die kraft der peripherie – wege der barmherzigkeit und ... · schön und auch nicht einfach und...

21
G:\HA3\HA3-1-Ltg\2015\Nardini-Tag\NARDINI 2016.Vortrag P.Spiegel.docx 31.01.2016 1/21 Die Kraft der Peripherie – Wege der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Nardinitag in Pirmasens – 27. Januar 2016 Im Bekannten Neues entdecken – in der Heimat ins Fremde gehen. In fünf Schritten: 1. Annäherung und Erinnerung an Paul Josef Nardini 2. Barmherzigkeit als die Grundhaltung von Christen 3. Gerechtigkeit im Reich Gottes: Die Vision Jesu von Nazareth 4. Noch einmal Barmherzigkeit – die größere Gerechtigkeit 5. Die Kraft der Peripherie – Subjektwerdung am Rand und Evangelisierung von den Rändern her. I. ANNÄHERUNG UND ERINNERUNG AN PAUL JOSEF NARDINI (1821 -1862) Bei der Vorbereitung auf diesen Vortrag, bin ich auf dieses Bild gestoßen: Pirmasens Löwenbrunnenstraße, Wohnung der ersten Schwestern

Upload: vuongthien

Post on 17-Sep-2018

212 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

G:\HA3\HA3-1-Ltg\2015\Nardini-Tag\NARDINI 2016.Vortrag P.Spiegel.docx 31.01.2016 1/21

Die Kraft der Peripherie – Wege der Barmherzigkeit und

Gerechtigkeit

Nardinitag in Pirmasens – 27. Januar 2016

Im Bekannten Neues entdecken – in der Heimat ins Fremde gehen.

In fünf Schritten:

1. Annäherung und Erinnerung an Paul Josef Nardini

2. Barmherzigkeit als die Grundhaltung von Christen

3. Gerechtigkeit im Reich Gottes: Die Vision Jesu von Nazareth

4. Noch einmal Barmherzigkeit – die größere Gerechtigkeit

5. Die Kraft der Peripherie – Subjektwerdung am Rand und Evangelisierung von

den Rändern her.

I. ANNÄHERUNG UND ERINNERUNG AN PAUL JOSEF NARDINI (1821 -1862)

Bei der Vorbereitung auf diesen Vortrag, bin ich auf dieses Bild gestoßen:

Pirmasens Löwenbrunnenstraße, Wohnung der ersten Schwestern

G:\HA3\HA3-1-Ltg\2015\Nardini-Tag\NARDINI 2016.Vortrag P.Spiegel.docx 31.01.2016 2/21

Ein altes Haus in Pirmasens – nicht schön einfach und nicht einfach

schön und auch nicht einfach und schön. Sondern eher ärmlich,

für unser heutiges Empfinden vielleicht sogar schmutzig. Es

beherbergte 1855 die erste Wohnung der „Armen

Franziskanerinnen von der Heiligen Familie“ – der Mallersdorfer

Schwestern. Es ist weit entfernt von unseren heutigen kirchlichen

Gebäuden, von unseren Tagungshäusern, Gemeindehäusern,

Pfarrhäusern, auch vom heutigen Mutterhaus der Schwestern und

auch vom Sitz von Misereor, dem ehemaligen Priesterseminar des

Bistums Aachen.

Es hat keine Chance einen Architekturpreis zu gewinnen. Aber es

hat einen verborgenen Glanz, den wir mit den Augen des

Glaubens wahrnehmen können. Es ist ein Zeugnis für den

Ortwechsel von Frauen, die sich im 19. Jahrhundert mitten unter

die Armen von Pirmasens begeben haben. Es ist ein sichtbares

Zeugnis einer Bewegung, die die Gemeinde von Philippi Christus

selbst zugeschrieben hat: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht

daran fest, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich, wurde wie

ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines

Menschen. Er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod am

Kreuz.“ (Phil 2, 6-9)

Der tschechische Theologe Tomas Halik nennt das die „kenotische

Sendung des Kreuzes“. Die Sendung, die uns von der modernen

Welt, mit ihrem „höher, schneller, weiter“ unterscheidet und die

uns gerade so auf die spezifische Weise des christlichen und

evangeliumsgemäßen Glaubens mit ihr verbindet. Diese Sendung

ließ die Schwestern beides sein: verborgenes Salz der Erde und

unübersehbares Licht der Welt.

Angestiftet – im besten Sinne dieses Wortes - zu einem solchen

Leben hatte sie Paul Josef Nardini, damals Pfarrer in Pirmasens,

heute ein Seliger unseres Bistums.

- Im Kontext mit Ketteler (1811 -1877) und Kolping (1813 – 1865):

Paradigmenwechsel

Nardini, ein Mann mit großem Wissen und viel Verstand, konnte vor

allem nicht wegsehen. Er kam nach Frankenthal, nach Geinsheim

und nach Pirmasens. Er sah die Not und das Elend der Menschen,

gerade die Not der Schuhmacherfamilien in Pirmasens. Er musste

mit ansehen, wie viele Menschen ganz armselig in Kellerlöchern

G:\HA3\HA3-1-Ltg\2015\Nardini-Tag\NARDINI 2016.Vortrag P.Spiegel.docx 31.01.2016 3/21

hausten, die Kinder oft allein, weil die Eltern arbeiten mussten.

Auch für die Alten, Kranken und Sterbenden war wenig Zeit.

Und er konnte nicht weghören, wenn sie ihm ihre Sorgen vortrugen

und auch ihn anbettelten um Brot, Kleidung und Geld.

Das Leid sehen und den Schrei hören - das erinnert mich an die

Urerfahrung Israels, den Exodus, der mit den berühmten Worten

Jahwes beginnt: „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten

gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört.

Ich kenne ihr Leid.“ (Ex 3,7)

Mit diesem Exoduszitat beginnt übrigens eines der Urdokumente

der befreienden Praxis der lateinamerikanischen Kirche, das

verantwortlich Dom Helder Camara 1968 im brasilianischen

Nordosten geschrieben hat: „ouvi o clamor do meu povo“ = „Ich

habe das Schreien meines Volkes gehört“. Damals brach die

Kirche in der Militärdiktatur ihr Schweigen und hat auf die

himmelschreienden Lebensbedingungen der armgemachten

Bevölkerung des Nordostens Brasiliens öffentlich aufmerksam

gemacht und sie angeklagt.

