die liberalisierung des wohlfahrtsstaates und ihre herausforderungen für das pflegemanagement der...

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HeilberufeSCIENCE HeilberufeSCIENCE 2009 · No. 3 ©Urban & Vogel 62 Die Liberalisierung des Wohlfahrtsstaates und ihre Herausforderungen für das Pflegemanagement der Zukunft Christoph Zulehner 1 , Gerhard Müller 1 , Bernd Seeberger 1 , Christa Them 1 1 alle:UMIT Private Universität für Gesundheitswissenschaften, Medizinische Informatik und Technik, Eduard Wallnöfer-Zentrum 1, 6060 Hall in Tirol, Österreich Zusammenfassung Die Liberalisierung des Wohlfahrtsstaates, ausgelöst durch den zunehmend globalisierten Wettbewerb, wird in der Zukunft auch wesentliche Auswirkungen auf die Anforderungen an die Systembeteiligten und somit an das Pflege- management haben. Die Reformwilligkeit seitens der Patienten nimmt messbar zu. Es ist zu erwarten, dass kri- tische, eigenverantwortliche, mit dem World-Wide-Web vertraute Informationsarbeiter als Klienten ihre Ansprü- che an die Dienstleister deutlich machen werden. In Anbetracht des wachsend notwendigen Selbstmanagements der Arbeitnehmer, werden diese Leistungen kritisch hinterfragen und auch Bereitschaft zeigen, sich in die System- gestaltung mit einzubringen. Dies vor allem dann, wenn dadurch Hospitalisierungen oder Kostenübernahmen hintan gehalten werden können. Diese Veränderungen im sozialen Gefüge werden die Pflegenden in Zukunft vor ganz neue Herausforderungen stellen. Das Tätigwerden für Klienten wird sich zu einem Tätigwerden mit Klienten verändern. Die Leistungsentscheidung wird zum Abstimmungsprozess und somit zur Leistungsvereinbarung. Dies aber nicht pauschal, sondern in unterschiedlichen Ausprägungen je nach Patiententyp. Dieser Drift wird einer Neudefinition des Dienstleistungsverhältnisses zwischen Klienten und Leistungserbringer bedürfen. Das Augen- merk hierbei wird über das Mitwirkungsbewusstsein, die Mitwirkungsfähigkeit und die Mitwirkungsbereitschaft der Leistungsempfänger hinaus, auch auf mögliche Mitwirkungsanreize zu richten sein. Was das Arzt-Patienten- verhältnis betrifft, gibt es diesbezügliche erste empirische Untersuchungen. Das Verhältnis zwischen der Pflege und ihren Leistungsempfängern stellt allerdings Neuland dar. Die vorliegende Publikation versteht sich deshalb als Hinführung zu diesem Forschungsfeld und als Auftakt zu einer dementsprechenden Feldforschung. Schlüsselworte: Liberalisierung des Wohlfahrtsstaates, Liberalisierung der Arbeitswelt, Empowerment, Koproduktion, Prosumerism, Wandel im Sozialstaat, Zukunft des Pflegemanagements Liberalisation of the welfare state and the challenge to future health care management Summary The liberalisation of the welfare state caused by the increasingly globalising competition will also have a consider- able impact on the requirements for all people involved in the system and thus also for the health care management in the future. The willingness for reforms among the patients is clearly increasing. Critical, self-dependent informa- tion workers who are familiar with the World Wide Web will clearly demonstrate the requirements to the service providers as clients. As the self management of the employees is constantly become more vital, they will critically- scrutinise the services provided and will also be prepared to take part in the design of the system – especially if hospitalisations and cost absorptions can thus be prevented. These changes in the social structure will pose

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HeilberufeSCIENCE

HeilberufeSCIENCE 2009 · No. 3 ©Urban & Vogel62

Die Liberalisierung des Wohlfahrtsstaates und ihre Herausforderungen für das Pflegemanagement der Zukunft

Christoph Zulehner1, Gerhard Müller1, Bernd Seeberger1, Christa Them1

1 alle:UMIT Private Universität für Gesundheitswissenschaften, Medizinische Informatik und Technik, Eduard Wallnöfer-Zentrum 1, 6060 Hall in Tirol, Österreich

