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Nr. 1917

Die Rätsel von Ketchorr

Icho Tolots schwerster Kampf - derHaluter muß sich entscheiden

von H. G. Francis

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Die Hautpersonen des Romans:Julian Tifflor - Der Terraner bricht mit einer gemischten Mannschaft auf.Gucky - Der Mausbiber will das Rätsel von Ketchorr lösen.Icho Tolot - Der Haluter kämpft mit seiner Moral und seinem Überlebensinstinkt.Hotch-Kotta - Der Händler der Koraws sucht das Geschäft seines Lebens.die Mutter - Ein Wesen denkt nur an das Überleben seines Volkes.

1.

Die Zeit lief ab. Der Verfall war nichtmehr aufzuhalten. Der letzte Durchlaufbrachte keine anderen Resultate als die Testszuvor.

Irgendwann kam alles einmal zum Ende.Das Leben ebenso wie die Maschinen, Kul-turen ebenso wie Zivilisationen, Gedankenebenso wie Gefühle.

Alles war dem Tode geweiht. Nichts bliebauf ewig erhalten. Nicht der Planet. Nichtdie Sonne. Nicht die Galaxis. Noch nichteinmal das Universum. Leben entstand, Le-ben verging.

Sie spürte es am eigenen Leibe. Sie hattees bei ihrem Volk erlebt. Sie war sich dar-über klar, daß der Tod an die Tür klopfte.Auch für sie.

Und doch gab es Hoffnung.Noch existierten zwei befruchtete Eizel-

len. Aus ihnen konnte neues Leben erwach-sen, konnte sogar das ganze Volk neu entste-hen. Vorausgesetzt, es gelang, einen geeig-neten Wirt zu finden, einen Träger des neu-en Lebens.

Aber einen solchen gab es nicht auf die-sem Planeten. Es hatte keinen mehr gege-ben, nachdem vor Jahrtausenden der letztevon ihnen gestorben war. Unter solchenUmständen war es geradezu wahnwitzig,darauf zu hoffen, daß ausgerechnet in derStunde des Todes einer erscheinen und dieProbleme lösen würde.

Ihr Leben ging mit einer tiefen Enttäu-schung zu Ende.

Die letzten Generationen ihres Volkeshatten nicht nur gegen das Böse gekämpft,sondern vor allem auch an dem großenWerk gearbeitet, das alles Leben zumindest

in diesem Teil des Universums retten sollte.Die letzten Kräfte waren dafür geopfert wor-den. Die wertvollsten Individuen des Volkeshatten buchstäblich ihr Leben eingesetzt fürdiese Aufgabe.

Es war eine Ironie des Schicksals, daßdieses Werk in der Lage war, das Leben indieser Galaxis zu retten, während alles Le-ben in der Galaxis zusammengenommenumgekehrt ihr Leben nicht bewahren konnte.Auch nicht das Leben der beiden Eizellen,denn dazu war eine besondere LebensformVoraussetzung, eine Lebensform, die in die-sem Teil des Universums nicht mehr exi-stierte und in ihrer Art so extrem war, daßsie nicht durch eine andere ersetzt werdenkonnte.

Doch bis heute war das große Ereignisnicht eingetreten, und es sah auch nicht da-nach aus, als ob es noch in einer Zeit dazukommen würde, in der die Maschine leistenkonnte, wofür sie gebaut worden war.

Ein ganzes Volk war einer Idee bis in denTod gefolgt, die sich letztlich als Wahnideeentpuppt hatte.

Es war ein gewaltiges Werk, das unter derOberfläche des Planeten errichtet wordenwar. Es war so mächtig, daß es beinahe umdie ganze Welt reichte und einen Planetenim Planeten bildete. Die Edlen waren davonausgegangen, daß es innerhalb von etwa10.000 Jahren seine Aufgabe erfüllen würde.Doch mittlerweile waren mehrere hundert-tausend Jahre ver-strichen, und nichts ande-res war geschehen, als daß der Verfall einge-setzt hatte - zunächst kaum merklich, dochdann immer mehr und mehr. Zu Anfang warnoch genügend Material dagewesen, um dieSchäden zu beheben, später hatte sie impro-visiert, immer in der Hoffnung, daß nurnoch wenig Zeit zu überbrücken war.

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Schließlich waren Teile der gesamten Ap-paratur ausgefallen und konnten nicht mehrrepariert werden. Danach hatte sich der Ver-fall beschleunigt - und nun stand der Todvor der Tür.

Sie glaubte, ihn klopfen zu hören. DerSchmerz übermannte sie.

Gab es keine göttliche Macht, die ihrhalf? Oder zürnte die göttliche Macht, weilsie die Maschine als Blasphemie empfand?Und wenn es so war, hatte sie womöglichrecht damit? Vielleicht war es tatsächlichBlasphemie, direkt in die Schöpfung und ihrWerk eingreifen zu wollen!

Ihr war klar, daß sie keine Antwort auf ih-re Fragen erhalten würde. Der Tod würdeschneller sein.

Und wenn er Hunderttausende von Jah-ren braucht, auch der Schleichende Todkommt einmal an sein Ziel!

*

Die INGORUE kehrte rund fünfhundertLichtjahre vom Minzant-System entfernt inden Normalraum zurück. Icho Tolot, Guckyund Julian Tifflor hielten sich in der Zentra-le des 25 Meter durchmessenden Linsen-schiffes auf. Nach und nach fanden sich diesechs Mitglieder der Mannschaft ein, die siewahllos aus der Besatzung der StationARANGITARIS mit an Bord genommenhatten. Sie alle hatten in Jii'Nevevers Banngestanden.

Als erster traf der Shuuke ein. Leichtschwankend blieb er am Eingang stehen, ei-ne für galaktische Begriffe seltsame Gestaltmit dem massigen, tonnenförmigen Körper,den stark hervortretenden Brustknochen unddem aus den Schultern emporwachsendenRüssel, der bis in eine Höhe von etwa 2,80Metern reichte.

»Wo sind wir?« fragte er mit Hilfe seinerSprechmaske, ohne die eine Verständigungnicht möglich gewesen wäre.

»In einer uns unbekannten Sternenregi-on«, antwortete der Haluter mit dumpf grol-lender Stimme. Er saß auf dem Boden und

lehnte sich mit dem Rücken an eine Wand.Dennoch war er beinahe so groß wie derShuuke. Mit seinem massigen Körper füllteer einen erheblichen Teil der Zentrale aus.»Bisher hatten wir keine Zeit, uns mit denpositronischen Sternenkarten und Positions-bestimmungen zu befassen.«

»Diese Aufgabe solltet ihr Puydorer über-nehmen«, fügte Julian Tifflor hinzu. »Das isteiner der Gründe dafür, daß wir euch mitge-nommen haben.«

»Ich bin Ramman Orneko«, stellte sichder Shuuke vor, ohne sich von der Stelle zubewegen. »Die Situation hat sich geändert.Ich bin nicht mehr der gleiche wie vor unse-rem Start. Etwas in mir hat sich verändert.«

»Du wirst nicht mehr von Jii'Nevever be-einflußt«, erläuterte Gucky. Der Ilt lag aus-gestreckt in einem der Sessel, hatte die Bei-ne übereinandergeschlagen und die Armeunter dem Kopf gekreuzt. »Sei froh! Dusolltest vor Freude in die Luft springen, weildu endlich frei bist.«

»Was redet der Kleine da für einen Un-sinn?« fragte Ramman Orneko. Der Shuukebog seinen Rüssel zu dem Mausbiber hin,als wollte er ihn mit der trompetenartigenÖffnung dieses seltsamen Organs ansehen.Tatsächlich konnte er damit keinerlei opti-sche Eindrücke auffangen. Seine »Augen«waren die vielen Noppen an den Seiten desRüssels, die ihm eine Rundumsicht von 360Grad ermöglichten.

»Ich bin niemals und von niemandem be-einflußt worden«, behauptete der Shuuke.»Jii'Nevever? Ich weiß noch nicht einmal,wer das ist. Ich gehörte zu Legion-FührerArrak Rokkun. Wir hatten vor, mit einer La-dung Tronium-Azint zu verschwinden. Derda hat uns davon abgehalten, und eigentlichmüßte ich ihm zürnen.«

Ramman Orneko wies mit seinem rechtenArm anklagend auf Icho Tolot. Der Mausbi-ber änderte seine äußerst bequeme Haltungnicht, so daß es schien, als reagiere er nichtauf diese Äußerung. Gleichzeitig streckte eraber seine telepathischen Fühler aus, son-dierte den Gedankeninhalt des Shuuken und

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stellte etwas Überraschendes fest.Ramman Orneko trauerte dem Zustand

nach, in dem er sich bis vor kurzem befun-den hatte, aber er war sich nicht bewußt, daßes dabei um die Traumimpulse vonJii'Nevever ging!

Ihm fehlten die unsichtbaren Zügel, mitderen Hilfe er zuletzt durchs Leben geleitetworden war. Daß sie nun nicht mehr vorhan-den waren, freute und erleichterte ihn nicht,sondern setzte ihn unter erheblichen Streß.

Wahrscheinlich wußte der Shuuke nichteinmal, was ihm fehlte. Die Traumimpulseder Jii'Nevever waren so fein ausgewogen,daß ein von ihnen beeinflußtes Wesen sienicht einmal bemerkte. Jii'Nevevers Träumeveränderten nicht nur die Gedanken, sie bau-ten auch neue Erinnerungen und gaben denBetroffenen das Gefühl, es habe sich garnichts geändert.

Wer aber von ihren Impulsen abrupt freiwurde, dem fehlte offensichtlich etwas. Dasmerkten die Galaktiker am Verhalten desShuuken.

Ihm war anscheinend, als habe man ihnmitten ins Meer geworfen, in dem es von ge-fährlichen Raubfischen wimmelte, und er-warte nun von ihm, daß er sich munter undfrei darin bewege, obwohl man ihm dasSchwimmen nie beigebracht hatte.

Er fühlte sich nicht wohl, sondern warvon Ängsten erfüllt, die ihn lähmten. Er wit-terte Gefahren, wo keine waren, und igno-rierte faktisch bestehende Bedrohungen,weil er nicht in der Lage war, sie zu erken-nen.

Es war ein Fehler, ihn und die anderen anBord zu nehmen! erkannte Gucky, währender noch immer bequem im Sessel liegen-blieb, seine Haltung nicht änderte und nurden Mund ein wenig öffnete, um seinen Na-gezahn zu zeigen. Keiner von denen kannuns helfen. Im Gegenteil. Sie sind eine Bela-stung für uns.

Nachdem auf Curayo die Zeitfelder ver-schwunden waren, hatte Ramman Ornekogewissermaßen seine Existenzgrundlageverloren. Der Shuuke war Chronaut mit gan-

zer Seele, mit Haut und Haar seines exoti-schen Körpers; sein Volk war im UmfeldCurayos wegen seiner verschiedenen Eigen-schaften eines der bedeutendsten. Er selbstwar im Minzant-System auf der StationARANGITARIS geboren und hatte nahezusein ganzes Leben dort verbracht.

Als der Terraner ihn danach fragte, nannteRamman Orneko die Namen der drei Raw-wen, die nun ebenfalls zur Besatzung gehör-ten: Comor-Liku, Arandor-Lei und Molosa-Tie, die als Chronauten gedient hatten.

»Und die beiden anderen?« wollte JulianTifflor wissen.

»Sie sind Angehörige des Volkes der Ar-rorer und heißen Miel und Kiom«, antworte-te der Shuuke. »Mehr weiß ich auch nicht.Sie sind dir vom Aussehen her sehr ähn-lich.«

»Eben deshalb möchte ich mehr Informa-tionen.«

»Arrorer sind Parias«, behauptete derShuuke verächtlich. »Ausgestoßene ohneRechte. Abfall, wenn du so willst.«

»Ich denke nicht, daß ich so will«, ant-wortete Tifflor, ohne sich jedoch näher fest-zulegen.

Dem Terraner widerstrebte grundsätzlich,daß irgend jemand als Paria bezeichnet wur-de, ganz gleich, wer er war. In seinen Augenwar kein Geschöpf ohne Rechte. Das hatteder Wegbegleiter Perry Rhodans seit denfrühen Tagen der Dritten Macht nicht nureinmal zum Ausdruck gebracht.

Julian Tifflor fühlte die Blicke Guckysauf sich ruhen, und er ahnte, was der Maus-biber dachte. »Du hast recht«, sagte er soleise, daß nur der Ilt es verstand.

Ihm erging es nicht viel anders als demShuuken. Obwohl er nur für eine kurze Zeitden Traumimpulsen Jii'Nevevers ausgesetztgewesen war, machte ihm ihr Fehlen bereitszu schaffen. Immerhin war er in der Lage,sich dagegen zu wehren, sich gegen gewisseEntzugserscheinungen zu behaupten und sei-ne Gedanken zu klären. Er als Aktivatorträ-ger und erfahrener Mensch hatte es aberleichter als die unerfahrenen Wesen aus

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Puydor, die nicht einmal gewußt hatten, wasgeschah, als die Traumimpulse derJii'Nevever über sie hereinbrachen.

War es ein Fehler gewesen, die ehemali-gen Chronauten als Besatzung auszuwählen?Konnte man von ihnen überhaupt erwarten,daß sie die nötige Leistung erbrachten, umihnen allen ein Überleben zu ermöglichen?

Julian Tifflor schob die Gedanken vonsich. Sie waren gezwungen gewesen, sie anBord zu nehmen, da sie auf eine Besatzungangewiesen waren. Ohne den Shuuken, diedrei echsenartigen Rawwen und die beidenentfernt humanoiden Arrorer hätten sie dieINGORUE nicht ausreichend beherrschenkönnen.

Nun mußten die drei Galaktiker sehen,wie sich das Beste aus der Situation machenließ.

Wie der Shuuke einzustufen war, wußtensie bereits. Doch wie stand es um die Raw-wen und die beiden Humanoiden? Litten siestärker oder weniger unter dem Entzug? Wa-ren sie überhaupt einsatzfähig?

Plötzlich fiel dem terranischen Aktivator-träger eine Bewegung auf einem der Moni-toren auf. Sofort wies er die anderen daraufhin.

»Seht euch das an«, sagte Tifflor. »DieProbleme werden deutlicher.«

Die Frage nach dem Befinden der Raw-wen beantwortete sich von selbst. Auf demMonitor war zu sehen, daß sie sich mit Me-tallstangen ausgerüstet hatten und damit wiebesessen auf eine der Wände einschlugen.

»Sie wollen raus«, erkannte Gucky, derdie Echsenwesen blitzschnell telepathischsondierte. »Sie bilden sich wirklich ein, daßsie die Wand aufschlagen und dann hinaus-spazieren können, so als ob sie auf einemPlaneten wären.«

Icho Tolot schoß überraschend hoch, warfsich auf seine Laufarme und stürmte pol-ternd durch das Eingangsschott hinaus. DerShuuke konnte gerade noch zur Seite sprin-gen und ihm ausweichen, dann war derschwarze Riese auch schon vorbei.

Auf dem Gang streckte der Haluter sich.

Seine Hände krallten sich förmlich in denBoden, und er schoß mit unglaublich er-scheinender Beschleunigung voran. Sekun-den nur dauerte es, bis die Rawwen vor ihmauftauchten.

»Hört auf, ihr Narren!« brüllte der Haluterzornig.

Er war so schnell bei den Echsenwesen,daß diese kaum begriffen, was geschah. Un-mittelbar vor ihnen hielt er an; nur seinemächtigen Hände rutschten noch ein paarZentimeter weit über den Boden.

Mit seinem mächtigen Körper füllte erden Gang beinahe vollkommen aus. Wie eingewaltiger schwarzer Propfen saß er vor denEchsenwesen, die bis an eine abschließendeWand zurückgewichen waren. Nun trenntensie nur noch ein paar Zentimeter von seinendrei tellergroßen roten Augen und den Dop-pelreihen seiner mächtigen Kegelzähne.

»Habt ihr den Verstand verloren?« halltees ihnen aus seinem Rachen entgegen. DieStimme war, so laut und beherrschend, daßsie sich zusammenkauerten. »Ihr seid nichthier, um das Raumschiff zu zerstören, son-dern um es als Besatzung zu bedienen. Undwenn ihr jemanden braucht, der euch sagt,wo es langgeht, dann seht mich an. Ich über-nehme das.«

Einer der drei versuchte, etwas zu antwor-ten, doch nur ein paar unverständlicheZischlaute kamen über seine zuckenden Lip-pen.

Icho Tolot zog seine schwarzen Lippenhoch, um die Zahnreihen noch mehr zu ent-blößen. Er lachte dröhnend.

Den Rawwen mußte das Geräusch er-scheinen, als stünden sie unmittelbar nebeneinem gewaltigen Lautsprecher, der mithöchster Leistung bedient wurde. Sie bra-chen zusammen und preßten sich die Händegegen die Ohren, um die Trommelfelle zuschützen.

»Am besten hört ihr mit aller Aggressionauf«, empfahl der Haluter. »Und dann gehtsofort in die Zentrale. Dort wird man euchsagen, was ihr zu tun habt.«

»Ja, ja«, stammelte der eine Rawwe, der

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das Abzeichen eines Chronauten-Ingenieursauf der Brust trug.

Dabei beugte er sich mal nach links undmal nach rechts, ließ sich in die Hocke sin-ken und stellte sich dann wieder auf die Ze-henspitzen, um nach einer Lücke Ausschauzu halten, die ihm ein Vorbeikommen andem schwarzen Riesen ermöglichte. Es gabkeine.

»Vielleicht könntest du uns Platz ma-chen? Bitte!« stotterte der andere Rawwe.

»Platz?« Icho Tolot wich ein paar Zenti-meter zurück, und dann grinste er auf gera-dezu teuflische Art.

Zitternd gingen die Rawwen vor ihm indie Knie. Sie schienen zu fürchten, daß ersie mit bloßen Fäusten in Stücke riß, wozuer aufgrund seiner schier unvorstellbarenKräfte ohne weiteres in der Lage gewesenwäre.

»Wir scheinen ausgesprochene Helden fürunsere Mission ausgewählt zu haben«, sagteder schwarze Riese in halutischer Sprache,die für die Echsenwesen unverständlichblieb.

Und dann schob er sich durch ein seitli-ches Schott in einen Nebenraum, um dieRawwen vorbeizulassen.

»Nun gehen Sie schon!« sagte er erneuteinen Satz auf halutisch - die Höflichkeits-form wäre für die Rawwen noch unverständ-licher gewesen als alles andere.

Sie begriffen dennoch, obwohl sie denWortlaut nicht verstanden, stolperten an ihmvorbei, und als sie es geschafft hatten, rann-ten sie wie von tausend Furien gehetzt bis indie Hauptleitzentrale.

Icho Tolot folgte ihnen mit seinenBlicken, und ein Lächeln glitt über seineLippen. Sein Bluff hatte gewirkt. Gewalthätte er keineswegs angewendet. Wie in denmeisten Fällen genügte es, sich anderen inseiner ganzen imponierenden Gestalt zu zei-gen, um die nötige Wirkung zu erzielen.

Der Haluter war 3,50 Meter groß und er-reichte in den Schultern eine Breite von ein-drucksvollen 2,50 Metern. Zur Zeit wog eretwa zweitausend Kilogramm, und es erschi-

en wie ein Wunder, daß der Boden unterihm sich nicht verbog oder gar zusammen-brach. Er hatte zwei kurze, säulenartige Bei-ne und zwei Armpaare, die als Sprung- undLaufarme bezeichnet wurden. Ließ er sichauf seine Laufarme hinab, konnte er eineSpitzengeschwindigeit von 120 Stundenkilo-me-tern erreichen und dieses Tempo etwa 15Stunden lang durchhalten.

Der halbkugelförmige Kopf war vollkom-men haarlos, war mit der gleichen schwar-zen, lederartigen Haut überzogen wie derganze Körper, saß ohne erkennbaren Halsan-satz auf den Schultern und hatte an der Basiseinen Durchmesser von 80 Zentimetern. Indiesem gewaltigen Schädel, der in der Mitteder Gesamthöhe von einem Knochenwulstgeteilt wurde, steckten das Planhirn und dasOrdinärhirn; das eine reichte in seiner Re-chenkapazität beinahe an die Leistung einermodernen Syntronik heran, das andere warfür die motorischen Bewegungen und dieVerarbeitung der Wahrnehmungen verant-wortlich. Die drei Augen schimmerten rot,waren infrarotempfindlich und hatten einenDurchmesser von jeweils zwanzig Zentime-tern.

Icho Tolot hob aus seinem Volk heraus,daß er der erste Haluter gewesen war, derKontakt mit den Menschen der Erde aufge-nommen hatte, ihr Freund geworden warund sie seitdem auf weiten Strecken ihresWeges begleitet hatte.

Sichtlich belustigt und mit dem Erfolgseines Einsatzes hoch zufrieden, drehte ersich um und öffnete eine Tür zu der Kabine,in der sich die beiden Humanoiden aufhiel-ten. Sie standen mitten im Raum und blick-ten ihn aus leeren, ausdruckslosen Augen an.

Es waren gedrungene, muskulös wirkendeGestalten, deren Teint einen leichten An-strich von Violett hatte. Tiefschwarze Haareumrahmten ihre kantigen, fast quadratischenGesichter. Sie hatten eine fliehende Stirnund ein weit vorspringendes Kinn, das ihnenein etwas brutales Aussehen verlieh und einegewisse Primitivität vermuten ließ.

»Wir warten auf euch«, sagte Icho Tolot.

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Einer der beiden richtete sich kurz auf,neigte dann demütig den Kopf, legte seineHand gegen die Brust und sagte: »Miel.«

Dann zeigte er auf den anderen und nann-te auch dessen Namen: »Kiom.« Er schiender Intelligentere von beiden zu sein: DieArt seiner Vorstellung machte jedoch bereitsdeutlich, daß beide nicht gerade Geistes-leuchten und zudem alles andere als selbst-bewußt waren.

»Kommt mit!« befahl der Haluter.»Nein«, weigerte sich Miel und löste damitÜberraschung bei Icho Tolot aus. »Habe ichrichtig gehört?« Der schwarze Gigant beugtesich vor und entblößte die Doppelreihen sei-ner mächtigen Zähne. »Oder hast du Proble-me mit deinen Ohren?«

»Wir bleiben hier«, antwortete der Arro-rer.

»Was für ein Irrtum!« grollte Icho Tolot.Er streckte seine Hände aus und packte

beide Wesen relativ sanft an den Oberar-men. Seine Hände waren allerdings so groß,daß sie beinahe die gesamte Schulter umfaß-ten. Wortlos zog er die Arrorer mit sich. Daßsie vor Angst schrien und sich wehrten, halfihnen überhaupt nichts.

Auf dem Gang richtete er sich zu seinervollen Größe auf und trug die beiden Huma-noiden vor sich her. Sie strampelten zu-nächst noch etwas, sahen dann jedoch ein,daß sie absolut machtlos gegen ihn waren.Also verhielten sie sich ruhig.

Tolot ließ sie auf den Boden hinunter undzeigte an ihnen vorbei mit ausgestrecktemArm in die Richtung, in die sie gehen soll-ten. Schweigend beugten sie sich seinemBefehl.

»Ich weiß, daß ich mir auf diese Weisekeine Freunde mache«, sagte er polternd,»aber ich denke, daß ich auch ohne eureFreundschaft auskomme!«

Er lachte in seiner dröhnenden Art.Prompt zogen die beiden Humanoiden dieKöpfe ein und hasteten vor ihm her bis indie Hauptleitzentrale.

*

In der Zentrale stellten sich alle gegensei-tig vor, wobei die zwei Rawwen zitternd ih-re Ränge betonten. Comor-Liku, der Rawwemit dem Ingenieur-Abzeichen, hatte tatsäch-lich diesen Beruf und war an Bord der Chro-nautenstation sogar mit einem relativ hohenRang ausgestattet gewesen. Der andereRawwe hieß Arandor-Lei und bezeichnetesich selbst als Spezialisten für Kosmo-Strategie und kosmische Orientierung - wasimmer das bei den Echsenwesen genau be-deuten sollte.

»Jetzt sind wir alle beisammen«, stellteGucky nach der Vorstellungsrunde vergnügtfest.