G:\HA3\HA3-1-Ltg\2015\Nardini-Tag\NARDINI 2016.Vortrag P.Spiegel.docx 31.01.2016 4/21

Beide, Nardini und Câmara, kamen damit in Konflikt mit den

Mächtigen ihrer Zeit: Nardini mit dem Stadtrat von Pirmasens,

Câmara mit den Militärdiktatoren in Brasilia. Sie haben sich

bewegen lassen wie der barmherzige Samariter des Evangeliums

von dem Verletzten, der am Straßenrand liegt. Lukas benutzt für

dieses „sich bewegen lassen“ einen starken Ausdruck:

splanchnizomai (10,33), das wörtlich bedeutet "die Eingeweide

aufwühlen". Der Schrei des Volkes, das im Dunkel lebt, geht ihnen

mehr als unter die Haut. Er wühlt sie auf. Ähnlich wie Amos fragt,

nachdem er klar und deutlich das Unrecht seiner Zeit angeklagt

hat: „Sollte deshalb die Erde nicht beben, sollten nicht alle ihre

Bewohner voll Trauer sein? Sollte nicht die ganze Erde sich heben

wie der Nil: [aufgewühlt sein] und sich wieder senken wie der

Strom von Ägypten? (Amos 8,8)

Für Paul Josef Nardini bleibt es nicht bei einer gefühlsduseligen

Betroffenheit. „Gott hilft in aller Not. Darum wollen wir mutig

voranschreiten“, hat er gesagt und „Wo ich bin, bin ich ganz“ –

und das hat er auch getan.

Er hat für die Verbesserung der Lebensumstände der Armen in

Pirmasens gestritten und wurde abgewiesen. Er nutzte die Zeitung,

um seine Positionen zu veröffentlichen. Und vor allem stieg er ein in

die Armenfürsorge, wie das damals hieß. Er konnte Schwestern

gewinnen, die die Hungrigen speisten, verwahrloste Kinder

kleideten und Alte und Kranke besuchten. Ein Studienseminar

gründete er, um Jungen zu unterrichten. Er gründete den

Frauenorden der Mallersdorfer Schwestern, der Kinder aufnahm

und sich um sie kümmerte. Und vieles andere mehr. Das Haus, in

dem diese Arbeit begann, haben wir schon gesehen.

Kein Weg war ihm zu weit, um Genehmigungen einzuholen,

Spenden zu sammeln, um Verständnis und Unterstützung zu

werben. Gott sei Dank fand er im damaligen Bischof von Speyer

einen großherzigen und beherzten Förderer.

Nardini war ein Mann mit einem großen Herzen. “Liebe ist unser

Leben. Liebe ist unsere Bestimmung. Liebe ist das einzige, was Gott

von uns fordert, denn die Erfüllung aller Pflicht fließt aus ihr.” Das

war seine Überzeugung und die hat er ganz gelebt. Bis zu seinem

(zu) frühen Tod.

G:\HA3\HA3-1-Ltg\2015\Nardini-Tag\NARDINI 2016.Vortrag P.Spiegel.docx 31.01.2016 5/21

An diesem Punkt bricht sich dann auch unsere möglicherweise

aufkommende Bewunderung für diesen Mann. Ein solches Leben

hat einen Preis. Diesen Preis haben unzählige Frauen und Männer

in den Kirchen Lateinamerikas, Asiens und Afrikas bezahlt und bis

heute geschieht das weltweit. Engagiert gelebter Glaube an der

Seite der Armen reibt auf und ist bis heute lebensgefährlich. Amor

sustentável!

„Die Liebe sucht nicht das Kreuz“, hat Dorothee Sölle gesagt,

„aber in der Welt, so wie sie ist, kommt sie manchmal ans Kreuz“.

Ich habe immer wieder erlebt wie eigener Glaube in Gefahr

bringt.

Im Spannungsfeld dieser Frage hat Nardini Erfahrungen gemacht,

die er so auf den Punkt bringt: „Wer Gott liebt, der ist reich auch in

der Armut und mächtig auch in der Schwäche.“ In seinem Leben

zeigen sich die Gegensatzpaare: Stärke und Schwäche, Reichtum

und Armut, Leben und Tod, die das Leben aller hervorragenden

Glaubenszeugen prägen und auszeichnen. In diese

spannungsreichen Widersprüche wächst man hinein, oder wird

hineingeführt, wenn man die Wege der Barmherzigkeit und der

Gerechtigkeit geht und das vor allem an den Rändern unserer

Gesellschaften und der Welt, an der Peripherie.

Dort, so behaupte ich auch aus meiner Erfahrung im

brasilianischen Nordosten und aus der Arbeit mit den

Volksmissionen, können wir eine Kraft entdecken, von der wir im

Zentrum nicht einmal etwas ahnen. Papst Franziskus beschreibt

dies immer wieder.

Und damit komme ich zu den Stichworten, mit denen mein Beitrag

überschrieben ist: Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und die Kraft der

Peripherie.

II. BARMHERZIGKEIT ALS DIE GRUNDHALTUNG VON CHRISTEN

Beginnen möchte ich mit dem ersten Wort im zweiten Teil des Titels:

mit der Barmherzigkeit. Wir befinden uns mitten im von Papst

Franziskus ausgerufenen Jahr der Barmherzigkeit und unser Werk

„MISEREOR“ hat sie ja im Namen. Sie ist also Ausgangspunkt

G:\HA3\HA3-1-Ltg\2015\Nardini-Tag\NARDINI 2016.Vortrag P.Spiegel.docx 31.01.2016 6/21

unserer Arbeit und gehört unverzichtbar zu unserem

Selbstverständnis dazu.

In diesem Sinn spricht Jon Sobrino, der Befreiungstheologe aus El

Salvador und Berater eines anderen Seligen, von Monsignore

Oscar Romero, vom Prinzip Barmherzigkeit.

Sobrino schreibt: „Wir verstehen unter dem 'Prinzip Barmherzigkeit'

die spezifische Liebe, die am Anfang eines Prozesses steht, die in

ihm gegenwärtig und aktiv bleibt, die ihm eine bestimmte

Richtung gibt und den verschiedenen Elementen dieses Prozesses

ihren Platz gibt. Dieses 'Prinzip Barmherzigkeit' – so glauben wir – ist

das fundamentale Prinzip im Handeln Gottes und Jesu und soll es

auch im Handeln der Kirche sein“ (S. 32)

Barmherzigkeit ist die grundlegende Haltung Gottes, die sich nach

der jüdischen Überlieferung zum ersten Mal in seinem

Befreiungshandeln an Israel in Ägypten zeigt. Das Leiden seines

Volkes ist ihm nicht gleichgültig.