ZusammenfassungDie Liberalisierung des Wohlfahrtsstaates, ausgelöst durch den zunehmend globali sierten Wettbewerb, wird in der Zukunft auch wesentliche Auswirkungen auf die Anforderungen an die Systembeteiligten und somit an das Pflege-management haben. Die Reformwilligkeit seitens der Patienten nimmt messbar zu. Es ist zu erwarten, dass kri-tische, eigenverantwortliche, mit dem World-Wide-Web vertraute Informationsarbeiter als Klienten ihre Ansprü-che an die Dienstleister deutlich machen werden. In Anbetracht des wachsend notwendigen Selbstmanagements der Arbeitnehmer, werden diese Leistungen kritisch hinterfragen und auch Bereitschaft zeigen, sich in die System-gestaltung mit einzubringen. Dies vor allem dann, wenn dadurch Hospitalisierungen oder Kostenübernahmen hintan gehalten werden können. Diese Veränderungen im sozialen Gefüge werden die Pflegenden in Zukunft vor ganz neue Herausforderungen stellen. Das Tätigwerden für Klienten wird sich zu einem Tätigwerden mit Klienten verändern. Die Leistungsentscheidung wird zum Abstim mungs prozess und somit zur Leistungsvereinbarung. Dies aber nicht pauschal, sondern in unterschiedlichen Ausprägungen je nach Patiententyp. Dieser Drift wird einer Neudefinition des Dienstleistungsverhältnisses zwischen Klienten und Leistungs erbringer bedürfen. Das Augen-merk hierbei wird über das Mitwirkungs bewusstsein, die Mitwirkungs fähigkeit und die Mitwirkungs bereitschaft der Leistungs empfänger hinaus, auch auf mögliche Mitwirkungsanreize zu richten sein. Was das Arzt-Patienten-verhältnis betrifft, gibt es diesbezügliche erste empirische Untersuchungen. Das Verhältnis zwischen der Pflege und ihren Leistungsempfängern stellt allerdings Neuland dar. Die vorliegende Publikation versteht sich deshalb als Hinführung zu diesem Forschungsfeld und als Auftakt zu einer dementsprechenden Feldforschung.

Schlüsselworte: Liberalisierung des Wohlfahrtsstaates, Liberalisierung der Arbeitswelt, Empowerment, Koproduktion, Prosumerism, Wandel im Sozialstaat, Zukunft des Pflegemanagements

Liberalisation of the welfare state and the challenge to future health care management

SummaryThe liberalisation of the welfare state caused by the increasingly globalising competition will also have a consider-able impact on the requirements for all people involved in the system and thus also for the health care management in the future. The willingness for reforms among the patients is clearly increasing. Critical, self-dependent informa-tion workers who are familiar with the World Wide Web will clearly demonstrate the requirements to the service providers as clients. As the self management of the employees is constantly become more vital, they will critically-scrutinise the services provided and will also be prepared to take part in the design of the system – especially if hospitalisations and cost absorptions can thus be prevented. These changes in the social structure will pose

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Zulehner et al. Pflegemanagement im liberalisierten Wohlfahrtsstaat

Deshalb konzentrierte sich die Suche zunächst auf die klassische Literatur und hier bevorzugt auf Universitäts bibliotheken. Als wesentliche Suchbegriffe dienten die Termini „Tertiärisierung“, „Globalisierung“, „Sozialstaat“, „Liberalisierung“, „Drei-Sektoren-Theorie“, „Dienstleistungsgesellschaft“ und „Informations gesell-schaft“.Wie sich in der Ergebnisdarstellung zeigt, förderte die Re-cherche zu Tage, dass sich im Bezug auf die Veränderungen des Sozialstaates und ihrer Auswirkungen auf das Pflegemanagement, eine große Forschungslücke auftut.

ErgebnisseIn den letzten Jahren wurde der Gesundheits- und Sozialbereich vermehrt mit jenen Entwicklungen konfrontiert, die auch dazu geführt haben, dass sich das System deutlich ökonomisiert hat. Beispiele dafür sind die Anspruchs inflation, die zunehmende Rationali sierung und die Einführung kompetitiver Finanzierungs-vorgaben [9, 16], um nur einige zu nennen. Allem voran wurde die Diskussion vom Terminus der „Demografischen Zeitbombe“ [9, 16] dominiert. Einzelne Experten, unter ihnen Müller (2004), kri-tisieren allerdings den unsensiblen Sprachgebrauch und damit auch jene, die von „Überalterung“ und „Vergreisung“ sprechen [28: 115–125]. Vielmehr fordert er einen behutsameren Umgang mit Veränderungen, erst recht mit den dabei verwendeten Begrif-fen. Konkret weist Müller (2004) darauf hin, dass sich die unter-schiedlichen Sozialtechniken langsam und kontinuierlich entwi-ckelt haben und dass die Bevölkerung demnach auch ausreichend Zeit braucht, sich auf System veränderungen einzustellen [28: 115–125]. Eine ähnliche Betrachtung stellt Bosbach an. Vor allem fordert er nicht die Gesamtsicht zu verlieren und deshalb bei seri-öser Kostenbetrachtung, nicht nur den Alten- sondern auch den Jugendquotienten zu berücksichtigen [8]. Am Beispiel Demogra-fie bemerkt er, dass die Verschiebung bei der Alterspyramide aller Voraussicht nach nicht nur Belastungen bedeuten wird [8]. Eben-falls zu berücksichtigen ist der Umstand, dass die demografische Entwicklung, per se für den Gesundheits- und Sozialsektor ein Marktwachstum und damit nur aus einer Perspektive besehen, ei-ne Bedrohung darstellt.

Die Erfahrung hat gezeigt, dass 50-jährige Betrachtungen zu langfristig sind, weil dabei vielfältige Strukturbrüche gar keine Be-rücksichtigung finden können. Ab gesehen davon ist evident, dass Bevölke rungs berech nungen einer ständigen Korrektur bezie-hungsweise Anpassung bedürfen, weil die Trefferquote mit zuneh-mendem Betrachtungszeitraum immer geringer wird und deshalb auch immer mehrere Szenarien kalkuliert werden müssen [8]. Ei-ne Vorausschau muss deshalb mit Bedacht vorgenommen werden. Nur zur Erinnerung: Die malthusianischen Prognosen [27, 1] ha-ben sich nicht bestätigt und Demo grafen sprechen bei jenem Blick in die Zukunft von Kaffeesatzleserei, der die Zehnjahresgrenze überschreitet [8].