Sein Nagezahn blitzte vor Freude. DerMausbiber lag noch immer in der gleichenbequemen Haltung im Sessel.

»Wir sind ein Team«, betonte Julian Tif-flor. Er sprach leise, drang aber doch zu je-dem von ihnen durch. »Einer ist auf den an-deren angewiesen. Ohne den anderen kannkeiner etwas erreichen. Ich möchte, daß sichvon nun an jeder darüber klar ist und daß erdanach handelt.«

Danach herrschte für kurze Zeit Schwei-gen. Vor allem Ramman Orneko, die dreiRawwen und die beiden Arrorer hatten eini-ge Mühe, sich mit der neuen Situation abzu-finden. Sie litten noch immer unter denNachwirkungen der Traumimpulse undkonnten nicht so schnell umschalten, wieman es von ihnen erwartete.

Doch Julian Tifflor ließ ihnen keineChance, sich länger mit den Symptomen zubefassen, die man als Entzugserscheinungansehen konnte. Er erteilte Befehle, und dieneuen Mannschaftsmitglieder befolgten siewiderspruchslos. Sie verließen die Zentrale.

Nur der Shuuke blieb, da er als Navigatorund Steuermann seine Aufgaben in erster Li-nie in diesem Bereich der INGORUE zu er-ledigen hatte.

»Wohin fliegen wir?« fragte er. »Darübersind wir uns noch nicht einig«, entgegneteder Ilt.

»Wir könnten in unsere Galaxis, dieMilchstraße, fliegen, um dort alle Wesen vor

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Jii'Nevever zu warnen«, fügte Julian Tifflorruhig und überlegt hinzu. Er blickte auf sei-ne Hände, die er auf den Tisch gelegt hatte.»Sie ist sechzehn Millionen Lichtjahre ent-fernt, wie wir seit kurzer Zeit erst genauwissen.«

»Könnt ihr nicht! « widersprach RammanOrneko. »Die INGORUE hat keine so großeReichweite. Ihr würdet eure Galaxis nichterreichen.«

»Wir sind uns dessen bewußt«, bestätigteTiff mit einem dünnen Lächeln. Es belustig-te den Terraner, daß der Shuuke es für nötighielt, ihn auf die mangelnde Kapazität desRaumschiffs aufmerksam zu machen. Offen-bar befürchtete Ramman Orneko, sie könn-ten aufbrechen und den Versuch wagen, einederart große Entfernung zu überwinden, sodaß er Puydor verlassen mußte und endgül-tig entwurzelt wurde.

»Es ist sinnvoller für uns alle, wenn wirhier aktiv werden«, fügte er hinzu.

»Wir sollten beispielsweise zunächst ersteinmal die Heimatwelt der Nevever aufsu-chen, den Planeten Ketchorr, wo Jii'Nevevereinst nach ihrem Vorbild geschaffen wur-de.«

»Ich verstehe nicht«, zeigte sich RammanOrneko verwirrt. »Wer sind die Nevever,was sollen wir dort? Welchen Sinn sollte eshaben, dorthin zu fliegen?«

»Wir müssen mehr über die Träumerinvon Puydor erfahren«, antwortete der Un-sterbliche.

»Die Weisen von Na'Call wüßten das«,gab der Shuuke durch seine Sprechmaskevon sich.

Der Terraner kannte Sätze wie diesenschon; sie waren anscheinend in diesemSektor von Puydor so etwas wie ein geflü-geltes Wort. Deshalb ging Tifflor erst garnicht darauf ein.

Als der Shuuke danach weitere Fragenstellte, gab er ihm alle Informationen, die siebisher über Jii'Nevever und ihr Wirken hat-ten. Es war nach wie vor nicht viel, aber im-mer noch bedeutend mehr als das, was jederChronaut über die Träumerin wußte - auf

den Chronautenstationen war sogar der Be-griff unbekannt gewesen.

Nachdem er alle Informationen verdauthatte, war Ramman Orneko zwar nicht über-zeugt, bewies jedoch, daß er mitdachte.

»Ich sehe nicht ein, daß dieses Ziel wich-tig ist«, argumentierte er gegenüber Tifflor,Gucky und dem Haluter. »Wichtig ist vor al-lem, daß wir die Völker von Puydor vor derGefahr warnen, die ihnen von Jii'Neveverdroht.«

»Richtig«, stimmte Icho Tolot zu. »Dabeidürfen wir jedoch nicht vergessen, daßJii'Nevevers Stoßrichtung in erster Linie aufdie Milchstraße weist.«

»Dennoch müssen wir hier beginnen«, be-harrte der Shuuke auf seiner Meinung.»Jii'Nevever wird sich Verstärkung ver-schaffen, und die erhält sie nur in dieser Ga-laxis. Das heißt, daß es eure Milchstraßeschützt, wenn wir in Puydor ansetzen. Wennwir die Völker dieser Galaxis gegenJii'Nevever mobilisieren können, dann ver-zögert es deren Aufrüstung, und die Völkereurer Milchstraße gewinnen Zeit, die siedringend für ihre Verteidigungsvorbereitun-gen benötigen.«

Dagegen gab es nichts einzuwenden; diedrei Unsterblichen erklärten sich einverstan-den. Sie dachten vor allem daran, sich soschnell wie möglich ein Raumschiff zu be-sorgen, das in der Lage war, die riesige Ent-fernung bis zur Milchstraße in annehmbarerZeit zu überwinden.

»Wenn es also nicht dieser Planet namensKetchorr sein soll, wohin wenden wir unszuerst?« fragte Tiff. »Hast du einen Vor-schlag für uns?«

»Allerdings«, antwortete der Shuuke, oh-ne zu zögern.

Er schien sich die nächsten Schritte be-reits genau überlegt zu haben. Ramman Or-neko erwies sich als Pragmatiker, der sichnicht unnötig mit Vergangenem aufhielt,sondern entschlossen nach Lösungen suchte.

Tifflor blickte Gucky an. Der Mausbiberblinzelte und schüttelte den Kopf. Diefremdartigen Gedanken des Shuuken konnte

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der Mutant nicht lesen, er konnte nur ganzgrob erkennen, was der Chronaut dachte.

»Ich schlage als erstes Ziel eine Welt derGinkoos vor«, sagte der Shuuke. »Die Gin-koos waren im Minzant-System als Troni-um-Azint-Händler bekannt«, stellte derMausbiber fest. »Von daher haben sie si-cherlich noch gute Kontakte.« Unterneh-mungslustig pfiff er vor sich hin. »Ich binnatürlich voll und ganz einverstanden.«

Icho Tolot und Julian Tifflor hatten eben-falls keine Einwände. Ohne weitere langeDiskussion beschlossen sie, dem Vorschlagsdes Shuuken zu folgen. Ramman Ornekonahm die entsprechende Programmierungdes Autopiloten vor. In einer einzigenHyperraumEtappe nahm die INGORUEKurs auf das nur 247 Lichtjahre entfernteAngeemo-System. Laut Positronik war des-sen vierter Planet eine der Hauptwelten derGinkoos - eine Welt namens Zovork.

2.

Seit Tausenden von Jahren wartete dieMutter auf solche Impulse, doch als sie nunkamen, dauerte es lange, bis sie begriff.

Hatte Gott ein Erbarmen? Wollte er ihreArt doch erhalten?

Die Mutter horchte, fand die Impulse be-stätigt und schleppte sich durch die Anlageder gewaltigen Maschinen bis zum Kontroll-zentrum, um von hier aus die Signale zuüberprüfen. Jeder einzelne Schritt kostete siegroße Mühe und bereitete ihr Schmerzen inden Gliedern. Doch sie gab nicht auf.

Zugleich leistete sie sich nur einen Mini-malaufwand an Energie, um den endgültigenVerfall so lange wie möglich aufzuschieben.Sie war sich darüber klar, daß sie noch einenKampf zu bestehen hatte und daß dieser dervielleicht schwierigste Kampf ihres Lebenswerden würde. Für ihn sparte sie alle Ener-gien auf, die noch in ihr steckten.

Das Ergebnis der Überprüfung war ein-deutig.

Es bestand noch eine winzige Chance fürdie beiden Eizellen. Noch war es nicht zu

spät. Jetzt kam es allerdings darauf an, dieChance zu nutzen.

Noch einmal mußte sie alle Kräfte zusam-mennehmen, die in ihr steckten. Sie mußtealle Energien mobilisieren, die überhauptgeweckt werden konnten, um zu der gewal-tigen Kraftanstrengung fähig zu sein, dieVoraussetzung für die Rettung war.

Nachdem sie Tausende von Jahren gewar-tet hatte, war ihr klar, daß die Chance nichtinnerhalb von Sekunden wieder verschwin-den würde, sondern daß ihr ein paar Stundenoder gar Tage blieben. Diese brauchte sie,um all das zu tun, wozu sie aufgrund dermoralischen Gesetze ihres Volkes gezwun-gen war.

Daß am Ende der Aktion ihr eigener Todstehen würde, interessierte sie nicht, und sieverschwendete keinen einzigen Gedankendaran. Der Tod stand ohnehin vor der Tür.Ob sie ihm ein paar Tage früher oder späterzum Opfer fiel, spielte keine Rolle.

Sie nahm sich Zeit, um sich zu stärken.Dabei ließ sie die Kontrollinstrumente nichtaus den Augen. Die Signale waren schwach,und sie blieben schwach, drohten aber nichtzu versiegen. Das erfaßte Objekt entferntesich also nicht von ihr, sondern veränderteseine Position nur unwesentlich.

Als sie sich kräftiger fühlte, machte sichdie Mutter daran, Lockimpulse auszusenden.Sie richtete sie konzentriert auf das Objekt,von dem die Impulse kamen, wußte jedochnicht, ob sie tatsächlich wirksam waren. Dienächsten Tage würden fraglos eine Antwortgeben.

Nun hieß es warten und bangen. Wurdendie Signale stärker und intensiver, bedeutetedies, daß die Lockimpulse auf fruchtbarenBoden stießen.

Doch so lange wollte die Mutter nichtwarten. Die Eizellen hatten nur eine winzigeChance, und daher begann sie nun, die letz-ten Vorbereitungen zu treffen. Wenn dasObjekt sich ihr weit genug näherte, mußtesie zuschlagen. Gelang der erste Schlagnicht, war alles vorbei, und die Eizellen wa-ren nicht mehr zu retten. Eine Alternative

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gab es nicht.Die Mutter konzentrierte sich auf die be-

vorstehende Operation. Dafür setzte sie allesein, was ihr noch verblieben war.

*

»Wir sind Chronauten«, stellte sich Ram-man Orneko vor. »Wir kommen aus demMinzant-System und bitten um Landeerlaub-nis.«

Auf den Monitoren zeichnete sich dasbreite Gesicht eines Ginkoos ab. Auffallendwar der Mund mit den aufgeworfenen Lip-pen. Sie erinnerten an ein Fischmaul.

»Ihr wollt wirklich bei uns landen?« frag-te der Fluglotse des Raumhafens. Der Gin-koo verengte die Augen und atmete auffal-lend schnell, als habe er einen anstrengen-den Lauf hinter sich. Falten, die bogenför-mig unter den Augen entlang und über dieWangenknochen hinweg bis zu den Ohrenführten, verrieten seine innere Anspannung.

»Das haben wir vor«, bestätigte der Shuu-ke.

»Chronauten stehen bei uns hoch in derAchtung«, machte der Ginkoo deutlich.»Deshalb ist die Landeerlaubnis hiermit er-teilt. Wir erwarten euch zu einem Ge-spräch.«

»Der Gute war vollkommen durcheinan-der, nur weil wir auf Zovork landen wol-len«, stellte Gucky erstaunt fest. »Wieso?Was ist so aufregend daran?«

Ramman Orneko schien mit dieser Fragenichts anfangen zu können. Sein Rüsselschwankte hin und her, und er gab einigeunbestimmbare Laute von sich.

Dann aber erläuterte er: »Ginkoos sindreiche, äußerst tüchtige und raffinierte Ge-schäftemacher, die besonders gerne mit Tro-nium-Azint handeln. Sie wissen natürlich,daß es in der Vergangenheit sehr schwierigwar, die Schwingquarze aus dem Minzant-System zu entfernen. Da wir von dort kom-men und um Landeerlaubnis bitten, gehensie davon aus, daß wir Tronium-Azint anBord haben, das wir ihnen verkaufen wollen.

Wahrscheinlich fürchten sie, daß irgend et-was nicht stimmt oder daß wir ihnen mitTricks begegnen wollen, damit sie uns nichtübers Ohr hauen können.«

Julian Tifflor antwortete nicht, sondernbeobachtete, wie der Shuuke das linsenför-mige Raumschiff verzögerte und in die At-mosphäre des Planeten Zovork gleiten ließ.Analysegeräte zeigten an, daß die Luft einenhohen Sauerstoffanteil enthielt und frei vonschädlichen Verunreinigungen war, so daßsie nach ihrer Landung keine Atemmaskenbenötigten.

Ungefähr sechzig Prozent der Oberflächevon Zovork wurden durch die Wasserflä-chen der Ozeane eingenommen. Nördlichund südlich des Äquators zogen sich in lan-gen Ketten zahllose Inseln um den Planeten.Sie lagen dicht an dicht, so daß die Abständezwischen ihnen ohne großen Aufwand durchBrücken überwunden werden konnten.

Der wichtigste Raumhafen des Planetenlag mitten auf einer der größten Inseln undwurde umgeben von einer Stadt mit Hun-derttausenden von ovalen und runden Häu-sern. Offenbar hatten drei große Kanäle, dieaus unterschiedlichen Richtungen zu dieserInsel führten und hervorragende Verkehrs-verbindungen darstellten, die Ansiedlungder Stadt begünstigt. Auf ihnen verkehrtenrobotgesteuerte Schiffe von beachtlichenAusmaßen. Sie waren jedoch nicht die einzi-gen Anzeichen dafür, daß es sich bei Zovorkum eine Welt mit blühender Wirtschaft han-delte. Auf mehreren Luftverkehrsbahnen be-wegten sich Zehntausende von Transport-und Personen-gleitern in einem ununterbro-chenen Strom zum Raumhafen hin und vonihm weg.

Ramman Orneko lenkte das Raumschiffnach den Anweisungen der robotischenFluglotsen auf den Raumhafen. Die techni-schen Einrichtungen dieses Verkehrszen-trums waren bis zur Perfektion entwickeltund waren nirgendwo den Unzulänglichkei-ten der Ginkoos oder anderer Intelligenzenausgesetzt. Maschinen überwachten undlenkten die Bewegungen aller Transportob-

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jekte, ganz gleich, ob es sich dabei um eineEinmann-Plattform, einen Gütergleiter, eineLuxusjacht oder ein Raumschiff handelte.

Die INGORUE landete neben einem Ge-bäude am Rande des Raumhafens. Nachdemsie aufgesetzt hatte, begann ein grünes Bandzu leuchten, das von der Schleuse bis zumEingang des Hauses reichte.

Julian Tifflor, Icho Tolot und Gucky folg-ten diesem Hinweis, während der Shuuke anBord blieb. Die drei Aktivatorträger schrit-ten über das schimmernde Band und durchein großes Portal bis in eine Halle mit zahl-reichen Schrifttafeln, Abfertigungsschaltern,flimmernden Werbewänden, Kommunikati-onseinrichtungen, Sitzgelegenheiten, ausge-stellten Maschinen, beweglichen Hologra-phien von kulturellen Ereignissen und Grup-pen geschäftig miteinander verhandelnderGinkoos.

Aus einer der Gruppen löste sich einehochgewachsene, humanoide Gestalt undkam auf sie zu. Der Mann war deutlich überzwei Meter groß, hatte einen mächtigenKopf mit einem breiten Mund, dessen aufge-worfene Lippen beinahe das ganze Gesichteinnahmen, kleinen, listigen Augen und ei-ner schwarzen Haarsträhne, die ihm aus derMitte der Stirn gerade herunterfiel und derenEnde bis über das Kinn hinausreichte. Scheuund zögernd näherte er sich ihnen, und seineBlicke glitten dabei von einem zum anderen.Eine derart unterschiedlich aussehendeMannschaft, wie Tifflor, Gucky und IchoTolot sie bildeten, war ihm anscheinendnoch nicht begegnet.

Als der Unbekannte vor ihnen stand, rich-teten sich seine Blicke auf den Haluter. Erwinkelte den linken Arm an, streckte dieHand mit den fünf Fingern senkrecht nachoben und drückte als Begrüßungsgeste diegeballte Rechte gegen die offene Handflä-che.

»Mein Name ist Neberhot«, stellte er sichvor. »Ich bin Erster Operationsleiter undVorsitzender Rat des OrganisationskomiteesGelbe Sommerebene unter dem Empfehlen-den Würdenvereiniger der … Ach was, ich

bin der Chef des Raumhafens, aber wenn esdie Ehre gebietet, daß ich euch den ganzenTitel nenne, bin ich dazu bereit. Es dauertungefähr sieben Minuten.«

»Chef genügt uns«, antwortete Julian Tif-flor, der froh war, daß Neberhot sich so kurzfaßte.

»Danke«, sagte der Ginkoo und richteteseine ganze Aufmerksamkeit weiterhin aufIcho Tolot. Er hatte einen Körper von be-achtlicher Fülle, wirkte allerdings nebenIcho Tolot immer noch schlank und klein. Erstreckte den rechten Arm aus und zeigte zueinem Portal hinüber, das von zwei huma-noiden Robotern flankiert wurde. »Dort kön-nen wir in Ruhe miteinander reden. Ich habeeine Erfrischung für euch bereitgestellt.«

Die drei Galaktiker folgten ihm in einenmit gepolsterten Sitzmöbeln, geschnitztenTischen und Schränken und einem mit beru-higenden Mustern versehenen Bodenbelagausgestatteten Raum, dessen eine Wanddurch ein Holo ausgefüllt wurde. Es zeigteeine liebliche Landschaft mit einem idylli-schen See und herbstlich verfärbten Bäu-men. Julian Tifflor lächelte. Die Atmosphärewar allzu aufdringlich darauf ausgerichtet,sie zu beruhigen und zu besänftigen. Offen-sichtlich fanden hier geschäftliche Verhand-lungen statt, bei denen die Ginkoos versuch-ten, ihre Partner einzulullen, um sie dann umso kräftiger übers Ohr hauen zu können.

»Was für ein schöner Raum!« schwärmteIcho Tolot.

Mit dröhnenden Schritten stapfte der Ha-luter durch das Portal herein, ging zu seinemder Sessel und ließ sich hineinsinken, ob-wohl er erkennen mußte, daß das Sitzmöbelzu klein für ihn war. Der Warnruf von Ne-berhot kam zu spät. Der Sessel brach kra-chend zusammen und löste sich in seine Be-standteile auf.

Besorgt eilte der Ginkoo zu dem Haluter.»Ich hoffe, dir ist nichts passiert! « rief er.»Danke für die Sorge«, antwortete der

dunkelhäutige Riese, der sich bereits erho-ben hatte, um sich in einen anderen Sesselzu setzen.

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Neberhot kam zu spät, um ihn noch daranhindern zu können. Das Ergebnis war dasgleiche wie bei dem Sitzmöbel zuvor.

Als es Icho Tolot damit noch nicht genugsein ließ und sich einem dritten Sessel zu-wandte, zog Gucky diesen telekinetisch zurSeite. Krachend landete der Haluter auf demBoden. Sein Kopf fuhr herum, er blickteGucky an, und dann verzog er die Lippen zueinem breiten Lachen.

»Ich denke, so ist es bequem genug fürmich«, verkündete er, rutschte ein wenignach hinten und lehnte sich mit dem Rückengegen die Holowand. »Seltsam, Chef, daßSie keinen vernünftigen Sessel für mich be-reitgestellt haben.« Neberhot griff sich mitbeiden Händen an den Kopf und schnapptenach Luft.

»Es ist mir peinlich«, beteuerte er, wobeier vermutlich am meisten bedauerte, daß dieverführerisch gemütliche Atmosphäre desRaumes restlos zerstört war. »Ich werde so-fort dafür sorgen, daß man …«

Icho Tolot hob abwehrend alle vier Händeund brachte ihn damit zum Schweigen.

»Kommen wir zu dem, was wirklichwichtig ist«, schlug der Haluter vor. »ZumTronium-Azint!« rief der Ginkoo.

»Das ist nicht der Grund, weshalb wir ge-kommen sind«, versetzte Julian Tifflor.

Neberhot war bis dahin auffallend bemühtgewesen, ihn zu ignorieren. Jetzt konnte ernicht anders und wandte sich ihm zu.

»Es ist etwas gewöhnungsbedürftig fürmich, daß ein Arrorer das Wort an michrichtet«, erwiderte er herablassend.

»Das ist kein Arrorer«, widersprach ihmGucky.

»Nicht?«»Nein, Julian Tifflor ist ein Terraner, und

seine Ähnlichkeit mit einem Arrorer ist nurzufällig«, klärte der Ilt ihn auf. »Er ist nichtnur Angehöriger eines der mächtigsten Völ-ker unserer Galaxis, sondern war auch fürviele Jahre ihr … Okay, machen wir esebenso kurz … Chef!«

Jetzt wandte sich Neberhot mit gespannterAufmerksamkeit an Tiff. Er erkannte, daß er

einen Fehler gemacht hatte, und als Ge-schäftsmann erfaßte er augenblicklich, daßdieser den Verlauf der gesamten Verhand-lungen bestimmen konnte. Er versuchte, ver-meintlich verlorenen Boden wiedergutzuma-chen.

»Ich hätte es wissen müssen!« rief er mitdem Ausdruck höchsten Bedauerns undsetzte zu einer längeren Entschuldigung an,doch jetzt war es Julian Tifflor, der ihn zumSchweigen brachte.

»Wir sind nicht hier, um Tronium-Azintzu verkaufen«, betonte er, »sondern weil wirvor einer Gefahr warnen wollen, die dieseGalaxis bedroht. Sie kann vielleicht nochabgewendet werden, wenn wir alle gemein-sam schnell genug handeln.«

Neberhot sah aus, als habe man ihn miteiskaltem Wasser übergossen. Er schienschlagartig jegliches Interesse an dem Ge-spräch verloren zu haben.

»Was soll das für eine Gefahr sein?« frag-te er.

»Darüber müssen wir mit der Regierungvon Zovork reden.« Jetzt drehte Julian Tif-flor den Spieß um und ließ den Ginkoo spü-ren, daß er von untergeordneter Bedeutungfür ihn war. »Sorge dafür, daß wir empfan-gen werden. Die Gefahr ist so groß, daß wirsofort eine Audienz benötigen.«

Neberhot war mit dieser Wendung desGespräches ganz und gar nicht einverstan-den; das war ganz eindeutig. Tief enttäuschtund ohne ein weiteres Wort verließ er denRaum.

»Was hat er vor?« fragte Tifflor den Ilt,der es sich in einem der Sessel bequem ge-macht hatte. »Hast du seine Gedanken über-wacht?«

»Und ob ich das habe, obwohl ich dafüreigentlich eine Schmutzzulage haben müß-te«, antwortete der Mausbiber. »Habt ihr ei-gentlich schon mal daran gedacht, was sol-che Aktionen bei meiner in ihrem tiefstenInneren immer noch jugendlichen Seele an-richten?«

»Laß den Quatsch!« bat Tiff. »Was ist mitNeberhot?«

Die Rätsel von Ketchorr 13

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»Der ist stinksauer«, berichtete Gucky.»Erst war er sicher, daß er das ganz großeGeschäft mit Tronium-Azint machen kannund daß er uns dabei das Fell über die Ohrenziehen wird. Er hatte sich schon ausge-rechnet, daß er seiner Angebeteten mit demGewinn ein Geschenk kaufen kann, um sieendlich rumzukriegen. Und nun würde eruns am liebsten zur Hölle schicken, weil wirkeine Geschäfte mit ihm machen wollen.«

»Wir haben kein Tronium-Azint!« Guckyzeigte ihm seinen Nagezahn und zwinkerteihm fröhlich zu. »Genau das glaubt er unsnicht. Er ist vielmehr fest davon überzeugt,daß wir eine so gewaltige Menge zur Verfü-gung haben, daß nur die Regierung diesesschönen Planeten in der Lage ist, sie zu kau-fen.«

»Den Zahn müssen wir ihm ziehen.«»Das wird dir nicht gelingen, Tiff«, sagteder Ilt voraus. »Wie alle Ginkoos, die mitdem Handel zu tun haben, kann er nur inTronium-Azint-Einheiten denken. Er wirduns nie und nimmer abnehmen, daß wirnichts von dem Zeug haben.«

Er gähnte nachhaltig und fügte dannscheinbar gleichgültig hinzu: »Und die an-deren werden es auch nicht glauben.«

*

Etwa eine Stunde später saßen sie einerRegierungsdelegation des Planeten Zovorkgegenüber, die aus zwölf Ginkoos bestandund von dem Regierungssprecher Syrnoterangeführt wurde. Für das Gespräch war eingroßer Raum vorbereitet worden, in demsich sogar ein geeignetes Sitzmöbel für IchoTolot befand. Es war offenbar in großer Hasthergestellt worden. Als der Haluter sichsetzte, krachte es beängstigend, hielt der Be-lastung jedoch stand.