Diese Sorge um sein Volk ist oft wieder anzutreffen in den Schriften

der Propheten. Beispielhaft zitiere ich in kurzen Auszügen einen

wunderbaren Text aus dem Propheten Hosea:

„Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb, ich rief meinen Sohn aus

Ägypten. (…) Ich war es, der Efraim gehen lehrte, ich nahm ihn auf

meine Arme. Sie aber haben nicht erkannt, dass ich sie heilen

wollte. Mit menschlichen Fesseln zog ich sie an mich, mit den

Ketten der Liebe. Ich war da für sie wie die (Eltern), die den

Säugling an ihre Wangen heben. Ich neigte mich ihm zu und gab

ihm zu essen. (…)Wie könnte ich dich preisgeben, Efraim, wie dich

aufgeben, Israel? (Hosea 11,1.3-4.8)

Dieser letzten Frage begegnen wir auch bei Jesaja: „Kann denn

eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn?

Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: ich vergesse dich nicht.“

(Jes 49,15)

Gott sorgt sich um sein Volk. Diese „Compassion“, dieses Mitleiden,

diese Barmherzigkeit als Grundhaltung greift Jesus auf, lebt sie und

verkündet sie. Ich zitiere noch einmal Jon Sobrino: „Diese

ursprüngliche Barmherzigkeit Gottes erscheint geschichtlich in der

Praxis und der Botschaft Jesu. Das misereor super turbam ist also

G:\HA3\HA3-1-Ltg\2015\Nardini-Tag\NARDINI 2016.Vortrag P.Spiegel.docx 31.01.2016 7/21

nicht eine 'einmalige' Haltung Jesu, sondern es prägt sein Leben

und seine Mission und verursacht sein Ende. Es prägt auch seine

Sicht von Gott und den Menschen.“ (S. 34)

Jesus heilt am Sabbat, weil er ein Barmherziger ist. Immer wieder

wendet er sich den Leidenden, Kranken, Ausgegrenzten,

Aussätzigen zu, nimmt Anteil an ihrem Leben und an ihren Leiden.

Er heilt und integriert, er berührt und lädt ein.

In der Bergpredigt nennt er die Barmherzigen selig und verspricht

ihnen, dass sie selbst Barmherzigkeit erfahren werden.

Und er erzählt von Gott als dem barmherzigen Vater und stellt uns

den barmherzigen Samariter vor Augen und macht ihn zum

Orientierungspunkt für Menschen in der Nachfolge.

„Barmherzigkeit“, sagt Papst Franziskus, „ist das pulsierende Herz

des Evangeliums“. (MV 12) Sie ist die Triebfeder, die uns in

Bewegung setzt, die Liebe, die uns drängt. Sie hat auch Josef Paul

Nardini gedrängt sein Leben in der Nachfolge Christi zu leben.

Lassen Sie mich, Gustavo Gutierrez folgend, ein paar Gedanken

zum barmherzigen Samariter vortragen, um einige Aspekte der

Barmherzigkeit noch klarer herauszuarbeiten.

Gutierrez weist zunächst darauf hin, dass der Samariter seinen Weg

verlassen muss. Er muss stehen bleiben, zur Seite treten und sich

dem Verletzten zuwenden. Dieses Motiv, dass Glaubende und ihre

Kirche aus dem eigenen heraustreten sollen, ist bei Papst Franziskus

schon in Evangelii Gaudium zu finden. In der deutschen

Übersetzung heißt es „Kirche im Aufbruch“. Der spanische Text

sagt: „Iglesia en salida“, also eine Kirche, die aus sich selbst

herausgeht und die an die Ränder geht und sich dabei verbeult.

Das trifft den Sinn eher.

Ich zitiere Gutierrez: „Das Evangelium Jesu besteht genau darin: in

einem Aufruf, das um sich selbst zentrierte, im wörtlichen Sinn ego-

zentrische Universum zu verlassen und in die Welt des Anderen

einzutreten.“ (Konzilsereignis S. 412f) und weiter: „Es geschieht eine

Verlagerung vom Ich des Gelehrten ("mein Nächster") zum Du des

Verletzten. Von meiner Welt zu der des Anderen - eine Bewegung,

die den Kern des Gleichnisses bildet. Von dem Blick, der den

G:\HA3\HA3-1-Ltg\2015\Nardini-Tag\NARDINI 2016.Vortrag P.Spiegel.docx 31.01.2016 8/21

Nächsten als Objekt, als Hilfeempfänger sieht, hin zu der Sicht, die

ihn als Subjekt einer Aktion der Annäherung begreift. Nähe ist

keine schlichte physische oder kulturelle Nachbarschaft, sie ist das

Ergebnis einer Option. Eine Verschiebung. (Konzilsereignis, S.413)

Gustavo Gutierrez fragte mich: „Hast Du Freunde unter den

Armen?“

Diese Verschiebung zur Welt des anderen hin ist eine

fundamentale Charakteristik christlicher Barmherzigkeit. Nur so wird

der andere nicht zum entwürdigten Objekt meiner wahrscheinlich

sogar gut gemeinten Hilfeleistung. Es geht nicht um mich und mein

Gut-Sein, sondern um das Leben des Anderen.

Noch einmal Gustavo Gutierrez: „Folgerichtig und entgegen dem

ersten Augenschein ist die Schlüsselfigur der Geschichte nicht der

Samariter, sondern jener, der in der Passage "ein gewisser Mensch"

(anthropos tis; Vers 30) heißt: das Opfer, der Entwertete,

Namenlose ohne Kennzeichnung. Über ihn wird nichts gesagt, er ist

eine anonyme, bedeutungslose Person, wir wissen nicht, ob er zum

jüdischen oder zum samaritanischen Volk gehörte, welches sein

Beruf war, auch nicht, was ihn zu seiner Wanderung veranlasst hat.

Er ist "der Andere", und in Bezug auf ihn definieren sich alle

anderen Personen der Erzählung, von denen wir etwas wissen.

Seine Lage als Misshandelter und Verlassener ist eine

Herausforderung an diejenigen, die da ihren täglichen, häufig

beschrittenen Weg zurücklegen.“ (Konzilsereignis, S.413)

Der Samariter nimmt die Herausforderung an und hebt durch seine

Barmherzigkeit die Bedeutungslosigkeit und Marginalisierung dieses

Anderen auf. „Dabei ist zu beachten, dass der Samariter nicht nur

erschüttert war, sondern praktiziert hat; so lautet denn auch das

letzte Wort Jesu an den Gesetzeslehrer: "Geh und handle ebenso!"

(Lk 10,37). Dies ist ein Missionsauftrag, in dem Sinn "schenke das

Leben, übe die Barmherzigkeit", ohne Ansehen der Person, im

besten und ursprünglichen Sinn des Wortes: Gib dein Herz mittels

konkreter Gesten dem Elenden, dem Hilflosen. Und das ist etwas,

was auch für die Gemeinschaft der Jünger des Herrn, die Kirche,

gilt.“ (Konzilsereignis, S. 416)

Jon Sobrino spricht in diesem Zusammenhang von einer nota

ecclesiae, einem Wesensmerkmal der Kirche. Seine Frage ist, ob

nicht das Glaubensbekenntnis um die Barmherzigkeit erweitert

G:\HA3\HA3-1-Ltg\2015\Nardini-Tag\NARDINI 2016.Vortrag P.Spiegel.docx 31.01.2016 9/21

werden sollte: „Ich glaube die eine, heilige, katholische,

apostolische und barmherzige Kirche.“ Im Sinne Jesu käme es aber

sicher eher auf die Orthopraxie als auf geänderte Worte im

Glaubensbekenntnis an.