Zweifelsohne bringt die zukünftige Entwicklung Spannungs-felder und Heraus forderungen mit sich. Es muss als Tatsache be-wertet werden, dass Veränderung stattfindet, ungeachtet dessen, wie sich die Systembeteiligten und ihr Management dieser gegen-über verhalten.

completely new challenges to the care givers in the future. Becom-ing active for clients will convert into becoming active with cli-ents. The decision on a service is becoming an approval process and thus a services agreement. This drift will require a new defini-tion of the relation between the clients and the service providers. The main focus will have to be put not only on the awareness of participation, the capacity and the willingness to participate of the service receivers but also on potential incentives to participate.

Keywords: Liberalisation of the welfare state, liberalisation of the working environment, changes in the patient behaviour, empowerment, co-production, prosumerism, future of the health care management

HeilberufeSCIENCE 2009; 2 (3): 62–9DOI 10.1007/s00058-009-1514-3

EinleitungDer gesellschaftliche Wandel der letzten Jahre ist von drei heraus-ragenden Phänomenen gekennzeichnet: zum Ersten vom Wandel von der Industriegesellschaft hin zur Dienstleistungsgesellschaft; zum Zweiten von der Auflösung kollektivistischer Systeme und deren Veränderung zu individualistischen beziehungsweise neoli-beralen Gesell schaften. Die Grenzen dieser Systeme waren in den letzten Jahren nicht nur Gegen stand populärwissenschaftlicher Publikationen, sondern haben auch Wissen schaft und Forschung beschäftigt [45]. Zum Dritten werden diese Erscheinungen davon flankiert, dass unsere Gemeinschaft eine nie da gewesene demo-grafische Entwick lung erleben darf. Die Autoren gehen davon aus, dass dieser Trend eine dementsprechende Veränderung für die Berufsfelder von Pflege und Betreuung nach sich ziehen wird.

ZielsetzungZiel der vorliegenden Publikation ist es, nach wissenschaftlichen Belegen für diese Veränderungen zu suchen und davon abgeleitet, das Forschungsfeld und einen brauchbaren methodischen Zugang zu identifizieren. Beides soll evidenzbasiert herausgeschält wer-den, unter Berücksichtigung der Frage, was für die Entwicklung der Pflege und somit für die Pflegewissenschaft zukünftig von be-sonderer Bedeutung sein wird.

MethodikDer methodische Zugang gestaltete sich deshalb herausfordernd, weil sich im Rahmen erster Recherchen zeigte, dass der gesell-schaftliche Blick in die Zukunft zwar durch viele populärwissen-schaftliche Brillen hindurch fällt, die Aufgabe aber nur darin be-stehen kann, nach seriösen Belegen zu fahnden. Des Weiteren war die Suche mit dem Anspruch verbunden, jene Veröffentlichungen ausfindig zu machen, deren proklamierte Prognosen als seriös zu bewerten sind. Was ausnahmslos dann bewiesen ist, wenn An-nahmen im Rückblick als zutreffend identifiziert werden können.

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Zulehner et al. Pflegemanagement im liberalisierten Wohlfahrtsstaat

Womit sollte demnach gerechnet werden in den nächsten Jahren? Wenn es überhaupt einen Kerntrend zu erkennen gibt dann jenen, dass auch die traditio nellen Wohlfahrtsstaaten Euro-pas, hin zur Liberalisierung tendieren [6, 13, 26, 30, 39]. Allem voran basierend auf einer zunehmenden ökonomischen Globali-sierung [41: 230–234]. Die vorliegende Arbeit nimmt deshalb die-sen Wandel des Wohlfahrts staates als Ausgangspunkt der Überle-gungen und exploriert in der Folge die zu erwartenden Entwick-lungen und möglichen Auswirkungen auf die Pflege und ihr Ma-nagement. Wobei der Blick sowohl auf die Gepflegten selbst als auch auf die Pflegenden gerichtet werden soll. Darauf aufbauend werden Ansätze für zukünftige Forschungsfelder im Rahmen des Pflege manage ments skizziert und zur Diskussion gestellt.

“All the wealth ever created has come from better efficiency and pro-ductivity. So we need to adopt the latest and most powerful techno-logies, both to boost the economy and to enhance national and per-sonal security.” Quelle: [16, 60]

Je nach Quelle werden die Triebkräfte für die Globalisierung etwas unterschiedlich beschrieben. Zum einen können das Modell der Drei-Sektoren-Hypothese [19; 20] und die diesbezügliche „Tertiärisierung“ herangezogen werden. [11; 17; 18;] Die Tertiäri-sierung beschreibt eine zunehmende Ver schiebung der Produkti-on, weg vom primären also landwirtschaftlichen bzw. sekundären und somit industriellen Sektor, hin zur Dienstleistung. Diese Ver-lagerung hat letztlich auch eine merkbare Verschiebung bei den Produktionsfaktoren zur Folge [44].

