 fünf Parteien in dieNationalversammlung gelangten, von denen keinemehr als 22 Prozent der Wählerstimmen gewinnenkonnte.35 Die Konzentration auf ein Zweiparteien-Parlament als Ergebnis der jüngsten Wahlen am3. November 2002 ist besonderen Umständen geschul-det, vor allem dem öffentlichen Unmut über Korrup-tion und Versagen führender Politiker. Es ist keines-

34 Vgl. dazu die klassische Analyse bei Metin Heper, The StateTradition in Turkey, Walkington 1985.35 Vgl. Heinz Kramer, Die Türkei hat gewählt: Sieg des Natio-nalismus, Ebenhausen: Stiftung Wissenschaft und Politik,Mai 1999 (SWP-Aktuell Nr. 37).

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wegs sicher, daß sich dieser Konzentrationseffekt auchbei den nächsten Wahlen wieder einstellt.36

Neuere Untersuchungen zeigen, daß Korruptionnicht nur im öffentlichen Sektor weit verbreitet ist,sondern häuÞg auch in Parteien oder zumindest beiwichtigen Parteipolitikern auftritt.37 In den letztenJahren sind Korruptionsvorwürfe gegen prominentePolitiker bis hin zum amtierenden stellvertretendenMinisterpräsidenten Yõlmaz oder zu der früherenMinisterpräsidentin Çiller zu einem Standardelementder politischen Auseinandersetzung im türkischenParlament geworden. In vielen Fällen deutete die jour-nalistische Recherche darauf hin, daß diese Vorwürfezumindest nicht völlig unbegründet zu sein schienen.Aufgeklärt wurden sie in der Regel jedoch nicht, weilnach der geltenden Rechtslage die Strafverfolgungs-behörden erst tätig werden, nachdem der Vorwurfdurch ein parlamentarisches Gremium geprüftworden ist. Dieser Prüfungsprozeß geriet wegen derkomplizierten Koalitionsarithmetik und/oder derknappen Mehrheitsverhältnisse der jeweils amtieren-den Regierung in der Regel zu einem politischen Kuh-handel: Regierungs- und Oppositionsvertreter beschei-nigten sich im zuständigen Ausschuß wechselseitigihre Unbescholtenheit, so daß es zu keiner Strafverfol-gung kam. Ungeklärt blieb deshalb auch, ob und wie-weit es sich bei den verschiedenen angeblichen Kor-ruptionsfällen um Akte der persönlichen Bereiche-rung oder um versteckte Finanzierung von Partei-aktivitäten handelte.38

Türkische Parteien sind, mit Ausnahme der religiös-konservativen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei(AKP) und ihren verbotenen islamistischen Vorläufe-rinnen, der Tugendpartei (FP) und der Wohlfahrts-partei (RP), organisatorisch in der Bevölkerung kaum

36 Vgl. Gabriel Goltz/Heinz Kramer, Politischer Erdrutsch beiden Wahlen in der Türkei, Berlin: Stiftung Wissenschaft undPolitik, November 2002 (SWP-Aktuell Nr. 48/02, <http://www.swp-berlin.org/pdf/swp_aktu/swpaktu_48_02.pdf>).37 So kommt eine im Februar 2002 der Öffentlichkeit vor-gestellte Studie der Forschungseinrichtung TESEV zu demErgebnis, daß die Hälfte der befragten 1200 Unternehmen inihren geschäftlichen Aktivitäten von Korruption Gebrauchmachten; vgl. Güzin Yõldõzcan, Sezer Calls for National Mobili-zation against Graft, in: Turkish Daily News, ElectronicEdition (TDN Online), 16.2.2002; Burak Bekdil, Bribesville, in:TDN Online, 19.2.2002. Generell zur Korruption im türki-schen System vgl. Yunus Yoldas, Verwaltung und Moral in derTürkei, Frankfurt a.M./Berlin u.a. 2000 (Europäische Hoch-schulschriften, Reihe 31: Politikwissenschaft, Bd. 405).38 Vgl. Horst Bacia, Ein Boot in stürmischer See, in: Frankfur-ter Allgemeine Zeitung, 11.7.2000, S. 8.

verankert. Die Mitgliedschaft in einer Partei ist in derRegel eher Ausdruck für lockere Anhängerschaft oderSympathie statt Ausweis politisch deÞnierter organi-satorischer Bindung. Dazu paßt, daß Mitgliedsbeiträgekaum erhoben werden. Lokale Parteigliederungensind außerhalb von Wahlkampagnen nur wenig aktiv.Personelle oder organisatorische Querverbindungenzu gesellschaftlichen Organisationen existieren prak-tisch nicht, obwohl der bürgergesellschaftlicheBereich stark nach ideologischen Positionen fragmen-tiert ist.

Diese Konstellation ist Ursache und Folge derexklusiven Orientierung des Parteilebens auf denVorsitzenden (und seinen engsten Gefolgschafts-kreis).39 Parteivorsitzende regieren die Organisationvon der Spitze aus und besetzen die regionalen undlokalen Untergliederungen mit ihnen genehmenFührungen, wozu das Parteiengesetz die Handhabegibt. Innerparteiliche Demokratie existiert nicht,Opposition wird in der Regel unterdrückt oder kalt-gestellt. Das regionale und lokale Führungspersonalwird kaum nach seinen politischen Positionen aus-gesucht, sondern nach der persönlichen Loyalitätgegenüber der Parteiführung und nach der Fähigkeit,über entsprechende klientelistische Netzwerke Wäh-lerstimmen zu mobilisieren. Das gilt besonders für diekurdischen Provinzen, in denen Stämme und derenLoyalitätsbeziehungen auch eine wichtige Partei-/Wahlfunktion haben.40 Abweichungen von diesemMuster existieren zwar, doch sind sie die Ausnahme.

Nach dem gleichen Prinzip von Loyalität undMobilisierungsfähigkeit wählt die Parteiführung dieParlamentskandidaten aus. Entsprechend gering istdie politische Bedeutung der Parlamentsfraktionenfür das Parteileben. Zudem haben die AbgeordnetenhäuÞg nur schwache Bindungen an die Partei. Sokommt es denn auch immer wieder zu Parteiwechselnvon Abgeordneten, wenn das Angebot der abwerben-den Partei in Form von erhofften oder versprochenenÄmtern oder anderen Vorteilen verlockender ist alsdie aktuelle Stellung in der eigenen Fraktion. Ins-

39 Eine gute Übersicht über die wesentlichen Struktur-elemente türkischer Parteien gibt İlter Turan, The OligarchicLeadership of Turkish Political Parties: Origins, Evolution,Institutionalization and Consequences, Istanbul 1995 (KoçUniversity Working Paper, No. 1995/19). Umfassende Einzel-analysen aller wichtigen aktuellen Parteien Þnden sich in:Turkish Studies, 3 (Frühjahr 2002) 1 (Special Issue: PoliticalParties in Turkey).40 Vgl. Ferzende Kaya, Where Will Tribal Votes Head for?, in:TDN Online, 23.9.2002.

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besondere bei knappen Mehrheitsverhältnissen wardie Stabilität der Regierung durch die Gefahr von Frak-tionswechseln zusätzlich bedroht.

Besonders massiv ist dieses Phänomen wieder imVorfeld der vorgezogenen Wahlen vom November2002 aufgetreten. Als Folge eines gescheiterten Ver-suchs, den gesundheitlich stark geschwächten Pre-mier und Parteivorsitzenden abzulösen, verließenüber 50 Abgeordnete die Demokratische Linkspartei(DSP) von Ministerpräsident Ecevit. Damit zerÞel diesebis dahin führende Regierungspartei.41 Außerdemwechselten nach dem Beschluß über vorgezogene Neu-wahlen zahlreiche Abgeordnete jener Parteien, dienur geringe Chancen hatten, die Zehnprozenthürdezu überwinden, zu aussichtsreicheren Parteien. Hier-von besonders betroffen war der kleine Koalitions-partner, die Mutterlandspartei (AnaP) von VizepremierMesut Yõlmaz.42

Aufgrund der beschriebenen Mechanismen könnensich Parteivorsitzende außerordentlich lange an derSpitze ihrer Organisation halten, wie die Fälle vonSüleyman Demirel, Bülent Ecevit, Necmettin Erbakan,aber auch Tansu Çiller und Mesut Yõlmaz zeigen.Während die drei erstgenannten, nur unterbrochendurch Militärinterventionen bzw. Parteiverbote, ihreParteien seit den sechziger Jahren führen bzw.führten, sind die beiden letzteren trotz aller Kritik anihrer Person und Politik immerhin auch schon gutzehn Jahre an der Spitze der Partei des richtigenWeges (DYP) bzw. der Mutterlandspartei.

Die übermäßige Oligarchisierung der türkischenParteistrukturen trägt insofern zur Zersplitterung derParteienlandschaft bei, als Personen oder Gruppen, diedurch das innerparteiliche Machtkartell ausgeschlos-sen wurden, in der Regel nur der Weg des Austrittsund der Gründung einer eigenen Partei bleibt, wennsie ihre politischen Ambitionen verwirklichen wollen.In solchen Fällen verlassen nicht selten ganze Lokal-organisationen die Partei, weil deren Führung ineinem Loyalitätsverhältnis zum Dissidenten steht. Daszeigt das erwähnte Beispiel der gescheiterten Palast-revolution in der DSP ganz deutlich.

41 Vgl. dazu im einzelnen Heinz Kramer, Überraschung in derTürkei: Vorgezogene Neuwahlen, Berlin: Stiftung Wissen-schaft und Politik, August 2002 (SWP-Aktuell Nr. 28/02).42 Auf diese Weise kamen auch bisher nicht im Parlamentvertretene Parteien zu einer Repräsentation, so daß aus demursprünglichen Fünf-Parteien-Parlament, das aus den Wahlenvon 1999 hervorgegangen war, vor dem neuen Wahlgang einElf-Parteien-Parlament wurde; vgl. Muğla Deputy DikmenResign from YTP, in: TDN, 9.10.2002, S. 4.

Die geringe Verankerung der türkischen Parteien inder Gesellschaft und die übermäßige Oligarchisierungihrer Organisation haben dazu beigetragen, daß dieParteiidentiÞkation in der Bevölkerung nur sehrschwach entwickelt ist. Entsprechend hoch ist dieVolatilität der Wählerschaft und der Anteil derWechselwähler. So hat in den letzten vier Parlaments-wahlen jeweils eine andere Partei die meisten Stim-men errungen: 1991 die Partei des richtigen Wegesunter Süleyman Demirel, 1995 die (islamistische)Wohlfahrtspartei unter Necmettin Erbakan, 1999 dieDemokratische Linkspartei unter Bülent Ecevit und2002 die AKP von Recep Tayyip Erdoğan. SämtlicheParteien verzeichneten in diesen Wahlen erheblicheSchwankungen ihrer jeweiligen Stimmenanteile.»Soweit die Stabilisierung des Wahlverhaltens einElement demokratischer Konsolidierung bildet,scheint der aktuelle Trend in der Türkei von Konsoli-dierung wegzuführen.«43

Wahlergebnisse der wichtigsten Parteien,

1991�2002

1991 1995 1999 2002

DYP 27,03 19,19 12,01 9,54

AnaP 24,01 19,65 13,22 5,13

DSP 10,75 14,64 22,19 1,22

SHP/CHP 20,75 10,71 8,71 19,39

MHP ��,��* 8,18 17,98 8,36

RP/FP/SP** 16,88 21,38 15,41 2,49

AKP ��,�� ��,�� ��,�� 34,28

* 1991 war die MHP eine Wahlgemeinschaft mit der RPeingegangen.

** Nach dem Verbot der FP spaltete sich die islamistischeBewegung 2001 in die SP und die AKP.

Angesichts der beschriebenen Strukturen undMechanismen verwundert es nicht, daß die Mehrheitder Bevölkerung Parteien als »korrupte und hoch-gradig oligarchische Institutionen ansieht, in dikta-torischer Weise von engstirnigen, unnachgiebigenFührern geleitet, die unfähig sind, die drängendenProbleme des Landes zu lösen.«44 Die seit Anfang 2001herrschende schwere Wirtschaftskrise hat diese Thesein eindrucksvoller Weise bestätigt: Seit Anfang April2001 deuteten alle Umfragen darauf hin, daß wohlkeine der etablierten türkischen Parteien bei Wahlen

43 Özbudun, Contemporary Turkish Politics [wie Fn. 28], S. 78(Übers. durch H.K.)44 Ebd., S. 99 (Übers. durch H.K.).

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die Zehnprozenthürde überwinden würde.45 Dies löstenach dem Beschluß über Neuwahlen hektische Bemü-hungen vor allem der AnaP- und der DYP-Führung aus,Listenallianzen mit anderen Parteien einzugehen, umden drohenden Ausschluß von der Macht zu verhin-dern. Unterdessen wartete die türkische Bevölkerungauf neue Personen und neue Parteien, die das Landaus der Misere führen könnten.

Ein solcher Hoffnungsträger ist, zumindest für gutein Drittel der Wähler, der frühere Istanbuler Ober-bürgermeister Recep Tayyip Erdoğan. Er galt in derTugendpartei (FP) als führender Vertreter des »moder-nen« Flügels und gründete nach dem Verbot der FP imHerbst 2001 die Gerechtigkeits- und Entwicklungs-partei (AKP). Sie vertritt nach eigenem Anspruch einengemäßigten Kurs im pro-islamischen Lager und grenztsich damit ab von den sogenannten »Traditionalisten«um den langjährigen Führer der islamischen Partei-bewegung, Necmettin Erbakan. Dessen Anhängerhaben aus den Resten der FP die Glückseligkeitspartei(SP) unter Führung von Recai Kutan gegründet, der,wie schon in der FP, für Erbakan einspringen muß,der bis ins Jahr 2003 mit einem Politikverbot belegtist.46 Erdoğan konnte mit seiner AKP auf Anhieb einebreite Zustimmung in der Wählerschaft gewinnen, dieweit über das islamische Lager im engeren Sinn hin-ausreicht.47

Erdoğan und seine Mitstreiter wollen aus der AKPauch dadurch eine neue Partei machen, daß dieSatzung Þnanzielle Transparenz nicht nur für diePartei, sondern auch für ihre Parlamentskandidatenund Funktionäre vorsieht. Außerdem sollen alle Kan-didaten für Abgeordnetenmandate durch parteiinter-ne Vorwahlen bestimmt werden. Die Amtszeit des Par-teivorsitzenden ist auf zwei Wahlperioden begrenzt.Das wären für türkische Parteiverhältnisse geradezu

45 Vgl. zum Beispiel: May ANAR Poll Show More Bad Newsfor Existing Parties, in: BrieÞng, (11.6.2001) 1346, S. 6.46 Die Spaltung des islamischen Lagers ist ein weiteres Symp-tom der erwähnten StrukturdeÞzite des türkischen Parteien-systems, denn Erdoğan und seinen Anhängern war es zuvornicht gelungen, innerhalb der FP die »alte Garde« abzulösen.Die Gründung einer eigenen Partei war die logische Konse-quenz. Da im islamischen Lager die Rücksichtnahme auf die»Gemeinschaft« � in diesem Falle der Partei � einen hohenWert darstellt, ist Trennung kein leichter Schritt. Daherwartete Erdoğan auch mit der Gründung, bis das erwarteteFP-Verbot ihm eine elegante Gelegenheit bot.47 Einzelheiten über die neuen Parteien bietet Günter Seufert,Die neuen pro-islamischen Parteien in der Türkei, Berlin:Stiftung Wissenschaft und Politik, März 2002 (S 6/02,<www.swp-berlin.org/pdf/ap/S06_02.pdf>).

revolutionäre Neuerungen, wenn sie denn verwirk-licht würden.48 Allerdings hat die Aufstellung der Kan-didaten für die Novemberwahlen gezeigt, daß sich dieAKP bisher nicht von den gängigen Praktiken türki-schen Parteilebens gelöst hat. Dennoch blieb dasVertrauen der Bevölkerung in Erdoğan und seine Mit-streiter ungebrochen.

