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Die Kraft der Peripherie – Wege der Barmherzigkeit und
Gerechtigkeit
Nardinitag in Pirmasens – 27. Januar 2016
Im Bekannten Neues entdecken – in der Heimat ins Fremde gehen.
In fünf Schritten:
1. Annäherung und Erinnerung an Paul Josef Nardini
2. Barmherzigkeit als die Grundhaltung von Christen
3. Gerechtigkeit im Reich Gottes: Die Vision Jesu von Nazareth
4. Noch einmal Barmherzigkeit – die größere Gerechtigkeit
5. Die Kraft der Peripherie – Subjektwerdung am Rand und Evangelisierung von
den Rändern her.
I. ANNÄHERUNG UND ERINNERUNG AN PAUL JOSEF NARDINI (1821 -1862)
Bei der Vorbereitung auf diesen Vortrag, bin ich auf dieses Bild gestoßen:
Pirmasens Löwenbrunnenstraße, Wohnung der ersten Schwestern
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Ein altes Haus in Pirmasens – nicht schön einfach und nicht einfach
schön und auch nicht einfach und schön. Sondern eher ärmlich,
für unser heutiges Empfinden vielleicht sogar schmutzig. Es
beherbergte 1855 die erste Wohnung der „Armen
Franziskanerinnen von der Heiligen Familie“ – der Mallersdorfer
Schwestern. Es ist weit entfernt von unseren heutigen kirchlichen
Gebäuden, von unseren Tagungshäusern, Gemeindehäusern,
Pfarrhäusern, auch vom heutigen Mutterhaus der Schwestern und
auch vom Sitz von Misereor, dem ehemaligen Priesterseminar des
Bistums Aachen.
Es hat keine Chance einen Architekturpreis zu gewinnen. Aber es
hat einen verborgenen Glanz, den wir mit den Augen des
Glaubens wahrnehmen können. Es ist ein Zeugnis für den
Ortwechsel von Frauen, die sich im 19. Jahrhundert mitten unter
die Armen von Pirmasens begeben haben. Es ist ein sichtbares
Zeugnis einer Bewegung, die die Gemeinde von Philippi Christus
selbst zugeschrieben hat: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht
daran fest, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich, wurde wie
ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines
Menschen. Er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod am
Kreuz.“ (Phil 2, 6-9)
Der tschechische Theologe Tomas Halik nennt das die „kenotische
Sendung des Kreuzes“. Die Sendung, die uns von der modernen
Welt, mit ihrem „höher, schneller, weiter“ unterscheidet und die
uns gerade so auf die spezifische Weise des christlichen und
evangeliumsgemäßen Glaubens mit ihr verbindet. Diese Sendung
ließ die Schwestern beides sein: verborgenes Salz der Erde und
unübersehbares Licht der Welt.
Angestiftet – im besten Sinne dieses Wortes - zu einem solchen
Leben hatte sie Paul Josef Nardini, damals Pfarrer in Pirmasens,
heute ein Seliger unseres Bistums.
- Im Kontext mit Ketteler (1811 -1877) und Kolping (1813 – 1865):
Paradigmenwechsel
Nardini, ein Mann mit großem Wissen und viel Verstand, konnte vor
allem nicht wegsehen. Er kam nach Frankenthal, nach Geinsheim
und nach Pirmasens. Er sah die Not und das Elend der Menschen,
gerade die Not der Schuhmacherfamilien in Pirmasens. Er musste
mit ansehen, wie viele Menschen ganz armselig in Kellerlöchern
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hausten, die Kinder oft allein, weil die Eltern arbeiten mussten.
Auch für die Alten, Kranken und Sterbenden war wenig Zeit.
Und er konnte nicht weghören, wenn sie ihm ihre Sorgen vortrugen
und auch ihn anbettelten um Brot, Kleidung und Geld.
Das Leid sehen und den Schrei hören - das erinnert mich an die
Urerfahrung Israels, den Exodus, der mit den berühmten Worten
Jahwes beginnt: „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten
gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört.
Ich kenne ihr Leid.“ (Ex 3,7)
Mit diesem Exoduszitat beginnt übrigens eines der Urdokumente
der befreienden Praxis der lateinamerikanischen Kirche, das
verantwortlich Dom Helder Camara 1968 im brasilianischen
Nordosten geschrieben hat: „ouvi o clamor do meu povo“ = „Ich
habe das Schreien meines Volkes gehört“. Damals brach die
Kirche in der Militärdiktatur ihr Schweigen und hat auf die
himmelschreienden Lebensbedingungen der armgemachten
Bevölkerung des Nordostens Brasiliens öffentlich aufmerksam
gemacht und sie angeklagt.