»Was hast du uns zu sagen?« fragte derRegierungssprecher.

Der Ginkoo war ein großer, ausgespro-chen fülliger Mann, der seinen mächtigenKörper in eine Reihe von seidenweichen Tü-chern hüllte. Gewaltige Fettpolster wölbten

sich über den Gürtel hinweg, mit dem er dieTücher in der Leibesmitte zusammenhielt.Unter der wulstigen Unterlippe steckten dreiDiamanten in seiner Haut, und zwei Bögenvon weiteren Edelsteinen wölbten sich überseinen Augenbräuen. Sie sollten offenbarvon den kalten schwarzen Augen ablenken,die tief in den Höhlen lagen und ohne Lebenzu sein schienen.

Julian Tifflor berichtete in knappen Wor-ten von den Ereignissen im Minzant-Systemund von der Geschichte Jii'Nevevers.

»Es gibt nicht den geringsten Zweifel anihren Absichten«, beteuerte er. »Sie will sichmit Hilfe von Traumimpulsen ganz Puydoruntertan machen.«

»Wir danken dir für diese Information«,sagte Syrnoter, der bis dahin geduldig zuge-hört und sich kaum bewegt hatte, währenddie anderen Ginkoos an seiner Seite wach-sende Unruhe und Ungeduld gezeigt hatten.»Wir sind gewarnt und werden uns gegendie Bedrohung behaupten. Doch nun zumGeschäft. Wieviel Tronium-Azint habt ihruns anzubieten?«

»Überhaupt keines«, antwortete der Ter-raner.

»Natürlich nicht.« Syrnoter breitete dieArme in einer entschuldigenden Geste ausund verzog seine Lippen zu einem Lächeln.»Es war töricht von mir, überhaupt danachzu fragen.«

Tiff und Gucky wechselten einen kurzenBlick miteinander. Sie verstanden sich sogut, daß sie auf Worte verzichten konnten.Der Ilt signalisierte dem Freund, daß manihm nicht glaubte.

Die Ginkoos glaubten unerschütterlichdaran, daß es um das größte Tronium-Azint-Geschäft aller Zeiten ging. Sie warenüberzeugt, daß die Warnung von Jii'Nevevernur der Ablenkung diente und bessere Vor-ausset-zungen für die Geschäftsverhandlun-gen herbeiführen sollte.

»Wir meinen es ernst«, betonte Tifflor.»Die Gefahr durch Jii'Nevever besteht undist akut. Deshalb müssen alle Hauptweltenvon Puydor von größeren Tronium-

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Azint-Vorkommen geräumt werden, damitJii'Nevever sich nicht mit ihren Träumendarin manifestieren kann.«

Seine Worte lösten Unruhe und Gelächteraus. Die Ginkoos unterhielten sich in einerfür die Besucher unverständlichen Sprachemiteinander, in der es von kommerziellenSpezialausdrücken nur so wimmelte und inder viele Worte durch Gesten und Geheim-zeichen ersetzt wurden.

»Jetzt sind sie endgültig sicher, daß wirnur hier sind, um das große Howalgonium-Ge-schäft zu machen«, teilte der telepathischbegabte Ilt Tifflor und dem Haluter mit. Ersprach Interkosmo, damit die Ginkoos ihnnicht verstanden. »Es hat keinen Sinn, mitihnen zu reden. Sie werden nie begreifen,daß wir mit leeren Händen dastehen undwirklich nur vor Jii'Nevever warnen wollen.Für sie dreht sich alles um Tronium-Azint.Was anderes scheint aus ihrer Sicht nicht zuexistieren.«

Julian Tifflor empfand es als besondereIronie der Situation, daß die Ginkoos in ei-ner Hinsicht sogar recht hatten. Es ging umTronium-Azint, die Schwingquarze, die denTerranern unter dem Namen Howalgoniumbekannt waren.

Nur eben aus einer ganz anderen Sicht!Jii'Nevever war, wie die Galaktiker aus

den Träumen und aus den herausgearbeite-ten Informationen während ihres Curayo-Aufenthaltes wußten, auf Howalgonium alsTransportmedium für ihre Träume angewie-sen. Besonders bei der Beeinflussung überLichtjahre hinweg. Grenzen wurden ihr le-diglich durch die Größe einer Galaxis ge-setzt. Jii'Nevever besaß anscheinend Fähig-keiten, mit denen sie denkende Lebewesenaufspüren konnte. Sie beherrschte die Tele-kinese und nutzte sie hauptsächlich, um sichselbst in der Schwebe zu halten und sich aufdiese Weise fortzubewegen. Darüber hinauswar sie in der Lage zu teleportieren, sprangjedoch nie weiter als äußerstenfalls 1000 Ki-lometer. Da sie selbst Howalgonium in ihrerKörpersubstanz enthielt, besaß sie einegroße Affinität zu diesem Schwingquarz.

Howalgonium oder Tronium-Azint war inPuydor ebenso selten wie in der Milchstraßeoder in anderen Galaxien. Um Intelligenz-wesen auf den verschiedenen Planeten be-einflussen zu können, mußte Jii'Nevever vorOrt Depots anlegen, falls es kein natürlichesVorkommen des Minerals gab.

Umgekehrt war Jii wahrscheinlich nuraufzuhalten und in ihrer Macht zu beschrän-ken, wenn man das Tronium-Azint entfernteund auf Planeten konzentrierte, die nicht be-siedelt waren.

Tifflor versuchte erneut, die Ginkoos vorder Gefahr zu warnen und die nötigen Ge-genmaßnahmen verständlich zu machen,scheiterte jedoch ein weiteres Mal. Tronium-Azint war nicht nur die Existenzgrundlagefür die Ginkoos und ihren Handel, sondernalle auf fünfdimensionaler Basis arbeitendeHighTech in Puydor funktionierte nur mitdiesem Mineral. Ramman Orneko hatte dar-auf hingewiesen, daß es auf Zovork riesigeTronium-Azint-Lager gab, die ein gewalti-ges Vermögen darstellten.

Und da kommen wir mit irgendwelchenGeschichten von einer TräumerinJii'Nevever und verlangen, daß man alleTronium-Azint-Bestände wegschafft! dachteJulian Tifflor. Kein Wunder, daß sie unsnicht glauben.

Der Terraner bemerkte, daß sich auf ei-nem der Tische der Ginkoos ein Monitor er-hellte, und er machte Gucky darauf auf-merksam. Im gleichen Moment entstand Un-ruhe bei der Delegation der Tronium-Azint-Händler.

Tiff beugte sich zu dem Mausbiber hin-über: »Was ist passiert?«

»Ein Ginkoo-Transporter ist aus demMinzant-System eingetroffen«, antworteteder Ilt, dessen Miene höchste Besorgnis aus-drückte. »Er ist voll beladen mit Tronium-Azint-Behältern.«

»Wir sitzen in der Klemme«, bemerkteIcho Tolot danach mit dumpf grollenderStimme. Auch er sprach Interkosmo. »Eswar ein Fehler, hierherzufliegen. Wir richtendoch nichts aus. Das Geschäft mit dem Tro-

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nium-Azint macht die Ginkoos blind für al-les andere.«

Syrnoter ließ seine Hand krachend aufden Tisch fallen. Erst als es still im Raumgeworden war, berichtete er von dem einge-troffenen Raumfrachter.

»Was soll mit dem Tronium-Azint ge-schehen?« fragte er, beugte sich dabei weitvor und klopfte mit den Fingerspitzen rhyth-misch auf die Tischplatte. »Wenn ich euchrichtig verstanden habe, wollt ihr, daß derRaumer mitsamt seiner Ladung so schnellwie möglich aus unserem Sonnensystemverschwindet.«

»Allerdings«, bestätigte der Terraner.»Für uns ist eines vollkommen klar: Es han-delt sich um eine Vorhut Jii'Nevevers! DerFrachter kann erst gestartet sein, nachdemJii'Nevever befreit worden ist und die Machtim Minzant-System übernommen hat.«

»Ach, ist das klar?« entgegnete Syrnoterhöhnisch. »Dann müßten an Bord ja chaoti-sche Zustände herrschen!«

»Ganz im Gegenteil«, widersprach Tifflorihm. »Wer von Jii'Nevever beeinflußt wird,handelt eher zielbewußt - sie übernimmt dieGedankenwelt und ordnet sie neu.«

Jetzt lehnte der Regierungssprecher sichin seinem Sessel zurück und begann lauthalszu lachen.

»Wir haben es mit Narren zu tun!« rief er.»Für wie dumm haltet ihr uns eigentlich?Wir sind ja einiges gewohnt, aber euer Spielist gar zu durchsichtig. Auf eine solche An-ballung von Unsinn fallen wir nicht herein.«

Nun blickte er Tifflor beinahe mitleidigan.

»Kommen wir nun zu dem Preis, zu demihr uns euer Tronium-Azint anbieten wollt«,sagte er dann zu den drei Galaktikern. »Unsstehen riesige Mengen der Schwingquarzezur Verfügung. Wir können sie kaum nochlagern, aber wenn das Angebot akzeptabelist, können wir trotzdem ins Geschäft kom-men.«

3.

Die Mutter arbeitete intensiv und mit allerKraft und Konzentration. Die Große Ma-schine interessierte nun nicht mehr, zumalsie die geplante Schutzfunktion nicht mehrausüben konnte. Gar zuviel war an ihr zer-fallen.

Es galt nur noch, das Objekt anzulockenund in den Operationsbereich zu führen. Da-für mußte die gesamte verfügbare Technikeingesetzt werden.

Sie scheute sich nicht, elementare Teileaus der Großen Maschine zu entnehmen, umsie jenem Teil der Technik zuzuführen, mitderen Hilfe das Objekt beeinflußt werdenkonnte. Damit aber machte sie die GroßeMaschine endgültig unbrauchbar.

In ferner Vergangenheit waren die bedeu-tendsten Wissenschaftler ihres Volkes zu derErkenntnis gekommen, daß die eigene Welt- ihr Universum - eingebettet war in ein un-endliches, in sich geschlossenes System vonvielen Universen, ein unvorstellbar großes,pulsierenden Etwas, in dem es Leben undTod, Kommen und Gehen, Werden und Ver-gehen ebenso gab wie in der kleinsten Zelleeines lebenden Wesens.

Universen entstanden aus einem UrAtomheraus in einem sogenannten Big Bang,dehnten sich über Milliarden von Jahren hin-weg aus, um irgendwann am Ende dieserExistenzphase wieder in sich zusammenzu-fallen und zu einem unvorstellbar dichtenEtwas zusammenzustürzen, das sich wieder-um als Ur-Atom darstellte, während Raumund Zeit erloschen und aufhörten zu existie-ren, um sich erneut nach einem Big Bangauszubreiten, Raum und Zeit entstehen zulassen.

Ein solches Ereignis - die Geburt einesUniversums - konnte nicht ohne Einfluß aufdie benachbarten Universen bleiben. Genaudas war das Problem, das die Wissenschaft-ler angegangen waren. Sie hatten errechnet,daß ein solcher Big Bang in ihrer Nachbar-schaft unmittelbar bevorstand. Aus diesemGrund hatten sie die Große Maschine in derfesten Überzeugung gebaut, daß damit dievernichtenden Auswirkungen auf viele Völ-

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ker der Galaxis zumindest abgemildert wer-den konnten, so daß in den Überlappungszo-nen zwischen den Universen nicht alles Le-ben vernichtet wurde.

Welch eine Verschwendung von wissen-schaftlichen Erkenntnissen, von Materialund Energien! Welch ein Opfergang einesVolkes, das nicht sich allein retten wollte,sondern vor allem die schwächeren Völker,denen das notwendige Wissen fehlte, umselbst etwas unternehmen zu können.

Die altruistische Haltung hatte letztlichdie eigene Existenz gekostet.

Die Große Maschine benötigte geringeMengen Wasser, um die verschiedenen Pro-zesse umsetzen und sich selbst erhalten zukönnen. Sie hatte es aus der Atmosphäre desPlaneten entnommen, und niemand hattedaran gedacht, daß es irgendwann zuvielsein könnte. Doch da das erwartete kosmi-sche Ereignis nicht eingetreten war, dieGroße Maschine aber auch nicht abgeschal-tet wurde, verlor die Atmosphäre über Jahr-hundert-tausende hinweg Wasser. DurchVerdunstung glichen die Meere die Verlusteaus, bis die Vorräte spürbar schrumpftenund der Planet sich von einem blühendenParadies mit riesigen Ozeanen in eine Wü-stenwelt verwandelte, in der es kaum nochgenügend Wasser gab, um die Bevölkerungversorgen zu können.

Im Laufe der Zeit hatten Raumfahrer ausdem Volk der Koraws gewaltige Eisbrockenvon den Monden anderer Planeten abgezo-gen und in die Atmosphäre des Planetenstürzen lassen, um ihm Wasser zuzuführen.Doch es hatte nicht ausgereicht. Zu groß warder Wasserverlust bis dahin schon gewesen.

Doch das war nicht das einzige Problem,das sich ergeben hatte. Mit dem Wasser kamdas Verhängnis über die Anlage und ihreBewohner. Mit dem Wasser geriet einschleichendes Gift in den subplanetaren Be-reich, und ihm waren mehr und mehr Män-ner, Frauen und Kinder aus dem Volk derObbythen zum Opfer gefallen - bis nur nochdie Mutter und zwei Eizellen übriggebliebenwaren. Trotz aller wissenschaftlichen Quali-

fikation hatte man die Gefahr viel zu spät er-kannt, um das Ende noch abwenden zu kön-nen. Die Mutter argwöhnte gar, daß man sieschließlich gar nicht mehr wahrnehmenwollte, weil man sah, daß ein ganzes Volksich einer Idee geopfert hatte, die niemalsRealität werden würde.

Die Mutter hatte lange über die wissen-schaftlichen Hintergründe des großen Plansnachgedacht. Sie konnte nicht nachvollzie-hen, ob die Wissenschaftler sich geirrt hat-ten oder ob die Schöpfung es sich womög-lich anders überlegt hatte und auf den BigBang im benachbarten Universum verzichte-te.

Entscheidend für sie war, daß das voraus-gesagte Ereignis ausgeblieben war, daß dieObbythen resigniert hatten und daß dieGroße Maschine während der Wartezeit zuSchrott zerfallen war.

Ihr war es egal. Sie machte sich keineSorgen um mögliche kosmische Ereignisse.Ihr ganzer Lebensinhalt waren die beidenletzten Eizellen, in denen sich ihr Volk nochmanifestierte. In ihnen hatte sich kein Giftangesammelt.

Viele Jahre ihres Lebens hatte die Mutterdamit verbracht, das Gift aufzuspüren, dasmit dem Wasser gekommen war, und ausden Eizellen zu entfernen, ohne diese zuSchäden. Jetzt waren alle Chancen für einenNeuanfang gegeben. Nur der Wirt fehltenoch.

Vielleicht erwuchsen aus den Zellen We-sen, die sich dem Bösen entgegenstemmenkonnten und die beispielsweise einerJii'Nevever Einhalt geboten?

Sie jedenfalls würde alles tun, damit ihreNachkommen die Große Maschine verließenund hinaustraten in die Zivilisationen Puy-dors, um ihre unvergleichlichen Fähigkeitenin den Dienst der verschiedenen Völker zustellen.

*

Julian Tifflor, Icho Tolot und Gucky eil-ten durch die Abfertigungshalle, um zu ih-

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rem Linsenschiff zurückzukehren. Sie hattendie Verhandlungen abgebrochen, und dieGinkoos hatten keine Einwände erhoben.Die Zovorker waren davon überzeugt, daßes um rein taktisches Verhalten ging, wie siebei schwierigen geschäftlichen Gesprächenüblich waren.

»Die Traumimpulse Jii'Nevevers sindda«, meldete der Ilt, als sie die Halle verlie-ßen und zu ihrem Raumschiff gingen. »DieGinkoos zeigen bereits Wirkung - besondersan Bord des Frachters.«

»Dann hat Jii'Nevever bereits zum Sturmauf Puydor geblasen«, versetzte Julian Tif-flor. »Sie will ihre Macht ausbauen und sichauf den Angriff auf die Milchstraße vorbe-reiten.«

»Wir müssen verschwinden«, ergänzteder Haluter, während sie sich über das Lan-defeld des Raumhafens bewegten und zu ih-rem Raumschiff gingen. »Die Ginkoos sindempfindlich. Wenn sie merken, daß es unsnicht um ein Tronium-Azint-Geschäft geht,könnten sie unberechenbar werden.«

»Vor allem, wenn sie unter dem wachsen-den Einfluß von Jii stehen«, fügte Tifflorhinzu.

Ramman Orneko war höchst erstaunt, daßsie schon so rasch zurückkehrten und sofortstarten wollten, stellte aber keine Fragen,sondern leitete sofort die Startvorbereitun-gen ein.

Gucky überwachte ihn. Der Mausbiberspürte, daß er gegen den EinflußJii'Nevevers kämpfte, von dem er selbstkaum etwas verspürte. Erst in der Startphaseinformierte Tifflor den Shuuken über denVerlauf des Gesprächs.

»Es war nicht anders zu erwarten«, be-hauptete Ramman Orneko. »Die Geschichteist gar zu unglaubwürdig. Mir kommt siewie ein Lügenmärchen vor.«

Als die INGORUE eine Höhe von elf Ki-lometern erreicht hatte, meldete sich Neber-hot, der Chef des Raumhafens.

»Wieso seid ihr gestartet?« fragte derGinkoo barsch. »Weshalb wollt ihr uns ver-lassen? Syrnoter hat mich wissen lassen, daß

die Verhandlungen noch nicht einmal be-gonnen haben.« »Jii'Nevever!« gab der Iltgrinsend zurück. »Sie ist da. Meldet euchmal, wenn ihr noch könnt.«

Er beendete das Gespräch, und die IN-GORUE beschleunigte mit Höchstwerten.

»Und jetzt?« fragte der Shuuke.»Wir fliegen nach Ketchorr«, entschied

Tifflor. »Der Heimatwelt dieser Nevever. «Ramman Orneko trat in einen kurzen Dia-

log mit dem Bordcomputer. Der Begriff»Nevever« war gar nicht gespeichert, aberimmerhin fand er einige Hinweise auf denPlaneten.

»Das ist der zweite von sieben Planetender roten Riesensonne Artirur«, erklärte erdie Ergebnisse der Positronik. »Das Sonnen-system befindet sich im Zentrumsbereichauf der anderen Seite von Puydor und ist an-nähernd 35.000 Lichtjahre von uns entfernt.Wir müssen das Zentrumsgebiet durchque-ren.«

»Und?« entgegnete der Terraner. »Siehstdu Schwierigkeiten?«

»Im Zentrum gibt es starke Hyperstörfel-der. Sie zwingen uns zu mehreren Überlich-tetappen und komplizierten sowie zeitrau-benden Manövern«, erläuterte der Naviga-tor. »Eine andere Möglichkeit wäre, dasZentrum in mehreren Etappen zu umfliegenund damit den Störfeldern aus dem Weg zugehen.«

»Mich interessiert nur, auf welchem We-ge wir schneller ans Ziel kommen«, entgeg-nete Julian Tifflor.

Der Terraner wechselte einen kurzen, ver-ständnisinnigen Blick mit Icho Tolot. Er warsich klar darüber, daß der Haluter längst be-gonnen hatte, die Angaben des Shuuken mitHilfe seines Planhirns zu überprüfen undnotwendige Berechnungen anzustellen.

Icho Tolot lächelte und entblößte dabeidie Doppelreihen seiner kegelförmigen Zäh-ne. Sie stellten ein wahrhaft fürchterlichesGebiß dar, da auch die Zähne durch eineUmwandlung ihrer Struktur zu Gebilden ge-macht werden konnten, die härter als Terko-nitstahl waren. Sie konnten mühelos selbst

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Felsen zu Staub zermahlen. Doch nicht nurdie Zähne konnte der Haluter umwandeln,sondern die gesamte molekulare Strukturseines Körpers.

Wenn das geschah, wurde aus einem We-sen aus Fleisch und Blut ein Geschöpf, dasin seiner Härte und seiner Widerstandskrafteinem Block aus Terkonitstahl entsprach. Indieser Form konnte ein Haluter, die nötigeBeschleunigung vorausgesetzt, ein Raum-schiff wie ein Geschoß durchschlagen und inTrümmer legen, ohne sich selbst dabei zuverletzen.

»Wir durchfliegen das Zentrum«, sagteIcho Tolot, »und nehmen die Komplikatio-nen in Kauf. Der zeitliche Mehraufwand fürden Umweg ist zu groß.«

Er besprach den Kurs und die vorauszuse-henden Komplikationen mit dem Shuuken,um sich dann aus der Zentrale zurückzuzie-hen.

*

Der Haluter war müde und zugleich beun-ruhigt.

Müdigkeit existierte normalerweise nichtfür ihn. Aufgrund seiner besonderen Fähig-keiten konnte er sich jederzeit Energien zu-führen. Er konnte buchstäblich Sand fressen,um daraus alles zu gewinnen, was sein Kör-per benötigte, und er konnte die Giftstoffe,die sich zwangsläufig durch den Energiever-brauch in ihm ansammelten, ohne großenAufwand wieder loswerden, indem er ihreatomare Struktur umwandelte und sie in ver-trägliches Material umformte. Damit deckteer wiederum seinen Energiebedarf.

Doch nun war er doch müde, und alleVersuche, die Müdigkeit zu vertreiben, wa-ren gescheitert. Er brauchte Ruhe, um dienötige Entspannung finden zu können.

Den anderen hatte Tolot nichts davon ge-sagt, und sie hatten nicht danach gefragt. Erhatte sich mehrfach zurückgezogen, und siehatten ihn nicht gestört.

Die Beeinträchtigung war eingetreten,nachdem er unter glühendem Howalgonium

begraben gewesen war. Dabei war der Chipbeschädigt worden, den man ihm einge-pflanzt hatte. Es schien aber noch mehr ver-ändert worden zu sein. Nach allem, was IchoTolot bisher herausgefunden hatte, war seinImmunsystem schwer geschädigt worden.Es erholte sich, und seine Werte wurden vonTag zu Tag besser, aber das System warnoch lange nicht wieder im Gleichgewicht.

Als er sich in seiner Kabine auf den Bo-den legte, ging die INGORUE in die Phasesuperluminarer Geschwindigkeit über, under war froh darüber. Ihm war, als vernehmeer einen Lockruf aus den Tiefen des Alls,dem er nur zu gerne folgte, und er fragtesich, ob er sich für den direkten Flug durchdas Zentrum der Galaxis entschieden hatte,um früher dort zu sein, woher der Lockrufkam.

Er löste sich von diesen Gedanken, kon-zentrierte sich auf sich selbst und begann da-mit, an seinem Immunsystem zu arbeiten,um die eingetretenen Schäden auszuglei-chen. Seine Umgebung versank für ihn, under nahm nichts mehr wahr als sich selbst.

Irgendwann streifte ihn ein Hyperstörfeld,und er schreckte auf.

Die INGORUE schien zu schwanken undsich in sich selbst zu verdrehen, und die Pro-portionen des Raumes verschoben sich.Schwere Stöße erschütterten das Raum-schiff, als ob es mit Unebenheiten zu kämp-fen hätte.