Die Verhältnisse im türkischen Parteiensektor sindim europäischen Vergleich nicht unbedingt einzig-artig.49 Nicht nur in der Türkei, sondern auch generellläßt sich ein Rückgang der ParteiidentiÞkation in dereuropäischen Bevölkerung beobachten. Viele mitttel-und osteuropäische Beitrittskandidatenländer weisenwie die Türkei eine erhebliche Volatilität der Wähler-schaft auf, wie die jüngeren Wahlergebnisse in derSlowakei, der Tschechischen Republik, Polen, Rumä-nien oder Bulgarien zeigen. Stark fragmentierteParteiensysteme sind ebenfalls nicht selten und moti-vieren häuÞg, wie zum Beispiel im Falle Italiens oderin jenen einiger mittel- und osteuropäischer Kandida-tenländer, zur Bildung von Wahlallianzen. Oligarchi-sierung ist ein klassisches Merkmal aller Parteien, unddie Frage, wann Führerorientierung in Personalismusumschlägt, ist auch in einigen EU-Ländern nicht leichtzu beantworten.

Politische Korruption ist auch kein rein türkischesPhänomen. Wie die nicht enden wollende MaÞa-diskussion in Italien, jüngere Diskussionen in Belgienund Frankreich oder die Parteispendenskandale inDeutschland zeigen, sind nicht einmal Gründungs-mitglieder der EU frei von derartigen erheblichenDeformationen des politischen Prozesses.50 Der Kan-

48 Neuerdings wird sogar die Justiz im Sinne der Förderunginnerparteilicher Demokratie aktiv. So hat der Generalstaats-anwalt beim Kassationsgericht Anfang März 2002 acht Par-teien � darunter die AnaP, AKP und CHP � aufgefordert, ihreRegularien für die Wahl der obersten Parteiführungsgremienzu demokratisieren und die gesetzwidrige »Setzung« von Kan-didaten durch den Parteivorsitzenden zu beenden. Vgl. TDNOnline, 7.3.2002.49 Wenn in dieser Arbeit auf Verhältnisse in EU-Mitglied-staaten oder in Staaten anderer Beitrittskandidaten Bezuggenommen wird, geschieht das nicht, um türkische Verhält-nisse zu entschuldigen oder zu relativieren. Da in der euro-päischen Debatte über einen türkischen EU-Beitritt die Türkeijedoch oft als nicht-europäisch oder als grundsätzlich»anders« charakterisiert wird, kann es nicht schaden, auf dievielfältigen Ähnlichkeiten hinzuweisen, die zumindest impolitischen Bereich zwischen der Türkei und dem restlichenEuropa existieren. Nicht mehr, aber auch nicht wenigersollen die entsprechenden Hinweise in dieser Arbeit leisten.50 Vgl. zum Beispiel für Belgien Lieven de Winter,Political Corruption in the Belgian Politocracy: (Still) a

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didat Türkei sollte ebenso wie die anderen Kandi-datenländer erwarten dürfen, daß die EU ihnengegenüber nicht schärfer reagiert als in vergleich-baren Fällen in Staaten ihrer Altmitglieder, die relativselten zu einem EU-weiten Thema werden.

Die seit dem Sommer 2001 besonders deutlich aus-geprägte Enttäuschung der türkischen Bevölkerungüber die sie repräsentierenden Parteien und Politiker,die sich auch im Wahlergebnis vom 3. November 2002niederschlug, ist als Ablehnung dieser konkretenAkteure türkischer Politik zu werten und bedeutetkeineswegs eine generelle Absage an das parlamen-tarisch-repräsentative System der Republik: DieTürken verlangen dringend nach anderen (besseren)Parteien und Politikern, nicht aber nach einem ande-ren System. Die DeÞzite, die der politisch-parlamen-tarische Sektor trotz erfolgreicher Konsolidierungnoch immer aufweist, lassen also keineswegs denSchluß zu, daß die Türkei in dieser Hinsicht daspolitische Beitrittskriterium der »stabilen Institutio-nen« verfehlt.

Organisierte Interessen und Zivilgesellschaft

Der Entwicklung einer wirkungsmächtigen Zivil-gesellschaft (civil society) mißt die EU in jüngster Zeiteine besondere Bedeutung für die Etablierung kon-solidierter Demokratien bzw. für die erfolgreicheTransformation nichtdemokratischer und nicht-marktwirtschaftlicher Gesellschaften bei. Dies kommtin der politischen Rhetorik der Union beim ThemaErweiterung um die mittel- und osteuropäischenTransformationsstaaten klar zum Ausdruck und Þndetseinen konkreten Niederschlag in den verschiedenenProgrammen zur Förderung der demokratischenGesellschaft in diesen Ländern.

Dieses Anliegen bringt die EU auch im türkischenBeitrittsprozeß zur Geltung, indem sie die Entwick-lung der türkischen Zivilgesellschaft fordert. DieseForderung wird aber auch in der Türkei selbst erhobenoder es wird bereits im Namen der Zivilgesellschaftpolitischer Wandel eingefordert.51

»Zivilgesellschaft« ist ein sozialwissenschaftlicherBegriff mit vielen Dimensionen und unterschiedlichen

Endemic Disease?, Florenz 2000 (EUI Working Papers,RSC No. 2000/31).51 Vgl. dazu zum Beispiel die türkischen Beiträge in: Türkei-Programm der Körber-Stiftung (Hg.), Perspektiven der Zivilgesell-schaft/Sivil Toplumun Geleceği, Hamburg 2001 (6. Deutsch-Türkisches Symposium der Körber-Stiftung).

historischen, konzeptionellen und realen Ausprägun-gen. Im Kern bezeichnet er auch immer einen »weit-gehend selbst regulierten sozialen Raum bürgerschaft-lichen Engagements zwischen Staat, Ökonomie undPrivatsphäre sowie die Handlungsprinzipien, dietypischerweise dort gelten: freiwillige Verantwor-tungsübernahme, Gewaltfreiheit und Kompromiß-bereitschaft.«52

Im Sinne dieser DeÞnition ist Zivilgesellschaft weit-gehend ein Phänomen postindustrieller Gesellschaf-ten, in denen die Phänomene parlamentarische Demo-kratie und Nationalstaat bereits auf eine längereGeschichte zurückblicken können. Hier hat der Pro-zeß der gesellschaftlichen Individuierung neue poli-tische Forderungen aufkommen lassen, die im Systemparteienpluralistischer Demokratie nur noch unvoll-kommen erfüllt werden können. Weil das so ist,schließen sich freie Individuen freiwillig zusammen,um bestimmte gemeinsame Anliegen innerhalb desSystems, aber außerhalb der etablierten politischenMechanismen durchzusetzen.

Es leuchtet unmittelbar ein, daß derartige Formenkollektiver Interessenvertretung in Gesellschaften mitnoch stark traditionalem und gemeinschaftsorientier-tem Charakter und einem vorwiegend klientelistischgeprägten Politikprozeß wie der türkischen weniggünstige Entwicklungsbedingungen vorÞnden. DieMaßstäbe zur Beurteilung des Entwicklungsstandesder türkischen Zivilgesellschaft können deshalb nichtohne weiteres aus dem durchschnittlichen heutigeneuropäischen Erfahrungshorizont übernommenwerden.53 In der Türkei wird mit Zivilgesellschaftbisher vor allem eine Bewegung assoziiert, die ehermit den Traditionen »zivilen Ungehorsams« in Verbin-dung gebracht werden kann. Folglich spielen dortrelativ fest organisierte Interessen (Verbände) nocheine weitaus größere Rolle als freie bürgerschaftlicheAssoziationen.

Ungeachtet dessen haben 50 Jahre Parteiendemo-kratie auch in der türkischen Bevölkerung ein mit

52 Neues über Zivilgesellschaft, in: WZB-Mitteilungen, 97(September 2002), S. 27.53 Vgl. für eine ausführliche Diskussion des Konzeptes derZivilgesellschaft im türkischen Kontext Stefanos Yerasimos,Civil Society, Europe and Turkey, in: S. Yerasimos/G. Seufert/K.Vorhoff (Hg.), Civil Society in the Grip of Nationalism. Studieson Political Culture in Contemporary Turkey, Istanbul 2000(Final Report for the Project »Le nationalisme Turc face àl�Europe«), S. 11�23; Günter Seufert, The Impact of NationalistDiscourses on Civil Society, in: Yerasimos/Seufert/Vorhoff (Hg.),Civil Society, S. 25�47.

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europäischen Standards vergleichbares Bewußtseinund vergleichbare Motivationen zur Ausübungpolitischen Drucks um der Erreichung bestimmterZiele willen geschaffen. Was aber noch weitgehendfehlt, sind die institutionellen und organisatorischenVoraussetzungen, die nötig sind, damit derartige Prä-dispositionen in der Praxis wirksam werden. »Daspolitische Regime des Landes und insbesondere seineVerfassung stechen als größtes Hindernis für die Kon-solidierung eines stärker pluralistischen Kontexteshervor.«54

Unter diesen Bedingungen ist es für Gewerkschaf-ten, Wirtschaftsverbände und Berufsorganisationenwesentlich leichter, mit den immer noch erheblichenpolitischen Einschränkungen zivilgesellschaftlicherAktivitäten umzugehen � und sie zu unterlaufen �, alsfür lokale oder nationale zivile Initiativen und frei-willige Vereinigungen, die sich einer bestimmtenSache verschrieben haben, seien es Umweltanliegen,sei es Menschenrecht, sei es Jugendschutz. Das giltnoch einmal verschärft für alle Initiativen, die, zuRecht oder Unrecht, in »separatistischem« oder »reak-tionärem« Verdacht stehen.55

Dennoch sind in der Türkei im vergangenen Jahr-zehnt Ansätze einer bürgergesellschaftlichen Kulturentstanden, die sich zunehmend auch im politischenAlltag bemerkbar macht. Allerdings sind entspre-chende Organisationen bisher weitgehend auf diestädtischen Mittelschichten beschränkt. Außerhalbder Zentren gibt es nur vereinzelte Bürgerorganisatio-nen, die sich gegen konkrete Vorhaben richten, wieden immer wieder ins Gespräch gebrachten Bau einesAtomkraftwerks in Akkuyu an der südlichen Mittel-meerküste.

Eine speziÞsche Form zivilgesellschaftlichen Enga-gements zeigen die zahlreichen religiös motiviertenStiftungen und Nachbarschaftsvereine in den großenStädten, die häuÞg auch von Aktivisten der islami-schen Parteien getragen werden, ohne allerdingsofÞziell deren Unterorganisationen zu sein. Ähnlichesgilt für die islamisch geprägten Unternehmer-, Juri-sten- oder Menschenrechtsvereinigungen. Es ist um-stritten, ob diese Organisationen als Teil der Zivil-

54 Kalaycõoğlu, Turkish Democracy [wie Fn. 33], S. 60.55 Vgl. zu den juristischen und sonstigen staatlichen Hemm-nissem, die der Entstehung zivilgesellschaftlicher Organisa-tionen entgegenstehen, Gülistan Gürbey, Politische und recht-liche Hindernisse auf dem Weg der Herausbildung einer Zivil-gesellschaft in der Türkei, in: Ferhad Ibrahim/Heidi Wedel (Hg.),Probleme der Zivilgesellschaft im Vorderen Orient, Opladen1995, S. 95�111.

gesellschaft oder eher als Teil einer umfassenden poli-tischen islamischen Bewegung anzusehen sind. Da imIslam die Grenzen zwischen religiösem, gesellschaft-lichem und politischem Engagement und den ent-sprechenden Organisationen ßießend sind, ist eineeindeutige Zuordnung schwierig.

Säkularistisch orientierte Organisationen grenzensich in der Regel scharf von ihnen ab oder billigenihnen keinen zivilgesellschaftlichen Status zu. Somacht sich die aktuelle Spaltung der türkischenPolitik und Gesellschaft in Säkularisten (Kemalisten)auf der einen und in religiös orientierte Kräfte (Isla-misten) auf der anderen Seite auch im Bereich derZivilgesellschaft und der organisierten Interessenbemerkbar. Generell tendieren auch die türkischenNichtregierungsorganisationen (NRO) häuÞg dazu,sich gegen politisch anders orientierte NROs abzu-grenzen und zum Beispiel mehr demokratische Rechtefür sich selbst, aber nicht unbedingt für alle undschon gar nicht für politisch »feindliche« Gruppender Zivilgesellschaft zu fordern.

Diese Neigung ermöglicht es den regierendenEliten, nicht zuletzt der Militärführung, gesellschaft-liche Koalitionen zu formen, die gezielt gegen»Abweichler« vom nationalen Konsens oder gar dessen»Feinde« mobilisiert werden können.56 Das prominen-teste Beispiel ist die vom Militär orchestrierte Kam-pagne zur Durchsetzung der Beschlüsse des Natio-nalen Sicherheitsrates vom 28. Februar 1977, die sichgegen die damalige Koalitionsregierung Erbakan/Çiller richteten.57 Doch auch die Bemühungen, denneuen »Star« des islamischen Spektrums, Recep TayyipErdoğan, und seine AKP in ihrem politischen Aufstiegzu bremsen, scheinen nicht ganz ohne Mitwirkungmilitärischer Kreise angestoßen worden zu sein.

Das Militär als politische Institution

Im politischen Institutionengefüge der Türkei spieltdas Militär eine besondere Rolle. Sie unterscheidetsich fundamental von denen der Streitkräfte in allenanderen EU-Staaten oder Kandidatenländern. In derTürkei ist das Militär, genauer: die Militärführung, ein

56 Vgl. für Einzelheiten Seufert, The Impact of NationalistDiscourses [wie Fn. 53], S. 28�35.57 Vgl. zu Einzelheiten über den »28. Februar-Prozeß« undseine Folgen für die türkische Innenpolitik Niyazi Günay,Implementing the »February 28« Recommendations: A Score-card, Washington, D.C. 2001 (The Washington Institute forNear East Policy, Research Note 10, May 2001).

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fester Bestandteil des politischen Systems. Der Gene-ralstab ist nicht dem Verteidigungsministerium unter-stellt, sondern direkt dem Ministerpräsidenten. Einezivile Kontrolle ist faktisch nicht vorhanden. Das Mili-tär beansprucht die Rolle eines selbständigen politi-schen Akteurs, die ihm von den Politikern und derÖffentlichkeit auch weitgehend zugestanden wird.58

Die Militärführung macht ihren Einßuß über ver-schiedene Kanäle geltend. Von der Verfassung institu-tionalisiert ist die Meinungsbildung im NationalenSicherheitsrat (MGK). »Über dieses Organ ist dasMilitär faktisch an der Ausübung verfassungsgemäßerExekutivgewalt beteiligt, ohne formell dazu legiti-miert zu sein.«59 Die monatlichen Sitzungen des MGKsind, vor allem in Krisenzeiten, Ereignisse von aller-größtem öffentlichem Interesse.

Daneben hat sich in den letzten Jahren die Praxisetabliert, daß führende Militärs regelmäßig zu denverschiedensten politischen Fragen öffentlich Stellungnehmen, womit sie stets ein beachtliches Medienechoauslösen. Das Spektrum der angesprochenen Themenreicht von Fragen der Regierungsbildung über dieBildungspolitik, die wirtschaftliche und soziale Lagedes Landes, den Beitritt zur Europäischen Union, dasRundfunk- und Fernsehwesen, die Menschenrechte bishin zu Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Imtürkischen Kontext bedeutet das mehr als bloß dieWahrnehmung des demokratischen Rechtes der freienMeinungsäußerung durch hohe Militärs, denn in denAugen der Öffentlichkeit � und vieler Politiker � hatdie Haltung der Militärführung zu bedeutsamenpolitischen Fragen mehr Gewicht als die der Regie-rung oder des Parlaments.

Nicht zuletzt gibt es die Praxis mehr oder wenigervertraulicher direkter Einßußnahme auf die Spitzender Regierung. Fast jeder Besuch des Generalstabschefsbeim Ministerpräsidenten oder gar beim Staatspräsi-denten löst sofort öffentliche Spekulationen über diepolitische Absicht aus, die damit verbunden sein

58 Das kommt zum Beispiel unverhüllt in der Bemerkungdes jüngst ausgeschiedenen Generalstabschefs HüseyinKõvrõkoğlu anläßlich seines Abschiedsbesuchs beim Parla-mentspräsidenten zum Ausdruck: »The reforms that we haveprompted were supported by the laws passed by Parliament.«(TDN Online, 28.8.2002.) Es dürfte keinen EU-Staat geben, indem die Militärführung dem Parlament so offen bescheinigt,sie bei der Verwirklichung ihrer politischen Vorhaben unter-stützt zu haben � und in dem eine solche Bemerkung nichteinen Sturm der Entrüstung in Medien und politischerÖffentlichkeit ausgelöst hätte.59 Christian Rumpf, Das türkische Verfassungssystem,Wiesbaden 1996, S. 180.

könnte. Konsultationen der Führungen von Militärund Politik Þnden eben nicht nur, noch nicht einmalvorwiegend, zu Fragen der militärischen Sicherheitder Nation statt.