Zum anderen kann als Beleg auch das Modell der langwel-ligen Zyklen, besser bekannt als „Kontratieff ’sche Zyklen“, heran-gezogen werden. In seinen Aus führun gen zum sechsten Kondra-tieff belegt Nefiodow (2006), wie sich die Fertigung, weg von der Produktion tangibler Güter (Konsumgüter) hin zur Erzeugung intangibler Güter, also Dienst leistungen, bewegt. Wobei er den Schlüssel in der Beherrschung der unstrukturierten Informations-verarbeitung sieht. [31] Der Vollständigkeit halber muss an dieser Stellen angeführt werden, dass eine zu strenge Abgrenzung der Begriffe auch kritisch gesehen wird. [11]

Als drittes Modell, und dieses ist dem von Nefiodow beschrie-benen sehr ähnlich, kann der „57,5-Year-MegaCycle of Prosperi-ty“ herangezogen werden. [16, 68–69] Bezug nehmend auf die Langen Wellen von Kondratieff, prognostiziert Feather (1989) im Rahmen von Global Forces, von ihm „G-Forces“ genannt [14], ei-nen Anfang der 1990er Jahre beginnenden Super Boom, der un-terbrochen von kurzen Rezessionen bis zum Jahr 2020 anhalten soll. Alle diese Modelle münden in der Erkenntnis, dass die erwar-teten Veränderungen einen strukturellen Wandel mit sich bringen werden. Dies in zweierlei Hinsicht. Zum einen die Arbeitswelt, zum anderen den Wohlfahrtsstaat betreffend.

ArbeitsweltIn der Arbeitswelt zeichnet sich ein Drift weg von den arbeits- und kapitalintensiven Leistungen hin zu informations- und wis-sensbasierten bzw. wissens intensiven Tätigkeiten ab. [33, 21–27]

Die Arbeitsteilung, wie sie seit Taylor in der Industrie vorange-schritten ist, ist auch im Dienstleistungssektor und damit ebenso im Gesundheits- und Sozialbereich zusehends beobachtbar. Not-wendig, zum einen durch die wachsende Prozessorientierung [10], zum anderen durch den kontinu ierlichen Zuwachs an Wis-sen. [14, 57–58 und 129–136]

Die demografische Entwicklung wird sich auch in der Ar-beitswelt bemerkbar machen. Dies beispielsweise in der Form, als die viel zitierte Verlängerung der Lebens arbeitszeit dazu führen wird, dass ein Wissensarbeiter in der Lage sein wird, weit über das sechste Lebensjahrzehnt hinaus im Produktionsprozess integriert zu sein. Bereits Hayek (2007) weist darauf hin, dass der Fortschritt keine äußere Macht ist, die dazu zwingt neues Wissen anzuwen-den. Vielmehr gilt es den Fortschritt mit besonderer Rücksicht auf den Erhalt der Freiheit anzuwenden. [24] Was die Auslöser und Folgen betrifft, gibt es unzählige Zusammenhangserklärungen, genauso wie es eine Unzahl an Begriffs definitionen gibt. Daher soll der Begriff „Fortschritt“, wie er im vorliegenden Kontext zu verstehen ist, eine kurze Erklärung erfahren:

„Ziele des Fortschritts in der Medizin und im Gesundheitswesen sind Verbesserungen der Gesundheit und/oder der Wohlfahrt. Im einzel-nen [sic] kann der Fortschritt in der Erkenntnis über Krankheiten, in einer Verbesserung der medizinischen Möglichkeiten, also in den Methoden für Diagnose und Therapie, in der Prävention oder Reha-bilitation erreicht werden. Aus der Sicht der Patienten verbindet sich mit dem Fortschrittsbegriff ferner eine Verbesserung der Lebensqua-lität.“ Quelle: [38, 19]

Darüber hinaus weist der Sach ver ständigen rat für die Kon-zertierte Aktion im Gesundheitswesen (1997) darauf hin, dass Fortschritt auch aus der Kostenperspektive betrachtet werden muss. [38] Diesbezüglich kann dann von einem Fortschritt ge-sprochen werden, wenn durch Veränderungen eine Ver besserung des Verhältnisses zwischen Ressourcen einsatz und Nutzen er-zielt werden kann. Im Detail werden unter anderem Verbesse-rungen bei bildgebenden Verfahren, die Weiter entwicklung der Mikrotherapie und sinkende Preise im Bereich der Telekommuni-kation gesehen. [38] Den medizinischen Fortschritt betreffend, sollte nicht zwingend davon ausgegangen werden, dass dies immer zu einer Kostenexpansion führt [4, 62] wenngleich feststeht, dass die Medizin technik und ihr Weltmarkt volumen einen mächtigen Parameter darstellt. [31, 53] Der Begriff des „pflegerisch-tech-nischen Fortschritts“, als Pendant zum Terminus „medizinisch-technischer Fortschritt“ ist in der Forschung nicht etabliert. Wie eine Recherche [51] gezeigt hat, findet sich die Bezeichnung in ei-ner einzigen Publikation. [12] Wenngleich die Verfasser davon ausgehen, dass es den pflegerisch-technischen Fortschritt im Sinn des Wortes gibt. Beispiele dafür sind moderne Betreuungs systeme für Demenzkranke, hoch technisierte Lagerungshilfs mittel, Wundmanagement appli kationen und die Digitalisierung der Pfle-gedokumentation, wie sie in den letzten Jahren entwickelt wurden. Im Besonderen wird zukünftig aber der Produktionsfaktor Know-how entscheidend den Markterfolg beeinflussen. [2; 14, 95–101]