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Beide, Nardini und Câmara, kamen damit in Konflikt mit den
Mächtigen ihrer Zeit: Nardini mit dem Stadtrat von Pirmasens,
Câmara mit den Militärdiktatoren in Brasilia. Sie haben sich
bewegen lassen wie der barmherzige Samariter des Evangeliums
von dem Verletzten, der am Straßenrand liegt. Lukas benutzt für
dieses „sich bewegen lassen“ einen starken Ausdruck:
splanchnizomai (10,33), das wörtlich bedeutet "die Eingeweide
aufwühlen". Der Schrei des Volkes, das im Dunkel lebt, geht ihnen
mehr als unter die Haut. Er wühlt sie auf. Ähnlich wie Amos fragt,
nachdem er klar und deutlich das Unrecht seiner Zeit angeklagt
hat: „Sollte deshalb die Erde nicht beben, sollten nicht alle ihre
Bewohner voll Trauer sein? Sollte nicht die ganze Erde sich heben
wie der Nil: [aufgewühlt sein] und sich wieder senken wie der
Strom von Ägypten? (Amos 8,8)
Für Paul Josef Nardini bleibt es nicht bei einer gefühlsduseligen
Betroffenheit. „Gott hilft in aller Not. Darum wollen wir mutig
voranschreiten“, hat er gesagt und „Wo ich bin, bin ich ganz“ –
und das hat er auch getan.
Er hat für die Verbesserung der Lebensumstände der Armen in
Pirmasens gestritten und wurde abgewiesen. Er nutzte die Zeitung,
um seine Positionen zu veröffentlichen. Und vor allem stieg er ein in
die Armenfürsorge, wie das damals hieß. Er konnte Schwestern
gewinnen, die die Hungrigen speisten, verwahrloste Kinder
kleideten und Alte und Kranke besuchten. Ein Studienseminar
gründete er, um Jungen zu unterrichten. Er gründete den
Frauenorden der Mallersdorfer Schwestern, der Kinder aufnahm
und sich um sie kümmerte. Und vieles andere mehr. Das Haus, in
dem diese Arbeit begann, haben wir schon gesehen.
Kein Weg war ihm zu weit, um Genehmigungen einzuholen,
Spenden zu sammeln, um Verständnis und Unterstützung zu
werben. Gott sei Dank fand er im damaligen Bischof von Speyer
einen großherzigen und beherzten Förderer.
Nardini war ein Mann mit einem großen Herzen. “Liebe ist unser
Leben. Liebe ist unsere Bestimmung. Liebe ist das einzige, was Gott
von uns fordert, denn die Erfüllung aller Pflicht fließt aus ihr.” Das
war seine Überzeugung und die hat er ganz gelebt. Bis zu seinem
(zu) frühen Tod.
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An diesem Punkt bricht sich dann auch unsere möglicherweise
aufkommende Bewunderung für diesen Mann. Ein solches Leben
hat einen Preis. Diesen Preis haben unzählige Frauen und Männer
in den Kirchen Lateinamerikas, Asiens und Afrikas bezahlt und bis
heute geschieht das weltweit. Engagiert gelebter Glaube an der
Seite der Armen reibt auf und ist bis heute lebensgefährlich. Amor
sustentável!
„Die Liebe sucht nicht das Kreuz“, hat Dorothee Sölle gesagt,
„aber in der Welt, so wie sie ist, kommt sie manchmal ans Kreuz“.
Ich habe immer wieder erlebt wie eigener Glaube in Gefahr
bringt.
Im Spannungsfeld dieser Frage hat Nardini Erfahrungen gemacht,
die er so auf den Punkt bringt: „Wer Gott liebt, der ist reich auch in
der Armut und mächtig auch in der Schwäche.“ In seinem Leben
zeigen sich die Gegensatzpaare: Stärke und Schwäche, Reichtum
und Armut, Leben und Tod, die das Leben aller hervorragenden
Glaubenszeugen prägen und auszeichnen. In diese
spannungsreichen Widersprüche wächst man hinein, oder wird
hineingeführt, wenn man die Wege der Barmherzigkeit und der
Gerechtigkeit geht und das vor allem an den Rändern unserer
Gesellschaften und der Welt, an der Peripherie.
Dort, so behaupte ich auch aus meiner Erfahrung im
brasilianischen Nordosten und aus der Arbeit mit den
Volksmissionen, können wir eine Kraft entdecken, von der wir im
Zentrum nicht einmal etwas ahnen. Papst Franziskus beschreibt
dies immer wieder.
Und damit komme ich zu den Stichworten, mit denen mein Beitrag
überschrieben ist: Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und die Kraft der
Peripherie.
II. BARMHERZIGKEIT ALS DIE GRUNDHALTUNG VON CHRISTEN
Beginnen möchte ich mit dem ersten Wort im zweiten Teil des Titels:
mit der Barmherzigkeit. Wir befinden uns mitten im von Papst
Franziskus ausgerufenen Jahr der Barmherzigkeit und unser Werk
„MISEREOR“ hat sie ja im Namen. Sie ist also Ausgangspunkt
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unserer Arbeit und gehört unverzichtbar zu unserem
Selbstverständnis dazu.