Das türkische Militär hat seine politische Rollenicht usurpiert, sondern übt sie mit breiter öffent-licher Billigung auf der Grundlage der Verfassung undanderer Gesetze aus, gestützt auf eine lange nationaleTradition, in der die Streitkräfte stets als »Hüter« derkemalistischen Republik und ihrer Errungenschaftenauftraten.60 In der Vergangenheit hat sich das Militärweitgehend auf diese Hüterrolle beschränkt und einePosition »über dem politischen Alltag« eingenommen.Nur in echten Ausnahmesituationen griff es in daspolitische Geschehen ein.

Seit Mitte der neunziger Jahre wandelte sich dasRollenverhalten jedoch deutlich. Zu beobachten istzum einen eine Tendenz zu permanenter Beteiligungam politischen Geschehen und zu entsprechender Ein-ßußnahme und zum anderen dazu, durch dieseständige Präsenz in der politischen Debatte den»zivilen« Entscheidungsprozeß im Sinne der Militär-führung so zu steuern, daß Entwicklungen ausge-schlossen werden, die einen neuen Coup notwendigmachen könnten.61 Die Generäle haben erkannt, daßeine Militärintervention in der heutigen Zeit gegen-über der internationalen Gemeinschaft kaum noch zurechtfertigen ist. Auch in der türkischen Bevölkerungwürde sie auf deutlichen Widerstand stoßen, wenn-gleich in politischen Krisen Spekulationen über einEingreifen des Militärs immer noch zum festenBestand der türkischen Mediendebatte gehört.

Immerhin hat in der Türkei in den letzten Jahrenauch eine vorsichtige Diskussion über die politischeRolle des Militärs eingesetzt. Im wesentlichen durchdie mit der EU-Perspektive verbundenen Reform- undLiberalisierungserfordernisse ausgelöst, beschränkt siesich bis jetzt hauptsächlich auf das institutionelle Pro-blem der Bedeutung und Funktion des MGK undberührt nur in seltenen Fällen die eher grundsätzlicheFrage nach der angemessenen Rolle und Position desMilitärs in einer funktionierenden Demokratie.

Eine wichtige Ausnahme bildet eine von der türki-schen Großindustrie in Auftrag gegebene Studie, inder es unmißverständlich heißt:

60 Vgl. für eine kurze Darstellung dieses Zusammenhangsİlter Turan, The Military in Turkish Politics, in: MediterraneanPolitics, 2 (Herbst 1997) 2, S. 123�135.61 So der Befund von Ümit Cizre, Politics and Military inTurkey into the 21st Century, Florenz 2000 (EUI WorkingPapers RSC No. 2000/24), S. 6�10.

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»1) In einem demokratischen System ist die Militär-führung der politischen Führung untergeordnet; und

2) Die Funktionen der Landesverteidigung und derInneren Sicherheit sind verschieden. (Deshalb hat sichdie Militärführung ausschließlich mit der Landes-verteidigung zu befassen, während die Verantwortungfür die Innere Sicherheit bei der zivilen Führung undihren zuständigen Ministerien liegen sollte.)«62

Als Konsequenz schlug der Autor der Studie,Prof. Bülent Tanör, vor, den Generalstab dem Verteidi-gungsminister zu unterstellen und den MGK als Ver-fassungseinrichtung abzuschaffen.

Dazu sah sich das türkische Parlament jedoch nichtin der Lage. Die im Oktober 2001 verabschiedete Ver-fassungsänderung sieht lediglich die Aufnahme desstellvertretenden Ministerpräsidenten und des Justiz-ministers als weitere zivile Mitglieder sowie eine deut-lichere Herausstellung des beratenden Charakters desMGK vor. Damit haben die Politiker jetzt in diesemGremium eine deutliche Mehrheit gegenüber den Mili-tärs, und die Regierung ist (theoretisch) weniger andie Beschlüsse (Empfehlungen) des MGK gebunden.63

Ob mit dieser Regelung die politische Rolle desMilitärs tatsächlich entscheidend verändert werdenkann, muß bezweifelt werden. Denn zum einen bleibtdie faktisch unabhängige Position und Struktur desGeneralstabs unangetastet und damit auch die ab-solute sicherheitspolitische DeÞnitionsmacht derMilitärführung. Jedenfalls existiert bis heute imzivilen Bereich keine auch nur annähernd so potente(sicherheits)politische Analysekapazität, wie sie derGeneralstab aufgebaut hat. Auch die neuerdings zivileMehrheit im MGK bildet kein Gegengewicht, bleibtdoch sein Generalsekretariat, in dem die wichtigenVorarbeiten für die monatlichen Sitzungen geleistetwerden, weiterhin militärisch dominiert: Der General-sekretär ist traditionell ein ranghoher General, imSekretariatspersonal überwiegt das Militär.64

62 Turkish Industrialists� And Businessmen�s Association (TÜSİAD),Perspectives on Democratisation in Turkey, Istanbul, Januar1997 (TÜSİAD Publication No. T/97-1-212), S. 81.63 Vgl. Gesetzesvorlage des türkischen Ministerrates andie Nationalversammlung vom 28.12.2001 (VorlageNr. B.02.0KKG.0.10/101-380/6057) über die Änderung desGesetzes über den Nationalen Sicherheitsrat und das General-sekretariat des Nationalen Sicherheitsrates (Milli GüvenlikKurulu ve Milli Güvenlik Kurulu Genel Sekreterliği Kanun-unda Değişiklik Yapõlmasõna Dair Kanun Tasarõsõ) undKommission der Europäischen Gemeinschaften, RegelmäßigerBericht 2002 [wie Fn. 1], S. 25f.64 Ohne eine grundlegende »Zivilisierung« von Gesetz 2945aus dem Jahr 1983 über die Organisation und Aufgaben des

Zum anderen hat die Verfassungsänderung wedereine erkennbare NeudeÞnition des türkischen Ver-ständnisses von »nationaler Sicherheit« als Domänedes Militärs herbeigeführt, noch gibt es Anzeichen fürein gewandeltes öffentliches Bewußtsein von der Rolleund Funktion des Militärs. Die vom stellvertretendenMinisterpräsidenten Yõlmaz im Frühjahr 2001 ange-stoßene Debatte über den Komplex der »nationalenSicherheit« erwies sich als kurzes Strohfeuer, dasunter dem Druck der Militärführung rasch erlosch.65

Als Hauptbedrohungen der »nationalen Sicherheit«gelten nach wie vor der »Separatismus« der innerenFeinde, das heißt kurdische Ansprüche auf Anerken-nung von Minderheitenrechten, und der »Reaktionis-mus«, das heißt Forderungen des politischen Islam.Das Militär sieht die Abwehr beider Bedrohungenebenso als seine legitime Aufgabe an wie die Verteidi-gung der Republik gegen äußere Bedrohungen.66

Hierbei kann es sich auf Artikel 35 des Gesetzesüber die türkischen Streitkräfte von 1961 und aufArtikel 85 der Dienstordnung der türkischen Streit-kräfte stützen. Im ersten wird dem Militär die Verant-wortung für die Verteidigung der Türkischen Republikzugesprochen, »wie sie durch die Verfassung deÞniertist«, während der zweite Artikel vorschreibt, daß dietürkischen Streitkräfte das Land gegen innere undäußere Bedrohungen verteidigen sollen, notfalls auchunter Einsatz von Gewalt.67 Daraus legitimiert dasMilitär immer wieder seinen gewaltsamen Kampfgegen den kurdischen Separatismus, während esgegen den Islamismus in der Regel über die Einßuß-nahme auf das Verhalten der Staatsorgane vorgeht.

Angesichts dessen verwundert es nicht, daß seit derVerfassungsänderung vom Oktober 2001 im politi-schen Verhalten der Militärführung kaum Verände-rungen festzustellen sind. Politik und Öffentlichkeit

MGK und ohne eine tatsächliche »Zivilisierung« der Institu-tion läuft die Verfassungsänderung weitgehend ins Leere.Von beidem ist aber bis jetzt keine Rede.65 Vgl. die Beiträge in: Turkish Probe (Online edition),Nr. 447, 12.8.2001; Ümit Cizre, Demythologizing the �NationalSecurity Syndrome�: The Case of Turkey, unveröffentlichtesPapier, Ankara 2002.66 Das hat erst jüngst wieder der neu ernannte Chef desGeneralstabs, General Hilmi Özkök, bei seinem Amtsantrittunmißverständlich zum Ausdruck gebracht; vgl. New Chiefof General Staff Promises to Fight Radical Islam, KurdishSeparatists, in: TDN Online, 30.8.2002.67 Vgl. Metin Heper/Aylin Güney, The Military and the Con-solidation of Democracy: The Recent Turkish Experience, in:Armed Forces & Society, 26 (Sommer 2000) 4, S. 635�657(637).

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Rechtsstaat

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fordern aber unter Berufung auf die Verfassungsände-rung auch kein anderes Verhalten des Militärs ein.Begründeterweise ist also anzunehmen, daß die Ände-rung von Artikel 118 der Verfassung lediglich erfolgte,um den Forderungen der EU nachzukommen. EineÄnderung der faktischen Situation war offenbar nichtbeabsichtigt.

Das ist angesichts der strukturellen Verankerungder Rolle des Militärs in den historischen Grundlagender Türkischen Republik und dem Bewußtsein ihrerBevölkerung auch kaum zu erwarten. Weder diejetzige Politikergeneration noch die aktive Generalitätist aufgrund ihrer Sozialisation in der Lage, ein ande-res Verständnis zu entwickeln. Die tatsächliche »Zivili-sierung« des türkischen politischen Systems dürfteeine Generationenaufgabe sein. Institutionell müßtesie nicht nur eine zivile Dominanz im Apparat desMGK bewirken, sondern daneben auch die Unterstel-lung des Generalstabs unter das Verteidigungsmini-sterium und die volle parlamentarische Budgethoheitüber die Verteidigungsausgaben. Solange das nichtrealisiert ist, wird sich die Türkei in der Art, wie sieEntscheidungen über wesentliche innenpolitischeFragen trifft, signiÞkant von den aktuellen Mitglied-staaten der EU unterscheiden.

Die türkischen Verhältnisse müssen jedoch nichtgrundsätzlich im Widerspruch zu den politischenKriterien von Kopenhagen stehen. Sie schreiben ja denKandidaten kein bestimmtes Institutionensystem vor,schließen folglich auch die Beteiligung der Militär-führung am politischen Entscheidungsprozeß nichtaus. Entscheidend sind letztlich die Qualität derdemokratischen Kontrolle des Militärs und die demo-kratische Qualität der Politik, die von den Institutio-nen gemacht wird.

Die demokratische Kontrolle des Militärs ist in derTürkei nur formal sichergestellt; in der Praxis bildetdie Militärführung ein eigenständiges Entscheidungs-zentrum, das sich der zivilen Kontrolle weitgehendentzieht. Inhaltlich tendiert das Militär in den ent-scheidenden Fragen innerer Sicherheit zu admini-strativ-repressiven Maßnahmen und kaum zu offenerpolitischer Auseinandersetzung.

Die jüngsten Entwicklungen zeigen jedoch, daß dasMilitär nicht völlig unbeweglich ist. Wie im Parteien-lager scheinen sich auch innerhalb der Militärführungin bezug auf einen EU-Beitritt Befürworter und Skep-tiker gegenüberzustehen. Daraus resultiert auch beimMilitär eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich Art undUmfang der notwendigen politischen und gesellschaft-lichen Reformen. Auffallend war jedenfalls, daß sich

die Militärführung im Parteienstreit um die Abschaf-fung der Todesstrafe und die Gewährung kulturellerEntfaltungsmöglichkeiten für die türkischen Kurdenim Vorfeld der Parlamentsentscheidung vom3. August 2002 nicht zu Wort gemeldet hat. Ob darausschon ein Umdenken im Hinblick auf die Sicherheits-bedrohung durch »Separatismus« abgeleitet werdenkann, erscheint angesichts der erwähnten Äußerun-gen des neuen Generalstabschefs zweifelhaft. Dochläßt sich mit einiger Gewißheit feststellen, daß dieStreitkräfte bei der Erfüllung der EU-Forderungengegenwärtig politisch nicht stärker bremsen als dienationalistischen Kräfte in allen türkischen Parteien.

Rechtsstaat

Ein anderes, vom Europäischen Rat in Kopenhagenformuliertes Erfordernis für einen Beitritt ist dasBestehen einer »rechtsstaatlichen Ordnung«. DiesesKriterium ist ein unmittelbarer Ausßuß des Um-stands, daß die EU selbst eine auf Recht gegründeteund dem Recht verpßichtete politische Organisationist. Dabei geht es nicht nur um das Recht zwischenStaaten. Aus dem EU-Recht erwachsen in vielen FällenRechtsverpßichtungen der Mitgliedstaaten, die unmit-telbar für den einzelnen gelten. Der EU-Bürger mußinsofern in der Lage sein, vor den nationalen Gerich-ten entweder sein Recht einzuklagen oder aber gegeneine Verletzung seines Rechts Klage zu erheben.

Artikel 2 der Verfassung von 1982 postuliert, daßdie Türkei ein »demokratischer, laizistischer undsozialer Rechtsstaat« ist. Auf den ersten Blick scheintdiese Aussage zutreffend: In der Türkei herrscht prin-zipiell Gewaltenteilung; der Rechtsweg steht denBürgern offen; staatliches Handeln steht generellunter dem Vorbehalt der rechtlichen Prüfung; dietürkischen Gerichte sind im Prinzip unabhängig undarbeiten frei von politischem Einßuß. Doch wieüberall gibt es auch in der Türkei eine Reihe vonWidersprüchen zwischen der verfassungsmäßigenRechtsstaatlichkeit und der rechtsstaatlichen Wirk-lichkeit.

So werden dem türkischen Rechtssystem eine Reihevon Mängeln attestiert, die sein rechtsstaatlichesFunktionieren zum Teil erheblich beeinträchtigen.68

68 Vgl. TÜSİAD, Perspectives on Democratisation [wie Fn. 62],S. 177�204. Zur aktuellen Lage vgl. Kommission derEuropäischen Gemeinschaften, Regelmäßiger Bericht 2002[wie Fn. 1], S. 21�24.

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Dabei sind institutionell-organisatorische Mängel vonmateriell-inhaltlichen Mängeln zu unterscheiden.

Eines der Hauptärgernisse ist die Langwierigkeitder Verfahren, die auf ungenügende personelle undsachliche Ausstattung des Justizsektors hindeutet.Entsprechende Klagen sind immer wieder zu hören,auch vom Justizminister. Schlechte Bezahlung undAusbildung der Richter und Staatsanwälte resultierenin schlechter Justiz, in der Bestechlichkeit und Ober-ßächlichkeit durchaus nicht ungewöhnlich sind.69

Ein weiteres Problem, das allerdings nur in »politi-schen Verfahren« eine Rolle spielen kann, ist dieOrientierung vieler hoher Richter an der vorherr-schenden Interpretation der Staatsideologie. Diekemalistische Sozialisation der juristischen Elite gibtnicht selten den Ausschlag dafür, daß in der richter-lichen Abwägung von Staatsinteressen gegen indi-viduelle Bürgerrechte erstere den Vorrang erhalten.Die Richter werden in ihrem Rechtsverhalten dadurchgestärkt, daß der umfassende Grundrechteschutz derBürger, an sich fester Bestandteil jedes Rechtsstaates,in der Türkei durch die verfassungsrechtliche Be-schränkung der Grundrechte (z.B. Artikel 13 und 14der Verfassung von 1982) erheblich reduziert ist.»Insbesondere die Prinzipien des Nationalismus unddes Laizismus erlauben ... eine ideologisch begründeteBegrenzung des Rechtsstaatsprinzips.«70 Die Unbe-stimmtheit vieler Begriffe, die in den einschlägigenStaatsschutzparagraphen von Bedeutung sind, erweistsich daher im konkreten Fall häuÞg genug als Nach-teil für den Angeklagten.