Icho Tolot erhob sich, breitete die Armelangsam aus und kämpfte gegen das Gefühlan, daß in seinem Innersten etwas zerrissenwurde. Zugleich erkannte er, daß es ein Feh-ler gewesen war, den Kurs durch das Zen-trum der Galaxis zu wählen. Nicht nur dieINGORUE hatte unter den Hyperstörfeldernzu leiden, sondern vor allem er und sein oh-nehin schon sehr angeschlagenes Immunsy-stem.

Doch es war zu spät, noch irgend etwaszu ändern. Er mußte die Belastungen aufsich nehmen und mit ihnen fertig werden.Und es war schwer, sich dem Lockruf zu wi-dersetzen. Da schien irgendwo eine körper-

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lose Stimme zu sein, die ausschließlich ihnansprach und in seinen Bann zog.

Wer war es, der sich an ihn wandte? Werlockte ihn?

Langsam sank er zu Boden, stöhnendpreßte er seine vier Arme an seinen mächti-gen Körper. Ein dumpfes, qualvolles Stöh-nen kam über seine Lippen, und er versuch-te, sich nicht in Selbstvorwürfen ergehen zulassen. Niemand hatte voraussehen können,daß die Störfelder eine derartige Wirkungauf ihn hatten.

Plötzlich schoß ihm ein Gedanke durchden Kopf. Vielleicht hatte Jii'Nevever damitzu tun! Möglicherweise passierte die IN-GORUE große Mengen Tronium-Azints, diesich irgendwo in Zentrumsnähe anhäuften,und die Träumerin nutzte das Mineral, ummit seiner Hilfe Einfluß auf ihn auszuübenund ihn zu schwächen.

Erneut schien es, als würde das Raum-schiff von im Raum treibenden Gegenstän-den getroffen und erschüttert, doch dannwurde es so ruhig wie gewohnt, und nurnoch das ferne Flüstern des Raumantriebswar zu hören.

Icho Tolot atmete auf. Sie hatten die Hy-per-störfelder passiert. Waren aber schon diegrößten Schwierigkeiten überwunden, odermußten sie mit weiteren Feldern rechnen,die womöglich eine noch weitergehendeWirkung auf ihn hatten?

Der Haluter schüttelte sich, und er hattedas Gefühl, daß es ihm gut tat. Dann richteteer sich auf, reckte sich und spannte die Mus-keln für einen kurzen Moment, um danachin die Hauptleitzentrale zu gehen.

Nur Julian Tifflor und Ramman Ornekohielten sich darin auf.

»Wie weit sind wir?« fragte der Haluter.»Wir haben das Zentrum von Puydor weit

hinter uns gelassen«, antwortete der Terra-ner, der an einem der Monitoren saß undsich mit den Daten des Planeten Ketchorrbefaßte. »Ramman Orneko rechnet nicht mitweiteren Störungen. Warum fragst du?«

Tifflor und der Haluter kannten sichschon seit Jahrtausenden. Daher war es nicht

verwunderlich, daß Icho Tolot ihm das ver-trauliche »Du« gestattete, während er imVerkehr mit anderen sonst grundsätzlich aufdem formellen »Sie« bestand. Allerdingsging er still darüber hinweg, wenn ein ande-rer aus einem fremden Volk bei ihrer erstenBegegnung die falsche Anrede wählte.

»Nur so«, antwortete Icho Tolot auswei-chend. »Wie lange noch?«

»Wir erreichen das Artirur-System inzwei Stunden«, antwortete der Shuuke miteinem gewissen Stolz in der Stimme. Erschien ein Lob dafür zu erwarten, daß er dieINGORUE sicher durch die Galaxis Puydorgesteuert hatte.

Icho Tolot blickte auf sein Chronometerund staunte. Es zeigte den 25. März 1290NGZ an. Zwei Tage waren bereits seit ihremStart auf Zovork vergangen. Ihm war nichtbewußt gewesen, daß er eine derart langeZeit meditierend in seiner Kabine verbrachthatte.

Er blieb während der beiden Stunden inder Zentrale und ließ sich über Ketchorr in-formieren. Sonderlich viel war es nicht, wasdie Positronik wußte. Die Einheimischenführten wohl ein sehr bescheidenes Leben,ohne Ambitionen, sich weiterzuentwickeln.

Bemerkenswert war der Hinweis desComputers, daß die Wasservorräte des Pla-neten nahezu erschöpft waren und daß Resteaus großen Tiefen an die Oberfläche zu eini-gen Oasen gepumpt werden mußten. ImGrunde genommen war es erstaunlich, daßdie Bewohner der Welt ihren sterbendenPlaneten nicht längst verlassen hatten, dennaus eigener Kraft und ohne die wirtschaftli-che Unterstützung einiger Ginkoos hättendie Planetarier nicht darauf existieren kön-nen.

»Wie viele Nevever gibt es noch?« fragteIcho Tolot.

Der Haluter vernahm den Lockruf lauterund deutlicher als zuvor. Für ihn gab esmittlerweile nicht mehr den geringstenZweifel, daß er von Ketchorr kam. Es warschier unglaublich. Über Tausende vonLichtjahren hinweg hatte ihn irgend jemand

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geortet und danach mit dem Lockruf so starkbeeinflußt, daß er ihm gefolgt war.

»Etwa 2,4 Millionen«, antwortete Ram-man Orneko. »Erstaunlich viele, wenn manbedenkt, daß Ketchorr ein Wüstenplanet ist,auf dem das Leben alles andere als leichtist.«

Wenige Minuten später tauchte die IN-GORUE in das Artirur-System und verzö-gerte stark. Dennoch wuchs der rot schim-mernde Planet schnell auf den Monitoren an.

Ramman Orneko teilte mit, daß die Or-tungsgeräte kein einziges Raumschiff erfaß-ten. Zudem gab es keinerlei Satelliten odergar Orbitalstationen im Sonnensystem. Kei-ner der sieben Planeten und fünfzehn Mondewurde von einer technischen Einrichtung be-gleitet.

»Nur selten verirren sich einmal Händlermit ihren Raumschiffen hierher«, informier-te der Shuuke seine Begleiter. »Zumindestsagt das die Positronik. Wir brauchen alsonicht damit zu rechnen, daß wir von irgendjemandem gestört werden. Es gibt keineRaumhäfen und keine großen Städte, auf diedas Leben konzentriert ist.«

Aus dem All bot Ketchorr den Anblick ei-nes trostlosen roten Wüstenplaneten, der oh-ne Leben zu sein schien. Erst als Tifflor dieVergrößerungsmöglichkeiten der Optikennutzte, waren einige Inseln grüner Vegetati-on in den Wüsten zu erkennen.

»Wo landen wir?« fragte Ramman Orne-ko.

»Wir versuchen, Funkkontakt aufzuneh-men«, entgegnete Tiff, der sich längst Ge-danken über diese Frage gemacht hatte.»Irgend jemand wird schon reagieren. Da-nach sehen wir weiter.«

Ramman Orneko sendete Funkimpulseaus, doch niemand meldete sich. Es schien,als sei der Planet verlassen worden.

4.

Die Mutter geriet in einen Zustand derEuphorie, der ihren ganzen Plan gefährdete.Sie hatte Erfolg. Ihr Lockruf hatte jenes We-

sen bis in ihre unmittelbare Nähe geführt,auf das es ankam. Es befand sich bereits anBord eines Raumschiffs, das den Orbit er-reicht hatte.

Nun war nur noch ein kleiner Schritt zutun.

Der Ausgewählte mußte landen, damit siesich seiner annehmen konnte. Krachend de-tonierte irgendwo in ihrer Nähe eine derletzten noch funktionierenden Maschinen,und Trümmerstücke flogen ihr um denKopf. Sie wich erschrocken aus.

Der Vorfall reichte aus, ihre Euphorie zubeenden und nüchternem Kalkül Platz zumachen.

Sie durfte sich nicht ablenken lassen, son-dern mußte sich voll auf die letzte und wich-tigste Aufgabe ihres Lebens konzentrieren.Als erstes galt es, sich Energie zuzuführenund die Kräfte zu mobilisieren, die noch inihr wohnten.

Schritt für Schritt bereitete sie sich auf dieBegegnung mit ihrem Hoffnungsträger vor.Dabei verschwendete sie keinen einzigenGedanken daran, daß sie für zwei von ihnenden sicheren Tod bedeutete.

Neues Leben würde aus den beiden Eizel-len erwachsen. Nur das zählte. Sie und derTräger des neuen Lebens würden nicht über-leben. Das war physikalisch und biologischunmöglich.

*

»Wir haben eine Antwort!« rief RammanOrneko verblüfft, nachdem er mehr als eineStunde lang Funkrufe nach Ketchorr ausge-strahlt hatte. »Es ist nicht zu glauben, aberes hat sich tatsächlich jemand gemeldet.«

Julian Tifflor kehrte in die Zentrale zu-rück, nachdem er sie kurzzeitig verlassenhatte. Nur der Shuuke hielt sich in ihr auf,während Icho Tolot und Gucky in ihren Ka-binen ruhten und die Rawwen sowie die bei-den Arrorer mit unaufschiebbaren Arbeitenam superluminaren Antrieb beschäftigt wa-ren.

»Ein Bewohner des Planeten?« fragte der

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Zellaktivatorträger.»Nein, ein Händler namens Hotch-Kotta

aus dem Volk der Koraws. Er ist mit seinemRaumschiff MAJJETT in der Hoffnung aufgute Geschäfte nach Ketchorr gekommen«,antwortete Ramman Orneko.

»Gute Geschäfte?« Tiff lächelte. »DerBursche muß ein Anfänger oder mit Blind-heit geschlagen sein.«

Gucky materialisierte direkt neben ihm.»Oder er handelt mit Sand«, sagte er.

»Den kann er hier natürlich spottbillig ein-kaufen. Die Frage ist nur, ob er ihn irgend-wo in Puydor wieder los wird. Wahrschein-lich nicht.«

Der Shuuke rief Informationen vom Com-puter ab. Mit Hilfe der Positronik ließ er ei-ne Holographie eines Koraws entstehen, umdeutlich zu machen, um welche Geschöpfees sich handelte. Das Bild eines Echsenwe-sens baute sich auf, das den Rawwen täu-schend ähnlich war und wie eine verkleiner-te Ausgabe der Echsenwesen aussah. Ko-raws, teilte der Computer mit, waren zierli-cher und deutlicher kleiner als Rawwen, undsie waren keine Weltraumnomaden.

»Wir landen in seiner Nähe«, entschiedTiff. »Hast du die MAJJETT schon geor-tet?«

»Alles erledigt«, erklärte der Shuuke nichtohne Stolz.

Auf ein Zeichen des Terraners leitete erdie Landung ein. Parallel dazu beschrieb diePositronik auf einem der Monitoren dasZielgebiet. Es lag knapp nördlich des Äqua-tors auf einer an zwei Seiten von hohen Ber-gen umgebenen Ebene. Das Raumschiff desKoraws stand nur wenige hundert Meter voneiner steil abfallenden Kante entfernt, dieden Rand einer gewaltigen Senke bildete.

Für das geübte Auge Tifflors, der schonunzählige andere Planeten gesehen hatte,war eindeutig, daß sich in dieser Senke einstein Ozean befunden hatte. Nun aber gab esnichts als Staub, Sand und Steine darin.

In der Nähe der gelandeten MAJJETT bil-deten Bäume und Büsche einen grünen Gür-tel um einen kleinen See. Auf den ersten

Blick war überraschend, daß sich ein solchesGewässer mitten in der Wüste befand, dieOrtungsgeräte machten jedoch schnell deut-lich, worin der Grund lag. Pumpen beförder-ten das Wasser aus den Tiefen des Planetenan die Oberfläche, wo eine kleine Insel desLebens entstanden war. Hunderte von einfa-chen, überwiegend runden Bauten umgabenSee und Grüngürtel. Eine der wenigen Sied-lungen dieses Planeten. Sie kam als Ziel inFrage, weil in ihrer Nähe das Raumschiffdes Koraws gelandet war.

Das Raumschiff Hotch-Kottas glich ei-nem mit Blasen bedeckten Seestern, unterdessen sieben Armen kugelförmige Contai-ner saßen und zugleich die Landebeine bil-deten. Der Raumer hatte einen Durchmesservon etwa siebzig Metern und war annäherndvierzig Meter hoch, bot also beträchtlichenRaum für Handelsgüter.

Während der Landung durchgeführteAnalysen ergaben, daß die Transportbehälterprall mit Waren gefüllt waren. Verkauft hat-te der Händler offenbar noch gar nichts.

Heftig mit beiden Armen winkend, kamHotch-Kotta aus seiner MAJJETT, nachdemdie INGORUE gelandet und der dabei auf-gewirbelte Staub vom Wind weggetragenworden war.

»Er ist unbewaffnet«, berichtete derMausbiber, der ihn telepathisch sondierte.»Und er hat nichts anderes im Kopf als Ge-schäfte. Er hofft, daß er uns einige seinerHigh-Tech-Geräte andrehen kann, die äußer-lich beeindruckend sind, aufgrund ihres Inte-rieurs aber kaum mehr als Schrottwert ha-ben. Den Einheimischen will er hauptsäch-lich Nahrungsmittel verkaufen.«

Julian Tifflor öffnete die Außenschotteund verließ den Raumer, um den Koraw zubegrüßen.

Hotch-Kotta war nur etwa 1,20 Metergroß, und er erwies sich als außerordentlichschwatzhaft. Er schien der Ansicht zu sein,daß er pausenlos reden mußte, um Tifflorzum Kauf seiner Waren anzuregen.

Doch der Terraner hörte kaum zu. Er warnicht an dem Koraw interessiert, sondern an

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den Bewohnern dieses Planeten. Er blicktezur Oase hinüber, und er sah, daß einige ih-rer Bewohner unter den Bäumen standenund die Szene beobachteten. Das mußten dieNevever sein. Neugierig schienen diese We-sen jedoch nicht zu sein, denn eigentlich hät-ten Hunderte von ihnen aus den Häusern ei-len müssen, um das zweite Raumschiff inAugenschein zu nehmen, das in ihrer unmit-telbaren Nähe gelandet war. Mußte nicht al-lein schon die Ankunft eines Raumschiffeseine Sensation sein?

»Was ist mit den Nevevern los?« fragteTifflor.

»Respekt!« Hotch-Kotta blickte ihn vonunten her mit einem Ausdruck an, den Tif-flor als Irritation interpretierte. »Du kennstden Namen der Planetarier? Das ist selten inPuydor.«

»Ich bin eben herumgekommen«, wichder Terraner mit einer lahmen Ausrede aus.

»Und du weißt trotzdem nicht, was mit ih-nen los ist?« Hotch-Kotta beugte sich ge-schäftig vor und rieb sich die Hände, alsfreue er sich auf ein lohnendes Geschäft.»Wenn du willst, erzähle ich es dir. Du wirstalles erfahren, was mit ihnen zu tun hat. Na-türlich hat eine solch umfassende Informati-on ihren Preis.«

»Laß nur«, wehrte der Terraner ab. »Wirbleiben ohnehin einige Tage hier, und in derZeit erfahren wir alles, was wir wissen wol-len - ohne dafür zu zahlen.«

Hotch-Kotta wiegte seinen weit vorsprin-genden Echsenkopf, als sei er in schwanken-de See geraten.

»Das kostet Zeit und ist mühsam«, be-hauptete er. »Warum willst du so einen Auf-wand betreiben, wenn es auch viel einfachergeht?«

Tifflor hatte ihm gar nichts zahlen kön-nen, denn er hatte kein Geld oder irgend et-was anderes, was als Gegenwert dienenkonnte.

»Lassen wir das«, sagte er. »Ich bin nichtinteressiert.«

»Die Nevever sind verspielt. Sie habennur Unsinn im Kopf und arbeiten noch nicht

einmal für ihren Lebensunterhalt, so, wie esnötig wäre.«

»Was weißt du von ihrer Geschichte, vonihrer Vergangenheit?«

Nachdem er erkennen mußte, daß er keinGeschäft mit dem Verkauf von Informatio-nen machen konnte, gab der Koraw auch sopreis, was er wußte.

»Überhaupt nichts«, gestand er. »Ich habemit vielen Nevevern gesprochen, weil ichhoffte, in dieser Hinsicht etwas zu erfahren,aber sie haben ihre eigene Geschichte längstvergessen.«

»Was ist mit der ErschaffungJii'Nevevers?«

Hotch-Kotta breitete hilflos die Arme aus.»Davon habe ich nie gehört. Wer oder wassoll das sein? Spielt dieses Ding irgendeinewichtige Rolle? Hat es mit Ashgavanogh zutun?«

»Womit?« Jetzt war Tifflor verwirrt.»Ashgavanogh! «

»Was ist das?« hakte der Terraner nach.Hotch-Kotta breitete die Arme aus, zog

sie dann rasch wieder an sich und legte sieüber Kreuz um seinen Oberkörper, eine Ge-ste, die wohl Hilflosigkeit ausdrücken sollte.

»Ich dachte, du könntest es mir erklären«,behauptete er. »Ich habe nur immer wiedervon diesem Begriff gehört, aber ich weißnicht, was er bedeutet.«

Gucky überprüfte ihn telepathisch undstellte fest, daß er die Wahrheit sagte. Erblickte Tifflor an und blinzelte auf eine Artund Weise, die von den beiden Freundenschon vor über zweitausend Jahren verein-bart worden war. Es stimmt wohl, bedeutetedas, ich kann keine Lüge feststellen.

Der Terraner war enttäuscht. Es schien,als hätten sie sich den Weg nach Ketchorrsparen können, da es hier offenbar nichtsgab, was von irgendeiner Bedeutung war.Abgesehen vielleicht von diesem Ashgava-nogh, das - oder der? - möglicherweisewichtig war.

Nachdenklich blickte er in die Wüste hin-aus. In der Hitze flimmerte die Luft überdem Sand.

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»Wer ist das?« rief der Koraw plötzlichund griff haltsuchend nach seinem Arm.

Er zeigte auf Icho Tolot, der aus der IN-GORUE hervorgekommen war, sich nun aufdie Laufarme herabfallen ließ und in dieWüste hinausraste. Der Haluter beschleunig-te seinen Lauf innerhalb von wenigen Se-kunden bis auf etwa 120 Stundenkilometerund griff dabei so energisch in den Boden,daß Sand und Geröll hinter ihm in hohemBogen wegflogen.

Gucky verschwand kurz und materiali-sierte dann neben Tifflor. Damit versetzte erden Koraw mit seinem überraschenden Er-scheinen einen weiteren Schock.

»Ich weiß nicht, was mit ihm los ist«, be-richtete er unruhig. »Bisher habe ich keiner-lei Anzeichen für eine Drangwäsche bei ihmbemerkt, die letzte ist gerade mal ein Jahrher. Aber jetzt scheint er sich austoben zuwollen.«

Icho Tolot erreichte die Abbruchkanteund schoß mit unverminderter Geschwindig-keit darüber hinaus.

Erschrocken rannte Tifflor los, doch erkam nur einige Meter weit. Dann packte derMausbiber nach seinem Arm und telepor-tierte mit ihm zusammen bis an die Kante.Von ihrem neuen Standpunkt aus blicktensie auf das ausgetrocknete Meer hinaus. DerBoden fiel nicht senkrecht ab, sondern in ei-nem Winkel von etwa 70 Grad und verflach-te danach auf einer Länge von einigen hun-dert Metern, um sich danach erneut abzusen-ken und nach einigen Kilometern in eine tiefliegende, von riesigen Dünen geprägte Ebe-ne überzugehen.

Icho Tolot war über die Kante hinausge-schossen und in die Tiefe gestürzt. Etwahundertfünfzig Meter unterhalb war er aufrelativ weichen Boden geprallt, hatte eineLawine aus Sand und Geröll ausgelöst undwar mit ihr weiter nach unten gerutscht. Nunhatte er die Verflachung erreicht und jagteoffensichtlich unverletzt weiter in das ehe-malige Meer hinaus, um bald darauf hinterder nächsten Kante zu verschwinden und inder Dünenlandschaft wieder aufzutauchen.

»Kannst du dir das erklären?« fragte Tiffden Mausbiber.

»Nein«, erwiderte Gucky. »Ich kann na-türlich seine Gedanken nicht erfassen. Wieauch? Aber ich kann auch nichts an ihmfeststellen, was seine Stimmung wiederge-ben könnte - zumindest das müßte dochfunktionieren. Ich habe keine Ahnung, wasin ihn gefahren ist. Soll ich ihm folgen?«

»Wir lassen ihn vorläufig in Ruhe«, ent-schied der Terraner. »Haluter müssen sichhin und wieder austoben, und es ist besser,ihnen dann nicht in die Quere zu kommen.Wahrscheinlich durchlebt Icho gerade denNachschlag zu seiner letzten Drangwäsche.«

Alle Haluter wurden von Zeit zu Zeit vondem Drang gepackt, Abenteuer zu erlebenund aufgestaute Energien abzubauen. Alleinoder mit anderen zusammen verließen siedann ihren Planeten, um sich irgendwo aus-zutoben. Dabei pflegten die Haluter sich ab-sichtlich in gefährliche Situationen zu bege-ben, an Kämpfen teilzunehmen und sichsonstigen Unwägbarkeiten auszusetzen, dieihnen alle Kraft und Konzentration abver-langten.

Da sie den Freund nicht mehr sehen konn-ten, kehrten sie per Teleportation zu demKoraw zurück, der sichtlich verstört nebenseinem Raumschiff wartete und sich dabeiauffallend nah an der Schleuse aufhielt. Erhoffte wohl, sich im Falle einer Gefahrdurch einen raschen Sprung in die MA-JJETT retten zu können.

Was in den letzten Minuten geschehenwar, verunsicherte ihn garantiert im höch-sten Maße. Nun versuchte sich der Händlermit dem Gedanken zu trösten, alles könnenur eine Art Fata Morgana, eine optischeTäuschung, gewesen sein.

*

Es war tatsächlich keine Drangwäsche!Icho Tolot erlag einem anderen Phäno-

men. Der Haluter sah sich Lockrufen ausge-setzt, die nun so stark geworden waren, daßes ihn buchstäblich in die Wüste und in das

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ausgetrocknete Meer hinausriß.Als er über die Kante rannte und in die

Tiefe stürzte, blieb er ruhig, weil er wußte,daß ihm nichts passieren konnte. Bruchteilevon Sekunden vor dem Aufschlag wandelteer die molekulare Struktur seines Körpersum und wurde zu einem Gebilde, das härterund widerstandsfähiger war als Terkonit-stahl. Er wurde buchstäblich unverletzbar.

Der schwarzhäutige Gigant prallte auf,wurde hochgeschleudert und rollte den Ab-hang hinunter. Als er kurz darauf eine Stufeerreichte und bei ihr abgebremst wurde, ver-wandelte er sich zurück. Er schnellte sichvoran und stürmte auf seinen Laufarmenweiter. Staub und Sand wirbelten hinter ihmzu einer Wolke auf, die vom Wind langsamhinweggetragen wurde.

Icho Tolot war sich dessen bewußt, daß ereinem Lockruf folgte, aber er wehrte sichnicht dagegen. Er war nicht nur ein nahezuunüberwindlicher Kämpfer, sondern auchein Wissenschaftler von hohen Graden undals solcher mit einer gehörigen Portion Neu-gier ausgestattet. Er wollte wissen, wer ihnunbedingt bei sich haben wollte.

Icho Tolot war entschlossen, es herauszu-finden und Ketchorr nicht eher zu verlassen,bis er es wußte.

Die Impulse wurden stärker. Nun lief erallmählich langsamer, um sich schließlichauf seine Beine aufzurichten. Auf einem Ko-rallenstock blieb er stehen und blickte aufdas Dünengebiet hinaus, das sich bis zumHorizont hinzog. Er spürte, daß die Ent-scheidung nahte.

Ein leichter Wind strich durch die Wüsteund wirbelte auf den Kämmen der Dünenden Sand auf. Ein Schwarm gelber Vögelstieg aus einer Senke auf und flatterte davon.Danach wurde es still, der Wind schlief ein.Minutenlang war kein einziges Geräusch zuhören.