Wissen wird demnach sowohl für Gesundheits- und Sozialunter-nehmen als auch für das Individuum am Arbeitsmarkt den strate-gischen Wettbewerbsfaktor darstellen. [33, 58–61]

„Die Zukunft spielt sich nicht im ‚entweder-oder’ ab; vielmehr in der Verbindung, in der Kreuzung von hochstehenden Talenten und dem Handwerklichen.“ Quelle:[41, 210]

Auswirkungen der Globalisierung beim klassischen Wohlfahrtsstaat

Zum anderen zeigen sich die Auswirkungen der Globalisierung beim klassischen Wohlfahrtsstaat. Neben der zunehmenden Sä-kularisierung ist es die fortschreitende Ökonomisierung, die ver-mehrt Einzug hält in die Welt der meritorischen Güter [7]. Dies führt unweigerlich zu einer merklichen Bewirtschaftung jener für die Gesellschaft bedeutenden Angebote, die zu einem symbo-lischen Preis allen Bürgern zur Verfügung stehen sollten.

Getrieben von den oben beschriebenen Phänomenen pro-gnostizieren die Sozialexperten eine wachsende Liberalisierung des Wohlfahrtsstaates [6, 13, 26, 29, 30, 39]. Der traditionelle Wohlfahrts staat europäischer, industrialisierter Nationen stellt sich laut Münch (2005) bisher entweder in Form eines sozial demo-kratischen oder konservativen, respektive christlich-sozialen Wohl-fahrts staates dar. Die Unterschiede sind marginal und entspringen entweder einer eher kollektivistischen oder eher individualisti-schen Grundhaltung. Die Hauptmerkmale des traditionellen Wohlfahrts staates [29, 30] sind die Integration des Subjektes durch die Gruppe. In der Folge zeigen sich negative Auswirkungen ten-denziell in Form von relativ hoher Arbeitslosigkeit und durch das Ausnutzen des Systems im Sinne eines Moral Hazard [23]. Als zentrales, positives Phänomen beschreibt Münch (2005) eine an-sehnliche soziale Sicherheit durch hohe Stabilität des Sozial staates.

Getrieben widerum vom internationalen Wettbewerb, attestiert er allerdings einen An pas sungs druck der konservativen und sozial-demo kratischen Wohlfahrts staaten an das liberale Modell [29, 30]. Anders formuliert, findet ein Übergang vom konsumtiven zum aktivierenden Wohlfahrtsstaat statt [5].

Die Politik wird zu dieser Veränderung von transnational agierenden Konzernen gezwungen, die auf dem Weltmarkt den kompetitiven Kräften ausgesetzt sind. Diese Konzerne entdecken zusehends die Möglichkeit der Auslagerung von Arbeitsplätzen und aus Wettbewerbs gründen nützen sie diese Option auch merk-lich. Produktivität als Dreh- und Angelpunkt, als Herausforderung in mehrfacher Hinsicht: “Productivity is the key to better living stan-dards” [16, 60]. Dieser Shift wird in Hinkunft auch den Wohlfahrts-staat beeinflussen und verändern, was sich nach Münch (2005) in folgen den Phänomenen zeigen sollte: Integration des Individuums in die Gesellschaft durch Befähigung. Bewegt von der Tertiärisie-rung der Sektoren (Wachstum der Dienst leistungs branche) erfolgt diese Befähigung des Individuums durch Bildung. Bildung, die im globalen Wettbewerb idealerweise auch in einen dementsprechen-den Markterfolg umgesetzt werden sollte [49]. Als nachteiliges Phänomen wird eine geringere soziale Sicherheit prognosti ziert. Die hohen Bildungs anforderungen könnten in der Folge auch zur Ausgrenzung jener führen, die den enormen Ansprüchen nicht ge-recht werden. Was den Experten wiederum eine steigende Krimi-nalität erwarten lässt. Im Positiven wird die Liberalisierung zu ver-hältnismäßig hohen Beschäftigungsquoten und demnach zu niedriger Arbeitslosigkeit führen (Abb. 1) [29, 30].

Erkenntnisse aus der Sicht des Pflegemanagements

Welche Ableitungen können nun von den zu erwartenden Verän-derungen des Arbeitsmarktes und des Wohlfahrtsstaates für das

Abb. 1

Wohlfahrtsstaaten im Vergleich (eigene Darstellung in Anleh-nung an Münch 2005)

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Zulehner et al. Pflegemanagement im liberalisierten Wohlfahrtsstaat

Pflegemanagement der Zukunft gemacht werden? Dazu soll kurz skizziert werden, mit welcher Klientel der Gesundheits- und Sozi-alsektor zukünftig konfrontiert sein könnte.