Auf allerhöchster richterlicher Ebene wurde diesesProblem evident in dem Streit zwischen dem da-maligen Vorsitzenden Richter des Verfassungsgerichts,Necdet Sezer (dem heutigen Staatspräsidenten), unddem Generalstaatsanwalt beim Kassationshof, VuralSavaş. Savaş kritisierte Sezer im Mai 1999 sehr scharfwegen seines eindringlichen öffentlichen Eintretensfür eine umfassende Liberalisierung der Verfassung.71

Vural Savaş steht mit dieser Einstellung jedochnicht allein. Auch seinem Nachfolger Sabih Kanadoğluwurde vorgeworfen, seine Tätigkeit nicht frei von ideo-

69 Vgl. Metin Munir, Primitive Legal System Mars Quest toJoin EU, in: Financial Times, 13.7.2001, S. II, und Burak Bekdil,Turkey�s De Jure Untouchables, in: TDN Online, 28.8.2001.Dieser Artikel trug seinem Autor ein Strafverfahren wegenBeleidigung der Justiz ein.70 Rumpf, Das türkische Verfassungssystem [wie Fn. 59],S. 119f.71 Vgl. Horst Bacia, Eine Lektion in Demokratie, in: Frank-furter Allgemeine Zeitung, 3.5.1999, S. 22.

logisch begründeten Präferenzen auszuüben. Jeden-falls nährte sein Drängen, das Parteiverbotsverfahrengegen die pro-kurdische HADEP vor dem Verfassungs-gericht zu beschleunigen, diesen Verdacht ebenso wieseine Forderung an den Staatsrat (das oberste Verwal-tungsgericht), eine Entscheidung zurückzunehmen,mit der ein Untersuchungsverfahren gegen denAKP-Vorsitzenden Erdoğan und den gegenwärtigenIstanbuler Oberbürgermeister Gürtuna wegen Be-stechung eingestellt worden war.72 In diesem Zusam-menhang muß aber auch die stark rechtspositivisti-sche Grundorientierung der türkischen Justiz inRechnung gestellt werden, die Tendenz zur buch-stabengetreuen Befolgung von Gesetzen.

Durch die Verfassungsänderung vom 4. Oktober2001 sind die zahlreichen speziÞschen Einschränkun-gen der Geltung der Grundrechte in Artikel 13 be-seitigt worden. Die für besondere Sachverhalte alsnotwendig erachteten Beschränkungen Þnden sichjetzt in den jeweiligen Verfassungsartikeln. AuchArtikel 14 wurde in einer Weise geändert, daß das inihm enthaltene Verbot des Mißbrauchs der Grund-rechte nicht länger als Begrenzung der Meinungs-freiheit interpretiert werden kann, da nur noch »Tätig-keiten«, die gegen die »unteilbare Einheit von Staats-gebiet und Staatsvolk« und gegen die »demokratischeund säkulare Republik« gerichtet sind, mit Sanktionenbelegt werden.73 Der weit umfangreichere Einschrän-kungskatalog der alten Fassung ist ebenso entfallenwie die Sanktionierung von »Ermunterung« und »Auf-hetzung«. Durch die Änderung von Übergangsartikel15 der Verfassung von 1982 sind nun auch die wäh-rend der Militärherrschaft erlassenen Gesetze undDekrete der verfassungsgerichtlichen Überprüfungzugänglich.

Mit diesen Änderungen wurde der Geltungs- undZugriffsbereich der Rechtsstaatlichkeit in der Türkeigrundsätzlich spürbar erweitert. Es bleibt abzuwarten,ob und wie die staatlichen Organe und die Recht-sprechung auf diese Änderungen reagieren. Eine gene-rell liberalere Auslegung der Grundrechte ist ebensomöglich wie die Beibehaltung der alten restriktivenHaltung, nunmehr unter Verweis auf die in mehrerenArtikeln74 neu eingeführten Grundrechtsbegrenzun-

72 Vgl. Kanadoğlu Responds to Critics, in: TDN Online,22.3.2002.73 Vgl. für den aktuellen Verfassungstext <http://www.tuerkei-recht.de/Verfassung2001.pdf>, hier S. 2 und S. 3.74 So Art. 20 »Intimität des Privatlebens«, Art. 21 »Unantast-barkeit der Wohnung«, Art. 22 »Kommunikationsfreiheit«,Art. 26 »Freiheit der Äußerung und Verbreitung der

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Rechtsstaat

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gen »nationale Sicherheit, öffentliche Ordnung, Ver-brechensverhütung, öffentliche Gesundheit undMoral, Schutz der Rechte und Freiheiten anderer«.

Vor diesem Hintergrund erhalten auch Klagen übermangelnde Unabhängigkeit der Rechtsprechung anGewicht, die des öfteren auch aus Kreisen der hohenJustiz vorgetragen werden. Der Hohe Richter- undStaatsanwälterat, die Aufsichtsbehörde für dasGerichtswesen, wird zwar nominell von Mitgliedernder rechtsprechenden Gewalt dominiert, die prakti-sche Arbeit dieser Behörde wird aber vorwiegend vomJustizministerium geleistet. Einige Beobachter sehendadurch die formale Unabhängigkeit der Justiz gefähr-det.75 Ein Nachweis direkter Einßußnahme der Exeku-tive auf die Rechtsprechung dürfte allerdings, wieüberall, nur sehr schwer zu führen sein. Da auch inder Türkei die Richter keiner Weisung durch dasJustizministerium oder durch andere politischeOrgane unterliegen, kann eine Einßußnahme stetsnur verdeckt oder indirekt erfolgen.

Unzureichende Unabhängigkeit ist am ehesten beiRichtern und Staatsanwälten von Militärgerichten mitZuständigkeit auch für Zivilpersonen anzunehmen.Hier leuchtet unmittelbar ein, daß diese Angehörigender Militärjustiz, die gleichzeitig in die militärischeKarriereplanung eingebunden sind, in ihren Entschei-dungen dem Einßuß der Exekutive unterliegenkönnen. Noch problematischer sind die Militär-gerichte der Ausnahmezustandsverwaltung, die in denProvinzen des Südostens vor allem für Staatsschutz-delikte von Zivilisten zuständig sind. Hier ist einedeutliche Einßußnahme militärischer Stellen wie desKommandeurs der Ausnahmezustandsverwaltunggegeben, die erhebliche Zweifel an der Unabhängig-keit dieser Gerichte begründet.76

Eine klare Besserung ist in den Staatssicherheits-gerichten zu beobachten, vor denen in der Regel

Meinung«, Art. 31 »Recht zur Nutzung der Massenkommuni-kationsmittel im Besitz juristischer Personen des öffentlichenRechts außerhalb der Presse«, Art. 33 »Vereinsgründungs-freiheit«, Art. 34 »Versammlungs- und Demonstrations-freiheit«, Art. 51 »Recht auf Gründung von Arbeitnehmer-und Arbeitgeberverbänden«; vgl. Republik Türkei, Verfassungs-änderungen [wie Fn. 73].75 Vgl. TÜSİAD, Perspectives on Democratisation [wie Fn. 62],S. 196�198. Ähnlich äußerte sich erst jüngst wieder der Präsi-dent des Kassationshofs, Eraslan Özkaya, bei der Eröffnungdes neuen Justizjahres Anfang September 2002; vgl. Warnun-gen anläßlich der Eröffnung des neuen Justizjahres, in:Istanbul Post, 2 (7.9.2002) 36, <http://www.Istanbulpost.net>.76 Vgl. für Einzelheiten Rumpf, Das türkische Verfassungs-system [wie Fn. 59], S. 207�211.

Staatsschutzdelikte und Verfahren gegen organisierteKriminalität oder Korruption verhandelt werden.Jenseits der Frage, ob eine Demokratie derartigerSpezialgerichte überhaupt bedarf, hat im Zuge desVerfahrens gegen den PKK-Chef Öcalan insofern eine»Zivilisierung« dieser Gerichte stattgefunden, als diePosition des ursprünglich den Kammern angehören-den Militärrichters abgeschafft wurde. Damit wurdendie rechtsstaatlichen Zweifel des Europäischen Ge-richtshofs für Menschenrechte (EGMR) an diesenGerichten hinfällig.

Insgesamt kann der Türkei ein rechtsstaatlicherCharakter nicht grundsätzlich abgesprochen werden.Die jüngsten Verfassungsänderungen und die darauffußende Revision einzelner Gesetzesvorschriften imRahmen der in den türkischen Medien so genannten»Anpassungspakete«77 haben in der Vergangenheitbeklagte Schwächen zweifellos korrigiert. Die Anstren-gungen der letzten Monate, wichtige Rechtsbereichewie das Zivilrecht zu reformieren, aber auch die seitlängerem in Angriff genommene Strafrechtsreformsind Indikatoren für das Bemühen, den rechtsstaat-lichen Charakter des Systems weiter zu verbessern.

Die Türkei war insofern eines der wenigen Länderim westlichen Bündnis, das nach den Attentaten vom11. September 2001 für mehr Rechtsstaatlichkeit inseinem System gesorgt hat, während viele Partner inEuropa und die USA im Zuge der Terrorismusbekämp-fung gesetzliche Maßnahmen ergriffen haben, derenrechtsstaatlicher Charakter zumindest umstritten ist.

Die größten Mängel weist das türkische Systemnach wie vor bei der Anwendung und dem Schutz derGrundrechte und -freiheiten auf. Hier steht vor allemdie staatsideologische Präformierung des Rechts-verständnisses sowohl der Gesetzgeber als auch derRichterschaft einer Annäherung an durchschnittlicheeuropäische Verhältnisse im Wege. Diese Mängel dürf-ten auch deutlich schwerer wiegen als die Reliktestaatssozialistischer Rechtskultur in Gesetzgebungund Gesetzanwendung der anderen Beitrittsländer.Besonders problematisch sind die Bereiche »Durch-setzung und Schutz der Menschenrechte« und »Ach-tung und Schutz der Minderheiten«. Hier sind die

77 Mit diesen »Paketen« nimmt das türkische Parlament seitHerbst 2001 jene Änderungen in den verschiedenen Gesetzenvor, die für eine Umsetzung der am 4. Oktober beschlossenenVerfassungsänderungen notwendig sind. »Anpassung« hathier eine doppelte Bedeutung: einmal Anpassung der Geset-zeslage an die Verfassung, aber auch Anpassung der türki-schen Rechtsverhältnisse an die EU-Erfordernisse.

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unzureichenden rechtsstaatlichen Verhältnisse unmit-telbarer Ausdruck bestehender politischer DeÞzite.

Menschenrechte

»Nach wie vor ist die Menschenrechtslage in derTürkei insgesamt unbefriedigend. Die gravierendstenDeÞzite betreffen Folter und Misshandlungen im Poli-zeigewahrsam, sowie Einschränkungen der Meinungs-und Pressefreiheit. Ein beträchtlicher Teil der Men-schenrechtsverletzungen steht in engem Zusammen-hang mit der Kurdenproblematik.«78 Dieser Eingangs-satz des Abschnitts über die Türkei im jüngstenBericht der Bundesregierung über die Menschen-rechtspolitik in den Auswärtigen Beziehungen faßtdie europäische Sicht der Situation in der Türkeiprägnant zusammen.

Zu demselben Befund kommen türkische Men-schenrechtler, die allerdings eine kontinuierliche Auf-hellung der düsteren Lage im Laufe der letzten Jahrekonstatieren, neuerdings auch im Südosten.79 OfÞ-zielle Vertreter tendieren ohnehin dazu, die bei derVerwirklichung der Menschenrechte bereits erzieltenFortschritte zu betonen und die noch vorhandenenDeÞzite, an deren Beseitigung kontinuierlichgearbeitet werde, als eher temporär darzustellen.Dabei heben sie immer wieder hervor, daß die Türkeidurch ihren jahrelangen Kampf gegen den »separa-tistischen Terror« der PKK daran gehindert war, dieMenschenrechte vollständig zu verwirklichen.80

Immerhin kann die Türkei auf ein verzweigtesstaatliches Netz einschlägiger Institutionen verweisen.Seit Jahren gibt es einen Staatsminister für Menschen-rechte, seit 1997 ist beim Ministerpräsidenten einHoher Rat für Menschenrechte angesiedelt, der unter

78 6. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschen-rechtspolitik in den Auswärtigen Beziehungen und inanderen Politikbereichen (Deutscher Bundestag, 14. Wahl-periode, Drucksache 14/9323 vom 6.6.2002, <http://dip.bundestag.de/btd/14/093/1409323.pdf>), S. 144.79 Vgl. Ümit Cizre, The Truth and Fiction about (Turkey�s)Human Right Politics, in: Human Rights Review, 3 (Oktober�Dezember 2001) 1, S. 55�77 (56), und: Human Rights Vio-lations in Southeast Decrease, in: TDN, 8.10.2002, S. 3.80 Vgl. zum Beispiel die ofÞzielle Darstellung der türkischenMenschenrechtspolitik auf der Homepage des Außenmini-steriums: Human Rights in Turkey, <http://www.mfa.gov.tr/grupe/el/01.htm>, und den Artikel des damaligen Staats-ministers für Menschenrechtsfragen, Hikmet Sami Türk,Human Rights in Turkey, in: Perceptions, 3 (Dezember 1998�Februar 1999) 4, S. 5�24.

Vorsitz eben jenes Staatsministers agiert und in allenProvinzen einen Ableger hat, der in die direkte Zustän-digkeit des Gouverneurs fällt. Diese direkte Anbin-dung an die regionale Vertretung der staatlichen Zen-tralgewalt mag allerdings erklären, warum die siebenProvinzräte in Ostanatolien bis zum Sommer 2001keine einzige Beschwerde über Menschenrechts-verletzungen zu verzeichnen hatten. Die Bevölkerungin dieser Region ist jahrzehntelang durch das Kriegs-und Ausnahmerecht zu sehr traumatisiert worden, alsdaß sie nun plötzlich Vertrauen zu einer staatlichenMenschenrechtsorganisation haben könnte. Jedenfallssteht der Mangel an ofÞziellen Beschwerden in star-kem Kontrast zu Berichten der zivilen Menschen-rechtsorganisationen über die Lage in der Region.81

Im türkischen Parlament existiert ein Menschen-rechtsausschuß, der sich unter der energischenLeitung seiner früheren Vorsitzenden Sema Pişkinsütein gewisses öffentliches Ansehen erworben hat, in-dem er über Folter in Polizeigewahrsam und dieVertreibungspolitik der Sicherheitskräfte in einigenkurdischen Provinzen im Südosten aufgeklärt hat.Nachdem die MHP im Herbst 2001 den Vorsitz über-nommen hatte, trat der Ausschuß allerdings wenigerin Erscheinung. Menschenrechte sind darüber hinausBestandteil des Curriculums in der Sekundarstufe undseit wenigen Jahren auch Gegenstand der Ausbildungvon Polizeikräften und Justizangestellten. Bislang istjedoch nicht zu erkennen, daß die Öffentlichkeitdadurch mehr Interesse an Menschenrechtsfragen ent-wickelt oder daß sich gar das Verhalten der Sicher-heitskräfte zum Besseren gewandelt hätte.82

Die Türkei hat wesentliche internationale Konven-tionen und sonstige Rechtsakte im Bereich der Men-schenrechte gezeichnet (nicht aber das Rahmenüber-einkommen des Europarats zum Schutz nationalerMinderheiten83). Allerdings fehlt in wichtigen Fällennoch die RatiÞzierung: so beim Internationalen Paktüber bürgerliche und politische Rechte und beim

81 Vgl. TDN Online, 23.7.2001.82 So sah sich der Staatsminister für Menschenrechtsfragen,Nejat Arseven, im Oktober 2001 veranlaßt, in einem Rund-erlaß die Provinzräte für Menschenrechte zum Schutz desLebens und zur Verhinderung von Folter aufzufordern. Vgl.TDN Online, 19.10.2001. Zu den Schwächen der bisherigenBemühungen vgl. auch Güzin Yõldõzcan, Turkey InitiatingHuman Rights Education, in: TDN Online, 22.5.2001.83 Auch EU-Gründungsmitglied Frankreich hat dieseAbkommen noch nicht unterzeichnet. Dennoch bleibt dieTürkei der Beitrittskandidat, der mit der RatiÞzierungwichtiger Menschenrechtsübereinkommen am weitestenim Rückstand ist.

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Menschenrechte

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Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale undkulturelle Rechte, die beide bereits im August 2000unterschrieben wurden.

Generell herrscht unter den türkischen Politikerneine erhebliche Zurückhaltung, das Land inter-national akzeptierten multilateralen Rechtsnormenzu öffnen, wenn diese Normen das identitäre Ver-ständnis der unitaren Republik und ihrer Staatsbürgerzu untergraben drohen. Es fehlt weitgehend an öffent-lichem Druck auf Politiker, die Gewährleistung derMenschenrechte sicherzustellen. Viele Richter ver-meiden es aus Unkenntnis oder Unwillen, internatio-nale Normen, die auch in der Türkei gelten, syste-matisch in ihre UrteilsÞndung einzubeziehen.