Icho Tolot rührte sich nicht. Er beobach-tete seine Umgebung, und plötzlich fiel ihmeine Veränderung auf.

Sand rieselte an der Seite einer mächtigenDüne herab, die sich unmittelbar vor ihm be-

fand. Zunächst war es nur ein dünnes Rinn-sal, kaum mehr als eine Handvoll Staub, dieaus der Höhe herabrann. Doch dann wurdees immer mehr, bis der Sand auf breiterFront nach unten rutschte.

Noch aber war nicht zu erkennen, was ge-nau den Sand bewegte.

Icho Tolot drehte sich leicht zur Seite undentdeckte eine ähnliche Erscheinung bei ei-ner anderen, weiter entfernten Düne. Zu-gleich nahm er ein dumpfes Grollen wahr,das ir-gendwo aus der Tiefe kam. Es warnicht laut, übertönte noch nicht einmal sei-nen Herz-schlag, doch entwickelte es sichauf einer Frequenz, die etwas in seinem Kör-per anklingen ließ, so daß es körperlichspürbar wurde.

Auf unangenehme Weise allerdings. Unddas sollte bei einem Haluter schon etwasheißen …

Er hätte sich ihm gern entzogen, konnte esjedoch nicht.

Der Sand bewegte sich schneller. Staubwirbelte auf. Das Grollen wuchs an zu ei-nem aufdringlichen Gebrüll. Zugleich schie-nen uralte Stahlgelenke kreischend dagegenzu protestieren, daß sie bewegt wurden.

Der Haluter wich Schritt für Schritt zu-rück, um nicht unter dem herabgleitendenSand begraben zu werden, der nun immerschneller herabkam. Schließlich wandte ersich um und flüchtete auf eine Anhöhe hin-auf, die beinahe so hoch war wie die Dünen.

Von dieser scheinbar sicheren Positionaus beobachtete er, daß etwas aus dem Sandder Dünen aufstieg, ein gewaltiges Gebilde.Im Mittelpunkt einer Fläche, die einenDurchmesser von annähernd 600 Meternhatte, hob es sich am schnellsten hoch. Sie-ben Spitzen erschienen, hoben sich höherund höher und bewegten sich dabei vonein-ander weg.

Eine offenbar riesige Anlage, die unterdem Sand verborgen war, öffnete sich. Sie-ben Metallzungen, die zusammen einenKreis gebildet hatten, stemmten sich von ei-nem Zentrum her nach oben und schleuder-ten dabei alles zur Seite, was auf ihnen gela-

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stet hatte. Das Bild wurde nun von Minutezu Minute deutlicher, bis die dreieckigenGebilde senkrecht standen, dabei etwa drei-hundert Meter in die Höhe ragten und einekreisförmige Krone mit einem Durchmesservon etwa 600 Metern bildeten.

Auf einer Plattform schwebte eine ein-drucksvolle Gestalt aus der Öffnung und nä-herte sich dem Haluter. Gleichzeitig versieg-ten die Lockrufe.

Icho Tolot stand wie gebannt auf der An-höhe und regte sich nicht.

Das Wesen war von humanoider Gestaltund etwa einen halben Meter kleiner als er.Es hatte zwei muskulöse Arme und zweisäulenartige Beine. Auf den Schultern, dieetwa zwei Meter breit waren, saß der Kopfeines Raubvogels mit einem ebenso breitenwie hohen und weit vorspringenden Schna-bel, dessen obere Hälfte einen bedrohlichaussehenden Haken bildete. Graue Federnbedeckten den Kopf und reichten bis auf dieSchultern herab. Über den tief liegendenAugen bildeten weiße Federn zwei Bögen.

Bekleidet war die seltsame Gestalt mit ei-ner Art Schärpe, die sie sich um die Schul-tern gelegt hatte und die nur wenig von sei-ner bläulichschwarzen Haut bedeckte.

Etwa fünfzig Meter von dem Haluter ent-fernt landete das Wesen mit seiner Platt-form, stieg herab und kam heran, wobei esseine Blicke starr auf ihn richtete.

Icho Tolot spannte seinen Körper an. Erspürte, daß ihm Gefahr drohte. Dieses seltsa-me Vogelwesen hatte Charisma und war voneiner Aura umgeben, wie man sie nur beiwenigen fand.

Keine fünf Schritte von ihm entfernt bliebdas Wesen stehen und stieß einen krächzen-den, eigenartig vibrierenden Laut aus, wieIcho Tolot ihn niemals zuvor vernommenhatte.

Der Haluter hob eine Hand und zeigtedem anderen die offene Handfläche, eineGeste, die fast überall im Universum alsAusdruck der Friedfertigkeit verstandenwurde. Doch dabei spürte er, daß der anderenicht in friedlicher Absicht gekommen war.

»Ich muß dich fragen, warum du mich ge-rufen hast«, begann Icho Tolot das Gesprächin Kunios, der Umgangssprache der GalaxisPuydor. »Ich habe deine Lockrufe vernom-men und bin ihnen gefolgt. Was willst duvon mir?«

»Ich bin die Mutter«, antwortete das an-dere Wesen, wobei es ebenfalls Kunios be-nutzte, als sei damit alles gesagt. »Und dasbedeutet?« fragte Tolot.

Die Mutter griff an. Sie stürzte sich miteinem wilden Schrei auf ihn, umklammerteihn mit ihren Armen und versuchte, ihn mitdem Schnabel zu verletzen. Der Haluterwehrte sich. Er war kampferprobt und ge-schickt und hatte sich mehr als einmal in sei-nem langen Leben behaupten müssen. Dochschon bei der ersten Aktion merkte er, daßer es dieses Mal mit einem Gegner zu tunhatte, den er gar nicht ernst genug nehmendurfte.

Mit einem Arm gelang es ihm, den Schna-bel zur Seite zu drücken und die scharf ge-bogene, messerscharfe Spitze abzuwenden.Doch dann spürte er den Druck, den dieMutter mit ihren Armen auf ihn ausübte. Erstemmte sich ihm wütend und wild entge-gen, während er gleichzeitig einige Schrittenach vorn taumelte und den Angreifer abzu-schütteln versuchte.

Der Druck der Arme wurde stärker. Plötz-lich erkannte er, daß er ihm zuwenig entge-genzusetzen hatte.

Der Haluter reagierte in einer Weise, diein einer vergleichbaren Situation jeden Geg-ner verblüfft und damit buchstäblich ent-waffnet hatte.

Er wandelte seine Molekularstruktur umund wurde somit im Bruchteil einer Sekundevon einem Wesen aus Fleisch und Blut zueinem Block, der hart und widerstandsfähigwie Terkonitstahl war. Noch nie war IchoTolot einem Gegner begegnet, der in der La-ge war, diesen Block zu brechen und denAngriff aufrechtzuerhalten.

Dieses Mal war es aber völlig anders. DieMutter stieß einen schrillen Schrei aus undließ von ihm ab. Sie ging in geduckter Hal-

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tung einmal um ihn herum. Dann sprang sieihn von vorn an und umklammerte ihn mitArmen und Beinen. Die Wucht ihres An-griffs war so groß, daß sie beide zu Bodenstürzten.

Icho Tolot verharrte in seinem Zustand.Die Mutter legte ihre Arme um seine

Handlungsarme, das obere Armpaar, undspannte ihre Muskeln an.

Icho Tolot, der in diesem Zustand bei vol-lem Bewußtsein war und sehr gut wahrneh-men konnte, was um ihn herum geschah,spürte den Druck, den sie auf seine Armeausübte.

Der Haluter hätte laut lachen mögen! Wiekonnte die Mutter annehmen, daß sie ihn da-mit beeindrucken konnte? Keine Macht derWelt konnte einem Haluter die Arme zusam-mendrücken, wenn er sich in dieser Weiseverwandelt hatte!

Davon war er überzeugt, weshalb er sichpassiv verhielt. Gelassen wartete er darauf,daß sie ihre Kräfte an ihm vergeudete undschließlich aufgab. Etwas anderes konnte sienicht tun.

Da fühlte er, daß der Druck anstieg. DieLast, die auf seine Arme, einwirkte, wuchsin unvorstellbarem Maße.

Icho Tolot verspürte blankes Entsetzen.Es erschien ihm physikalisch unmöglich,

daß ein lebendes Wesen solche Kräfte ent-wickeln und ihn in Verlegenheit bringenkönnte. Doch an den Tatsachen kam er nichtvorbei.

Die Mutter stemmte sich in Höhe derHandgelenke gegen seine Arme, nutzte da-bei den Winkel seiner Arme, um die höchst-mögliche Hebelkraft einwirken zu lassen,und versuchte, sie nach innen hin zusam-menzudrücken.

Der Haluter konnte erstaunlicherweisenichts tun. Er konnte lediglich in dem umge-wandelten Zustand verharren und hoffen,daß ihre Kräfte nachließen. Wehren konnteer sich nicht, da er sich in diesem Zustandnur minimal bewegen konnte.

Die nach wie vor funktionierenden Ner-ven seiner Schultern signalisierten ihm, daß

sein Widerstand nachließ.Der schwarzhäutige Riese hätte schreien

mögen.Es sah tatsächlich so aus, als ob die Mut-

ter ihm die Arme aus den Schultern brechenwürde!

Zunächst sträubte er sich gegen die Er-kenntnis, daß sie wesentlich stärker war, alser angenommen hatte. Dann kam Verzweif-lung in ihm auf. Er mußte irgend etwas un-ternehmen, um zu verhindern, daß sie ihmbuchstäblich die Arme aus den Schultern he-belte und er die Gliedmaßen dabei verlor.

Nicht ihre Kräfte erschöpften sich, son-dern seine!

Als er erkannte, daß die Mutter mit abso-luter Sicherheit siegen würde, gab der Halu-ter nach. Ihm blieb nichts anderes übrig,wenn er nicht verstümmelt werden wollte.Zum erstenmal in seinem nach Jahrtau-sen-den währenden Leben erlitt er eine derartigeNiederlage.

Blitzschnell wandelte er seine Molekular-struktur wieder um und wurde zu einem We-sen aus Fleisch um Blut. Zugleich wurde erzu einem Geschöpf, das nicht annähernd inder Lage war, den gewaltigen Kräften zu wi-derstehen, die die Mutter gegen ihn mobili-sierte.

Mit einem Schrei der Verzweiflung ent-spannte er sich. Gleichzeitig versuchte er,sich fallen zu lassen, um der ermüdendenKlammer der Arme zu entkommen.

Im gleichen Moment traf ihn ein wuchti-ger Schnabelhieb an der Brust, und die Zun-ge der Mutter senkte sich in sein Fleisch.Sofort zog sich die Mutter zurück. Dannrichtete sich das Wesen mit dem Kopf einesRaubvogels auf. Es entfernte sich einigeSchritte von Icho Tolot und hob den Kopfzum blaßblauen Himmel.

Regungslos verharrte es einige Sekundenauf der Stelle. Dann stieß es einen gellendenSchrei aus, der hinaufzusteigen schien biszum Himmel, an dem der schwache Glanzder beiden Monde zu sehen war.

Icho Tolot preßte die Hände auf die Brust.Er ließ die Mutter nicht aus den Augen.

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Der Haluter konnte beim besten Willennicht fassen, daß sie ihn besiegt hatte.

Die Mutter wandte sich wieder ihm zu,hob beide Hände und zeigte ihm die offenenHandflächen. Dann sank sie langsam in dieKnie.

Das Wesen mit dem Vogelkopf legte dieHände an die Brust, beugte das Genick,kippte langsam zur Seite, streckte sich ausund blickte ihn ein letztes Mal an. Es schienihm tatsächlich, als wollte sie etwas zu ihmsagen.

Ihre Augen brachen. Das Wesen hörte aufzu atmen.

Icho Tolot richtete sich langsam auf; derschwarze Riese fühlte sich, als sei er ge-lähmt. Er blickte auf seine Hände. Verwun-dert stellte er fest, daß er nicht blutete. Alser jedoch die Wunde auf seiner Brust unter-suchte, sah er, daß die Mutter sie mit einemSekret aus ihrem Schnabel versiegelt hatte.

In diesem Augenblick begriff der Haluter:Das Wesen mit dem Vogelkopf hatte irgendetwas in seinem Muskelfleisch deponiert.

Er horchte in sich hinein. Da er über diebeispiellose Fähigkeit der Molekularum-wandlung verfügte, war er in der Lage, seinInnerstes zu untersuchen. Binnen Sekundenfand er heraus, daß sich zwei winzige, le-bende Körper in seinem Fleisch befanden.

Lebenskeime! signalisierte sein Ordinär-hirn, und sein Planhirn bestätigte diese Aus-sage.

Der Haluter sprang auf und versuchte, dieWunde mit den Fingern aufzureißen.

Es ging nicht. Seine Finger trafen auf Ma-terie, die hart und widerstandsfähig war wieTerkonitstahl - aber eben nicht identisch seinkonnte mit seinem eigenen Metabolismus.

Er schrie auf und steigerte seine Bemü-hungen. Zugleich wandelte er sich und seineMolekularstruktur erneut selbst um, weil erhoffte, die Keime auf diese Weise zerstörenzu können. Doch es gelang ihm nicht.

Die Keime verwandelten sich mit, undnun nahmen sie selbst Einfluß auf seineStruktur. Sobald er sich ihnen mit seinenFingern näherte, bildeten sie eine undurch-

dringliche Schicht in seinem Fleisch, unterder sie vor seinem Zugriff geschützt waren.

Icho Tolot schrie erneut auf, diesmal vorWut und Schmerz zugleich.

Wie besessen kratzte er an seiner Brust.Vergeblich. Er konnte die beiden Eizellennicht mehr entfernen, welche die Mutter ihmeingepflanzt hatte.

Nun endlich begriff der Aktivatorträger…

Die Zellen würden wachsen. Sie würdenvon seiner Energie leben, und irgendwannwürden sie ihn von innen heraus auffressen.Und zwar ohne daß er etwas dagegen tunkonnte.

5.

»Mit Icho stimmt was nicht!« rief Guckyund blieb wie erstarrt stehen.

»Was ist passiert?« fragte Julian Tifflor.Sie waren auf dem Weg zur Oase der Ne-

vever und wurden dort bereits erwartet. Dut-zende von seltsamen Gestalten standen imSchatten der Bäume und sahen ihnen entge-gen. Hotch-Kotta begleitete sie nicht. Er warbei seinem Raumschiff geblieben.

»Mit Icho Tolot ist was nicht in Ord-nung«, antwortete der Mausbiber. »Ich mußzu ihm.«

Er teleportierte, bevor Tiff ihn mit weite-ren Fragen oder einem Einspruch aufhaltenkonnte.

Auf dem Kamm einer Düne, weit entferntvon der Oase, materialisierte der Ilt. Unsi-cher blickte er sich um. Er verstand nicht,daß der Haluter nicht zu sehen war. Er hattesich auf ihn eingepeilt, und eigentlich hätteer unmittelbar neben ihm materialisierenmüssen.

Doch von Icho Tolot war noch nicht ein-mal eine Spur zu sehen!

Die mentalen Impulse, die er von ihmempfangen hatte, waren nur vage gewesen,hatten aber Panik und Entsetzen in einerWeise widergespiegelt, wie er sie bei ihmnoch nie zuvor erlebt hatte. Sie waren ausdiesem Bereich gekommen.

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Der Mausbiber schwebte mit Hilfe seinesGravo-Paks in die Höhe und sah sich dabeium, bis er die Fährte des Haluters entdeckte.Annähernd vierhundert Meter trennten ihnvon ihr. Eine erhebliche Distanz! Er erinner-te sich nicht daran, ein angepeiltes Ziel beieiner Teleportation jemals so weit verfehltzu haben.

Er sprang zu der Spur hinüber, die querüber eine Düne hinweglief, und dann folgteer ihr mit Hilfe des Fluggerätes seines SE-RUNS. Anfangs beeilte er sich nicht sonder-lich, da er überzeugt war, den Haluter baldeinholen zu können, doch dann beschleunig-te er mehr und mehr, bis er ihn endlich ent-deckte.

Der Haluter raste wie ein Besessenerdurch die Wüste. Er bewegte sich mit einerGeschwindigkeit von mehr als 100 Stunden-kilometern, wobei es kaum einen Unter-schied machte, ob er durch ein Tal zwischenden Dünen stürmte, über die Kämme derSandberge hinweglief oder sich durch klei-nere Hindernisse wühlte.

Gucky materialisierte vor ihm und hobbeide Arme, gebot ihm so Halt. Icho Tolotjagte mit gewaltigen Sätzen auf ihn zu. Sei-ne rötlichen Augen leuchteten im Licht dergelben Sonne, als ob ein Feuer in seinemSchädel brannte.

»Bleib endlich stehen!« schrie der Ilt ihmzu - und sprang entsetzt zur Seite, um vondem rasenden Freund nicht umgerannt zuwerden.

Gucky blieb jedoch nur kurz stehen undblickte hinter dem Haluter her. Dann tele-portierte er sich direkt auf seinen Rücken.

Von dort aus beugte sich vor und klopftegegen den Kopf des schwarzen Giganten.

»He, Tolotos, tritt mal auf die Bremse!«forderte er.

Der Koloß schnaufte, als habe er schonlange keine Luft mehr geholt, lief plötzlichlangsamer und blieb schließlich stehen.Langsam richtete er sich auf.

Der Ilt brachte sich mit einem Satz in Si-cherheit. »Was ist los mit dir, Tolotos?«fragte er.

»Laß mich in Ruhe!« brüllte der Haluterihn an.

»Nicht doch!« bat der Mausbiber. »Wennein Freund in Not ist, kümmere ich mich umihn.«

Ein dumpfer Laut tiefer Qual kam aus dermächtigen Brust des Giganten. »Es gibt Si-tuationen, in denen man einfach allein seinmuß«, ächzte er so mühsam, als müsse ersich jedes Wort abringen. »Quäl mich nicht,sondern verschwinde endlich. Los, geh! «Gucky bemühte sich, in die Gedanken desFreundes einzudringen, doch es gelang ihmnicht. Deshalb beugte er sich nach vorne,hob grüßend eine Hand zum Abschied undteleportierte zu Julian Tifflor zurück, umihm Bericht zu erstatten.

»So habe ich ihn noch nie erlebt«, schloßer. »Auf keinen Fall ist er in einer Drangwä-sche. Er hat ein Problem, und er versucht,allein damit fertig zu werden.«

»Wenn er es nicht schafft, wird er sich beiuns melden«, hoffte der Terraner. Er schautein die Wüste hinaus, als wollte er den Halu-ter aufspüren. Die Luft flimmerte über demheißen Sand, und über der Abbruchkante er-schien eine Fata Morgana. Sie täuschte eineausgedehnte Wasserfläche vor.»Hoffentlich!« bestätigte Gucky. Tiff ver-harrte nur einen kurzen Moment auf derStelle und ging dann zusammen mit Guckyweiter bis hin zu den Bäumen, unter denendie Nevever auf sie warteten. Als sie sich ih-nen bis auf wenige Meter genähert hatten,kamen sie ihnen entgegen.

Ihr Anblick erstaunte ihn sofort, obwohler schon vieles gesehen hatte. Ihre Ähnlich-keit mit Jii'Nevever war verblüffend. Siewaren fast alle nur etwa 1, 30 Meter großund damit deutlich kleiner als sie, wirktenjedoch gedrungener und bestanden nicht nuraus einer Körperhälfte. Den KristalleffektJii'Nevevers besaßen sie nicht. Ihre Kroko-dilhaut war von brauner Farbe und wieseinen grünlichen Schimmer auf.

Sie bewegten sich auf tentakelartigenStummelbeinen, gleichzeitig besaßen sieverschiedene Pseudopodien, manche bis zu

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siebzehn.Ihre Gesichter waren besonders merkwür-

dig: Sie wurden von einem zehn Zentimeterdurch-messenden Organ beherrscht, das ent-fernt wie ein Trichter aussah. Wahrschein-lich diente es zur Nahrungsaufnahme undzur Kommunikation. Rings um diesen Mundordneten sich neun stecknadelgroße Augenzu einem Kreis. Mit einiger Sicherheit gabes weitere Sinnesorgane, aber diese stecktenwohl in den Hautnoppen, die das Gesicht ineine Landschaft aus Bergen und Tälern ver-wandelten.

Schon bei dieser ersten Begegnung de-monstrierten die Nevever ihre ungewöhnli-che Fähigkeit, den oberen Teil ihres Körpersin einer Art Mimikry umzuformen und demAussehen ihres Gegenübers anzupassen, einPhänomen, das in der Natur normalerweisenur bei schwachen Tieren auftrat, die sichdamit gegen stärkere wehrten und auf dieseWeise Wehrhaftigkeit vortäuschten.

Bei mehreren Nevevern meinte Julian Tif-flor, in sein eigenes Gesicht zu blicken, dasnahezu vollkommen und mit allen Detailsnachgebildet wurde. Andere hatten das Aus-sehen des Mausbibers gewählt, erreichtendabei jedoch nur unbefriedigende Ergebnis-se.

»Ich bin eine ungewöhnlich hochent-wickelte Entität«, sagte der Ilt in Interkos-mo, das sie mit Sicherheit nicht verstanden.»Deshalb solltet ihr bei mir auf diesenQuatsch verzichten. Ihr schafft es dochnicht! Und außerdem solltet ihr mehr Re-spekt vor mir haben.«

Julian Tifflor nahm in bewährter WeiseKontakt mit einigen Nevevern auf. Nachdemdie ersten Verständigungsschwierigkeitenerst einmal überwunden waren, rückten ausdem Inneren der Oase andere Nevever nach,die ihnen allen möglichen Krimskrams ver-kaufen wollten, eher nutzlose Dinge, mit de-nen sie nichts anfangen konnten. Die beidenArrorer Miel und Kiom brachten einige Din-ge aus dem Raumschiff herbei, die für einTauschgeschäft in Frage kamen.

Mühsam brachte Tiff einige Gespräche in

Gang. Ihm kam es darauf an, etwas überJii'Nevever und über die Vergangenheit derNevever zu erfahren, um daraus nützlicheInformationen für die Zukunft und für denfraglos bevorstehenden Kampf mit Jii zu ge-winnen. Wenn das nicht gewesen wäre, hätteer sich keinesfalls auf die Verhandlungeneingelassen.

Doch er wurde enttäuscht. Sobald er aufdie Fragen zu sprechen kam, die ihn interes-sierten, stieß er auf Verständnislosigkeit.Immer wieder wandte er sich an Gucky undfragte den Ilt, ob er telepathisch etwas her-ausgefunden hatte, erhielt jedoch jedesmaldie gleiche Auskunft.

»Nichts! « gab der Mausbiber zur Ant-wort, es klang frustriert.

Der Ilt setzte sich in den Schatten einesBaumes und blickte auf die Wasserflächehinaus. Dann fügte er hinzu: »Die Sache mitIcho Tolot hat mich irgendwie nervös ge-macht. Ich bin ganz taub im Kopf, kannkaum klar denken und habe Mühe, mich te-lepathisch umzuhören.«

»Mach dir nichts daraus«, empfahl derTerraner. »Du wirst dich bald wieder erholthaben.«

»Das hoffe ich.«Tifflor streute bei den Gesprächen mit den

Nevevern nur gezielt Begriffe wie»Jii'Nevever« und »Guu'Nevever« ein,konnte jedoch damit nicht die Gedankenprovozieren, die Gucky auf eine informativeSpur hätten bringen können.

»Ich stoße nur auf den Begriff Ashgava-nogh«, maulte der Mausbiber unzufrieden.»Er taucht immer mal wieder bei dem einenoder anderen auf, aber keiner verrät mir, waser bedeutet.«

*

Der Abend senkte sich herab. Die Oasen-bewohner zündeten ein Lagerfeuer an, dassie mit dem trockenen Holz der Bäume spei-sten. Es war still in der Stadt der Nevever.Nur das Knistern des in der Hitze zerreißen-den Holzes war zu hören. Die Luft war klar

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und durchsichtig, und die Sterne schienenzum Greifen nah zu sein. Friedlicher hättedie Stimmung kaum sein können.