Paul Josef Nardini war in der Nachfolge Jesu ein im Prinzip

Barmherziger. Er hat die Gleichgültigkeit gegenüber den

Leidenden überwunden, die heute globale Dimensionen

angenommen hat. Papst Franziskus weist uns darauf hin, dass es

darauf ankommt, durch Barmherzigkeit als grundsätzliche Haltung

und als konkrete Werke die Globalisierung der Gleichgültigkeit zu

überwinden. Noch einmal Gutierrez: „Diese samaritanische Caritas

ist gemäß der Spiritualität, die das Konzil vertritt, die Seele der

Kirche, die der Aufrichtung der Gerechtigkeit und der Achtung für

die Menschenwürde einer jeden Person Stärke und Tiefe verleihen

soll.“ (Konzilsereignis, S. 419)

“Solo le pido a Dios”, hat Mercedes Sosa gesungen, “que el dolor

no me sea indiferente.” Nur darum bitte ich Gott, dass der

Schmerz (der anderen) mir nicht gleichgültig sei. (Pfingstsequenz!)

Das könnte für uns ein tägliches Gebet sein, damit wir umkehren

und handeln können wie der barmherzige Samariter, wie Nardini,

letztlich wie Jesus selbst, der mit seinem „misereor super turbam“

uns die Richtung gewiesen hat.

III. GERECHTIGKEIT IM REICH GOTTES: DIE VISION JESU VON

NAZARETH

Wer Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in einen Zusammenhang

bringt, muss zuerst eines betonen. Sie widersprechen sich nicht und

schon gar nicht schließen sie einander aus. In der klassischen

Formulierung von Thomas von Aquin klingt das so: „Gerechtigkeit

ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit; Barmherzigkeit ohne

Gerechtigkeit ist die Mutter der Auflösung.“ Papst Franziskus stellt

klar: „Es handelt sich dabei nicht um zwei gegensätzliche Aspekte,

sondern um zwei Dimensionen einer einzigen

Wirklichkeit.“(Misericordiae Vultus, MV 20)

G:\HA3\HA3-1-Ltg\2015\Nardini-Tag\NARDINI 2016.Vortrag P.Spiegel.docx 31.01.2016 10/21

Ausführlich und klar hat das übrigens Kardinal Kasper in seinem

Buch „Barmherzigkeit“ ausgeführt. Ich gehe davon aus, dass wir

das auch im Buch über Barmherzigkeit von Papst Franziskus

nachlesen können, das in der letzten Woche im Vatikan vorgestellt

wurde.

Barmherzigkeit und Gerechtigkeit sind zwei Grundhaltungen der

Jüngerinnen und Jünger Jesu, die in der Bergpredigt des

Matthäus, die man ja oft als den Katechismus der jungen Kirche

bezeichnet hat, direkt hintereinander aufgeführt werden.

„Selig die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie

werden satt werden.

Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden.“ (Mt

5,6-7)

Ich erinnere mich an die Erzählung eines unserer jesuitischen

Professoren in St. Georgen. Er war in Venezuela zu einer

Gastvorlesung und begegnete in Caracas Obdachlosen, die dort

auf der Straße leben mussten. Er sagte: „Ich war davon überzeugt,

dass der „barmherzige Samariter“ die Blaupause für christliches

Handeln heute abgibt. Dort habe ich gesehen, dass neben dem

ersten, um den ich mich kümmern kann, gleich noch einer kommt

und dann noch einer und noch einer und immer so weiter. An

einer sozialpolitisch-strukturellen Lösung des Armutsproblems

kommen wir also gerade im Sinne des Samariters nicht vorbei.“ Alle

guten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, alle in der

Sozialpastoral Engagierten, die sich wirklich auf die Armen und

Bedrängten aller Art einlassen, kommen früher oder später zu

dieser Erkenntnis. Die Amerikanerin Dorothy Day hat gesagt: „Wir

brauchen ein System, das es uns leichter macht, gut zu sein“ und

in der brasilianischen Arbeiterpastoral geht das Wort um: „Die

Politik ist die schönste Form der Nächstenliebe“.

Von dort ist es nicht mehr weit zur bekannten Erkenntnis von

Bischof Kamphaus, der ja lange Zeit unser Misereor Bischof war: „Es

geht nicht nur darum den Verletzten zu verbinden, sondern die

Strukturen der Räuberei abzuschaffen und damit zu verhindern,

dass er überhaupt unter die Räuber fällt.“

Jon Sobrino weist darauf hin, dass wir nicht der Gefahr erliegen

dürfen, barmherzig zu sein und Barmherzigkeit zu üben,

G:\HA3\HA3-1-Ltg\2015\Nardini-Tag\NARDINI 2016.Vortrag P.Spiegel.docx 31.01.2016 11/21

- ohne nur ein reines Mitgefühl zu haben, das nicht von einer Praxis

begleitet wird

- ohne die Gründe des Leidens zu analysieren

- ohne die strukturellen Ursachen anzugehen

- und ohne paternalistisch zu werden.

Es geht also um Gerechtigkeit. Vom biblischen Befund her will ich

dabei kurz zwei Dimensionen benennen:

a) Gerechtigkeit als Strukturprinzip einer Gesellschaft oder

Gerechtigkeit des Tuns im AT

Im Psalm 146 heißt es:

„Recht verschafft er den Unterdrückten,

den Hungernden gibt er Brot;

der Herr befreit die Gefangenen.

Der Herr öffnet den Blinden die Augen,

er richtet die Gebeugten auf.

Der Herr beschützt die Fremden und

verhilft den Waisen und Witwen zu ihrem Recht.

Der Herr liebt die Gerechten,

doch die Schritte der Frevler leitet er in die Irre.“

(Ps 146,7-9)

Hungernden, Gefangenen, Blinden, Gebeugten wird geholfen,

Unterdrückte, Fremde, Waisen und Witwen kommen zu ihrem

Recht. Die alttestamentliche Gerechtigkeit, die sedaqa, geht

dabei immer von den Schwächsten der Gesellschaft aus, von

denen, die am Rande stehen und gar schon ausgeschlossen sind.