Die Perspektive des EU-Beitritts hat zwar in denletzten Jahren den Menschenrechtsdiskurs formell aufder politischen Agenda der Türkei etabliert. Doch hatdas Land die Grenze von der »instrumentellen Anpas-sung« an weitgehend von außen vorgegebene Normenzum »argumentativen Diskurs«, in dem die vorgetra-genen Argumente auch ernst genommen werden,noch immer nicht überschritten. Menschenrechts-politik ist vorwiegend ein Thema für städtische Intel-lektuellenkreise und die entsprechenden politischenAktivisten. Von einem »regelkonformen Verhalten« inMenschenrechtsfragen kann in der Türkei noch nichtgesprochen werden.84

Todesstrafe

Mit dem dritten Reformpaket zur Anpassung an dieErfordernisse der EU-Mitgliedschaft vom 3. August2002 schaffte die Türkei die Todesstrafe ab. Voraus-gegangen war im türkischen Parlament ein langerund erbitterter öffentlicher Streit zwischen jenenGruppen, die unbedingt das Todesurteil gegen denPKK-Führer Abdullah Öcalan vollstreckt sehen wollten,und jenen, die bereit waren, im Interesse des EU-Bei-tritts darauf zu verzichten. Ohne den Öcalan-Faktorund das mit dem Krieg gegen die PKK verbundeneMärtyrersyndrom � die von den Nationalisten zurSchürung von Rachegefühlen politisch instrumentali-sierte Trauer der Familien von Soldaten, die in diesemKrieg gefallen sind � hätte die Todesstrafe relativ pro-

84 Vgl. zu diesen Konzepten der Menschenrechtsentwicklungin Staaten: Thomas Risse/Kathryn Sikkink, The Socialization ofInternational Human Rights Norms into Domestic Practices,in: Thomas Risse/Stephen C. Ropp/Kathryn Sikkink (Hg.), ThePower of Human Rights: International Norms and DomesticChanges, Cambridge 1999, S. 1�28.

blemlos abgeschafft werden können. Schließlichherrschte seit 1984 ein Moratorium: Über 100 Todes-urteile waren nicht zur Bestätigung an das Parlamentweitergeleitet worden.

Gegen die Stimmen der Nationalisten von der MHPund des größeren Teils der öffentlichen Meinung tatdas Parlament mit einer deutlichen Mehrheit diesenwichtigen Schritt in Richtung EU. Er wurde allerdingserst möglich, als die Selbstblockade der RegierungEcevit, die auf Rücksichtnahme der reformwilligenKoalitionsmehrheit auf den Partner MHP beruhte,durch den Beschluß über vorzeitige Neuwahlen vom31. Juli beendet war.85 Noch aber steht die völkerrecht-liche Absicherung dieser nationalen Rechtsänderungaus. Die Türkei muß auch das Zusatzprotokoll Nr. 6zur EMRK unterzeichnen und ratiÞzieren, damit dieForderung aus der Beitrittspartnerschaft endgültigerfüllt ist.

Folter

Der Vorwurf der Folter und von unmenschlicherBehandlung im Polizeigewahrsam, im Strafvollzugoder bei Maßnahmen der Sicherheitskräfte ist einDauerthema der EU-Kritik an den türkischen Men-schenrechtszuständen. Eine große Zahl der gegen dieTürkei vor dem Europäischen Gerichtshof für Men-schenrechte angestrengten Verfahren und der häuÞgdaraus resultierenden Verurteilungen betrifft diesesVergehen. Internationale Organisationen, die zustän-digen Stellen des Europarates oder andere Regierungs-stellen haben immer wieder die Berechtigung ent-sprechender Vorwürfe nachgewiesen.86

Die DeÞzite der Türkei haben eine Reihe von struk-turellen Ursachen. Die staatlichen Stellen sehen sichin einen »Krieg« um die Rettung der Republik ver-

85 Vgl. zu Einzelheiten dieser Entwicklung Kramer, Über-raschung in der Türkei [wie Fn. 41], und ders., Ein wichtigerSchritt in Richtung EU. Das türkische Parlament verabschie-det »historisches« Reformpaket, Berlin: Stiftung Wissenschaftund Politik, August 2002 (SWP-Aktuell Nr. 29/02, <http://www.swp-berlin.org/pdf/swp_aktu/swpaktu_29_02.pdf>).86 Vgl. etwa die regelmäßigen Berichte von Amnesty Inter-national oder Helsinki Watch. Doch auch das »EuropeanCommittee for the Prevention of Torture and Inhuman orDegrading Treatment or Punishment« (CPT) des Europaratesoder das »Bureau of Democracy, Human Rights, and Labor«des amerikanischen Außenministeriums sahen sich in ihrenBerichten über die Menschenrechtslage in der Türkei immerwieder veranlaßt, die anhaltende Folterpraxis, insbesondereim Polizeigewahrsam, zu kritisieren.

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strickt, die durch »separatistischen Terror« bedroht ist.Die Bekämpfung der PKK und ihrer tatsächlichen undvermeintlichen Sympathisanten rechtfertigt dahernahezu alle Maßnahmen und verbietet Rücksicht-nahme. Die große Mehrzahl der Foltervorwürfe gehörtin diesen Kontext.

Doch gibt es menschenrechtswidriges Verhaltenauch gegenüber anderen »politischen« Straftätern, wieLinksextremisten oder Islamisten, sowie gegenübernormalen Strafgefangenen und Verdächtigen. HäuÞgspielt die unzureichende Ausbildung des Sicherheits-personals eine wichtige Rolle für das inkriminierteVerhalten oder die problematische forensische Praxisder Strafverfolgungsbehörden, die oft nicht in derLage sind, gerichtsfeste Beweise anders als durchgewaltsam erzwungene »Geständnisse« beizubringen.

Hinzu kommt, daß die für den Polizeigewahrsamoder die Untersuchungshaft geltenden Rechts-vorschriften lange Zeit Folterpraktiken begünstigten,weil Verdächtigen und Gefangenen anwaltlicher Bei-stand oder medizinische Untersuchungen über län-gere Zeit vorenthalten werden konnten. Besondersproblematisch ist in dieser Hinsicht die im Ausnahme-zustandsgebiet zulässige sogenannte Incommunicado-Haft, in der einem Festgenommenen anfänglich jederKontakt zur Außenwelt verwehrt ist.

Eine ganz wesentliche Ursache für die Mißstände inder Türkei war zudem, daß die politisch Verantwort-lichen sie hartnäckig leugneten. Fast rituell wurdenalle nachgewiesenen Verfehlungen als »Einzelfälle«bezeichnet, die es nicht rechtfertigen würden, voneiner systematischen oder gar staatlichen Praxis derFolter und Mißhandlung zu sprechen.87 Entsprechendgering waren die Anstrengungen, der verbreitetenPraxis rechtliche und verwaltungsmäßige Riegel vor-zuschieben oder gar überführte Täter entschieden zubestrafen.88 All das verhinderte wiederum , daß sich

87 In diesem Zusammenhang wurde dann regelmäßigdarauf verwiesen, daß die Türkei das Europäische Überein-kommen zur Verhütung von Folter ratiÞziert habe, Folterdaher in der Türkei verboten sei.88 Besonders unrühmlich stach der »Manisa-Fall« um zehnPolizisten hervor, die wegen Folter an jugendlichen Verdäch-tigen angeklagt waren. Der Prozeß hatte seit 1995 mehrereInstanzen durchlaufen und drohte zu verjähren, ohne daßmit einer rechtskräftigen Verurteilung der Angeklagten zurechnen war. Auch das jüngst ergangene zweite Urteil wirdmit Sicherheit in die Revision gehen, für deren Abschluß nurnoch bis zum Sommer 2003 Zeit bleibt. Vgl. Manisa Case Post-poned for the Last Time, in: TDN Online, 19.9.2002, und:Guilty Verdict in Seven Year Manisa Torture Test Case, in:TDN, 17.10.2002, S. 3.

bei den Sicherheitskräften ein Unrechtsbewußtseinmit Blick auf die menschenrechtswidrige Behandlungvon Verdächtigen und Gefangenen entwickeln konnte.Wenn dann auch noch in weiten Teilen der Öffentlich-keit Gleichgültigkeit gegenüber der Problematik odergar � wie im Falle der »separatistischen Terroristen« �stillschweigende Zustimmung vorherrscht, ist eineÄnderung der Praxis nur in einem langwierigen Pro-zeß zu erreichen. Bereits 1993 wurde festgestellt, daß»weniger Gesetzesänderungen als vielmehr die Verän-derung der Mentalität notwendig ist, um an dieWurzel des Problems von Folter und Mißhandlung zukommen; die Einstellung der türkischen Sicherheits-kräfte steht immer noch nicht mit den Erfordernisseneiner demokratischen Gesellschaft im Einklang.«89

Insbesondere seit der EU-Entscheidung von Helsinkihat die Türkei durch eine Vielzahl von rechtlichenReformen versucht, diese Situation zu ändern. Sowurden die Vorschriften für die Untersuchungshaft inVerfassung und nachgeordneten Gesetzen revidiert:Generell gilt nun, daß Verdächtige spätestens vierTage nach der Festnahme dem Richter vorzuführenund die Angehörigen unverzüglich über die Verhaf-tung und den Verbringungsort des Verdächtigen zuinformieren sind; die Incommunicado-Haft ist auf 48Stunden begrenzt worden. Bei ärztlichen Unter-suchungen der Festgenommenen dürfen keineSicherheitskräfte mehr zugegen sein. Auch hat diePolizei den Verdächtigen jetzt den Grund der Verhaf-tung anzugeben.90 Diese Gesetzesänderungen bedeu-ten eine weitgehende Anpassung an europäische Stan-dards und eröffnen die Chance, daß Fälle von Folterund Mißhandlung allmählich seltener werden.

Noch aber sind die Verhältnisse unzureichend.91 Sobehauptete Amnesty International kürzlich in einemBericht, daß die neuen Vorschriften häuÞg mißachtetwürden und die Folterpraxis im Polizeigewahrsamkaum nachgelassen habe.92 Einen ähnlichen Eindruck

89 Christian Rumpf, The Protection of Human Rights inTurkey and the SigniÞcance of International Human RightsInstruments, in: Human Rights Law Journal, 14 (31.12.1993)11�12, S. 394�408 (408).90 Vgl. Turkey Adopts Regulations to Implement Pro-EULegislation, <http://www.euractiv.com/cgi-bin/cgint.exe/1940235-436?targ=1&204&OIDN=1503960&-home=search>.91 So beklagte noch im Frühjahr 2002 die Anwaltsvereini-gung von Izmir, daß die Staatsanwälte Foltervorwürfen in derRegel nur nachlässig nachgingen oder gar die Opfer mitVerfahren wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt über-zögen. Vgl. The Police Torturing Accuse the Victims, in: TDNOnline, 28.5.2002.92 Amnesty International, Turkey: Systematic Torture Con-

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vermitteln neben dem Bericht einer Delegation desCPT vom März 2002 jüngere Klagen türkischer Men-schenrechtsorganisationen.93 Die zugrundeliegendenpraktischen Erfahrungen beziehen sich allerdings aufeinen Zeitraum, der vor den jüngsten Gesetzesände-rungen liegt.

Die Durchsetzung menschenrechtskonformerReformen bereitet vor allem in den kurdischen Pro-vinzen im Südosten trotz der seit einigen Jahrenbetriebenen Schulung von Polizeibeamten und ande-ren Angehörigen der Strafverfolgungsbehördenimmer noch erhebliche Probleme. Ob sich daranwesentliches ändert, wenn Ende 2002 auch die letztenzwei Provinzen aus der Ausnahmezustandsverwaltungentlassen werden, bleibt abzuwarten. Zum einen istkeineswegs die Rückkehr zur vollen Normalität vor-gesehen, es soll lediglich eine noch näher zu bestim-mende regionale Sonderverwaltung etabliert werden.Zum zweiten ist nicht damit zu rechnen, daß sichüber Jahrzehnte eingeschliffene Verhaltensweisen derSicherheitskräfte rasch und nachhaltig ändern lassen.

In dem zweiten »Harmonisierungspaket« vom26. März 2002 wird nunmehr gesetzlich vorgeschrie-ben, daß Kompensationszahlungen, die der EGMR fürFolteropfer verhängt, künftig nicht mehr vom Staat,sondern von den für das Vergehen verantwortlichenPersonen geleistet werden müssen. Die Androhungdirekter materieller Nachteile scheint dem Staat einwirksameres Mittel zur Änderung des Verhaltens derTäter zu sein als die bereits existierenden Strafandro-hungen. Unklar bleibt allerdings, wie der Entschädi-gungsanspruch konkret geltend gemacht werdenkann. Bisher hat sich der türkische Staat jedenfallsnicht gerade durch prompte Erledigung der ihm vomEGMR auferlegten Kompensationszahlungen ausge-zeichnet.94

Angesichts dessen muß aber auch gefragt werden,ob die EU insbesondere nach Helsinki ausreichendeAnstrengungen unternommen hat, der Türkei bei der

tinues in Early 2002, London, September 2002 (AI Index:EUR/040/2002).93 Council of Europe, Preliminary Observations Made by theDelegation of the European Committee for the Prevention ofTorture and Inhuman or Degrading Treatment or Punish-ment (CPT) Which Visited Turkey from 21 to 27 March 2002and Response of the Turkish Authorities, Strasbourg,23.7.2002 (CPT/Inf [2002]13).94 Vgl. Council of Europe, Parliamentary Assembly, Implemen-tation of Decisions of the Court of Human Rights by Turkey,Straßburg, 23.9.2002 (Resolution 1297 [2002]) und den zuge-hörigen Bericht des Committee on Legal Affairs and HumanRights, Doc. 9537 vom 5.9.2002.

Beseitigung dieser seit Jahren beklagten Mißstände zuhelfen. Bis jetzt gab es eher unkoordinierte Einzel-maßnahmen der Union und ihrer Mitgliedstaaten. Zuüberlegen wäre, ob Brüssel im Rahmen der Beitritts-vorbereitung nicht den Anstoß für ein umfangreichesund mit EU-Mitteln entsprechend dotiertes Programmgeben sollte, mit dem der Kampf gegen die Mißständeenergischer betrieben werden kann. Jährlich solltenetwa 5000 Beamte der Sicherheitsbehörden intensivin Menschenrechtsfragen geschult werden. DasProgramm sollte drei bis fünf Jahren laufen.

Strafvollzug

Ein spezielles menschenrechtliches Problem stellt derStrafvollzug dar. Für besonders gefährliche Schwer-verbrecher � und dazu zählen alle nach dem Anti-terrorgesetz verurteilten politischen Gefangenen �wurden Hochsicherheitsgefängnisse gebaut. DieseGefängnisse vom sogenannten F-Typ entsprechen euro-päischen Standards, weil in ihnen statt der üblichenMassenzellen mit mehreren Dutzend GefangenenZellen für eine bis drei Personen eingerichtet wurden.Die linksextreme Terrororganisation »RevolutionäreVolksbefreiungspartei-Front« (DHKP-C) erhebt jedochden Vorwurf, diese Gefängnisse dienten der Isolations-haft und würden Folter und Mißhandlungen derGefangenen Vorschub leisten.

Die Organisation, deren Führungskader zum Teilauch von EU-Staaten aus operieren, hat die ihr zugehö-renden Gefangenen Ende 2000 zu einer Gefängnis-revolte angestiftet. Nachdem sie blutig niedergeschla-gen wurde, leitete die DHKP-C einen Hungerstreik derGefangenen und ihrer Angehörigen ein, an dem sichauch eine größere Zahl von Sympathisanten, vor al-lem in Istanbul, beteiligten. Dem türkischen Staat istes bisher nicht gelungen, diesen Hungerstreik zu be-enden, der mittlerweile 97 Todesopfer gefordert hat.95

Der Staat beÞndet sich in einem Dilemma: Er istmit einer Situation konfrontiert, in der gewalttätigepolitische Extremisten ihr Leben bewußt als Waffe ein-setzen und den Staat im Falle der Unnachgiebigkeit zuMenschenrechtsverletzungen provozieren. Die türki-schen Behörden haben deshalb im letzten Jahr � auchauf Druck des CPT und anderer europäischer Stellen,die die Situation regelmäßig überwachen � die F-Typ-Gefängnisse mit Einrichtungen für Gemeinschafts-

95 Vgl. für einen neueren Überblick Gül Demir, Sharing LifeRather than Death, in: Turkish Daily News, 13.9.2002, S. 7.

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aktivitäten ausgestattet und das Antiterrorgesetzdahingehend geändert, daß den Gefangenen Möglich-keiten für gemeinsame Aktivitäten eröffnet werden.Die Nutzung dieser Möglichkeiten ist aber an diegrundsätzliche Bereitschaft zur Resozialisierunggeknüpft, die durch Teilnahme an entsprechendenMaßnahmen unter Beweis zu stellen ist.