Julian Tifflor und Gucky hätten sich indieser Atmosphäre entspannen können, dochgelang ihnen das nicht. Ihre Gedanken weil-ten bei Icho Tolot, der irgendwo da draußenin der Wüste einen einsamen Kampf mit ei-nem ihnen unbekannten Gegner austrug undder darauf bestand, daß sie ihn allein ließen.

»Ich fürchte, es war eine Fehlentschei-dung, hierherzufliegen«, argumentierte derTerraner, nachdem sie eine Weile schwei-gend im Kreis der Nevever gesessen und da-bei zugesehen hatten, wie diese Nahrungs-mittel verzehrten, die sie von dem KorawHotch-Kotta erhalten hatten. »Sobald Ichowieder bei uns ist, starten wir und ver-schwinden aus dieser Ecke von Puydor.«

Gucky nickte nur. Er war der gleichenAnsicht. Dankend lehnte er eine Frucht ab,die ihm einer der Nevever mit Hilfe seinervielen Pseudopodien hinhielt.

»Ich habe keine Verbindung mehr zuIcho«, eröffnete er Tiff. »Ich mache mir Sor-gen. Es war nicht richtig, ihn allein zu las-sen.«

Die Nevever, die bis dahin lebhaft mitein-ander geredet hatten, verstummten plötzlich.Zugleich kam ein dumpfes Grollen wie voneinem fernen Gewitter aus der Wüste herauf.

Einer der Oasenbewohner eilte auf mehre-ren Pseudopodien aus dem Kreis hinaus, be-gann in eigenartiger Weise zu tanzen, wobeier sich hin und her wiegte.

»Was ist los?« fragte Tiff Gucky.»Ich weiß nicht«, gestand Gucky. »Ich ha-

be ein dumpfes Gefühl im Kopf, und die Ge-danken unserer Gastgeber gehen vollkom-men durcheinander. Ich kann nichts damitanfangen.«

Tiff spürte, wie der Wüstenboden unterihm bebte.

»Was ist das?« wandte er sich an Hotch-Kotta.

Doch auch jetzt erhielt er keine Antwort.Das Echsenwesen hielt einen großen Becherin den Händen und trank eine klare Flüssig-

keit daraus. Ein süßlicher Geruch zog zudem Terraner herüber.

Als Tifflor die Augen des Koraws sah, er-kannte er, daß der Händler gar nicht in derLage war, mit ihm zu reden. Er befand sichin einem Rauschzustand, in dem seine Sinneund sein Wahrnehmungsvermögen stark ein-geschränkt waren.

Nach und nach erhoben sich alle Nevever.Die meisten von ihnen begannen zu tanzenund stimmten dabei einen schwermütigenGesang an, einige aber eilten davon zu ihrenHäusern und kehrten bald darauf mit Spee-ren und langen Messern bewaffnet zurück.

»Sie bereiten sich auf die Jagd vor«, be-richtete der Mausbiber. »Jedenfalls freuensie sich auf reiche Beute und ein Festmahl.«

Der langgezogene Schrei eines offenbarriesigen Wesens hallte aus der Tiefe derWüstensenke herauf, die einst ein Meer ge-wesen war. Im ersten Moment glaubte Tif-flor, daß Icho Tolot diese Laute erzeugte,doch dann kehrten sie in Intervallen wieder.Sie klangen so fremd, daß der Haluter dafürnicht in Frage kam. Derartige Töne hatte ernoch nie von sich gegeben.

Wieder erzitterte der Wüstenboden, als ober irgendwo in der Tiefe von einer mächti-gen Faust durchgeschüttelt worden wäre,und der Tanz der Nevever wurde wilder.Schrille Schreie unterbrachen den Gesang.Hotch-Kotta trank schnell und so gierig, daßihm die Flüssigkeit über die Lippen und denHals rann.

Und dann plötzlich wurde es still. Die Ne-vever hörten schlagartig auf zu tanzen. Die-jenigen, die noch unbewaffnet waren, schli-chen sich lautlos davon, um sich auszurü-sten. Der Gesang verstummte.

Nur der Koraw merkte nicht, daß sich et-was verändert hatte. Er brabbelte unartiku-liert vor sich hin und schüttete die berau-schende Flüssigkeit in sich hinein, so als ober sich betäuben wollte, um sich von denkommenden Ereignissen abzuschirmen.

Eigenartige Geräusche klangen aus derWüste herauf. Es hörte sich an, als ob je-mand Sand zwischen seinen Händen reibe.

Die Rätsel von Ketchorr 31

Page 32: Die Rätsel von Ketchorr

*

Icho Tolot focht seinen vielleicht schwer-sten Kampf aus. Nie hatte der Haluter einenderartigen inneren Aufruhr erlebt wie in die-sen Stunden, in denen er ein fremdes Lebenin sich spürte, das mit einer unerhörten Le-bensgier Energie aus ihm saugte.

Noch waren die beiden Eizellen mikro-skopisch kein, doch er wußte, daß sieschnell wachsen und damit zu einem immergrößeren Problem werden würden.

Irgendwann würden zwei Wesen aus ih-nen entstanden sein, die so aussahen wie dieMutter, die ungeheuer stark waren und wieer die Fähigkeit besaßen, ihre molekulareStruktur zu verändern.

Er haßte die beiden Wesen aus tiefstemHerzen, und nur eine einzige Frage beschäf-tigte ihn.

Wie kann ich sie vernichten?Sie mußten heraus aus seinem Körper. Ir-

gendwie mußte er es schaffen, sie abzusto-ßen oder herauszuoperieren, und wenn erdafür einen Desintegrator benutzen mußte.

Wie von Sinnen stürmte er durch die Wü-ste, rannte mit voller Wucht gegen Sandhü-gel an und durchbrach sie, so daß es wirkte,als ob sie eine Explosion aufgerissen habe.Er mußte sich Bewegung verschaffen. Ermußte Energien verbrauchen. Er ertrug esnicht, sich still zu verhalten.

Er fühlte sich mißbraucht, und mit Schau-dern dachte er daran, was er empfinden wür-de, wenn die Keime größer wurden, wennaus ihnen Geschöpfe wurden, die Gestalt an-nahmen und die damit begannen, ihn von in-nen her aufzufressen.

Die Nacht brach herein, und ein sternen-klarer Himmel wölbte sich über ihm, als erschließlich auf dem Kamm einer Düne ver-harrte.

Allmählich kam er zu sich, und die Ver-nunft gewann die Oberhand gegenüber derPanik.

Es war sinnlos, durch die Wüste zu ren-nen. Damit kam er keinen einzigen Schritt

weiter. Damit konnte er sein Problem aufkeinen Fall lösen. Dieser Sturmlauf konnteihm höchstens dazu verhelfen, seelisch wie-der ins Gleichgewicht zu kommen.

Icho Tolot blickte zum Himmel hinauf,doch er sah die Sterne nicht. Er dachte andie gewaltigen Schotte, die sich mitten inder Wüste geöffnet, eine Krone gebildet unddie Mutter ausgespien hatten.

Die riesigen Ausmaße der Tore waren eineindeutiger Hinweis darauf, daß sich unterdem Wüstenboden eine technische Anlagevon noch größeren Dimensionen befand.Wenn es überhaupt eine Möglichkeit gab, ir-gendwo Informationen über die Mutter undihre Wesensart zu erhalten, dann dort.

Die Anlage stellte immerhin einen kleinenHoffnungsschimmer für ihn dar. Nun kam esdarauf an, so schnell wie möglich zu ihr zu-rückzukehren und in sie einzudringen.

Der Haluter zuckte erschrocken zusam-men.

Obwohl er stundenlang durch die Wüstegeirrt war, stellte es kein Problem für ihndar, den Rückweg bis zum Ausgangspunktzu finden. Doch waren die Tore der Anlagenoch offen? Was sollte werden, wenn siesich inzwischen geschlossen hatten? War esdann überhaupt noch möglich, in die Anlageeinzudringen?

Er stieß einen Schrei aus und beschimpftesich, weil er den Kopf verloren und sich derPanik ergeben hatte, anstatt kühl und wis-senschaftlich exakt über seine Situationnachzudenken. Zweifellos hätte er die Anla-ge sofort aufgesucht, wenn er ruhig geblie-ben wäre.

Jetzt hatte er unnötig Zeit verloren undsich durch seine Unbedachtheit selbst in eineschwierige Lage gebracht.

Er stürmte die Düne hinunter, ließ sichauf seine Laufarme fallen und raste mitHöchstgeschwindigkeit durch die Nacht. MitHilfe seines Planhirns errechnete er mühelosden kürzesten Weg zu der geheimnisvollenAnlage, erkannte aber auch, daß er wenig-stens zwei Stunden benötigte, um dorthin zugelangen.

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Zwei Stunden, in denen sich die Schotteschließen konnten!

Um sich neue Energie, zuzuführen, warfer sich während seines Laufs Sand in denRachen und schluckte ihn hinunter, um ihnin seinem Magen atomar umzuformen undihm seine Energie zu entnehmen.

Jetzt kam es mehr noch als zuvor daraufan, daß er nicht ermüdete.

Icho Tolot verspürte Stiche in der Brust.Die Brut in ihm wuchs ungeheuer schnell,

und sie verlangte nach mehr Platz!Icho Tolot verzichtete darauf, den geraden

Weg zu verfolgen, sondern stürmte durchdie Täler zwischen den Dünen, weil er darinschneller vorankam, als wenn er sich überden rutschenden Sand immer wieder auf dieDünenkämme hinaufkämpfte, um seinenWeg dann auf der anderen Seite fortzuset-zen.

Die Zeit verstrich. Mit seinem Planhirnberechnete der Haluter Abschnitt für Ab-schnitt, bis er ermittelte, daß er eine Positionerreicht hatte, von der aus er sehen konnte,ob die Tore noch offen waren oder nicht. Errannte eine Düne hinauf und blieb an ihrerhöchsten Erhebung stehen.

Die Luft über der Wüste war klar und sau-ber, und das Sternenlicht war so kräftig, daßer kleine Objekte sogar noch in einigen Ki-lometern Entfernung erkennen konnte.

Die Tore waren nicht zu übersehen. Sieragten wie Messerspitzen in den nächtlichenHimmel hinauf und bildeten nach wie voreine gigantische Krone, als wollten sie an-zeigen, daß hier die wahrhaft königlichenAbkommen einer unbekannten Rasse ent-sprungen waren.

Die Anlage hatte ihre Pforten noch nichtgeschlossen. Er hatte die Chance, in sie ein-zudringen!

Die Erkenntnis hätte ihn eigentlich beru-higen müssen, doch sie tat es nicht. Im Ge-genteil …

Angesichts der offenen Tore fürchtete ermehr denn je, daß er zu spät kam und daßsie sich im letzten Moment schließen könn-ten.

Icho Tolot raste weiter, wählte nun dendirekten Weg und zwang sich zu äußersterKraftentfaltung. Mit fliegenden Armenwühlte er sich durch den Sand und fegte hin-weg, was ihm in die Quere kam. Er kam sichvor wie ein Ertrinkender, in dessen greifba-rer Nähe ein Boot im Wasser dümpelte, dasjedoch in jeder Sekunde von der Strömungerfaßt und davongespült werden konnte.

Weiter! Weiter - nur nicht aufgeben! Erstöhnte, als er erneut Schmerzen in der Brustverspürte. Instinktiv wollte er sich dagegenwehren, doch dann überwand er diesen Im-puls und rannte weiter, um keine Zeit zuverlieren.

Die Eizellen begannen spürbar zu pulsie-ren. Er fühlte sie pochen, und er meinte er-kennen zu können, daß sie sich wehrten.

Wollten sie nicht, daß er die Anlage er-reichte, weil ihnen dort Gefahr drohte?Wollten sie ihn aufhalten? War überhauptschon so viel Geist in ihnen enthalten, daßsie bewußt handeln konnten?

Als er nur noch etwa fünfhundert Metervon den senkrecht stehenden Schotten desTores entfernt war, bemerkte er, daß sie sichbewegten. Die Spitzen neigten sich zur Mit-te hin und näherten sich einander.

Erneut wallte die Panik in ihm auf. Sollteer nach all den Mühen doch noch zu spätkommen?

Icho Tolot holte die letzten Kraftreservenaus sich heraus, rannte schneller als je zuvordurch die Wüste und dachte an nichts ande-res mehr als an das Ziel, das er auf jedenFall erreichen mußte.

Ein Schrei der Verzweiflung entrang sichseiner Kehle, als sich die Bewegung derSchotte beschleunigte. Die Spalten zwischenihnen wurden sichtbar kleiner.

Icho Tolot streckte sich. Mit unvorstellba-rer Willenskraft veränderte er die Strukturseiner Sehnen, um sie geschmeidiger undzugleich leistungsfähiger zu machen. Derdazu notwendige Energieaufwand war indieser Situation geradezu ungeheuerlich,doch das spielte keine Rolle für ihn.

Er mußte es unbedingt schaffen!

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Wie ein schwarzer Schatten schoß er überdie letzten Meter Wüstenboden, dann rasteer die glatte Fläche eines Schotts hinauf, dassich immer mehr zur Mitte hin senkte, undals er einen Spalt erreichte, stürzte er sichblindlings hinein, und während er fiel, wur-de er sich dessen bewußt, daß er sein Gravo-Pak hätten nutzen können, um schneller vor-anzukommen. Daß er es nicht getan hatte,war bezeichnend für seinen Geistes- und Ge-mütszustand.

6.

Als die Nevever die Oase verließen und indie Wüste hinausliefen, folgten ihnen Guckyund der Terraner, während Hotch-Kotta ineinem Zustand, den man nur mit sturzbe-trunken bezeichnen konnte, am Lagerfeuerblieb.

Die Nevever bewegten sich erstaunlichschnell auf ihren Pseudopodien bis auf etwafünfzig Meter an die Abbruchkante heranund blieben dann stehen.

»Was kommt jetzt?« flüsterte Tifflor.»Wir sollten uns auf etwas Großes einstel-len«, empfahl der Mausbiber. »Ich spüre,daß es schon sehr nah ist.« »Wie geht esdir?«

»Als ob mir jemand eine Kokusnuß aufden Kopf geknallt hätte und das ist noch un-ter-trieben«, stöhnte der Ilt. »Ich komme mirvor wie ein Blinder im lautlosen Kino. Ichhöre keine Gedanken, ich kann nichts teleki-netisch bewegen, und ich kann nicht telepor-tieren. Und ich weiß nicht, warum das soist.«

»Vielleicht solltest du eine Mohrrübe es-sen«, scherzte der Terraner.

»Genau damit habe ich gerechnet«, erwi-derte Gucky, wobei er resignierend seufzte.»Du nimmst mich nicht ernst. Kannst du mirverraten, was mir meine Fähigkeiten genom-men hat?«

»Ich habe keine Ahnung.«Die Nevever begannen mit einigen ihrer

Pseudopodien auf den Boden zu trommeln.Überraschenderweise klang es nicht so, als

ob sie auf massivem Grund stünden, sondernauf einem Hohlkörper.

»Jetzt!« rief der Ilt.Im nächsten Moment brach der Boden

krachend und mit einer solchen Gewalt auf,daß Sand und Gesteinsbrocken meterhoch indie Luft flogen. Mächtige Körper schobensich durch die entstandenen Öffnungen nachoben.

Tiff und Gucky wichen vor ihnen zurück.Zunächst konnten sie nicht erkennen, wassich da aus dem Boden herauswühlte, dannaber richteten sich die Wesen auf ihren Bei-nen auf, und sie sahen, daß es Insektoidenwaren. Jedes von ihnen war etwa fünfzehnMeter lang und wenigstens zweieinhalb Me-ter hoch. Sie bewegten sich auf zahllosen,vielfach gegliederten Beinen, die sich anein-anderrieben, wobei unangenehme Geräuscheentstanden. Ihre Köpfe waren bizarr geformtund mit Auswüchsen übersät, von denen ei-nige nur kurz, andere aber bis zu anderthalbMeter lang waren. Ein stechender Geruchging von ihnen aus, als sie versuchten, zumSee zu kommen.

Eines nach dem anderen kam aus demBoden hervor, so daß die Zahl rasch aufhundert oder mehr anwuchs.

Die Nevever griffen sie an, um sie aufzu-halten. Sie stürzten sich auf die Insekten undrammten ihnen ihre Speere und Messer indie Seiten, hieben mit Äxten auf die Beineein, um sie abzutrennen, oder sprangen aufihre Rücken, um ihnen aufrecht darauf ste-hend Speere oder Messer in eine Lücke imPanzer direkt hinter den Köpfen zu stoßen.

Die Insektoiden zeigten sich völlig unbe-eindruckt. Blut spritzte aus vielen von ihnenhervor, doch keines der Wesen ließ sichdurch eine Verletzung aufhalten. Sie allemarschierten weiter - wie Roboter. Keineswehrte einen der Angreifer ab, und keinesbewegte sich schneller voran als zuvor.

Sie schienen keinen Schmerz zu empfin-den, und die Attacke auf sie beeindruckte sieoffensichtlich nicht.

»Sie wehren sich nicht«, staunte der Ilt.»Vielleicht können die Nevever ihnen

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nichts anhaben«, vermutete Tiff.Der Terraner irrte sich gründlich. Eines

der insektoiden Wesen brach zusammen,wobei es zu schreien begann und mit denBeinen um sich stieß. Einen solchen Schreihatten Tifflor und der Ilt schon vorher ausder Tiefe der Wüste vernommen. Jetztglaubten sie zu wissen, was er zu bedeutenhatte. Es war ein Todesschrei!

Ein weiteres Insektenwesen beendete sei-nen Marsch. Jubelnd fielen die Nevever überes her und setzten ihre Messer ein, um damitin Lücken im Chitinpanzer zu stoßen. Sieverfielen in einen wahren Tötungsrausch,und es gelang ihnen, innerhalb von zweiStunden sieben der riesigen Wesen zu erle-digen.

Tifflor und Gucky verharrten währenddieser Zeit nicht auf der Stelle, sondern lie-fen in die Oase, um zu beobachten, wohindie Insektoiden zogen. Sie beobachteten,wie sie ins Wasser marschierten, darin un-tertauchten, auf dem Grund des Gewässersweitermarschierten, um auf dem jenseitigenUfer wieder herauszukommen und über dieDünen zu verschwinden. Ihre Chitinpanzerglänzten nun vor Feuchtigkeit, und der fal-lende Wasserspiegel im See machte deut-lich, daß jedes von ihnen sich mit Flüssig-keit vollgepumpt hatte. »Ich weiß noch im-mer nicht, was das soll«, sagte Gucky leise.»Wozu haben die Nevever sie angegriffenund einige von ihnen getötet? Wenn ichmich telepathisch umhöre, empfange ich im-mer nur diesen Begriff, der in ihren Köpfenherumspukt - Ashgavanogh. Aber damitkann ich nichts anfangen. Kannst du dir vor-stellen, was Ashgavanogh sein soll? Hast dugehört, ob jemand etwas darüber gesagthat?«

»Ich weiß sowenig wie du.« Nachdenk-lich kehrten sie zu dem Platz vor der Oasezurück, auf dem die beiden Raumschiffe ge-landet waren und auf dem nun die Kadaverder Insektoiden lagen. Einige der Jäger hat-ten mittlerweile Holz herangeschleppt undFeuer angezündet. Als die Flammen aufstie-gen, wurde es still, bis nur noch das Knistern

des Feuers und das infernalische Schnarchenvon Hotch-Kotta zu hören waren.

Ashgavanogh mußte eine hohe Bedeutunghaben, wer oder was immer es war.

Das Feuer loderte hoch auf und beleuchte-te die erlegten Insektoiden, denen die Neve-ver nun mit Messern und Keulen zu Leiberückten. Sie brachen die Panzer auf, schnit-ten jedoch kein Fleisch heraus. Sobald sieklaffende Lücken mit einem Durchmesservon wenigstens zwei Metern im Chitin ge-schaffen hatten, ließen sie von ihrem Opferab, um sich dem nächsten zuzuwenden.

»Da passiert noch mehr«, sagte der Maus-biber voraus. »Wenn ich nur wüßte, was As-hgavanogh bedeutet!«

*

Icho Tolot stürzte nicht lange durch dieDunkelheit. Nachdem der Haluter einigeMeter weit gefallen war, öffnete sich einquadratisches Schott vor ihm, und es wurdehell. Eine unsichtbare Kraft fing ihn auf undließ ihn langsam zu Boden sinken.

Das Pulsieren in seiner Brust ließ nach. Esschien, als beruhigten sich die Keime, weilsie sozusagen nach Hause zurückkehrten.

Oder täuschte er sich? Legten sie nur einePause ein, bevor sie erneut angriffen?

Wände versanken vor ihm und gaben denBlick frei auf eine riesige Anlage, derenkleinster Teil sich auf der Ebene befand, aufder er sich aufhielt. Langsam trat Tolot aneine Brüstung heran, die eine hell erleuchte-te Öffnung mit einem Durchmesser von et-wa fünfzig Metern umgab. Dann hatte derAktivatorträger das Gefühl, in die Tiefe ge-zogen zu werden, denn vor ihm erschien einsenkrecht in den Boden führender Schachtmit einem metallisch glänzenden Zylinderdarin, der endlos zu sein und bis in den Mit-telpunkt des Planeten zu reichen schien.

In seinem oberen Bereich war er in meh-reren Abschnitten transparent, so daß darun-ter maschinelle Anlagen zu erkennen waren.Das Alter hatte das durchsichtige Materialjedoch brüchig werden lassen, so daß Risse

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in ihm entstanden waren. An vielen Stellenhatte sich Staub abgelagert.

Staunend ging Icho Tolot weiter in dieHalle hinein. Dabei stieß er immer wiederauf ähnliche Schächte in vergleichbaren Di-mensionen. Zwischen ihnen erhoben sichMaschinenblöcke, die offenbar der Steue-rung dienten und jeweils mit einer Compu-terstation versehen waren. Einige Bereicheder Anlage waren makellos sauber und wur-den von robotischen Maschinen gepflegt. Inanderen Bereichen standen oder lagen Robo-ter, die dem Alter zum Opfer gefallen warenund ihren Geist aufgegeben hatten. Hier wa-ren die Anzeichen des Verfalls besondersdeutlich.

Damit war der Wissenschaftler in IchoTolot angesprochen. Ihn interessierte nunnicht mehr nur, was in seiner Brust heran-wuchs, sondern auch, wer diese Anläge ge-baut hatte und warum. Er verspürte zugleichImpulse, die von ihr ausgingen und die ihnan die Lockrufe erinnerten.

Eine Stimme meldete sich in ihm undwarnte ihn davor, sich mit der Anlage zu be-fassen und dabei Zeit zu vergeuden. Siewollte ihm deutlich machen, daß er von sei-nem eigentlichen Problem abgelenkt wurde,so daß sich dieses ungehindert entwickelnkonnte, bis es für ihn unlösbar gewordenwar.

Er schottete sich gegen alle Warnungenab, wollte sie nicht hören. Er erlag der Faszi-nation, die von der Technik einer fremdenZivilisation ausging. Je mehr er sich mit ihrbefaßte, desto stärker wurde er von ihr ange-zogen. Er stieß auf technische Lösungen, dieihn in ihrer Genialität verblüfften und ihmdie eigene Unzulänglichkeit in vieler Hin-sicht bewußt machten.

Es gelang ihm nach einigen Stunden, Ver-bindung mit dem zentralen Computer aufzu-nehmen - einer schon vor Jahrtausenden ent-wickelten Syntronik - und von ihr mehr undmehr Informationen zu erhalten. Auch hiertrat der gleiche Effekt ein. Je mehr er mit ihrkommunizierte, desto höher stieg seine Ach-tung vor der Leistung der Obbythen, wie

sich die Erbauer der Anlage genannt hatten.Tolot erfuhr, daß er dem letzten erwach-se-

nen Exemplar dieses Volkes im Kampf un-terlegen gewesen war. Danach war es nurnoch ein Schritt bis zu der Erkenntnis, daßer die Keime der letzten beiden existieren-den Wesen dieses Volkes in sich trug unddaß es allein von ihrem Überleben abhing,ob es für immer unterging oder noch einmaleine Chance für eine Rückkehr erhielt.