Sie ist in diesem Sinn ausgleichende Gerechtigkeit. Die Qualität

einer Gesellschaft zeigt sich so an der Frage, wie sie mit ihren am

meisten verletzten und verletzlichsten Mitgliedern umgeht. „Die

Armen zuerst“ ist ein biblisch gut belegtes

Gerechtigkeitsverständnis, das sich konsequent in der

„bevorzugten Option für die Armen“ der lateinamerikanischen

Bischofskonferenzen seinen prominenten und für die Kirche

gültigen Ausdruck verschafft hat. Als auf dem Höhepunkt des

Konfliktes um die Befreiungstheologie die Sorge in einigen

kirchlichen Kreisen Europas hochkochte, dass die Kirche

Lateinamerikas die Reichen marginalisieren oder gar vergessen

G:\HA3\HA3-1-Ltg\2015\Nardini-Tag\NARDINI 2016.Vortrag P.Spiegel.docx 31.01.2016 12/21

könnte, sagte uns der langjährige Kardinal von Sao Paulo, Dom

Paulo Evaristo Arns: „Wenn in einer Familie ein Kind besonders

schwach oder kränklich ist, wird eine gute Mutter sich immer ein

bisschen mehr um dieses Kind kümmern. Das bedeutet aber doch

nicht, dass sie die anderen Kinder weniger liebt.“

Gerechtigkeit im Sinne des Alten Testamentes zielt auf Inklusion,

auf Teilnahme und Teilhabe. Niemand soll ausgeschlossen

werden. In einem der Lieder zur Gabenbereitung singen wir: „Seht

unser Gott lädt alle ein, keiner soll verloren sein.“

In dieser Logik ist sedaqa ja auch als „Gemeinschaftstreue“

übersetzt worden. Solches Denken braucht strukturelle

Verankerung in Gesetzen zur Sozialpolitik und eine Justiz, bei der

dieses Recht wenn nötig eingeklagt werden kann. Das

Bundessozialhilfegesetz ist in seiner Grundhaltung ein

hervorragendes Beispiel für diese Grundhaltung. Es garantiert ein

menschenwürdiges Leben in unserem Land als ein Recht einer

jeden Bürgerin und eines jeden Bürgers und befreit die Armen aus

der Situation der Bittenden und den Staat aus der Rolle des

Almosengebers. Davon konnte Paul Josef Nardini nur träumen.

Durch seine Praxis und sein Leben darf er aber sicher als einer der

Vorkämpfer einer gerechten Gesellschaft gelten. Für ihn wie für

viele andere war Gerechtigkeit noch im Wortsinn „u-topisch“ also

ohne einen Ort. Aber sie „erhebt ein Volk“(Spr 14,34).

Dass solche strukturelle Gerechtigkeit heute im globalen Maßstab,

in der Weltgesellschaft, gedacht und verwirklicht werden muss,

versteht sich aus Sicht von Christinnen und Christen von selbst.

Wenn wir wirklich alle Kinder des einen Vaters sind, also logisch

Schwestern und Brüder in der einen Menschheitsfamilie, dann

können soziale Rechte nicht an nationalen Grenzen enden.

Entwicklungszusammenarbeit ist in diesem Sinn eine Spielart von

Weltsozialpolitik. Sie ist weltweite Solidarität für Gerechtigkeit, die

es zu globalisieren gilt.

Im Alten Testament braucht es dazu Könige und Propheten: Der

König war verantwortlich für die Durchsetzung der Gerechtigkeit

im Land und der Prophet sollte ihn bei Nichtbeachtung gerade

daran erinnern. Da häufig die Gebote Jahwes nicht eingehalten

wurden, mussten die Propheten immer wieder auf den Plan treten.

Die Prophetenbücher sind nicht umsonst von ähnlichem Umfang

G:\HA3\HA3-1-Ltg\2015\Nardini-Tag\NARDINI 2016.Vortrag P.Spiegel.docx 31.01.2016 13/21

wie die Bücher, die uns über das Verhalten der Könige Israels

berichten.

Gerechtigkeit braucht beides: staatliches Handeln und

prophetisches Mahnen. Die Spannung zwischen beiden ist

offensichtlich und betrifft ja auch uns als Kirchen selbst: Als Caritas

sind wir Teil staatlicher Sozialpolitik, als Misereor erhalten wir

erhebliche Gelder aus der staatlichen

Entwicklungszusammenarbeit. Diese „Königsfunktion“ entbindet

uns aber keinesfalls der „prophetischen Funktion“. Beide müssen

notwendigerweise immer wieder in Konflikt geraten und dennoch

in ihrer ganzen Spannung ausgehalten werden. Bestenfalls

schaffen wir es, sie in eine produktive Spannung zu bringen. Das ist

eine große Herausforderung.

In der Taufe jedenfalls geben wir ja den Kindern in der Salbung mit

dem Chrisamöl beides mit auf den Weg: Königin sein, König sein

und eben auch Prophet und Prophetin sein in bester

alttestamentarischer Tradition. Und es ist gut, diese große Tradition

unseres Glaubens wach zu halten und immer neu lebendig

werden zu lassen.

In der diesjährigen Fastenaktion wollen wir die prophetische Seite

stärken. „Das Recht ströme wie Wasser“ ist das Leitwort aus dem

Buch des Propheten Amos, das wir in diesem Jahr gemeinsam mit

den brasilianischen Kirchen zum Leitwort unserer MISEREOR

Fastenaktion gemacht haben. Wir hoffen sehr, damit in unseren

Gemeinden einen Denk-, Dialog- und Umkehrprozess mit anregen

zu können, der die Frage nach der Gerechtigkeit in die Mitte

unserer Kirche stellt.

b) Gerechtigkeit als Haltung oder Gerechtigkeit des Seins im NT

Zunächst ist daran zu erinnern, dass diese

Gerechtigkeitsvorstellungen im NT aufgegriffen und bestätigt

werden. Denken Sie nur an das Magnifikat der Maria, das wir

täglich beten. Denken Sie an Josef, der ein Gerechter war und

natürlich an Jesus, der in der Antrittsrede, wie sie uns bei Lukas

überliefert ist gerade diese prophetische Tradition der

Gerechtigkeit aufgreift.

G:\HA3\HA3-1-Ltg\2015\Nardini-Tag\NARDINI 2016.Vortrag P.Spiegel.docx 31.01.2016 14/21

Im NT wird aber noch eine Dimension der Gerechtigkeit deutlicher,

als sie in den Schriften des ersten Testamentes erkennbar ist:

Gerechtigkeit als persönliche Haltung.