Die gewohnte Selbstverständlichkeit einer unentgeltlichen Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen, wie sie der tradi-tionelle Wohlfahrtsstaat noch erlaubte, und welche in den letzten Jahrzehnten verstärkt zum Phänomen der Fiskalillusion [4, 63] führte, hat bereits merkliche Veränderung erfahren. Gellner (2006) exploriert dazu in seiner Untersuchung, basierend auf ei-ner repräsentativen Bevölkerungs umfrage, vier Patiententypen. Die beiden bestimmenden Parameter stellen die Art der Reprä-sentation der Patienten im System sowie die Form der Regulie-rung dar [22]. Die verwendete Typologisierung leitet sich vom kultur- und sozialtheoretischen Modell nach Wildavsky ab [46, 47]. Bei der Repräsentation unterscheidet Gellner den Korporatis-mus (Selbstverwaltung) vom Pluralismus (Interessens gruppen, Patientenverbände und Parteien). Beim Regu la tiv differenziert er zwischen staatlicher Steuerung und Markt [22]. Daraus er geben sich vier Typen von Patienten (Abb. 2).

Bei der Untersuchung zeigte sich unter anderem, dass die Be-reitschaft zu Beitrags- oder zuzahlungsbedingten Anreizmodellen vor allem unter der jüngeren Bevölkerung messbar ausgeprägt ist [22]. Wilhelm (2006) geht bei seiner Untersuchung noch weiter ins Detail. Fordert der traditionelle Leistungsnutzer kaum Mitge-staltung und Eigenverantwortung [48], stellt sich das Bild bei den Reformwilligen schon anders dar. Die pluralistischen Reformer wünschen aktiv an Entscheidungen beteiligt zu werden [48]. Wil-helm (2006) dazu konkret: „Angesichts der ihn konstituierenden Merkmale erweist sich der pluralistische Reformer eher als ein Bei-spiel für das gesellschaftsbezogene, notwendige institutionelle Struk-turen schaffende Empowerment-Konzept, das auf diese Weise zu mehr Patientensouveränität führen soll“ [48, 31]. Beim korporatis-tischen Reformer stehen die Eigenversorgung und Belohnung für gesundheitsfreundliches Verhalten im Vordergrund [48]. Die

kleinste Gruppe stellen die so genannten individualistischen En-trepreneurs dar. Sie sind die jüngste Gruppe und sehen die Absi-cherung gegen das Risiko Krankheit als eine dezidiert private Auf-gabe. Gesamt genommen attestiert die Studie, dass circa 35% den traditionellen Nutzern zuzuordnen sind. Rund 50% zeigen sich als reformwillig, was zukünftig ein deutliches Veränderungspotenzial erwarten lässt [48]. Eine strukturierte Zusammenfassung der Pati-ententypen findet sich in der Publikation von Koyuncu [25].

Was sind die Ableitungen dieser Entwicklungen? Die Rolle der Patienten ist einem zunehmenden Wandel unterworfen. Eine kritische Betrachtung verdienen in diesem Zusammenhang die gesellschaftlichen und anthropologischen Aspekte. Ist es beim Wohlfahrtsstaat nahe liegend, dass ein Vergleich mit dem anglika-nischen Bereich kritisch beäugt werden muss, so stellen sich die gesellschaftlichen und anthropo logischen Parameter deutlich komplexer dar [45].

Menschen, die sich im globalisierten Wettbewerb mit ihrem Wissen bewähren müssen, werden auch an ein Gesundheits- und Sozialsystem andere Ansprüche stellen. Erste diesbezügliche An-sätze, sind was das Patienten-Arzt-Verhältnis betrifft, bereits Ge-genstand aktueller Forschung [43]. Davon leiten die Verfasser ab, dass die Pflege keine Ausnahme erfahren wird. Offen ist die Frage, wie sich die gesellschaftliche Entwicklung auf das Verhältnis zwi-schen Patient und Pflege auswirken wird. Und dies in unterschied-lichen Kontexten. Denn was das pflegebezogene Zusammenspiel der Systempartner betrifft kann beim Leistungsempfänger nicht generell vom Patienten gesprochen werden. Dazu folgendes Bild, das als weitere Arbeitshypothese zu verstehen ist: Als Wissens-arbeiter wird es ein Teil der zukünftigen Klienten gewohnt sein, Eigen verant wortung zu übernehmen und Leistungen sowie deren Notwendigkeiten kritisch zu hinterfragen. Die zunehmende Sub-sidiarisierung führte schon bisher zu einer wachsenden Ver-schiebung der Finanzlast hin zu den privaten Haushalten. Wie ei-ne Untersuchung aus dem Jahr 2003 zeigt, lagen diese Kosten zwischen 19% und 25% [40]. Ein aktueller Medienbericht geht davon aus, dass mittlerweile bis zu 30% der medizinischen Kosten als Eigenleistung bleiben [40]. Festzuhalten ist, dass Sicherheit und Freiheit in einem Spannungsfeld zueinander stehen und sich deshalb nur bedingt kombinieren lassen. Die Informationsasym-metrie [3, 71–72; 32] wie wir sie klassischer weise kennen, wird eine deutliche Egalisierung erfahren: „Your PC is your World. And so the world is yours“ [16, 33]. Das Internet wird die Beziehung zwischen Leistungs anbietern und Leistungsempfängern im Ge-sundheits- und Sozialbereich neu definieren. In Zukunft werden nicht die Leistungsanbieter sondern die Leistungs empfänger das System steuern. Es wird demnach zur Routine gehören, dass Pati-enten vor der Kontakt aufnahme mit den Leistungs anbietern, ei-nen Webresearch durchführen, Infor mationen downloaden und im Sinne des Empowerments eine Eigenanamnese vor nehmen. Diese wird zusehends auch in einer ersten Diagnoseeingrenzung münden[15, 189–200]. In der gesundheitspolitischen und wissen-schaftlichen Diskus sion findet in diesem Zusammenhang der Be-griff „Health Literacy“ bereits seine Anwendung. Darunter wird die kognitive und soziale Fähig keit einer Person verstanden, sich