Eine solche Bereitschaft wird jedoch von derDHKP-C entschieden verweigert. Sie ist nicht bereit,ihre totale Ablehnung des türkischen Staates zu revi-dieren, und besteht nach wie vor auf der uneinge-schränkten Möglichkeit der Gefangenen, miteinanderin Kontakt zu treten. Der Einßuß der Organisation aufdie Gefangenen, ihre Angehörigen und die im Hunger-streik beÞndlichen Sympathisanten ist ungebrochen.Eine Delegation des Europäischen Parlaments, die sichim Sommer 2001 zur Untersuchung der Lage in derTürkei aufhielt, hat ihr Unverständnis über dieHaltung der DHKP-C geäußert, gleichzeitig aber auchden türkischen Staat aufgefordert, für eine Verbesse-rung der Praxis in den Gefängnissen zu sorgen.96

In dieser Lage hat der Staat sich darauf beschränkt,Hungerstreikende, insoweit notwendig und von ihnenakzeptiert, medizinisch zu versorgen, von Zwangs-ernährung hat er jedoch Abstand genommen. Deshalbist mit weiteren Toten zu rechnen. Den nach demAntiterrorgesetz verurteilten Strafgefangenen wirdder zeitweilige Zusammenschluß wie bisher nur danngestattet, wenn sie an Resozialisierungsmaßnahmenteilnehmen. Die staatlichen Stellen befürchten, daßandernfalls der Zusammenschluß lediglich für »orga-nisatorische Arbeit in einem ideologischen Kontext«mißbraucht würde. Angesichts des Verhaltens derDHKP-C und ihrer Sympathisanten ist diese Annahmenicht unplausibel.97 Insgesamt dürfte das Verhaltender staatlichen Autoritäten in dieser Frage von einerähnlichen Grundeinstellung gegenüber terroristi-schen Straftätern geprägt sein, wie sie in der ameri-kanischen Praxis der Internierung gefangenerAl-Kaida-Kämpfer auf der Guantanamo-Basis zum Aus-

96 MEP�s: We Do Not Want to Live in the World They Offer,in: TDN Online, 9.6.2001.97 So gab es kürzlich Berichte spanischer Sicherheitsbehör-den über Kontakte zwischen der ETA und der DHKP-C, die zurVorbereitung einer Serie von Selbstmordattentaten in derTürkei dienen sollten; vgl. Spain Warns Turkey of PossibleSuicide Bomb Attacks, in: TDN Online, 21.9.2002. Vgl. zumProblem der DHKP-C-Gefangenen in den F-Typ-Gefängnissenauch die letzten Berichte des CPT vom 13.3. und 23.7.2002(CPT/Inf [2002]3 und CPT/Inf [2002]13).

druck kommt: Menschenrechte haben hinter staat-lichen Schutzinteressen zurückzutreten.

Meinungs- und Vereinigungsfreiheit

Aufgrund des Identitätsverständnisses als säkularerund einheitlicher Nationalstaat mit einheitlichemStaatsvolk wird in der Türkischen Republik die inArtikel 10 und 11 der EMRK geschützte Meinungs- undVereinigungsfreiheit äußerst restriktiv interpretiert.Insbesondere die in Artikel 10 Absatz 2 aufgelistetenMöglichkeiten zur Einschränkung der Meinungs-freiheit98 wurden in der Türkei extensiv in Anspruchgenommen, so daß praktisch jede nicht mit der ofÞ-ziellen Staatsideologie in Einklang stehende Mei-nungsäußerung mit Strafen belegt wurde. Hier zeigtsich, wie in vielen anderen Fällen auch, daß die türki-schen Abweichungen nicht so sehr im Wortlaut derGesetze liegen, sondern in ihrer nicht demokratie-konformen Auslegung. Türkische Gerichte warenbisher kaum bereit, die von der Rechtsprechung desEGMR vorgegebene enge Auslegung der Einschränkun-gen in ihren Urteilen zu beachten.

Das galt besonders für Einschränkungen, die mitdem Interesse am Schutz der »nationalen Sicherheit«und der »territorialen Integrität« begründet wurden.Hier wurde, ebenso wie beim Schutz der kemalisti-schen Prinzipien und des Staatsgründers Atatürk,sogar schon jede abweichende Meinung für strafbarerklärt, ohne daß mit ihrer Äußerung auch nur an-satzweise der Aufruf zu irgendwelchen staatsgefähr-denden Taten verbunden gewesen wäre. In der Türkeiherrschte Gesinnungsstrafrecht. Zur eigenen Rechtfer-tigung verwiesen die staatlichen Autoritäten in derRegel auf die existentielle Gefährdung der Republikdurch den »separatistischen Terror« der PKK und ihrerSympathisanten sowie durch den »islamistischenReaktionismus« der verschiedenen pro-islamischenParteien und ihrer Anhänger.99

98 Dieser Absatz ermöglicht Einschränkungen der Meinungs-freiheit auf gesetzlicher Grundlage, wie sie, so Artikel 10Absatz 2 im Wortlaut, »in einer demokratischen Gesellschaftim Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Un-versehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrecht-erhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, desSchutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes desguten Rufes oder der Rechte anderer, um die Verbreitung vonvertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehenund die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewähr-leisten, unentbehrlich sind.«99 Vgl. zum Beispiel Türk, Human Rights in Turkey

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Menschenrechte

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Ungeachtet dessen wurde in den vergangenen zehnJahren das Klima der öffentlichen politischen Diskus-sion deutlich liberaler. Mit Ausnahme des »Atatürk-Kultes« verschwanden die Tabuthemen, auch wennihre Behandlung weiterhin strafbar blieb. Die Straf-verfolgung konzentrierte sich aber zunehmend auf dieAnhänger der PKK und andere Vertreter kurdischerInteressen, auf die Anhänger pro-islamischer Parteienund Organisationen sowie auf Menschenrechts-verfechter, die allerdings häuÞg im Kontext jener zweigenannten Reizkomplexe der Staatsgewalt agierten.Andere Kritiker, die nicht weniger deutlich wurden,blieben dagegen häuÞg ungeschoren, wie zum Bei-spiel der mächtige Industriellenverband TÜSİAD.100

Bei allen Verbesserungen wurde die mangelhafteVerwirklichung der Meinungsfreiheit von der EU inder Beitrittspartnerschaft dennoch zu Recht kritisiert.

Bei der Umsetzung der Verfassungsänderung vomOktober 2001, die hier erste Abhilfe schaffen sollte,nahm die Türkei deshalb auch Änderungen an Artikel312 des Strafgesetzbuches (StGB) vor, der Hauptrefe-renznorm für die Anklage wegen Gesinnungsstraf-taten. Im ersten Anpassungspaket vom 6. Februar 2002wurde nicht nur das Strafmaß für Vergehen nachArtikel 312 herabgesetzt, sondern auch klargestellt,daß jene Personen, die »in der Bevölkerung durch dieBetonung von Unterschieden, die auf soziale Klassen,Rasse, Religion oder die Region gegründet sind, feind-liche Gefühle oder Haß erzeugen«, sich nur dann straf-bar machen, wenn sie dadurch »Recht und Ordnung«gefährden. Diese einschränkende Bedingung mußtevorher nicht erfüllt sein, um angeklagt und verurteiltzu werden.

Doch läßt die neue Formulierung der Justiz immernoch erheblichen Interpretationsspielraum. Dies zeigtnicht zuletzt die jüngere Rechtsprechung zu Artikel312, aus der deutlich hervorgeht, daß es über seineAuslegung noch keine einheitliche oder gar verbind-liche Rechtsauffassung gibt.101 Dennoch kann eingewisser Trend zu einer weniger restriktiven Aus-legung konstatiert werden. Solange aber das rechtlichumstrittene Antiterrorgesetz in Kraft bleibt, kann mit

[wie Fn. 80], S. 8.100 So führte 1997 die Veröffentlichung seiner weitreichen-den Kritik an der türkischen Demokratie (Perspectives onDemocratisation [wie Fn. 62]) zwar zu einer erregten öffent-lichen Debatte, doch blieben der Verband und seine Reprä-sentanten selbst ungeschoren.101 Vgl. İlnur Cevik, Were We Wrong?, in: TDN Online,13.3.2002.

Hilfe seiner Bestimmungen die demokratische Anpas-sung von Artikel 312 StGB umgangen werden.

Einen klaren Fortschritt stellt die mit dem jüngstenReformpaket vollzogene Änderung von Artikel 159StGB dar, der den Staat und seine Einrichtungen, ein-schließlich des Militärs, vor Beleidigung schützt. Bisdahin konnten bloß kritische Äußerungen als Beleidi-gung aufgefaßt und bestraft werden.102 Jetzt ist klar-gestellt, daß nur absichtlich verunglimpfende oderherabsetzende Kritik den Tatbestand der Beleidigungerfüllt.

Es bleibt abzuwarten, wo die Staatsanwälte undRichter die Grenze zwischen Kritik und absichtlicherVerunglimpfung ziehen. Viel dürfte davon abhängen,ob türkische Richter endlich bereit sind, in ihrenUrteilen auch die internationalen Abkommen zumSchutz der Menschenrechte, die die Türkei ratiÞzierthat, und zusätzlich die Grundsätze zu berücksichti-gen, auf denen die Urteile des EGMR zu Artikel 10EMRK gegen die Türkei beruhen.103 Insgesamt dürftensich jetzt viele Journalisten freier fühlen, auch staat-liche Einrichtungen, insbesondere die Justiz und dasMilitär, kritisch zu betrachten.

Die Meinungsfreiheit könnte jedoch vom heftig um-strittenen Mediengesetz bedroht werden, das nichtzuletzt auf Druck der Mutterlandspartei gegen denWillen von Präsident Sezer und des Vorsitzenden desTürkischen Rundfunk- und Fernsehrates im Mai 2002verabschiedet wurde. Die Hauptkritik richtet sichgegen die im Gesetz angelegte Möglichkeit, den ohne-hin hohen Konzentrationsgrad der türkischen Medien-landschaft noch weiter zu erhöhen.

Dies würde wohl insbesondere dem MedienmogulAydõn Doğan zugute kommen, dessen Konzern(Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehsender) bereits 40Prozent des Anzeigenaufkommens und 80 Prozent derDistributionskanäle kontrolliert.104 Die italienischenErfahrungen zeigen, daß eine derartige Medien-konzentration durchaus politische Bedeutung habenkann. Das endgültige Schicksal des Mediengesetzes ist

102 Vgl. den Artikel über ein Strafverfahren, in dem es imZusammenhang mit den F-Typ-Gefängnissen um die Beleidi-gung der Justiz- und Sicherheitsorgane geht: ProsecutorDemands 24 Years Imprisonment for Journalists, in: TDNOnline, 23.4.2002.103 Vgl. dazu auch TÜSİAD, Perspectives on Democratisationin Turkey and EU Copenhagen Political Criteria, Istanbul, Juli2001 (TÜSİAD Publ. No. T/2001-07/305), S. 16�20.104 Vgl. Doğan Asserted RTÜK Law to TIME, in: TDN Online,30.5.2002, und Hakan Kara, Medienkrise in der Türkei, in:KAS-Auslandsinformationen, 17 (2001) 11, S. 53�63.

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ungewiß, da Präsident Sezer wegen einiger seinerKlauseln das Verfassungsgericht angerufen hat. Zu-nächst mußte er das Gesetz jedoch in Kraft setzen, dadas Parlament sein Veto im zweiten Anlauf über-stimmt hatte.

Negativ können sich jene Bestimmungen desGesetzes auf die Meinungsfreiheit auswirken, dienicht nur den »klassischen« türkischen Verbotskatalogbestätigen, sondern der Rundfunkbehörde auch dieMöglichkeit geben, Beiträge zu ahnden, die »Pessi-mismus auslösen« oder »Falschnachrichten« und»Meinungen gegen die Realität« verbreiten. DieselbenEinschränkungen gelten auch für Internetseiten.

Damit ist Eingriffen Tür und Tor geöffnet, die sichgegen die Äußerung und Verbreitung unliebsamerpolitischer oder moralischer Positionen richten. Zwarrückt man von der bisherigen Praxis des temporärenSendeverbots ab, doch kann die Höhe der nun alsStrafe vorgesehenen Geldbußen die Existenz der zahl-losen kleinen lokalen Rundfunk- und Fernsehstatio-nen grundlegend gefährden. Dadurch wiederum istnicht nur die Meinungsvielfalt bedroht, sondern auchder Einßuß religiöser Kräfte, die häuÞg zu den Betrei-bern der lokalen Stationen zählen.105

Die Mediengesetzgebung zeigt einmal mehr, daßdie türkische Politik noch nicht zu einer konsistentenReformorientierung im Sinne der Beitrittspartner-schaft gefunden hat. Das Gesetz sollte daher rasch mitder durch die Verfassungsänderung geschaffenenRechtslage (Änderung von Artikel 13 und 14 TV undvon Artikel 159 und 312 StGB) und den Erfordernissenvon Artikel 10 EMRK in Einklang gebracht werden.

Partei- und Politikverbote

Ein besonderes Problem bildete im Vorfeld derWahlen vom 3. November die Frage, wie mit jenenPersonen zu verfahren sei, die nach altem Recht alsGesinnungsstraftäter verurteilt waren. Personen, dienach Artikel 312 StGB zu einer Gefängnisstrafe vonmindestens einem Jahr verurteilt sind, dürfen fünfJahre lang keine politischen Ämter ausüben oder Par-teien gründen. Sie verlieren außerdem gemäß Artikel76 der Verfassung das passive Wahlrecht, selbst wenn

105 Vgl. A Backward Step, in: Economist, 18.5.2002, S. 35;Constitutional Court Decides to Hear RTÜK Law, in: TDNOnline, 29.5.2002, und: Türkisches Mediengesetz als Zensur-gesetz, in: Neue Zürcher Zeitung, 17.5.2002.

sie amnestiert worden sind. Hier herrscht ein nach-wirkender Staatsschutz.

Derartige Regelungen stellen nicht a priori einenVerstoß gegen die Menschenrechte dar, denn auch inDemokratien erscheint es sinnvoll, das passive Wahl-recht nur entsprechend »unbescholtenen« Personenzu gewähren. In der Türkei wird diese Bestimmungjedoch in Verbindung mit dem durch ein äußerstrestriktives Verständnis von Staatsschutz und natio-naler Sicherheit geprägten früheren Gesinnungsstraf-recht zu einem demokratischen Problem.

Die Einschränkungen des Artikels 76 der Verfas-sung trafen bei den Wahlen vom 3. November unteranderem den Vorsitzenden der AKP, Recep TayyipErdoğan, den früheren Vorsitzenden der mittlerweileverbotenen Wohlfahrtspartei (RP) und jetzige graueEminenz der Glückseligkeitspartei (SP), NecmettinErbakan, den früheren Vorsitzenden der pro-kurdi-schen Demokratischen Volkspartei (HADEP), MuratBozlak, und den früheren Vorsitzenden des Türki-schen Menschenrechtsvereins (İHD), Akõn Birdal, derfür die HADEP kandidieren wollte. Unter Politikernund Juristen war die Frage umstritten, ob ihre seiner-zeitige Verurteilung noch aufrechterhalten werdenkann oder durch die zwischenzeitliche Änderung desStrafrechts hinfällig geworden ist. Nachdem einigejuristische Klärungsversuche zu keinem eindeutigenErgebnis geführt hatten,106 bekräftigte der Hohe Wahl-rat am 20. September 2002, gestützt auf Artikel 76,den Ausschluß von den Wahlen. Die Entscheidung, inder türkischen Öffentlichkeit hart kritisiert, konntevor Gericht nicht revidiert werden.107

Diese Entscheidung zeigt, daß der türkische Staatsein Grundverständnis vom Kampf gegen den »separa-tistischen Terror« und den »islamistischen Reaktionis-mus« trotz aller in den letzten Monaten verabschiede-ten Reformgesetze nicht geändert hat. Sie weckt natür-lich auch Zweifel an der Ernsthaftigkeit des vom Parla-ment an den Tag gelegten Reformeifers: Wieviel davonist bloß Taktik, um den Erwartungen der EU zu genü-gen? Wieweit ist damit ein wirklicher Reformwilleverbunden? Bis zu welcher Grenze sind die wirklichen

106 Vgl. Wahlverbot gegen türkische Islamistenführer, in:Neue Zürcher Zeitung, 21.9.2002, S. 1 und S. 2.107 Vgl. İlnur Cevik, Ban Is on the Nation, in: TDN Online,21.9.2002, und: DeÞant Erdoğan and AK Party Set to SurgeForward, in: TDN Online, 23.9.2002. Erdoğan hat gegen dieEntscheidung Klage beim EGMR eingelegt, über die aber vorden Wahlen nicht mehr entschieden werden konnte; vgl.Islamist Erdogan kämpft um Kandidatur, in: Financial TimesDeutschland, 25.9.2002, S. 15.