Der Durst nach Gerechtigkeit ist Jesus eine Seligpreisung wert: „Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit.“(Mt 5,6)

Umgekehrt heißt das, dass ein Zuwenig an Gerechtigkeit uns

verhungern und verdursten lassen kann. Am Ende der Bergpredigt

mahnt Jesus unsere Sorge um die Gerechtigkeit an: „Euch aber

muss es zuerst um sein Reich und seine Gerechtigkeit gehen; dann

wird euch alles andere dazugegeben.“ (Mt 6,33) Das ist eine

deutliche Prioritätensetzung für unser Handeln und ruft, wie es in

der Schweiz heißt, nach einer „Reich-Gottes-

Verträglichkeitsprüfung“ unseres individuellen und pastoralen

Handelns als Kirche und Gemeinden. Ein ehrliches Audit gehört zu

unserem Glauben dazu, das danach fragt, was die Prioritäten

unseres Handeln sind. Die Fastenzeit wird dazu jetzt die beste

Gelegenheit geben. Ein lateinamerikanisches Gebet drückt es so

aus: „Herr gib denen, die Hunger haben Brot und denen die Brot

haben, Hunger nach Gerechtigkeit.“

Gerechtigkeit ist eine Sehnsucht, die Jesus angetrieben hat und sie

sollte in seiner Nachfolge auch unserem Leben die Richtung

geben und die Prioritäten setzen. Immerhin ist diese Aufforderung

Jesu ja auch mit einer großen Verheißung verbunden: „…und alles

andere wird euch dazugegeben.“ Was würde sich alles ändern an

unserem Handeln und an unserem Erscheinungsbild als Kirche,

wenn wir diese Verheißung Jesu glauben und ihr durch unser

Leben eine konkrete Gestalt geben könnten? Die

Strukturdebatten, die heute die kirchliche Landschaft prägen,

bekämen eine neue Dynamik und einen neuen, lebensfördernden

Schwung.

Dazu kommt aus der paulinischen Theologie ein zweiter Aspekt der

Gerechtigkeit: „Gerecht gemacht aus Glauben“ (Röm 5,1) Auf die

Frage, die uns gerade in der Klimadebatte immer wieder gestellt

wurde: „Sind wir noch zu retten?“, müssten wir ja eigentlich

theologisch korrekt antworten: „Wir sind schon gerettet.“

Angesichts der weltweiten Katastrophen, des millionenfachen

Leidens und Sterbens ist das eine gewagte These, die nur mit

größter Demut ausgesprochen und unbedingt mit der Praxis der

Gerechtigkeit begleitet werden muss, damit sie nicht in den Ohren

G:\HA3\HA3-1-Ltg\2015\Nardini-Tag\NARDINI 2016.Vortrag P.Spiegel.docx 31.01.2016 15/21

Leidenden zynisch klingt. Dennoch gilt: Aus dem Indikativ „wir sind

gerecht gemacht“ wird der Imperativ „Sorgt Euch zuerst um das

Reich Gottes uns seine Gerechtigkeit.“ Nur in dieser Reihenfolge

bleibt das Evangelium eine befreiende Botschaft und verkommt

nicht zu einer Ansammlung ethischer Ideale.

Auf die Zukunft der Kirche angesprochen, beschwört Pater Alfred

Delp die „Rückkehr der Kirchen in die Diakonie“ und Dietrich

Bonhoeffer etwa zeitgleich und auch unter den Bedingungen der

Haft: „Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im

Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen“.

(Bonhoeffer, Tegel, 1944)

IV. NOCH EINMAL BARMHERZIGKEIT – DIE GRÖSSERE GERECHTIGKEIT

Schon in meinen ersten Überlegungen zur Barmherzigkeit wurde

deutlich, dass im Leben und folglich auch in der Nachfolge Jesu

die Barmherzigkeit nicht nur als Impulsgeber am Anfang

christlichen Handelns steht, sondern es begleitet und prägt und

eben auch am Ende übertrifft.

Zwei Aspekte will ich nur kurz benennen:

a) „Dann erwarten wir, gemäß seiner Verheißung, einen neuen

Himmel und eine neue Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt.“

(2 Petr. 3,13) Erlauben wir uns einen kurzen Moment die

Vorstellung, wir würden in einer komplett gerechten

Gesellschaft wohnen, so bin ich sicher, dass es dort noch

ausreichend Platz für die Barmherzigkeit gäbe. Mit perfekten

Verteilungs- und Ausgleichsmechanismen sind eben nicht alle

Fragen des Lebens erledigt. Erstens fällt unter irdischen

Bedingungen immer einer durch das soziale Netz, der den

Regeln nicht entspricht und durch kein Gesetz geschützt wird.

Zweitens sind menschliche Nähe, Güte, Freundlichkeit,

Annahme und Anteilnahme auch unter gerechten

Bedingungen menschliche Ausdrucksformen, die unser Leben

lebenswert machen. Barmherzigkeit hat viele Gesichter.

b) Ein zweites kommt hinzu. Das Leitwort des Jahres der

Barmherzigkeit „Barmherzig wie der Vater“ stammt ja aus dem

Lukasevangelium und ist der abschließende Satz eines Absatzes

G:\HA3\HA3-1-Ltg\2015\Nardini-Tag\NARDINI 2016.Vortrag P.Spiegel.docx 31.01.2016 16/21

aus der Feldrede Jesu, in der er uns, seine Jüngerinnen und

Jünger auffordert, unsere Feinde zu lieben, die andere Wange

hinzuhalten, das Hemd zu überlassen, wenn uns schon der

Mantel weggenommen wurde und jedem zu geben ohne

etwas zurückzuverlangen. Wir werden gefragt, welchen Dank

wir erwarten, wenn wir nur denen Gutes tun, die uns Gutes tun.

„Ihr aber sollt eure Feinde lieben und sollt Gutes tun und leihen,

auch wenn ihr nichts dafür erhoffen könnt.“ (Lk 6,35) und als

Begründung wird angeführt: „denn auch der Höchste ist gütig

gegen die Undankbaren und Bösen“. Bei Matthäus wird das

abgeschlossen mit der Aufforderung: „Ihr sollt also vollkommen

sein, wie es euer himmlischer Vater ist.“ (Mt 5,48) und bei Lukas:

„Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist.“ Barmherzigkeit

geht über gut begründete, und niemals zu überspringende

Gerechtigkeit weit hinaus.

Im portugiesischen gibt es für diese Haltung das Wort:

„gratuidade“. Rahner übersetzt es im theologischen

Zusammenhang mit Ungeschuldetheit. Es meint dieses Mehr an

Freiheit, losgelöst von Zweck und Strategie, diesen Schuss Güte

und Menschlichkeit, der „gratis“, oder wie es Meister Eckart

ausgedrückt hat „ohne warum“ hinzugeben wird.

Genau darin erscheint etwas von der „Güte und Menschenliebe

Gottes (Tit 3,4), von der der Titusbrief an Weihnachten spricht.