Pluralistischer Reformer

~ 25 %

ca. 25 – 49 Jahre

TraditionellerNutzer~ 35 %

> 45 Jahre

Individualistischer

Entrepreneur ~ 10 %

ca. 25 – 44 Jahre

Korporatistischer

Reformer ~ 25 %

ca. 18 – 49 Jahre

Pluralismus

Korporatismus

Staat

Markt

Repräsentation

Regulation

Abb. 2

Patiententypologie (eigene Darstellung in Anlehnung an Gellner 2006). Die Häufigkeitsangaben finden sich in der Publikation selber nicht, wurden dem Verfasser aber auf Nachfrage vom Mitherausgeber Gellner übermittelt.

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Zugang zu Informationen zu verschaffen, diese zu verstehen und so zu verwenden, dass die Gesundheit gefördert und erhalten wird. Das Vorhandensein solcher Kompetenzen ist auch eng ver-flochten mit der Motivation einer Person, nach solchen Informati-onen zu suchen und sie zu nutzen [35, 9]. Erste Werkzeuge dafür stehen bereits zur Verfügung. Beispielsweise wird unter www.au-gencheck.cc ein Simulationsprogramm angeboten, bei dem unter-schiedliche Symptome des Auges und die erlebbaren Einschrän-kungen visualisiert werden. Ergänzend werden in Text und Bild die Erkrankungen kurz beschrieben. In Großbritannien wird seit 2004 auf der Homepage des National Health Service ein Diagnose- und Entscheidungsbaum angeboten, der es ermöglicht, entweder über Fragen und Antwortoptionen oder über eine anatomische Darstellung zu einem Therapievorschlag zu kommen [52].

Die Liberalisierung des Arbeitsmarktes und die damit ver-bundene Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse werden ein wei-terer Treiber dafür sein, die Notwendigkeit von Interventionen kritisch zu hinterfragen. Erst recht dann, wenn dies Arbeitsausfäl-le oder Kostenübernahmen erwarten lässt. Die Bereitschaft mit dem Leistungsanbieter persönlich in Kontakt zu treten, wird mög-licherweise nur dann gegeben sein, wenn dies unabdingbar ist: „Even serious wounds can be monitored from a distance. For exam-ple, American TeleCare equipment allows a „video visit evaluation of a patient’s condition right in their home“ [16, 140].

Trainiert durch die selbstverständliche Nutzung des World-Wide-Web, erwarten die Verfasser der vorliegenden Arbeit, dass ein Großteil der Pflegeleistungsempfänger in Zukunft eine hohe Willfährigkeit mitbringen werden, sich in den Dienstleistungspro-zess einzubringen, möglicherweise auch persönlich. Soweit die Hypothese. Bereits jetzt zeigen Menschen eine hohe Bereitschaft, sich im Sinne der Koproduktion an der Leistungserstellung zu be-teiligen [25, 10]. Vorausgesetzt die Rahmen beding ungen sind ge-geben [50]. Empowerment beziehungsweise Prosumerism, eine Wortkombination aus „Producer“ und „Consumer“ [21], bedür-fen um erfolgreich zu sein, sowohl des Mitwirkungs bewusstseins, der Mitwirkungs fähigkeit als auch der Mitwirkungs bereitschaft der Leistungsempfänger [21].

Als Ableitung gehen die Verfasser davon aus, dass das Dienst-leistungs verhältnis zwischen den Leistungsempfängern und den Pflegedienst leistern einer Neudefinition bedarf. Die Tatsache, dass Wissen, zukünftig den entscheidenden Produktionsfaktor darstel-len wird, weist bereits den Weg. Davon leiten die Autoren weiters ab, dass dieses Wissen, in Anbetracht der hohen Anforderungen, ein weitgehend empirisches wird sein müssen. Der Wissensvor-sprung der Leistungsanbieter wird im Verhältnis zu den Leistungs-empfängern ein geringerer werden. Den Pflegenden wird demnach die Aufgabe zukommen, hinkünftig weniger für ihre Klienten, denn mit ihnen zu arbeiten. Die Leistungsentscheidung wird der Leistungsabstimmung beziehungsweise dem Ausverhandeln von Leistungsangeboten weichen. Einen Teil solcher Leistungs verein-barungen wird die Abstimmung über das Ausmaß an Selbstbeteili-gung durch den Leistungs empfänger ausmachen. Die diesbezüg-lichen Ausprägun gen werden auch entscheidend vom Typ des Leistungsempfängers abhängen.