Geradezu beklommen war er, nachdem erherausgefunden hatte, wie altruistisch dieObbythen bei ihrem Versuch gehandelt hat-ten, die Völker der Galaxis Puydor vor denAuswirkungen einer erwarteten kosmischenKatastrophe zu schützen. Dabei hatten siesogar ihre eigene Existenz aufs Spiel ge-setzt. Daß sie sich geirrt hatten und die Ka-tastrophe ausgeblieben war, änderte nichtsan ihrer selbstlosen Haltung und ihrer gran-diosen Leistung.

Doch das alles änderte nichts daran, daßer sich nicht mit den beiden Keimen abfin-den wollte, die in ihm heranwuchsen und ihrVolumen in regelmäßigen Abständen je-weils verdoppelten.

Er haßte sie nach wie vor, weil sie ihm dieLebenskraft aus dem Leibe sogen und ihnam Ende töten würden.

Vergeblich suchte er nach einem Kom-promiß, der es sowohl ihnen als auch ihmerlaubte zu überleben. Es gab keinen. Dasmachte auch ein eingehendes Gespräch mitder Syntronik deutlich.

»Diese Lebensform ist so stark, daß du sienicht überwinden kannst«, eröffnete ihm derComputer. »Du wirst es bald merken. Ichkann dir nur empfehlen, deine letzten Stun-den nicht im Kampf gegen sie zu verbrin-gen, sondern sich mit dem zu befassen, wasdein Leben bedeutet hat. Finde dich damitab, daß dein Weg hier und heute zu Endeist.«

Icho Tolot fuhr herum und rannte in dieHalle hinein, um einen möglichst großenAbstand zwischen sich und den Computerzu legen.

Er war ein Haluter. Er sollte sich damit

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abfinden, daß die Keime ihn umbrachten?Niemals!

*

»Wozu haben sie die Biester getötet?«fragte Gucky, als mehrere Stunden verstri-chen waren, ohne daß die Nevever sich mitden er-regten Insektoiden befaßt hatten. »Siehaben nur ihre Panzer aufgebrochen, abersie haben nichts von dem Fleisch und nurwenig vom Blut angerührt. Warum nur?«

Das war eine Frage, auf die weder JulianTifflor noch die drei Rawwen, die Arroreroder der Shuuke Ramman Orneko eine Ant-wort wußten. Sie alle hatten die Raumschif-fe verlassen und hielten sich auf der Hoche-bene vor der Oase auf.

Der Koraw Hotch-Kotta hätte vielleichtmehr gewußt, doch er konnte keine Aus-kunft geben. Er lag nach wie vor schnar-chend unter den Bäumen der Oase und sch-lief seinen Rausch aus.

Die Nevever selbst waren nicht ansprech-bar. Sie tanzten seit Stunden an mehrerenFeuern nach einem melancholisch klingen-den Gesang.

Tiff versuchte in regelmäßigen Abstän-den, Verbindung mit Icho Tolot aufzuneh-men, bekam jedoch keinen Kontakt. AuchGucky gelang es nicht, den alten Freundausfindig zu machen. Immerhin empfing ergeistige Impulse von ihm, die ihm signali-sierten, daß er noch am Leben war.

»Wir warten noch drei Stunden«, ent-schied der Terraner schließlich. »Falls erdann immer noch nicht auf unsere Funkan-rufe reagiert, teleportieren wir zu ihm.«

Der Gesang der Nevever änderte sichmerklich. Zugleich verließen die seltsamenWesen die Oase. Wiederum waren die mei-sten von ihnen bewaffnet. Sie trugen Speere,Messer, Schwerter, schwere Hämmer, ange-spitzte Holzpfähle und dicke Seile auf dieEbene hinaus, legten sie in der Nähe der ge-töteten Insektoiden auf den Boden und be-gannen damit, sich einzugraben. Die meistenvon ihnen verschwanden innerhalb weniger

Minuten im Sand, bis nur noch ein kleinerTeil ihrer oberen Körperhälfte heraussah.

Bisher hatten viele Nevever ihre besonde-re Mimikry-Fähigkeit dazu benutzt, die Ge-sichter von Tifflor, Gucky oder Hotch-Kottanachzubilden. Das war jetzt nicht mehr derFall. Sie formten Schlangenköpfe und gin-gen dabei so weit, daß sie auch die Schlan-genzunge nachbildeten, ein schlankes, lan-ges, vorn gespaltenes Organ, das immer wie-der zwischen den Lippen hervorschoß undwie suchend in der Luft herumtastete.

»Schlangen«, stellte Gucky unbehaglichfest. »Keine angenehme Vorstellung. Weißtdu eigentlich, daß viele Schlangen vor allemMäuse jagen?«

Plötzlich schob sich ein grau und rot ge-sprenkelter Körper über die Abbruchkante.Faustgroße Augen leuchteten im Wider-schein der Feuers, und ihre Blicke schienensich auf die Gruppe um Gucky zu richten.

Der Mausbiber machte sich unnötig Sor-gen, denn in seinem SERUN war er vor ei-nem Angriff der Schlangen sicher. Doch einangenehmes Gefühl war es auch unter sol-chen Umständen nicht, von einem Raubtierals Opfer ausersehen zu sein und belauert zuwerden.

Es war still geworden. Nur das Raschelnder schuppigen Schlangenhaut war zu hören,als sich das Tier nun vorsichtig und ständigsichernd voranschob und sich dabei den ge-töteten Rieseninsekten näherte. Allein derKopf des Tieres war etwa vier Meter lang,einen Meter breit und ebenso hoch. Danachfolgte ein langgestreckter Körper, der nichtzu enden schien, während die Schlange wei-ter vordrang. Als sie schließlich in ihrer gan-zen Länge auf der Ebene lag und ihr Kopfnur noch etwa fünf Meter von dem ersten In-sektoid entfernt war, schätzte Tiff, daß siewenigstens dreißig Meter erreichte.

Unwillkürlich waren er, Gucky und dieanderen bis an die Schleuse der INGORUEzurückgewichen. Sie wollten nicht in dasGeschehen verwickelt werden, zumal esdem Ilt nach wie vor nicht gelang, wichtigeInformationen aus den Gedankeninhalten

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der Nevever abzuziehen.»Sie denken mehr denn je an Ashgavano-

gh«, berichtete er, »aber ich glaube nicht,daß damit die Schlange gemeint ist. Esscheint vielmehr so zu sein, daß die Schlan-ge eine notwendige Voraussetzung für dasoder den Ashgavanogh ist.«

Ein Aufschrei ging durch die Reihen derNevever, die sich im Schatten der Bäumeaufhielten und beobachteten, was im Bereichder erlegten Rieseninsekten geschah. Nunerschienen die Köpfe von zwei weiterenSchlangen über der Kante.

»Ich glaube, ich verstehe«, sagte Tiff.»Die Insektoiden sind nicht das eigentlicheWild. Sie haben sie nur getötet, um damitdie Schlangen anzulocken, und das ist ihnengelungen.«

»Besser sogar als erhofft«, stimmteGucky zu. »Wir müssen eingreifen, wenn sienicht allein mit diesen Biestern fertig wer-den, oder willst du zusehen, wie die Schlan-gen ein Blutbad unter ihnen anrichten?« ff»Natürlich nicht!«

Die erste Schlange schlug gedanken-schnell zu. Ihr Kopf schoß mit schier un-glaublicher Beschleunigung vor, so daß nie-mand in der Lage war, der Bewegung mitseinen Blicken zu folgen. Die Lippenschlossen sich, und der Kopf bohrte sich wieeine Pfeilspitze in einen der Kadaver, wobeier exakt die Lücke nutzte, welche die Neve-ver aufgebrochen hatten. Der gesamteSchlangenkörper stemmte sich gegen denBoden, bis der ganze Kopf im Chitinpanzerverschwunden war.

Diesen Vorstoß nahmen die beiden ande-ren Schlangen als Signal. Sie griffen eben-falls an, und auch ihre Köpfe wühlten sich indie Insektoiden.

Jetzt schnellten sich die Nevever aus denBodenlöchern hervor. Von allen Seitenstürmten sie auf die Schlangen zu.

»Ich glaube nicht, daß wir eingreifenmüssen«, sagte Tifflor. »Sie schaffen esauch ohne unsere Hilfe.«

Tatsächlich bemerkten die Schlangen dieAttacke nicht. Sie konnten sie nicht wahr-

nehmen, weil sie sich gar zu gierig auf ihreBeute gestürzt hatten.

*

In seiner Brust schien etwas zu platzen.Deutlich spürte Icho Tolot den plötzlich an-gestiegenen Druck, und zugleich nahm er ei-ne Bewegung wahr - nicht nur das Pulsierender Eizellen, sondern deutlich mehr. Vor sei-nem inneren Auge entstand das Bild einer ineinem engen Raum eingeschlossenen Krea-tur, die sich windend und um sich stoßendmehr Raum zu schaffen versuchte.

Der schwarzhäutige Gigant sank auf dieKnie und preßte die vier Fäuste gegen dieBrust, während Laute der Verzweiflung überseine Lippen kamen. Er lebte seit Jahrtau-senden, und doch war ihm der Gedanke anden Tod immer vertraut gewesen. Nie aberhatte er ihn derart erschreckt wie jetzt.

Er wußte, daß auch er irgendwann einmalsterben mußte, doch was ihm jetzt wider-fuhr, war in seinen Augen würdelos und er-niedrigend.

Für diese beiden Schmarotzer bin ichnicht mehr als ein Eidotter! schoß es ihmdurch den Kopf. Nicht mehr als ein Nährbo-den.

Die Situation war unerträglich für ihn.Deshalb kämpfte er nach wie vor mit allerKraft dagegen an. Immer wieder wandelte erseine Molekularstruktur um, weil er hoffte,durch diesen schnellen Wechsel die werden-den Obbythen in ihm töten zu können. Ob-wohl das Ergebnis stets gleich war, gab ernicht auf.

»Gib den Kampf auf!« forderte ihn derComputer auf. »Und sei doch einfach stolz!«Seine Stimme hallte aus dem Nirgendwo zuihm hin. »Nie war es jemandem gegeben, sohoch entwickeltem Leben zu einer neuenExistenz zu verhelfen. Von dir hängt es ab,ob das Volk der Obbythen aus dem Univer-sum verschwinden wird oder einen neuenAnfang findet. Beschäftige dich mit ihnen!Ich werde dir alle Informationen über dieObbythen geben, die du haben willst, und du

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wirst erkennen, daß es nichts gegeben hat,was mehr Bewunderung und Hochachtungverdient als sie. Du wirst Vollkommenheiterreichen, wenn du jenen nützt, die bessersind als du.«

»Niemand kann so viel Selbstlosigkeitvon mir verlangen«, stöhnte der Haluter.»Sei endlich still! Ich will nichts mehr hö-ren.«

»Ich wollte dir nur dein Ende erleich-tern«, eröffnete ihm der Computer. »Esstirbt sich leichter, wenn man weiß, daß derTod ein Samenkorn für besseres Leben ist.«

Icho Tolot hielt sich die Ohren zu und eil-te zu der Stelle zurück, an der er die Anlagebetreten hatte. Ihm war nicht entgangen, wiealt und verfallen viele Maschinen waren,und er war sich klar darüber, daß sie dieAufgabe, für die sie einst erbaut worden wa-ren, nicht mehr erfüllen konnten.

»Besseres Leben?« Er blieb nahe demAusgang stehen. »Die Anlage hat einen gan-zen Planeten vernichtet, eine blühende Weltin eine Wüste verwandelt und damit demVolk der Nevever nicht nur die Existenz-grundlage entzogen, sondern auch die Zu-kunft genommen.«

»Ein bedauerliches Opfer, das sich nichtvermeiden ließ.«

Der Haluter kehrte zu dem Computer undseiner Hauptschalttafel zurück. »BesseresLeben? Wer hat das Recht, so etwas zu sa-gen? Wer hat das Recht, sich selbst als bes-ser oder schlechter als andere einzustufen?«

Zornig nahm der Haluter einige Schaltun-gen vor.

»Das solltest du unterlassen«, riet ihm derComputer. »Die gesamte Anlage könnte ihreArbeit einstellen.«

»Genau das will ich«, antwortete Icho To-lot. »Nach allem, was ich durch dich erfah-ren habe, hat die Anlage dem Planeten dasWasser entzogen. Damit muß jetzt Schlußsein. Das kosmische Ereignis im Paralleluni-versum ist nicht eingetreten. Die Anlage istlängst sinnlos geworden. Es ist vorbei.«

Er betätigte weitere Schalter, und in dentief ins Planeteninnere führenden Schächten

wurde es dunkel.»Geht es dir jetzt besser?« fragte der

Computer.Icho Tolot begriff. Die Syntronik hatte

ihn gewähren lassen, um ihn von dem Pro-blem des in ihm wachsenden Lebens abzu-lenken. Sobald er zusammenbrach und sichnicht mehr wehren konnte, würde sie dieAnlage wieder einschalten.

Er zog sich einige Meter weit zurück,dann fuhr er herum und rannte auf die Syn-tronik zu. Bruchteile von Sekunden vor demZusammenprall mit ihr wandelte er seineMolekularstruktur um und raste wie einBlock aus Terkonit in den Computer hinein.Danach schlug er mit allen vier Fäusten umsich und vernichtete, was in seine Reichwei-te geriet.

Das Licht in der Anlage erlosch. Nur nochwenige Leuchtelemente spendeten ein wenigLicht. Und auch in den Schächten wurde esnicht wieder hell.

Das Werk der Obbythen hatte sein Endegefunden.

Icho Tolot atmete auf. Es kam ihm vor,als habe er sich mit einem Schlag von einerquälenden Fessel befreit.

Er rief sich ins Gedächtnis, was der Com-puter ihm über die Anlage mitgeteilt hatte.Als Wissenschaftler hohen Ranges ermittelteer mühelos einige neuralgische Punkte desgesamten Projekts. Da sie in greifbarer Nähewaren, suchte er sie auf und zerstörte dieverbindenden Elemente, damit die Anlagesich auf keinen Fall wieder selbst einschal-ten konnte, falls es ihr gelang, die Schädenan der Syntronik zu beheben.

Dann erst kehrte er zum Ausgang zurückund stand nun vor einem weiteren Problem.Die gewaltigen Schotte hatten sich geschlos-sen. Ohne die nötige Energiezufuhr konntensie sich nicht wieder öffnen. Er hatte sichselbst eingesperrt, denn mit körperlicherKraft konnte er die Schotte nicht hochstem-men.

Gab es nur diese eine Möglichkeit, dieStation der Obbythen zu verlassen und andie Oberfläche zurückzukehren?

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Er suchte nach einem kleineren Schottoder irgendwelchen Hinweisen, fand jedochnichts, was ihm weiterhalf.

Es gab einfach kein Sesam, öffne dich!,wie seine terranischen Freunde so etwasnannten.

In einem Akt der Verzweiflung rannteIcho Tolot mit dem kugelförmigen Kopfvoran gegen eine der Außenwände. Wieder-um wandelte er kurz vor dem Aufprall seinemolekulare Struktur um. Dann schlug seinKörper wie ein mächtiger Meißel in dieWand, sprengte jedoch nur ein paar Brockenheraus. Als er sie danach untersuchte, kamer sehr schnell zu dem Ergebnis, daß er esauf diese Weise niemals schaffen konnte,die Anlage zu verlassen.

Nachdenklich ließ er sich auf den Bodensinken.

Es gibt einen Weg, sagte eine feine Stim-me in ihm, und sie schien direkt aus der Mit-te seiner Brust zu kommen. Du mußt nur su-chen!

Tolot schrie gepeinigt auf. Ihm war, alshabe man ihm ein Messer mitten ins Herzgestoßen.

Eines der Wesen in ihm sprach direkt zuihm!

Daß sich das fremde Leben in ihm soschnell entwickeln könnte, war ihm nie zu-vor in den Sinn gekommen.

7.

Die Nevever griffen auf breiter Front an.Dabei splitterten sie sich in einzelne Grup-pen auf, von denen die eine mit Messern aufdie Schlangen losging, während andere Seileüber ihre Körper hinwegwarfen und danachdie angespitzten Pfähle zu beiden Seiten derSchlangenleiber in den Boden rammten, umdie Seile daran anzubinden. Wiederum ande-re packten die Seile und spannten sie mit al-ler Kraft. Eine weitere Gruppe rammte denSchlangen lange Speere dicht hinter demKopf in die Seiten.

Der blutige Kampf war schnell vorbei.In Abständen von jeweils etwa fünf Me-

tern klammerten dicke Fesseln die Schlan-genkörper an den Boden, so daß die Tieresich nicht mehr wehren oder aus den Kada-vern der Insektoiden zurückziehen konnten.Sie kämpften mit aller Kraft, doch gegen dieÜbermacht der Nevever konnten sie nichtsausrichten, zumal diese ihnen mit ihrenMessern und Speeren immer mehr Wundenzufügten und sich buchstäblich bis in ihr In-nerstes vorgruben, um schließlich die Her-zen zu treffen.

Tifflor staunte über den Mut und die ge-schickte Kampftaktik der Nevever, die blitz-schnell gehandelt und ihre Beute überrum-pelt hatten.

Die Angreifer zogen sich zurück, als Blutaus den Körpern der Schlangen spritzte. Sieumringten ihre Opfer, wiegten sich in einemeigenartigen Tanz und begannen mit einemmelancholisch klingenden Singsang, mitdem sie ihr Bedauern über das unrühmlicheEnde der Giganten ausdrückten und ihnengleichzeitig höchsten Respekt zollten. AmEnde entschuldigten sie sich für ihre Tat.Fünf von ihnen traten nah an die sterbendenSchlangen heran, baten singend um Verge-bung und betonten, alles sei nur wegen desAshgavanogh geschehen.

Sie sangen natürlich in ihrer eigenenSprache, doch die Translatoren waren nacheiniger Zeit in der Lage, alles zu übersetzen.Offensichtlich gab es sogar eine entfernteVerwandtschaft mit dem Kunios, der Ver-kehrssprache der Galaxis.

Hotch-Kotta hatte seinen Rausch mittler-weile ausgeschlafen. Er kam schwankendvon der Oase herüber und gesellte sich zuJulian Tifflor und den anderen.

»Was für ein Anblick!« schwärmte er mitschwerer Zunge. »Das Herz geht mir auf.«

Zögernd und überaus vorsichtig kamennun die anderen Nevever aus der Oase her-über, um mit den Jägern zusammen den Siegzu feiern. Sie entfachten Feuer und stimmtenebenfalls melancholisch klingende Liederan, in denen sie den Tod der Schlangen be-dauerten, jedoch wegen Ashgavanogh alsunabdingbar bezeichneten.

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»Ich bin vollkommen leer im Kopf«,klagte Gucky, als Tifflor ihn fragte, ob er te-lepathisch irgend etwas erfassen könne.»Jetzt empfange ich noch weniger als vor-her. Eigentlich gar nichts mehr.«

Der Mausbiber griff sich an den Kopf unddrehte ihn dabei hin und her, als wolle ereinen verrutschten Halswirbel wieder ein-renken.

»Und auch sonst ist nichts mit mir los«,jammerte er. »Ich kann telekinetisch nichtsbewegen, und teleportieren kann ich auchnicht. Seit die Schlangen da sind, ist allesaus.«

Er wirkte ausgesprochen unglücklich undbedauerte vor allem, daß er nun nicht in derLage war, Icho Tolot aufzuspüren und ihmzu helfen.

Julian Tifflors Versuche, den Haluter überFunk zu erreichen, scheiterten ebenfalls.Icho Tolot meldete sich nicht.

Hotch-Kotta rief per Funk einen Helferherbei. Ein Roboter erschien, der kleiner undschlanker war als er, ansonsten aber genausoaussah, um ihm Wasser in großen Flaschenzu bringen. Der Koraw öffnete die Flaschenund trank innerhalb der nächsten Minutenetwa zwei Liter. Den noch verbleibendenRest schüttete er sich über den Kopf.

Danach fuhr er sich mit den Händen überdas Gesicht, grinste verschlagen. Er fragteTifflor, wie ihm denn das Avva-Ayya ge-schmeckt habe, womit er fraglos das berau-schende Getränk meinte.

»Ich habe es nicht probiert«, antworteteder Terraner.

Der Echsenartige verzog seine wulstigenLippen und verdrehte die Augen. »Dannhast du echt was verpaßt«, behauptete er.»Es ist ein phantastisches Zeug! Schade nur,daß man anschließend einen Höllendurstund bohrende Kopfschmerzen hat.«

Mittlerweile ging die Sonne auf, und einneuer Tag zog herauf.

Alle Schlangen waren tot. Die Neveverlösten nun die Fesseln, vereinigten sich er-neut zu Gruppen und stemmten sich gegendie Kadaver, um sie auf die Seite zu wälzen.

Als er sah, welche Schwierigkeiten sie dabeihatten, ging der Terraner zu ihnen, um ihnenHilfe anzubieten.

Einer der Nevever wandte sich ihm zuund stellte sich mit dem Namen Ogoniarvor.

»Es ist lobenswert, daß ihr uns helfenwollt«, wies er jede Unterstützung zurück,»doch Ashgavanogh zwingt uns zu einemfestgelegten Ritual, an dem wir nichts än-dern dürfen. Es verlangt von uns, daß wir al-les alleine machen. Ashgavanogh würde sichuns sonst verschließen.«

»Wer oder was ist Ashgavanogh?« fragteTifflor.

Ogoniar nutzte seine Mimikry-Fähigkeit,um das Gesicht des Terraners nachzuahmen.Er setzte ein freundliches Lächeln auf undzog sich ohne eine Antwort zurück.

Mit vereinten Kräften schafften die Neve-ver es, die drei Schlangen nach und nach aufdie Seite zu drehen.

Eine Gruppe von sieben Nevevern zognun heran und machte sich mit langen Mes-sern an den Bäuchen der Tiere zu schaffen.Sie hatten sich blaue Bänder um den oberenTeil ihres Körpers gebunden. Somit unter-schieden sie sich deutlich von allen anderen.

»Ich muß das nicht unbedingt sehen«,sagte Gucky, als die Nevever damit began-nen, die Bäuche der Schlangen aufzuschnei-den.

Der Mausbiber wollte sich in die IN-GORUE zurückziehen, doch Hotch-Kottahielt ihn am Arm fest.

»Das solltest du dir nicht entgehen las-sen«, empfahl er ihm. »Die Schlangen habenetwas sehr Wertvolles mitgebracht.«

Die mit Bändern geschmückten Neveverschnitten unter dem lauter und schriller wer-denden Singsang der anderen die innerenOrgane aus den Leibeshöhlen der Schlangenund trennten Leber und Gallenblase ab, zu-mindest das, was Tifflor dafür hielt. Darausfüllten sie eine grünliche Flüssigkeit ab,mischten sie mit Blut und Früchten aus derOase und erhitzten sie in großen Töpfen.

Jetzt wurde Hotch-Kotta munterer. Er

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ging zu den Nevevern und redete wild gesti-kulierend auf sie ein, bis sie schließlich dieBlasen aufschnitten und faustgroße Kugelnhervorholten. Er nahm sie ihnen ab, reinigtesie mit Sand und verstaute sie sorgfältig ineinem großen Beutel, den er danach schul-terte, um ihn zu seinem Raumschiff zu brin-gen.

Julian Tifflor stellte sich ihm in den Weg.»Was ist das?« fragte er interessiert. Der

Koraw blieb stehen und öffnete sein Hemdüber der Brust, um einen großen, grün fun-kelnden Edelstein freizulegen, den er da-durch verborgen hatte.

»Edelsteine! Natürlich müssen sie nochgeschliffen werden«, erläuterte er, »aber derAufwand lohnt sich. Der Tronium-Azint-Anteil ist gering, macht aber die ein-malige Schönheit der Steine aus. Für die Ne-vever sind sie so gut wie wertlos. Niemandnimmt sie ihnen ab. Nur ich!«

Sichtlich zufrieden mit seinem Erfolg,ging er weiter und brachte seine Beute anBord der MAJJETT Gucky sank stöhnendauf den Boden und lehnte sich mit demRücken gegen eine Landestütze der IN-GORUE.