Im Kontakt mit unseren Partnern in den verschiedenen Teilen der

Welt spüren wir genau das: Unser Kampf für Gerechtigkeit erhält

durch Barmherzigkeit, menschliche Gesten, freundschaftliche

Begegnungen, gegenseitiges Interesse eine Tiefe und Wärme, die

uns neben den konkreten Ergebnissen unserer Projektarbeit, die wir

in aufwendigen Wirkungsanalysen messen, eine starke Motivation

gibt, immer weiter zu gehen.

Und um noch einmal auf Nardini zurückzukommen. Es muss am

Ende auch Barmherzigkeit für die Barmherzigen geben. In einem

uns in unserer kirchlichen und gesellschaftlichen Situation vielleicht

ein wenig befremdlichen Eifer sagt er: „Gott immer mehr zu

erkennen, ihm allein anzuhangen, an ihm allein Geschmack zu

finden, ihm meine ganze Liebe, alle meine Jugendkraft zu weihen,

uns so im wahrsten Sinn ein Brandopfer der himmlischen Liebe zu

werden. Wie glücklich wäre ich, wenn ich mich ganz in

G:\HA3\HA3-1-Ltg\2015\Nardini-Tag\NARDINI 2016.Vortrag P.Spiegel.docx 31.01.2016 17/21

hingebender Demut in seinem heiligen Liebesfeuer aufzehren

könnte.“ Dass er am Schluss selbst, aufgezehrt von diesem heiligen

Liebesfeuer Gast sein darf beim großen Gastmahl im ewigen

Reich, sollten wir von der Barmherzigkeit Gottes für ihn erhoffen

dürfen – selig gesprochen von der Kirche.

V. DIE KRAFT DER PERIPHERIE – SUBJEKTWERDUNG AM RAND UND

EVANGELISIERUNG VON DEN RÄNDERN HER

Und jetzt zum ersten Teil des Titels des Referates: Die Kraft der

Peripherie. Wir lernen gerade in den letzten Jahren, dass sich das

alte Paradigma von Zentrum und Peripherie, klassisch aufgeteilt in

Nord und Süd, immer mehr auflöst.

Die Peripherie ist überall: in den Slums von Sao Paulo, auf dem

Müllberg in Kairo, bei den Fischern auf den Philippinen, unter den

Textilarbeiterinnen von Bangladesch. Unter den arbeitslosen

Jugendlichen in Spanien oder Griechenland, unter den

Flüchtlingen im Aufnahmelager in Gießen, in Pirmasens, in den

alten Zechensiedlungen im Ruhrgebiet, in Mecklenburg

Vorpommern…

Das Zentrum ist überall: In der City in London, im Frankfurter

Bankenviertel, am Tegernsee und in Blankenese, in der Wallstreet,

in der Avenida Paulista in Sao Paulo, in Shenzen in China, in

Bangalore in Indien, in Abu Dhabi im Nahen Osten und auch in

den Reichenvierteln von Petersburg und Moskau.

Der Norden ist im Süden und der Süden im Norden. Mitten in der

Peripherie begegnen wir dem Zentrum und im Zentrum ist die

Peripherie.

Das vorausgeschickt habe ich bisher davon gesprochen und das

mit dem biblischen Zeugnis und dem Anliegen von Papst Franziskus

zu untermauern versucht, dass es für die Jüngerinnen und Jünger

Jesu und ihre Kirche darum gehen muss, herauszugehen, eine

„Iglesia en salida“, eine Kirche die aus sich selbst heraustritt, zu

sein.

G:\HA3\HA3-1-Ltg\2015\Nardini-Tag\NARDINI 2016.Vortrag P.Spiegel.docx 31.01.2016 18/21

Alfred Delp hat das in seinen Schriften so formuliert: „Rückkehr in

die Diakonie habe ich gesagt. (…) Damit meine ich das

Nachgehen und Nachwandern auch in die äußersten

Verlorenheiten und Verstiegenheiten des Menschen, um bei ihm

zu sein genau und gerade dann, wenn ihn Verlorenheit und

Verstiegenheit umgeben. „Geht hinaus“, hat der Meister gesagt,

und nicht „Setzt euch hin und wartet, ob einer kommt.“ Ich bin

sicher, Nardini hätte diesen Satz unterschrieben.

Als Papst Franziskus im Januar 2015 auf den Philippinen war, wurde

er von Kardinal Tagle mit folgendem Satz verabschiedet: „Heiliger

Vater, wir würden gerne mit Ihnen gehen, aber nicht nach Rom,

sondern an die Peripherien der Welt“.

Wie wir bereits am Samariter gesehen haben, ist der Weg der

Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit einer, der uns vom

gewohnten, eingeübten, selbstverständlichen Pfad abringt. Wir

verlassen das Zentrum unserer Welt. Wir brechen mit unserem Ego-

Zentrismus.

Angekommen an der Peripherie, wo auch immer sie sei, – und das

ist jetzt das Anliegen dieses letzten Punktes meines Vortrages –

begegnen wir aber nicht nur „der Verlorenheit und

Verstiegenheit“, wie es Pater Delp genannt hat, nicht nur dem

Schmerz, dem Hunger, der Einsamkeit, der Hoffnungslosigkeit, der

Gewalt, den Drogen, den Krankheiten, dem Analphabetismus…

Nein wir begegnen auch der Kraft der Peripherie. Zwei Aspekte will

ich kurz entfalten:

1) Das Sakrament des Bruders und der Schwester

Zuallererst ist natürlich darauf hinzuweisen, dass wir im Sinne der

Endgerichtsrede des Matthäus in den Hungernden, Durstigen,

Fremden, Obdachlosen, Nackten, Kranken und Gefangenen

Christus selbst begegnen. Das ist ja für uns eine ungeheure

Zumutung: es verrückt unsere gesellschaftlichen und auch

kirchlichen Maßstäbe. Und es ist für uns ein großes Glück: Am Rand

begegnen wir der Mitte unseres Glaubens: Christus selbst.

Ich kenne keine andere Religion (außer der jüdischen, mit der wir

ja in geschwisterlicher Weise verbunden sind), in der sich Gott so

radikal an den Armen bindet. In einer Predigt zum 100. Geburtstag

G:\HA3\HA3-1-Ltg\2015\Nardini-Tag\NARDINI 2016.Vortrag P.Spiegel.docx 31.01.2016 19/21

von Hans-Urs von Balthasar erinnert der heutige Kardinal Koch

daran, dass für diesen großen Theologen der Arme zum

„Sakrament des Bruders“ wird. Ich zitiere:

„Balthasar (konnte) für eine echte christliche „Theologie der

Befreiung“ eintreten, die im Antlitz des armen und leidenden

Menschen den auferstandenen und erhöhten Christus selbst

entgegenkommen sieht. Denn der arme und leidende Mensch ist

der privilegierte Zugangsort zu Christus und seine geheime, jedoch

sehr reale Epiphanie. Von Balthasar konnte sogar von einem

„Sakrament des Bruders“ – und natürlich auch der Schwester –

sprechen und dieses öffentliche Sakrament so interpretieren: Der

Bruder und die Schwester wird zum (und jetzt zitiert Kardinal Koch

Balthasar selbst) „Träger der Anrede Gottes, zum Sakrament des

Wortes Gottes an mich. Dieses Sakrament spendet sich im Alltag,

nicht im Kirchenraum. Im Gespräch, nicht während der Predigt.