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Minderheitenschutz

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Machthaber bereit, den Vorgaben der Volksvertreterzu folgen?

Die Entscheidung des Hohen Wahlrates, die juri-stisch korrekt gewesen sein mag, dürfte im wesent-lichen aus dem politischen Antrieb erfolgt sein, einenMinisterpräsidenten Erdoğan zu verhindern, dessenPartei zum Zeitpunkt des Verbots seiner Kandidatur inden Wählerumfragen deutlich in Führung lag. Sie ent-sprach insofern den kemalistischen Reßexen der höhe-ren Justiz.108 Zugleich stand sie in eklatantem Kontrastzu der unkommentierten Akzeptierung von Kandi-daten der MHP im Wahlbezirk Balõkesir, die eine Ver-gangenheit als verurteilte politische Schwerkriminellehaben.

Auch eine solche Entscheidung wirft ein ungünsti-ges Licht auf den türkischen Umgang mit unlieb-samen politischen Positionen und insbesondere Par-teien. Seit Gründung der Republik sind mehr als 20Parteien verboten worden, die überwiegende Mehr-zahl nach Einführung des Mehrparteiensystems.Parteiverbote sind in Demokratien durchaus ein Mittelder politischen Auseinandersetzung. Derartige Verfah-ren laufen aktuell auch in Deutschland oder werdenin Spanien angestrengt. Doch gelten sie in der Regelals letztes Mittel, zu dem nur in Ausnahmesituationengegriffen werden kann. Die politische Auseinander-setzung, auch jene im demokratischen Wahlkampf, istder Regelfall für den Umgang mit als systemfeindlichangesehenen Kräften. In der Türkei dagegen haben diestaatlichen Autoritäten, einschließlich der Strafverfol-gungsbehörden, immer noch die Neigung, schnellzum Mittel des Verbots zu greifen.109

Dem wird sicher auch dadurch Vorschub geleistet,daß die Frage des Verbots vordergründig als reinjuristisches Problem gehandhabt werden kann, beidem über die Verletzung der einschlägigen Verfas-sungsvorschriften und Regeln des Parteiengesetzes zubeÞnden ist, nicht aber als primär politisch zu ent-scheidende Frage. Entsprechend werden Verbots-verfahren auch stets, man ist fast geneigt zu sagen:routinemäßig von der Staatsanwaltschaft beim Kassa-

108 Der Hohe Wahlrat besteht aus fünf Mitgliedern desStaatsrates und sechs Mitgliedern des Kassationshofes.109 Die jeweiligen Verbotsmaßnahmen müssen deswegennicht unbedingt rechtswidrig sein, wie die Bestätigung desVerbots der Wohlfahrtspartei (RP) durch den EGMR zeigt. Vgl.European Court of Human Rights, Case of Refah Partisi (the Wel-fare Party) and Others vs. Turkey, Judgement, Straßburg,31.7.2001, <http://hudoc.echr.coe.int/hudoc/ViewRoot.asp?Item=1157&Action=Html&X=1118143202&Notice=0&Noticemode=&RelatedMode=1>.

tionshof eingeleitet, nicht aber auf Initiative politi-scher Organe. In dieser Hinsicht bedarf das türkischeRecht nach wie vor der Korrektur: Die nach demOktober 2001 vollzogenen Änderungen der Verfassungund des Parteiengesetzes haben den Rahmen, inner-halb dessen sich das Verfassungsgericht für die Ver-botsoption entscheiden kann, zwar erheblich einge-engt, doch sollte der Antrag auf Parteiverbot grund-sätzlich von einem politischen Organ ausgehen.

Das laufende Verbotsverfahren gegen die pro-kurdische Partei der Volksdemokratie (HADEP) wirdder erste Test dafür sein, ob die Einschränkung derVerbotsmöglichkeiten Einßuß auf die Rechtsprechungdes Verfassungsgerichtes hat oder ob der staatlicheAbwehrreßex gegen den »separatistischen Terror« sostark ist, daß auch die neuen Regeln im Zweifel gegenden Angeklagten ausgelegt werden. Die HADEP hatjedenfalls vorsorglich darauf verzichtet, bei denWahlen anzutreten. Sie präsentierte ihre Kandidatenunter der Fahne der Demokratischen Volkspartei(DEHAP), die vor einiger Zeit eigens zu diesem Zweckvon Politikern gegründet wurde, die aus der HADEPausgetreten waren.110

Minderheitenschutz

»Achtung und Schutz von Minderheiten« � dieses poli-tische Beitrittskriterium der EU bereitet der Türkei diegrößten Probleme. Das hängt mit dem Staatsverständ-nis der Republik zusammen, die sich im Sinne dereuropäischen Nationalstaatsidee des ausgehenden19. Jahrhunderts als Einheitsstaat mit einheitlichemStaatsvolk deÞniert.

Dabei wird heute nicht mehr bestritten, daß in derBevölkerung eine Vielzahl von Gruppen unterschied-licher ethnischer Herkunft existieren, doch zieht mandaraus keine staatsrechtliche Folgerung, indem manetwa sich unterscheidenden ethnischen Gruppen einebesondere Rechtsstellung zuerkennt. Die Türkei hältdamit entgegen dem Trend im übrigen Europa am

110 Allerdings sah sich auch die DEHAP bereits mit einemAntrag von Generalstaatsanwalt Kanadoğlu beim HohenWahlrat konfrontiert, die Partei von den Wahlen auszu-schließen, weil sie die formalen Voraussetzungen nichterfüllte. Der Wahlrat lehnte den Antrag jedoch ab, wasKanadoğlu veranlaßte, bei der Staatsanwaltschaft Ankaraeine Untersuchung gegen die Parteiführung wegen Urkun-denfälschung zu beantragen. Vgl. TDN Online, 19.10.2002.

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ursprünglichen Konzept der einheitlichen Staats-nation mit gleichberechtigten Staatsbürgern fest.111

Konsequent wird daher die Existenz von Minder-heiten in der Türkei in Abrede gestellt, mit Ausnahmejener religiös deÞnierten Gruppen, denen im Vertragvon Lausanne 1923 � mit dem die Existenz der Repu-blik Türkei nach dem erfolgreichen »Befreiungskrieg«gegen die alliierten Besatzungsmächte, insbesondereGriechenland, von der Staatengemeinschaft völker-rechtlich anerkannt wurde � dieser Status ausdrück-lich verliehen wurde. Das sind Griechen, Armenierund Juden.112

Die türkische Minderheitenpolitik gründet sich alsonicht auf ein besonderes islamisches oder türkischesNations- oder Staatsverständnis, sondern ist durchund durch europäisch geprägt. Ihr Vorbild ist diePolitik Frankreichs, das ebenso wie die Türkei vieleVorbehalte gegen neuere minderheitenrechtlicheBestrebungen in Europa hat, wie sie in einigen Kon-ventionen des Europarates und verschiedenen Aktivi-täten der OSZE zum Ausdruck kommen.

Die Haltung des türkischen Staates, die von dergroßen Mehrheit der Bevölkerung geteilt wird, schafftmit Blick auf den EU-Beitritt in zweierlei Hinsicht Pro-bleme: Zum einen ist die Union nicht bereit, die mitdieser Haltung einhergehende staatliche Mißachtungund Unterdrückung identitärer Ansprüche der großenkurdischen Bevölkerungsgruppe hinzunehmen, undzum anderen stoßen sich bestimmte Gruppen inEuropa an der rechtlichen und faktischen Diskriminie-rung nichtmuslimischer Glaubensgemeinschaftendurch staatliche Stellen und die Justiz. Die faktischeDiskriminierung der islamischen Minderheit derAlewiten ist ein türkisches Sonderproblem, das auchmit der Frage der Anerkennung dieser Gruppe alseigenständige Religionsgemeinschaft innerhalb destürkischen Islam zu tun hat.113

111 Pulat Tacar, Copenhagen Criteria: Minorities � Turkey,in: Dõş Politika/Foreign Policy, 25 (2000) 3�4, <http://www.foreignpolicy.org.tr/ing/articles/ptacar_v25.html>, undChristian Rumpf, Minderheiten in der Türkei und die Fragenach ihrem rechtlichen Schutz, in: Zeitschrift für Türkei-studien, 6 (1993) 2, S. 173�209.112 Vgl. als Überblick Nigar Karimova/Edward Deverell, Minori-ties in Turkey, Stockholm 2001 (The Swedish Institute ofInternational Affairs, Occasional Papers No. 19).113 Vgl. die Beiträge in: Tord Olsson u.a. (Hg.), Alevi Identity,Istanbul 1998.

Das Kurdenproblem

Von besonderer politischer Brisanz für den EU-Beitrittist das Kurdenproblem.114 Die kurdische Bevölkerungs-gruppe hat sich dem republikanisch/kemalistischennationalen Homogenisierungsanspruch am längstenund entschiedensten widersetzt. Ihr Widerstand kul-minierte Anfang der achtziger Jahre im bewaffnetenKampf der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) für einekurdische Unabhängigkeit von der Türkei. Die Folgewar die Verhängung des Kriegsrechts und anschlie-ßend des Ausnahmezustands über weite Teile des Süd-ostens. Mehr als 30 000 Menschen (PKK-Kämpfer,Soldaten und Zivilisten) kamen auf beiden Seiten umsLeben. Mit der Verhaftung ihres Führers AbdullahÖcalan im Jahre 1999 war die Niederlage der PKKbesiegelt. Seitdem versucht die Organisation ihrenEinßuß auf das Geschehen in der Türkei durch eineNeudeÞnition der Ziele (kurdische Autonomie inner-halb des türkischen Staates) und die eigene Entmilita-risierung zu bewahren, die beispielsweise in der Um-benennung in »Kurdischer Kongreß für Freiheit undDemokratie« (KADEK) zum Ausdruck kommt. Ver-einzelte Gruppen, vor allem aus den nordirakischenKurdengebieten, setzen den bewaffneten Kampf fort.

Aufgrund ihrer Erfahrung des kurdischen Unab-hängigkeitskampfes setzen viele Türken die europäi-sche Forderung nach Anerkennung von Minderheiten-rechten für die türkischen Kurden mit Unterstützungdes separatistischen Terrors durch die EU und ein-zelne ihrer Mitgliedstaaten gleich. Diese Meinungherrscht insbesondere in der Militärführung, aberauch in nationalistischen politischen Kreisen vor.Daher erklärt sich auch ihre entschiedene Zurück-weisung des »Minderheitenkriteriums« im Katalogvon Kopenhagen.

Um so überraschender und bedeutsamer sind des-halb die Abschaffung der Todesstrafe und die Zulas-sung des Kurdischen in Rundfunk- und Fersehsendun-gen sowie in privaten Lehranstalten, die mit demjüngsten Reformpaket beschlossen wurden. Bewahrtersteres den »Staatsfeind Nr. 1«, PKK-Chef Öcalan, vorder nach Auffassung vieler Türken wohlverdientenHinrichtung, schlägt letzteres eine erste Bresche in dieofÞzielle Doktrin von der nationalen Einheit desStaatsvolkes. Diesen Schritt als das »Durchbrechen

114 Einen Überblick geben Kemal Kirişci/Gareth M. Winrow,The Kurdish Question and Turkey: An Example of a Trans-State Ethnic Conßict, London 1997.

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Minderheitenschutz

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einer psychologischen Barriere« zu bezeichnen istkeineswegs übertrieben.115

Es ist allerdings davon auszugehen, daß dies aufabsehbare Zeit die einzigen Zugeständnisse des türki-schen Staates an Forderungen aus EU-Kreisen in derKurdenfrage bleiben werden. Immerhin wird es fürdie türkischen Sicherheitskräfte und die Justiz in Zu-kunft schwieriger sein, allein schon mit sprachlichenArgumenten den Vorwurf des »Separatismus« zubelegen. Ob nun ein Prozeß eingeleitet worden ist, derlangfristig zu einem weitgehenden Abbau der ofÞ-ziellen türkischen »Kurdenphobie« führt, hängt vonvielen Faktoren ab, nicht zuletzt von den Reaktionenauf kurdischer Seite.

Die jüngsten Maßnahmen können allerdings wenigdazu beitragen, die insgesamt immer noch desolateLage in den Provinzen des Südostens zu verbessern.Durch die weitgehende Aufhebung des Ausnahme-zustandes und die gesetzlichen Verbesserungen derMenschenrechtssituation hat sich das allgemeine poli-tische Klima in der Region jedoch entspannt, eingewisses Maß an Alltagsnormalität ist zurückgekehrt.Doch sind die Sicherheitskräfte nach wie vor umfas-send präsent, bleiben zahlreiche Straßenkontrollenbestehen. Die Rückkehr der Vertriebenen in ihreDörfer wird immer noch nicht zügig in Angriffgenommen. Die wirtschaftliche Krise dauert an, diemedizinische, soziale und Bildungsinfrastruktur sindmangelhaft ausgebildet, die Arbeit pro-kurdischerzivilgesellschaftlicher Organisationen wird immernoch behindert.

Vor allem aber fehlt ein umfassendes Programmzur Beseitigung der regionalen Unterentwicklung, diedurch den 25jährigen Ausnahmezustand verschärftworden oder erst entstanden ist. Abgesehen von not-wendigen Maßnahmen zur Sicherung der kurdischenIdentität wäre ein solches Programm die über-zeugendste Minderheitenpolitik, die der türkischeStaat im Interesse der Menschen in der Regionbetreiben kann. Das von der Regierung seit Mitte derachtziger Jahre forcierte gigantische »Südostanatolien-Projekt« (GAP) kann nach Design und Schwerpunkten(Energieerzeugung aus Wasserkraft und Ausbau derBewässerungslandwirtschaft) die für eine nachhaltige

115 So geschehen in der Würdigung der jüngsten Reformenin: TÜSİAD, Towards European Union Membership: PoliticalReforms in Turkey, Istanbul, Oktober 2002 (TÜSİAD Publi-cation No. T/2002-10/329), S. 24�28, wo noch einmal dieerhebliche politische Sensibilität einer Ausweitung der kultu-rellen Rechte der Kurden erörtert wird.

Regionalentwicklung notwendige Breite und Tiefe derMaßnahmen nicht gewährleisten.116

Die EU sollte deshalb ihre Forderung aus der Bei-trittspartnerschaft, ein umfassendes Konzept für denAbbau des Regionalgefälles und die Verbesserung derLage im Südosten zu erarbeiten, mit dem Angeboteines umfassenden Hilfsprogramms verbinden. DieRessourcen der Türkei reichen angesichts derschweren Wirtschaftskrise, in der sich das Land immernoch beÞndet, auf absehbare Zeit nicht aus, um einsolches Konzept auch verwirklichen zu können.

Nichtmuslimische Minderheiten

Überraschend hat das türkische Parlament in seinemletzten Reformpaket vom 3. August 2002 Maßnahmenbeschlossen, die die Lage der nichtmuslimischenMinderheiten in der Türkei verbessern. Die Stiftungender Glaubensgemeinschaften dürfen künftig Immo-bilien erwerben, als Geschenk annehmen oder erben.Damit wird eine lange andauernde Diskriminierungdurch die türkische Justiz beendet, die all dies nachder bisherigen Rechtslage als nicht zulässig ansah.Allerdings ist für den Erwerb einer Immobilie dieErlaubnis des Kabinetts einzuholen. Es bleibt abzu-warten, ob diese Reform auch von der notwendigenÄnderung der politischen Einstellung begleitet wird,die in der Vergangenheit besonders der armenischenund der griechisch-orthodoxen Kirche das Lebenerschwert hat. Die nationalistische MHP hat dasVerfassungsgericht angerufen, um die Rechtmäßigkeitder Reform prüfen zu lassen.