In der rechts politischen Diskussion hat sich der Begriff des „mündigen Patienten“ bereits durchgesetzt [25, 2]. Dies findet sei-nen Nieder schlag auch in politischen Bekun dungen, in Deutsch-land [37] gleichermaßen wie in Österreich [36]. In einem nächsten Schritt gilt es daher, einen kritischen Blick in das Feld zu richten. Dies deshalb, weil gesundheitspolitische Konzepte die gesellschaft-liche Entwicklung nicht ignorieren können, sondern ganz im Ge-genteil sogar auf dem gesellschaftlichen Wandel aufbauen. Im Rahmen gesundheitspolitischer Leitbilder wird wiederholt der Aspekt der Versorgungs gerechtigkeit genannt. Diese Versor gungs-gerechtigkeit gilt es dort kritisch zu hinterfragen, wo Gerechtigkeit zu nicht gewünschter Ver sor gungs gleichheit führt. Dies geschieht dann, wenn Gleich behandlung als Patienten recht missverstanden wird. Denn Gerechtigkeit steht dann im Widerspruch zur indivi-duellen Freiheit [5: 8–9]. Dies könnte auch für jene Bereiche des Pflege managements geltend gemacht werden, wo Freiheit auch Beteiligung an der Leistungserbringung und damit Übernahme von Eigenleistung und somit Ungleich verteilung von Mitteln in der Gesundheits versorgung bedeuten. Diese Ungleich verteilung von Mitteln durch Koproduktion also Externalisierung von Leis-tungen an Patienten entspricht aber den Opportuni tätskosten für gewonnene Freiheit. Denn Freiheit und damit Empowerment be-ziehungsweise Eigen verant wortung stellen nicht nur eine Facette im Behandlungsregime dar, die dem Menschen zumutbar ist, son-dern auch seiner Würde entspricht. Damit könnte dieser Ansatz auch gesellschaftspolitisch einer jener Alternativen entsprechen, die im Rahmen der Altersentwicklung der Bevölkerung gefordert werden; also demo grafischer Ent wick lung nicht mit demogra-fischen Mitteln zu begegnen, sondern nach anderen gesell schaft-lichen Antworten zu suchen [34]. Das dieser Ansatz auch eine komplexe versicherungsrechtliche und versicherungstechnische Facette hat [26], bedarf an dieser Stelle einer Erwähnung bleibt aber bewusst ausgespart (Abb. 3).

SchlussbemerkungenDie Veränderungen bezüglich der Entwicklung beim Verhältnis zwischen Leistungs anbieter und Leistungsempfänger (der Begriff „Patient“ wurde an dieser Stelle bewusst vermieden), bedarf wei-terer wissenschaftlicher Untersuchungen. Die Typologisierung wie sie vorliegend dargestellt wurde, hat sowohl die Rolle der Patienten als auch jene der Ärzte betreffend, neue Erkenntnisse gebracht. Allem voran jene, dass im Lichte des einher schreitenden Wandels,

Globalisierung und Internationalisierung des Wettbewerbs

Tertiärisierung der Sektoren Wissen als Produktionsfaktor

Prekariat

Liberalisierung des

Wohlfahrtsstaates

Pflegedienstleister

Leistungsempfänger

Neudefinition des Dienstleistungs-

verhältnisses

Abb. 3

Neudefinition des Dienstleistungsverhältnisses (eigene Darstellung)

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eine deutlichere Differenzierung vorzunehmen sein wird. In wel-chem Ausmaß diese Veränderungen auch das Patienten-Pflege-Verhältnis beeinflussen werden, blieb bisher unbeforscht, auch dahingehend, als pflegebezogen die Frage offen ist, ob der „mün-dige Leistungsempfänger“ ein Konstrukt politischer Wünschbar-keit darstellt oder ob es diesen tatsächlich gibt und wenn ja in wel-chen Ausprägungen. Diese Auswirkungen und die notwendigen Fähigkeiten, die es dies bezüglich seitens der Systembeteiligten zu entwickeln gilt, stellt deshalb den Gegenstand einer umfang-reichen Forschungs arbeit dar, deren Auftakt die vorliegende Hin-führung darstellt. Dabei wird nicht zuletzt im Sinne der empi-rischen Vergleichbarkeit das Augenmerk ausschließlich auf die beschriebene Typologisierung zu richten sein, sondern auch auf Phänomene wie Mitwirkungs bewusstsein, Mitwirkungs fähigkeit und die Mitwirkungs bereitschaft der Leistungs empfänger; letzt-lich davon bewegt, auch Mitwirkungsanreize zu explorieren.

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KorrespondenzadresseDipl.-Kfm. Dr. rer. pol. Christoph Zulehner DGKP, akad. PDL

UMIT – Private Universität für Gesundheitswissenschaften

Medizinische Informatik und Technik

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6060 Hall in Tirol, Österreich

Tel.: +43 664 2 600 300

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