Nicht in Gebet und Betrachtung, sondern dort, wo ... es sich

entscheidet, ob ich im Gebet wirklich Gottes Wort gehört habe.

Mons. Romero sagte in einer seiner Homilien: ≫Es gibt ein Kriterium,

das uns wissen lässt, ob Gott uns nahe oder fern ist: Wer immer sich

um den Hungernden, Nackten, Armen, Verschwundenen,

Gefolterten, Gefangenen, Leidenden kümmert, der ist Gott nahe

≪ (5. Februar 1978). Die Geste gegenüber dem Anderen, die

Annäherung an den Verlassensten entscheidet über die

Gottesnähe oder –ferne.

So begegnen wir an der Peripherie der zweifelsohne paradoxen

Macht Gottes, die ihre „Kraft in der Schwachheit erweist“ (2 Kor

12,9). Den heute vielzitierten Gottsuchern können wir im Geist des

Evangeliums einen Tipp geben, wo er zu finden ist: Im Antlitz des

leidenden Menschen. Dort ihm begegnen heißt auch, dort seine

Kraft für ein Leben in Würde erfahren, dort angesteckt werden

vom Traum des Gottesreiches und seiner Gerechtigkeit und dort

Barmherzigkeit erfahren, weil wir selbst barmherzig gewesen sind.

Die johanneische Überzeugung, dass Christus der Weg zum Vater

ist, findet gerade hier ihre geschichtliche Konkretion und ihren

such- und besuchbaren Ort.

2) Die evangelisatorische Kraft der Armen

Es gehört zu den stärksten Eindrücken unserer Arbeit bei MISEREOR,

dass unsere Projektverantwortlichen in der Regel ermutigt, beseelt

G:\HA3\HA3-1-Ltg\2015\Nardini-Tag\NARDINI 2016.Vortrag P.Spiegel.docx 31.01.2016 20/21

und gestärkt aus dem Besuchen der Partner zurückkommen. Ich

kenne das persönlich auch aus vielen Begegnungen. Natürlich ist

dort nicht alles eitel Sonnenschein. Natürlich gibt es Probleme,

Widersprüche, Scheitern. Es gibt auch Horror und Schrecken,

Ausweglosigkeit und Tod.

Aber was bleibt und uns prägt und was uns auch antreibt, sind die

Wärme der menschlichen Begegnungen, die Lebendigkeit und

Tiefe eines gelebten Glaubens, die Ehrlichkeit und Anziehungskraft

einer scheinbar unbesiegbaren Hoffnung der Armen, die sich auf

den Weg gemacht haben. Ich will und darf das nicht idealisieren

und ich meine auch nicht diesen oft oberflächlichen Eindruck,

dass die Menschen im Süden so freundlich sind und immer noch

tanzen und lachen. Das tun sie auch.

Aber ich meine, was Gustavo Gutierrez ‚die evangelisierende Kraft

der Armen‘ nennt und die in der Bergpredigt des Matthäus so

ausgedrückt wird: „Selig die arm sind vor Gott.“ (Mt 5,3) Das sind

die, die alles von Gott erwarten, die ihm zutrauen, dass er sich um

uns und seine Erde kümmert und dass er seine Verheißung des

neuen Himmels und der neuen Erde, in denen die Gerechtigkeit

wohnt (2 Petr 3,13), auch einhält. Diese Menschen sagen noch oft:

„So Gott will“ und sie meinen es auch so.

„Verzweiflung ist das Privileg der Reichen“, habe ich immer wieder

gehört. Was soll eine Mutter mit vier Kindern, der Mann im Alkohol

oder ganz weg, auch machen, als dafür zu sorgen, dass Essen auf

den Tisch kommt, die Kinder in die Schule gehen und dass sie das

Notwendigste für den Lebensunterhalt verdient. Für Verzweiflung ist

da kein Platz.

Und auch nicht für eine billige Hoffnung, die aus

selbstproduziertem, positivem Denken stammt. Lebendig und

kraftvoll kann dort nur eine Hoffnung sein, die von Gott geschenkt

ist und die deshalb von den Menschen auch nicht

weggenommen werden kann.

Diese Armen sind Träger einer Hoffnung und Subjekte der

Evangelisierung. Wir müssen als Missionare Gott nicht dorthin

bringen. Er ist immer schon da. Vielmehr dürfen wir Gott dort

entdecken und in seiner Gegenwart neu lebendig werden.

G:\HA3\HA3-1-Ltg\2015\Nardini-Tag\NARDINI 2016.Vortrag P.Spiegel.docx 31.01.2016 21/21

Wenn Sie jemals das Glück hatten, inmitten einer scheinbar

ausweglosen Situation, manchmal umgeben von Armut, Dreck

und Gestank, die Erfahrung der Gegenwart Gottes machen zu

dürfen, dann werden Sie Ehrfurcht empfinden.

Aus dieser Mystik wächst eine Kirche, die ganz nah an den

Menschen ist, die das Leiden nicht vergisst und die dennoch auf

die Auferstehung in den neuen Himmel und die neue Erde hinein

hofft. Diese Kirche empfängt die Kraft der Peripherie und kann sie

immer neu verschenken.

Diese Kraft ist in den Schwachen mächtig.

Sie durchkreuzt die herkömmlichen Kategorien von Macht und

Ohnmacht und ist doch wirkmächtig.

Sie ist die Sprengkraft eines gelebten Glaubens, die die

Hoffnungslosigkeit der Welt nicht verdoppelt, wie es die

Würzburger Synode gesagt hat.

Sie öffnet die Zukunft der Welt auf Gott hin und führt sie ihrer

Erfüllung zu.

Sie ist ein Schatz in einem zerbrechlichen Gefäß. (2 Kor 4,7a)

Paul Josef Nardini war ein solches zerbrechliches Gefäß. Er ist die

Wege der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit gegangen. An ihm

wurde deutlich, dass das Übermaß der Kraft von Gott und nicht

von uns kommt. (2 Kor 4,7b) – vom Gott an der Peripherie, wo er

sich bis heute finden lässt.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.