»Jetzt weiß ich endlich, was mir zu schaf-fen macht«, versetzte er. »Es muß diese Mi-schung mit dem Tronium-Azint in den Stei-nen sein! Dabei sehen sie fast so wertvollaus wie ein echter Perlamarin.«

Ein Nevever kam zu ihnen. Er hielt einenBecher mit dem dampfenden Sud aus derGallenflüssigkeit, dem Blut der Schlangenund der Insektoiden sowie anderen Ingredi-enzien in den Händen, hielt ihn Julian Tif-flor hin, betonte, daß er Ogoniar sei, einehohe Funktion in der Stadt ausfüllte und sichmit den Vorbereitungen für Ashgavanoghbefaßt habe. Er bot Tifflor an, von dem Sudzu trinken.

Der Terraner beugte sich nur kurz überden Becher. Als ihm der Geruch der Flüssig-keit in die Nase stieg, wurde ihm übel. Ermußte sich abwenden, um sich nicht überge-ben zu müssen. Der Sud verbreitete einenfür menschliche Geruchssinne bestialischen

Gestank und war für ihn unter gar keinenUmständen genießbar.

»Es tut mir leid«, würgte er. »Ich kanndein freundschaftliches Geschenk leidernicht annehmen.«

*

Icho Tolot fühlte eine nie gekannteSchwäche, die von seiner Brust ausging undsich über den ganzen Körper ausbreitete.

Der Haluter wollte sich aufbäumen gegendas Leben, das in ihm heranwuchs, zweifeltezugleich aber an dem Sinn einer solchenHaltung.

Hatte er überhaupt Aussicht, den Kampfnoch zu gewinnen? War das heranwachsen-de Leben nicht schon viel zu weit fortge-schritten?

Es gibt einen Ausgang, meldete sich dieStimme. Such ihn! Und hör endlich auf, dichgegen uns zu wehren! Damit schadest duuns.

Der Haluter reagierte und ging wie be-täubt weiter, ohne über die Worte des Obby-then nachzudenken. Er schritt an den Wän-den entlang, bis er schließlich eine feine Ril-le entdeckte. Danach ließ er seine vier Hän-de über die Wand gleiten, und irgendwannberührte er einen versteckten Kontakt.

Eine Tür öffnete sich. Sie war ausrei-chend hoch und breit für ihn. Dahinter be-fand sich eine Treppe, die nach oben führte.

Geh hinauf!Icho Tolot gehorchte. Schritt für Schritt

stieg er die Stufen hinauf, und die Knie tatenihm weh. Die Schwäche in den Beinen nahmzu, und das Druckgefühl in der Brust wuchs.

Es war leicht, die Wesen in ihm zu has-sen, und es war schwer, Verständnis für siezu haben. Verstehen konnte er allenfalls dieMutter, die ihre allerletzte Chance für ihrVolk genutzt hatte.

Er empfand den Untergang der Obbythenals schweren Verlust, da Geschöpfe wie sieden Völkern Puydors und anderer Galaxienunendlich viel geben konnten.

Doch mußte ausgerechnet er der Nährbo-

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den sein, aus dem das neue Leben erwuchs?Es tut uns leid, Tolotos, aber es war kein

anderer da.Er spürte, wie es ihn abwechselnd heiß

und kalt überlief.Sie hatten nicht nur seine Fähigkeit, den

eigenen Metabolismus zu verändern, sie be-saßen nicht nur eine hohe Intelligenz, siekonnten auch seine Gedanken lesen.

Wir würden dich überleben lassen, wennes möglich wäre! teilten sie ihm mitfühlendmit. Und wir bitten dich um Vergebung fürdas, was wir dir antun müssen.

Die Worte der noch jungen, aber rasendschnell wachsenden Wesen wirkten in ihmnach, und er hörte auf, sie zu hassen.

So grausam das Geschehen auch für ihnwar, ihnen konnte er keinen Vorwurf darausmachen, daß sie ihrer Natur folgten. Siekonnten nur existieren, wenn sie von seinerSubstanz lebten. Eine andere Möglichkeitgab es nicht.

Die Mutter hat auf ein Wesen wie dich ge-wartet, eröffneten sie ihm. Die Nevever, dieoben leben, wären nicht geeignet gewesen.Niemand sonst hätte uns aufnehmen können,nur ein Wesen wie du mit deinen besonderenFähigkeiten. Wir brauchen den molekularenStrukturwandel, um uns entwickeln zu kön-nen.

Die Treppe endete an einer Schleuse, diesich mühelos öffnen ließ. Nachdem Icho To-lot eines ihrer Schotte aufgefahren hatte,zeigte ihm ein Monitor an, daß er sich in ei-ner Tiefe von annähernd hundert Metern be-fand und ihn eine Schicht Sand von derOberfläche trennte.

Er öffnete das äußere Schleusenschott,trat rasch zur Seite und stemmte sich gegendie Wand. Feiner Sand, der flüssig erschienwie Wasser, schoß ihm entgegen, füllte dieSchleuse binnen weniger Sekunden und floßminutenlang über die Treppe ab, bis er end-lich zur Ruhe kam.

Du solltest dich nach oben durchwühlen!Genau das habe ich vor! antwortete er

und kämpfte sich durch den Sand. Ruhigund geduldig wühlte sich der Haluter nach

oben, wobei er sich mit Armen und Beinenwie ein Schwimmer im Wasser bewegte.

Du könntest im Sand steckenbleiben.Dann würden wir alle drei sterben.

Ich habe nicht vor, euch sterben zulassen, erwiderte er. Je mehr ihr euch ent-wickelt, desto wichtiger kommt es mir vor,euch zu helfen.

Wir werden dich nie vergessen, Tolotos.Diese Gedanken der beiden Obbythen klan-gen beinahe zärtlich. Sie vermittelten ihmein tiefes und ehrliches Gefühl de Zunei-gung.

Warum war das Schicksal so grausam,daß es ihnen keinen Ausweg ließ? Warumverlangte es sein Leben für das der Obby-then?

*

Ogoniar war nicht beleidigt. Der Neveverhob den Becher an die eigenen Lippen undtrank ihn aus. Dann rülpste er laut, wandtesich ab und kehrte zu den anderen zurück,die dem Getränk eifrig zusprachen.

Hotch-Kotta begann währenddessen da-mit, sein Raumschiff zu entladen. Roboterhalfen ihm, die kugelförmigen Container zuentleeren und alles am Rande der Oase auf-zustapeln, was er mitgebracht hatte.

»Es wird langsam besser«, sagte Guckyund rieb sich die Schläfen. »Das dumpfe Ge-fühl weicht. Ob es daran liegt, daß diese ver-flixten Gallensteine von der Galle getrenntworden sind?«

Der Mausbiber erwartete keine Antwort,weil er sich darüber klar war, daß sie ihmniemand geben konnte.

Da die Nevever ihren Sieg über dieSchlangen ausgelassen feierten und nunauch deren Fleisch zu verzehren begannen,achtete niemand von ihnen auf Julian Tif-flor, als er zu einem der Stapel aus der MA-JETT ging. Er wollte die Güter untersuchen,die der Koraw gegen die Edelsteine einzut-auschen hatte. Hotch-Kotta war viel zu be-schäftigt, um etwas zu bemerken.

»Es ist Betrug«, berichtete Tiff, als er

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kurz darauf zu Gucky zurückkehrte.»Hotch-Kotta liefert nur minderwertigesZeug. Die Nevever werden nicht viel Freudedaran haben. Jetzt wissen wir, daß er hierwirklich Geschäfte macht. Riesengeschäfte.Seine Waren haben nicht annähernd den Ge-genwert der Edelsteine.«

»Es ist den Nevevern aber völlig egal«,vermutete der Mausbiber. »Sie haben andereInteressen. In ihren Köpfen spukt nur derGedanke an Ashgavanogh herum. Die Wa-ren des Koraws nehmen sie mit, aber imGrunde interessieren sie nicht.«

Tiff ging an Bord der INGORUE und ver-suchte wie schon so oft in den letzten Stun-den, Verbindung mit Icho Tolot aufzuneh-men.

Vergeblich. Der Haluter meldete sichnach wie vor nicht.

Auch Gucky machte sich Sorgen um denalten Freund, tröstete sich jedoch mit demGedanken, daß niemand wehrhafter war alser. Mit Hilfe seiner besonderen Fähigkeitenkonnte Tolot sich aus beinahe jeder Situati-on retten.

»Früher oder später werden wir von ihmhören«; sagte der Ilt voraus.

*

Hin und wieder mußte der Haluter einePause einlegen, da es sich als unerwartet an-strengend für ihn erwies, sich durch denSand nach oben zu rudern. Er brauchte über-raschend viel Energie und mußte dazu großeMengen Sand und Steine zu sich nehmen,um sie atomar umzuwandeln. Allein dieStrukturveränderung war mit einem so ho-hen Energieaufwand verbunden, daß dieAusbeute relativ gering blieb. Und von die-sem Anteil rissen die beiden heran wachsen-den Obbythen einen, erheblichen Prozent-satz an sich.

Könnt ihr euch nicht ein wenig zurückhal-ten? fragte er sie.

Wir erkennen deine Not, antworteten sie,doch unseren Energiebedarf können wirnicht steuern, ebenso wie du keineswegs

Einfloß auf alle Vorgänge in deinem Körperhast.

Da habt ihr recht, stimmte er zu. Es gibtAusnahmen vor allem beim primordialen Sy-stem.

Wie bei uns!Je weiter sich die Obbythen entwickelten,

desto deutlicher wurde, daß es zahlreicheParallelen zwischen ihnen und den Haluterngab. Aber es lagen auch gravierende Unter-schiede vor. Bei zwei so verschiedenen We-sen, die in verschiedenen Galaxien entstan-den waren, wäre alles andere einem Wundergleichgekommen. Die Obbythen hatten sichin Puydor entwickelt, die Vorfahren der Ha-luter hatten in M 87 gelebt - dazwischen la-gen Millionen und aber Millionen von Licht-jahren Entfernung.

Während sich Icho Tolot weiter nachoben wühlte, erfuhr er mehr über die beidenHeranwachsenden in ihm. Teilweise bekamer sogar Zugang zu ihrer Gedankenwelt. Ererkannte, daß etwas Großartiges und Einma-liges in ihm entstand, das es wert war, erhal-ten zu werden.

Die Obbythen waren mit einem Ur-Gedächtnis ausgestattet, das dazu beitragenkonnte, die letzten noch bestehenden Rätselder Schöpfung zu lösen. Solche Wesenbrachte die Natur in Millionen von Jahrennur einmal hervor.

Icho Tolot kam sich geradezu klein undunbedeutend neben ihnen vor.

Je weiter der Haluter nach oben stieg, de-sto mehr wich der Druck des Sandes auf ihn,und nach einer letzten Erholungspauseschaffte er es, sich durch die letzte Schichtbis ins Freie zu kämpfen.

Er war restlos erschöpft. Tolot ließ sichauf den Rücken fallen, um ein wenig zu ru-hen und sich zu erholen.

Ihr dürft mir nicht zuviel Energie entzie-hen, ermahnte er die Obbythen. Ihr nehmtzur Zeit mehr, als ich ausgleichen, mehr, alsich verkraften kann.

Wir können nichts dagegen tun, erwider-ten sie. Das sind Prozesse, auf die wir kei-nen Einfluß haben.

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Die letzten Dämme brachen, und Icho To-lot erkannte, daß es zu Ende ging. Bis zudiesem Augenblick hatte er irgendwo nocheinen letzten Schimmer Hoffnung gehegtund sich gegen die Resignation gewehrt.Entgegen allen Erkenntnissen der Vernunfthatte er geglaubt, daß es noch einen Ausweggab.

Nun wurde ihm klar, daß seine Begeg-nung mit den Obbythen konsequent und oh-ne Wenn und Aber zu dem unabänderlichenResultat führte, welches ihm bereits derComputer der Anlage vorausgesagt hatte.

Der Haluter erhob sich und machte sichauf den Weg, der ihn zurück zu seinenFreunden führte. Er wollte Tifflor undGucky noch einmal sehen, um von ihnenAbschied zu nehmen.

Er brauchte sich nur kurz zu konzentrie-ren, um herauszufinden, in welche Richtunger gehen mußte. Sein Planhirn funktioniertenach wie vor einwandfrei.

Als er etwa eine halbe Stunde lang durchdie Wüste geeilt war, wobei er wiederumvorwiegend durch die Täler zwischen denDünen raste, um Kräfte zu sparen, meldetensich die Obbythen wieder.

Es sieht plötzlich gar nicht gut aus! IchoTolot blieb stehen und horchte in sich hin-ein. In den Knien war er so schwach, daß ersich auf die Laufarme hinabsinken ließ, umsein Gewicht kräfteschonend auf vier Glied-maßen zu verteilen.

Ich verstehe euch nicht. Was wollt ihr da-mit sagen?

*

»Ich habe mich ein wenig umgehört unddoch etwas über Ashgavanogh herausgefun-den«, berichtete Hotch-Kotta, nach-dem erseine Fracht gelöscht hatte.

Sichtlich mit dem Geschäft zufrieden,setzte sich der Koraw zu Tiff und Gucky inden Sand. Er war nun vollkommen nüchtern,und nur sein stechender Atem verriet noch,daß er sich vor noch nicht allzu langer Zeitin einem Rauschzustand befunden hatte.

»Was ist es?« fragte der Terraner. »Vielhaben mir die Nevever nicht erzählt, und dasauch nur, nachdem ich sie mit Geschenkenzugänglicher gemacht habe. Die haben na-türlich viel Geldgekostet. «

Das Echsenwesen blickte Julian Tifflorerwartungsvoll an und streckte die Handaus. Die Geste war eindeutig. Es erwarteteeinen finanziellen Lohn für seine Auskünfte.

»Eine schöne Hand hast du«, spottete derMausbiber. »Leider ist sie viel zu klein, umetwas hineinzulegen.«

Er führte die Hand telekinetisch an denKörper des Koraws zurück, was für ihn miteinem ungewohnt hohen Energieaufwandverbunden war. Immerhin begriff Hotch-Kotta, daß er keine Belohnung erhalten wür-de und daß er gut beraten war, sich nicht mitdem Ilt einzulassen. Er räusperte sich mehr-mals, als habe er mit einem Hustenanfall zukämpfen.

»Es war kein kleiner Scherz«, beteuerte erdann. »Man kann nicht immer nur ernst sein,wenn die Nevever feiern.«

»Also?« Tifflor blickte ihn aufforderndan.

»Wenn ich die Nevever richtig verstandenhabe, ist Ashgavanogh so etwas wie ein reli-giöses oder beinahe religiöses Ritual«, erläu-terte der Koraw eilfertig. »Die Nevever ver-anstalten es zu gewissen Zeiten und in ge-wissen Abständen. Fremde sind dabei nichtzugelassen - und eigentlich sind sie ja auchnicht daran interessiert.«

»Ist das alles?« wollte Gucky wissen.»Das ist alles. Ist es nicht genug?« Hotch-

Kotta tat, als habe er eine ungeheuer wichti-ge Information vermittelt, dabei hatte er imGrunde genommen nicht mehr erzählt, alssie ohnehin schon wußten oder doch vermu-tet hatten. Zugleich erweckte er den Ein-druck, als sei Ashgavanogh ein Ereignis, daskeinerlei Aufmerksamkeit verdiente.

Das sahen Tiff und Gucky völlig anders!Für sie war alles von höchstem Interesse,was mit Ashgavanogh zusammenhing.

Die beiden Aktivatorträger wechseltennoch einige Worte mit dem Koraw, doch

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dieser spürte, daß er ihnen lästig war, undzog sich zurück. Gucky erhob sich nun undging in die Oase der Nevever, um sich tele-pathisch umzuhören. Tatsächlich kehrtenseine parapsychischen Kräfte allmählich zu-rück. Es schien, als seien die unbekanntenStörfaktoren beseitigt.

Es dauerte nicht lange, bis er wieder inder Zentrale der INGORUE auftauchte, dieTifflor mittlerweile aufgesucht hatte.

»Ich habe mir Ogoniar vorgenommen«,berichtete er. »Der Knabe hat den Entschlußgefaßt, am Ashgavanogh teilzunehmen undsich dabei zu verinnerlichen oder so ähnlich.Vielleicht auch zu stärken. Besonders klarwaren seine Gedanken nicht. Er hat wohl zu-viel von dem Schlangengebräu getrunken.«

»Aber du glaubst, daß er wirklich zumAshgavanogh gehen will?« »Davon bin ichfest überzeugt.« Gucky richtete sich auf,schloß die Augen und wirkte so konzentriertwie schon lange nicht mehr. Als er die Au-gen wieder öffnete, sagte der Ilt: »Die erstenNevever brechen zum Ashgavanogh auf. Siemachen sich still und leise in die Wüste da-von.«

»Das hört sich an, als ob es nicht alle mer-ken sollen.«

»Genau so ist es. Sie stehlen sich davon.Wenn ich es richtig sehe, sind schon eineganze Menge verschwunden, und wenn wirnicht aufpassen, ist auch der letzte weg, be-vor wir ihn verfolgen können.«

»Kannst du teleportieren?«Gucky kratzte sich den Kopf hinter den

Ohren.»Das ist eine schwierige Frage, Tiff, aber

versuchen können wir es ja. Die Neveververschwinden irgendwie über die Kantenach unten in die Wüste. Komm! «

Der Mutant streckte die Hand aus, und alsTifflor sie ergriff, sprang er mit ihm zusam-men. Sie materialisierten ungefähr an derStelle, an der Icho Tolot nach seinem Sturzüber die Kante aufgeschlagen war. Nichtweit von ihnen entfernt entdeckten sie einigeNevever, die in einem Spalt im Fels ver-schwanden.

Die beiden Galaktiker folgten ihnen eilig.

*

»Wieso sieht es nicht gut aus?« fragteIcho Tolot mit lauter Stimme.

Der Haluter war nicht mehr allzuweit vonder Oase der Nevever entfernt und konntedie steil aufsteigende Felskante bereits se-hen.

Wir haben von dem primordialen Systemgesprochen. Es macht uns Schwierigkeiten.

Der Haluter ging langsam weiter und rich-tete sich dabei auf die Beine auf. Er spürte,daß es zu einer wichtigen Entscheidung ge-kommen war.

Wir haben dagegen gekämpft. Mit allerKraft. Deshalb haben wir auch so viel Ener-gie von dir abgezogen. Es hat uns nicht ge-holfen.

Eisiger Schrecken durchfuhr ihn. Vornoch nicht allzu langer Zeit hätte er bei sol-chen Worten gejubelt, doch nun kroch Angstin ihm hoch - Angst um die beiden Wesen,die in ihm heranwuchsen.

»Ich verstehe noch immer nicht«, sagte ermit grollender Stimme.

Es geht um dein Immunsystem, erläutertensie. Es war sehr stark geschwächt, als dieMutter uns einpflanzte, aber es erholt sichunglaublich schnell, viel schneller, als füruns gut ist, und es vergiftet uns. Dabeischeint dein Zellaktivator zu helfen.

»Ihr müßt etwas dagegen tun.« Der Halu-ter wehrte sich dagegen, daß alles vergeblichgewesen sein sollte.

Die beide Keime hatten sich rasant ent-wickelt. Sie hatten Anlaß zu großen Hoff-nungen gegeben, und nun sollte sich dasSchicksal gegen sie gewendet haben?

Wir können nichts dagegen tun, denn aufdieses System haben wir keinen Zugriff.

»Ich auch nicht!« Er hatte schier unglaub-liche Fähigkeiten und konnte so ziemlich al-le biologischen Abläufe in seinem Körpersteuern, doch es gab ein ursprüngliches Sy-stem in jedem lebenden Wesen, dessen Ent-stehung weit in die Vergangenheit zurück-

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reichte, bis hin zu den Anfängen des Lebensüberhaupt.

Dieses System entzog sich dem willentli-chen Einfluß. Auch dem eines mächtigenWesens wie eines Haluters.

Icho Tolot war verzweifelt und suchtenach einem Ausweg. Die beiden Obbythenin ihm durften nicht sterben. Was er zu Be-ginn gehaßt und verabscheut hatte, das be-wunderte er nun und wollte es auf jeden Fallerhalten.

Du hast keinen Weg gefunden, um uns zuvernichten, so, wie du es zu Anfang wolltest,und du wirst keinen Weg finden, um uns zuretten! Die Mutter hat sich geirrt. Sie hatgeglaubt, daß du unsere letzte Chance bist,aber wir haben unsere Chancen schon vorJahrtausenden verspielt!

Während er durch die Wüste lief, ver-suchte der Haluter alles, um den beiden Ob-bythen doch zu helfen, doch es war, wie siegesagt hatten. Ein rudimentäres System inihm, das er nie für wichtig gehalten hatte,demonstrierte seine Kraft und Überlegenheitund machte zugleich deutlich, auf welchemBoden er sich bewegte.

Er kommunizierte mit den beiden Obby-then, bis er die steil aufsteigende Wand un-terhalb der INGORUE erreichte. Währenddieser ganzen Zeit wurden ihre Stimmen im-mer schwächer, bis sie schließlich ganz ver-stummten.

Schließlich öffnete er mit Hilfe der Struk-turumwandlung seine Brust, und ein bißchenorganische Substanz kam heraus. Das waralles. Die Substanz fiel einfach in den Sand,und er deckte sie mit Geröll und Steinen zu.

Dann vernahm er den Ruf Julian Tifflors.Icho Tolot folgte ihm. Während er ging, wa-ren seine Gedanken bei den beiden Obby-then. Er wußte nicht, ob er zufrieden seinsollte über das Ende der Begegnung mit ih-nen oder nicht. Keiner aus dem Volk dieserkochentwickelten Intelligenzen würde je-mals zurückkehren.

Der Haluter betrat einen Spalt im Fels,und auf Anraten seiner Freunde verhielt ersich ruhig, versteckte sich, sobald ein Neve-ver in seine Nähe kam, und arbeitete sich

behutsam vor, bis er neben Tifflor undGucky hinter einem Felsen stand.

»Hallo«, grüßte der Ilt. »Ist alles in Ord-nung?«

»Keine Probleme«, behauptete der Halu-ter.

»Ist etwas Besonderes vorgefallen?«»Nichts«, schwindelte er. »Nichts von Be-

deutung.«Und dabei kam tiefe Trauer in ihm auf.Julian Tifflor forderte die ungleichen

Freunde mit einer Geste auf, ruhig zu sein.Behutsam pirschten sie sich näher an eineGruppe von Nevevern heran, die sich in ei-ner Höhle versammelt hatten, die von riesi-gen Stalagmiten und Stalaktiten erfüllt war.Feuer loderten in die Höhe und erhellten dieSzene.

Über 200 Nevever hatten sich eingefun-den. In den Augen der heimlichen Beobach-ter boten sie ein bizarres, beinahe unheimli-ches Bild, hatten die Wesen doch eine ver-blüffende Ähnlichkeit mit den Kalkforma-tionen der Stalagmiten und Stalaktiten.

Die Nevever drängten sich zusammen undbildeten einen großen Kreis, wand ten ihreKöpfe dem Zentrum zu, neigten ihre Körperund hielten einander bei den Pseudopodien,so daß sie eine geschlossene Einheit bilde-ten.

Das Ashgavanogh begann!Doch Julian Tifflor und Icho Tolot erfaß-

ten nichts davon, da es sich ausschließlichauf geistiger Ebene abspielte und mit keinenweiteren Äußerlichkeiten verbunden war.

Gucky aber verfiel in eine Art Trance, alser telepathisch Kontakt mit Ogoniar auf-nahm, der eine führende Rolle spielte.

Beinahe eine halbe Stunde verstrich, bisder Ilt sich regte. Er hob den Kopf, blicktedie beiden an und flüsterte: »Das müßtet ihrsehen! Was für ein Erlebnis!«

Spätestens jetzt zeigte sich, daß die Ent-scheidung richtig gewesen war nach Ket-chorr zu fliegen!

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E N D E

Auf dem Planeten Ketchorr leben zwar die Nevever, sie haben jedoch keinerlei Erinnerungan Jii'Nevever. So scheint es zumindest. Doch dann beginnen sie ihr Ashgavanogh - und sieträumen ihren eigenen Traum.

Das zu schildern ist die Aufgabe von Ernst Vlcek. Sein PERRY RHODAN-Roman erscheintin der nächsten Woche unter folgendem Titel:

DER TRAUM DER NEVEVER

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