Generell dürfte sich das öffentliche Klima für nicht-muslimische Konfessionen und deren Kirchen nichtentscheidend bessern. Die türkische Identität ist zutiefgreifend sunnitisch-muslimisch geprägt, die staat-liche Legitimation des Islam durch das Wirken desDirektorats für religiöse Angelegenheiten zu stark.Nichtmuslimische Glaubensgemeinschaften, zumalwenn ihre Mitglieder »feindlichen« Staaten ange-hören, werden als Fremdkörper empfunden, derenWirken möglichst enge Grenzen gesetzt werden sollte.Diese Grundhaltung ist auch Ausßuß des türkischenGeschichtsbewußtseins, in dem Nichtmuslime (Grie-chen, Armenier, Europäer) für den Untergang des Os-manischen Reiches verantwortlich gemacht werden.

116 Vgl. Joseph N. Yackley, The Southeastern Anatolia Project(GAP) and the Imperatives of Regional Development, in: Zeit-schrift für Türkeistudien, 14 (2001) 1�2, S. 255�266.

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Schlußfolgerungen

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Schlußfolgerungen

Die Entwicklung in der Türkei seit dem EU-Beschlußvon Helsinki verläuft im Sinne einer kontinuierlichenAnnäherung an die Erfüllung der politischen Kriterienvon Kopenhagen. Auch wenn sie nicht ohne innereAuseinandersetzungen und Widerstände blieb,konnten sich die Pro-EU-Kräfte letztlich jedesmaldurchsetzen. Dieser Umstand verleiht dem von diesenGruppen seit langem immer wieder vorgetragenenArgument eine gewisse Plausibilität, daß eine klareBeitrittsperspektive der wirksamste Anreiz zu einerdauerhaften Verbesserung der demokratischen Lagein der Türkei und ihrer Angleichung an europäischeMaßstäbe sei.117

Die Türkei hat, zumindest was die Rechtslage be-trifft, durch die Verfassungsänderungen vom Oktober2001 und die im Laufe des Jahres 2002 verabschiede-ten drei »Anpassungspakete« wesentliche politischeForderungen der Beitrittspartnerschaft erfüllt:! die Todesstrafe wurde abgeschafft;! die gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Garan-

tien für das Recht auf Meinungsfreiheit wurdengestärkt;

! das Recht auf Vereinigungs- und Versammlungs-freiheit wurde ausgedehnt;

! weitere Maßnahmen zur Eindämmung der Folter-praktiken wurden ergriffen, einschließlich ent-sprechender Klarstellungen im Zusammenhang mitder Verhaftungspraxis und der Untersuchungshaft;

! die Ausbildung der Sicherheitskräfte auf demGebiet der Menschenrechte wurde fortgesetzt;

! der Gebrauch der (kurdischen) Muttersprache inFernsehen und Radio wurde ermöglicht;

! der private Unterricht in der (kurdischen) Mutter-sprache wurde zugelassen;

! die Haftbedingungen in den Hochsicherheitsgefäng-nissen wurden, gegen den Widerstand der Gefan-genen, an die europäischen Standards angepaßt;

! die Zahl der zivilen Mitglieder des NationalenSicherheitsrates wurde erhöht, der beratende Cha-rakter der Institution betont;

117 Vgl. dazu auch die Analyse von Harun Arõkan, A LostOpportunity? A Critique of the EU�s Human Rights Policytowards Turkey, in: Mediterranean Politics, 7 (Frühjahr 2002)1, S. 19�50.

! der Ausnahmezustand im Südosten wurde weitereingeschränkt und soll bis Ende 2002 vollständigaufgehoben werden.Diese Entwicklung veranlaßt den Wirtschafts-

verband TÜSİAD in seiner jüngsten Bewertung desZustandes der türkischen Demokratie zu der Fest-stellung, daß es »unbestreitbar ist, daß die Türkei aufder rein rechtlichen Ebene, im Rahmen der geltendenund der noch in Kraft zu setzenden gesetzlichen Rege-lungen, keine größeren DeÞzite auf dem Weg zurErfüllung der Kopenhagener Kriterien mehr auf-weist«.118

Dennoch kann der Zustand der türkischen Demo-kratie noch nicht als völlig befriedigend bezeichnetwerden. Für die Beseitigung der verbleibenden DeÞ-zite wird aber ein längerer Zeitraum nötig sein, da sieweniger durch Gesetzesreformen oder institutionelleVeränderungen zu bewerkstelligen ist, sondern eherauf Einstellungs- und Verhaltensänderungen sowohlder staatlichen Repräsentanten als auch der Angehö-rigen vollziehender Organe angewiesen ist.

Das gilt vor allem für die Durchsetzung der Men-schenrechte bei der Behandlung von »politischen«Straftätern im Polizeigewahrsam, und das um somehr, wenn es sich um Personen handelt, die des»Separatismus« oder Gewaltterrors verdächtigtwerden. Hier sind verstärkte Anstrengungen imRahmen entsprechender Ausbildungs- und Schulungs-programme zur Durchsetzung der bestehendenRechtsnormen notwendig. Die EU sollte dazu umfang-reiche Unterstützung leisten, die über das gegen-wärtig im Kontext der Beitrittshilfen vorgesehene Maßhinausgeht.

Am schwierigsten und langwierigsten dürfte essein, in Politik und Öffentlichkeit einen Wandel in derEinstellung zur politischen Rolle des Militärs herbei-zuführen. Bei aller Kritik an ihrer staatsÞxiertenOrientierung am Status quo kann der Militärführungnicht vorgeworfen werden, prinzipiell undemokra-

118 TÜSİAD, Towards European Union Membership [wieFn. 115], S. 30. Es muß offen bleiben, wieweit diese uneinge-schränkt positive Sicht der bislang eher durch deutlicheKritik an den türkischen Verhältnissen hervorgetretenenVereinigung von einem Eigeninteresse der Industrie an einerraschen Verwirklichung des Beitritts beeinßußt ist.

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Minderheitenschutz

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tisch eingestellt zu sein. Eine gewandelte Rolle desMilitärs sollte sinnvollerweise auch nicht zu einerabsoluten Bedingung für den Beginn von Beitritts-verhandlungen gemacht werden. Dieser Rollenwandelwird letztlich eher das Resultat einer funktionieren-den EU-Mitgliedschaft sein.

Einen ähnlich problematischen und langwierigenVerlauf wird die nachhaltige Verbesserung der Lage inden kurdischen Provinzen des Südostens nehmen. Derdafür notwendige Prozeß des Umdenkens, dem sichPolitiker, Öffentlichkeit und Staatsmacht unterziehenmüssen, steckt in den allerersten Anfängen. Solangedas Minderheitenproblem mit der Frage des staat-lichen Zusammenhalts verknüpft werden kann, wirddieser Prozeß auch nur langsam voranschreiten. Er-schwerend kommt hinzu, daß sich die türkischenHardliner in ihrer Haltung durch entsprechende Pro-bleme in anderen europäischen Staaten, in der EUoder in anderen Beitrittskandidatenländern bestärktsehen.

Trotz aller Vorbehalte läßt sich aber nicht bestrei-ten, daß die von der EU für einen türkischen Beitrittins Spiel gebrachte politische Konditionalität deutlichpositive Wirkung zeigt. Daraus ergibt sich dann aberauch für die Union, daß sie die damit verbundenenKonsequenzen ziehen muß. Eingelöste Konditionali-tät, die ohne entsprechende Gegenleistung bleibt,verliert nicht nur ihre politische Wirkung, sie unter-gräbt auch das Vertrauen in die Ernsthaftigkeit dermit ihr verknüpften Politik. Die Türkei ist insbeson-dere mit den Maßnahmen vom 3. August 2002 überihren Schatten gesprungen. Die EU kann darübernicht mit »business as usual« hinweggehen.

Die Union sollte daher die erheblichen Anstrengun-gen der Türkei würdigen und ihr beim EuropäischenRat in Kopenhagen im Dezember 2002 einen Terminfür den Beginn von Beitrittsverhandlungen nennen.Jeder andere Schritt müßte als Abrücken von dem inHelsinki eingeschlagenen Weg erscheinen. Die Unionsollte in der Beurteilung der türkischen Fortschrittenicht strengere Maßstäbe anlegen als 1999 bei derEntscheidung für den Beginn von Beitrittsverhand-lungen mit Bulgarien und Rumänien. Es wäre auchpolitisch kaum einzusehen, wenn diesen beiden Kan-didaten in Kopenhagen ein Fahrplan für den weiterenVerlauf und das prospektive Enddatum der Beitritts-verhandlungen gegeben und die Türkei erneut aufeine unbestimmte Zukunft verwiesen würde.

Der Termin für die Aufnahme von Verhandlungenmit der Türkei könnte nach der Beendigung deraktuellen Erweiterung liegen, im Sommer 2004. Mit

der Aufnahme von zehn neuen Mitgliedern wird zujenem Zeitpunkt ein deutlicher Einschnitt im laufen-den Erweiterungsprozeß erreicht, der auch die not-wendigen Ressourcen für eine intensivere Behandlungdes türkischen Beitrittsprozesses freisetzt. Außerdemwill die EU im Jahre 2004 den Stand der griechisch-türkischen Beziehungen auf seine Vereinbarkeit miteinem türkischen EU-Beitritt prüfen.119 Ein zufrieden-stellendes Ergebnis wäre ein zusätzliches Motiv fürden Beginn von Verhandlungen. Schon im Jahr 2003könnte ofÞziell die analytische Prüfung der türki-schen Verhältnisse auf Übereinstimmung mit demgemeinschaftlichen Besitzstand durch die Kommis-sion � das sogenannte Screening � beginnen.

Die Union sollte diese Entwicklung aber an diestrikte Bedingung knüpfen, daß die Türkei bis zumBeginn der Beitrittsverhandlungen weitere Fortschrit-te bei der Verwirklichung der Prioritäten der Beitritts-partnerschaft gemacht hat. Insbesondere sollte dasZusatzprotokoll Nr. 6 zur EMRK bis dahin ebenso rati-Þziert sein wie die beiden VN-Pakte, die 2001 unter-zeichnet wurden. Darüber hinaus müssen die Folter-vorwürfe in signiÞkantem Maße seltener werden. VomZustand der griechisch-türkischen Beziehungen dürftezudem kein grundlegender Vorbehalt gegen denBeginn von Beitrittsverhandlungen ausgehen.

Überdies sollte die EU gegenüber der türkischenÖffentlichkeit und Politik stärker als bisher deutlichmachen, daß für einen Beitritt zur EU mehr zu erfül-len ist als nur die politischen Kriterien von Kopen-hagen. Über der politischen Diskussion sind dieanderen Beitrittskriterien im Bewußtsein der türki-schen Öffentlichkeit stark in den Hintergrundgetreten. Sie werden aber für einen erfolgreichenAbschluß der Verhandlungen eine erhebliche Bedeu-tung gewinnen.

Vor allem kommt es darauf an, die türkische Auf-fassung zu relativieren, mit der Zollunion bereits diewesentlichen Voraussetzungen für die wirtschaftlicheIntegration geschaffen zu haben. Desgleichen mußder Türkei unmißverständlicher als bisher vermitteltwerden, daß ihre öffentlichen Institutionen nocherheblicher Reformen bedürfen, um durch Steigerungvon Effektivität und Transparenz den gemeinschaft-lichen Besitzstand reibungslos umsetzen zu können.

Je früher und je deutlicher die EU einem zu erwar-tenden euphorischen türkischen Fehlschluß vorbeugt,mit dem Datum für den Beginn der Beitrittsverhand-

119 Vgl. Europäischer Rat von Helsinki am 10./11. Dezember1999 (wie in Fn. 4), Ziffer 4.

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Schlußfolgerungen

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lungen sei auch deren reibungsloser und rascherVerlauf garantiert, desto weniger politische Problemedürften dann auftreten, wenn die Verhandlungenwirklich aufgenommen werden. Der Beitritt eines sogroßen und wirtschaftlich relativ wenig entwickeltenLandes mit einer Verwaltung, die modernen Anforde-rungen nur bedingt gewachsen ist, wirft viele Pro-bleme auf und braucht Zeit. Das muß auch in derTürkei erkannt und verstanden werden.

Doch nicht nur gegenüber der Türkei bedarf dieweitere Politik der EU einer argumentativen Beglei-tung, sondern auch gegenüber der eigenen Bevölke-rung. Die im Prozeß der Osterweiterung gewonneneErkenntnis, daß bei weitreichenden politischen Ent-scheidungen der Union »die Menschen mitgenommenwerden müssen«, gilt auch im Falle des Beitritts derTürkei. Es ist höchste Zeit, daß die Regierungen derMitgliedstaaten ihren Bevölkerungen verdeutlichen,warum sie der Türkei in Helsinki die konkrete Bei-trittsperspektive eröffnet haben und wie der Beitritts-prozeß nach Vorstellung der EU im einzelnen ab-laufen soll.

Dabei kommt es vor allem darauf an, neben dentürkischen Besonderheiten auch die Parallelen undÄhnlichkeiten mit den Verhältnissen in den übrigeneuropäischen Ländern herauszustellen. Ein Türkei-beitritt, der primär unter dem Blickwinkel der Erwei-terung um ein nicht-christliches, nicht-europäischesLand wahrgenommen wird, dürfte keine AkzeptanzÞnden.120 Doch zeigt etwa das britische Beispiel, daßdie Mitgliedschaft eines Landes, das sich zwanzigJahre nach dem Beitritt immer noch nicht hundert-prozentig der Union zugehörig fühlt, den euro-päischen Integrationsprozeß nicht entscheidend auf-halten kann.

120 Vgl. dazu die in den letzten Wochen in der deutschenPresse geführte Diskussion über den türkischen EU-Beitritt;z.B. Hans-Ulrich Wehler, Das Türkenproblem. Der Westenbraucht die Türkei � etwa als Frontstaat gegen den Irak. Aberin die EU darf das muslimische Land niemals, in: Die Zeit,12.9.2002, S. 9, und Günter Seufert, Keine Angst vor denTürken! Die EU braucht Ankara mehr, als viele glauben.Wer das hohe Kulturross reitet, wird tief fallen, in: Die Zeit,19.9.2002, S. 11.

Abkürzungen

ABl. Amtsblatt der Europäischen GemeinschaftenAKP Adalet ve Kalkõnma Partisi (Gerechtigkeits- und

Entwicklungspartei)AnaP Anavatan Partisi (Mutterlandspartei)AP Adalet Partisi (Gerechtigkeitspartei)CHP Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei)CPT European Committee for the Prevention of Torture and

Inhuman or Degrading Treatment or PunishmentDEHAP Demokratik Halk Partisi (Demokratische Volkspartei)DHKP-C Devrimci Halk Kurtuluş Partisi-Cephesi (Revolutionäre

Volksbefreiungspartei-Front)DSP Demokratik Sol Parti (Demokratische Linkspartei)DYP Doğru Yol Partisi (Partei des richtigen Weges)EGMR Europäischer Gerichtshof für MenschenrechteEMRK Europäische MenschenrechtskonventionEU Europäische UnionEUV Vertrag über die Europäische UnionFP Fazilet Partisi (Tugendpartei)GAP Güneydoğu Anadolu Projesi (Südostanatolien-Projekt)HADEP Halkõn Demokrasi Partisi (Partei der Volksdemokratie)İHD İnsan Haklarõ Derneği

(Türkischer Menschenrechtsverein)KADEK Kongreya Azadi û Demokrasiya Kurdistan

(Kurdischer Kongreß für Freiheit und Demokratie)KAS Konrad-Adenauer-StiftungMGK Milli Güvenlik Kurulu (Nationaler Sicherheitsrat)MHP Milliyetçi Hareket Partisi (Nationalistische

Aktionspartei)NRO NichtregierungsorganisationOSZE Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in

EuropaPKK Partîya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)RP Refah Partisi (Wohlfahrtspartei)SP Saadet Partisi (Glückseligkeitspartei)StGB StrafgesetzbuchTDN Turkish Daily NewsTESEV Türkiye Ekonomik ve Sosyal Etüdler Vakfõ (Turkish

Economic and Social Studies Foundation)TÜSİAD Türk Sanayicileri ve İşadamlarõ Derneği

(Turkish Industrialists� And Businessmen�s Association)TV Türkische VerfassungVN Vereinte NationenWZB Wissenschaftszentrum Berlin