In diesem Sinn spricht Jon Sobrino, der Befreiungstheologe aus El
Salvador und Berater eines anderen Seligen, von Monsignore
Oscar Romero, vom Prinzip Barmherzigkeit.
Sobrino schreibt: „Wir verstehen unter dem 'Prinzip Barmherzigkeit'
die spezifische Liebe, die am Anfang eines Prozesses steht, die in
ihm gegenwärtig und aktiv bleibt, die ihm eine bestimmte
Richtung gibt und den verschiedenen Elementen dieses Prozesses
ihren Platz gibt. Dieses 'Prinzip Barmherzigkeit' – so glauben wir – ist
das fundamentale Prinzip im Handeln Gottes und Jesu und soll es
auch im Handeln der Kirche sein“ (S. 32)
Barmherzigkeit ist die grundlegende Haltung Gottes, die sich nach
der jüdischen Überlieferung zum ersten Mal in seinem
Befreiungshandeln an Israel in Ägypten zeigt. Das Leiden seines
Volkes ist ihm nicht gleichgültig.
Diese Sorge um sein Volk ist oft wieder anzutreffen in den Schriften
der Propheten. Beispielhaft zitiere ich in kurzen Auszügen einen
wunderbaren Text aus dem Propheten Hosea:
„Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb, ich rief meinen Sohn aus
Ägypten. (…) Ich war es, der Efraim gehen lehrte, ich nahm ihn auf
meine Arme. Sie aber haben nicht erkannt, dass ich sie heilen
wollte. Mit menschlichen Fesseln zog ich sie an mich, mit den
Ketten der Liebe. Ich war da für sie wie die (Eltern), die den
Säugling an ihre Wangen heben. Ich neigte mich ihm zu und gab
ihm zu essen. (…)Wie könnte ich dich preisgeben, Efraim, wie dich
aufgeben, Israel? (Hosea 11,1.3-4.8)
Dieser letzten Frage begegnen wir auch bei Jesaja: „Kann denn
eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn?
Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: ich vergesse dich nicht.“
(Jes 49,15)
Gott sorgt sich um sein Volk. Diese „Compassion“, dieses Mitleiden,
diese Barmherzigkeit als Grundhaltung greift Jesus auf, lebt sie und
verkündet sie. Ich zitiere noch einmal Jon Sobrino: „Diese
ursprüngliche Barmherzigkeit Gottes erscheint geschichtlich in der
Praxis und der Botschaft Jesu. Das misereor super turbam ist also
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nicht eine 'einmalige' Haltung Jesu, sondern es prägt sein Leben
und seine Mission und verursacht sein Ende. Es prägt auch seine
Sicht von Gott und den Menschen.“ (S. 34)
Jesus heilt am Sabbat, weil er ein Barmherziger ist. Immer wieder
wendet er sich den Leidenden, Kranken, Ausgegrenzten,
Aussätzigen zu, nimmt Anteil an ihrem Leben und an ihren Leiden.
Er heilt und integriert, er berührt und lädt ein.
In der Bergpredigt nennt er die Barmherzigen selig und verspricht
ihnen, dass sie selbst Barmherzigkeit erfahren werden.
Und er erzählt von Gott als dem barmherzigen Vater und stellt uns
den barmherzigen Samariter vor Augen und macht ihn zum
Orientierungspunkt für Menschen in der Nachfolge.
„Barmherzigkeit“, sagt Papst Franziskus, „ist das pulsierende Herz
des Evangeliums“. (MV 12) Sie ist die Triebfeder, die uns in
Bewegung setzt, die Liebe, die uns drängt. Sie hat auch Josef Paul
Nardini gedrängt sein Leben in der Nachfolge Christi zu leben.
Lassen Sie mich, Gustavo Gutierrez folgend, ein paar Gedanken
zum barmherzigen Samariter vortragen, um einige Aspekte der
Barmherzigkeit noch klarer herauszuarbeiten.
Gutierrez weist zunächst darauf hin, dass der Samariter seinen Weg
verlassen muss. Er muss stehen bleiben, zur Seite treten und sich
dem Verletzten zuwenden. Dieses Motiv, dass Glaubende und ihre
Kirche aus dem eigenen heraustreten sollen, ist bei Papst Franziskus
schon in Evangelii Gaudium zu finden. In der deutschen
Übersetzung heißt es „Kirche im Aufbruch“. Der spanische Text
sagt: „Iglesia en salida“, also eine Kirche, die aus sich selbst
herausgeht und die an die Ränder geht und sich dabei verbeult.
Das trifft den Sinn eher.
Ich zitiere Gutierrez: „Das Evangelium Jesu besteht genau darin: in
einem Aufruf, das um sich selbst zentrierte, im wörtlichen Sinn ego-
zentrische Universum zu verlassen und in die Welt des Anderen
einzutreten.“ (Konzilsereignis S. 412f) und weiter: „Es geschieht eine
Verlagerung vom Ich des Gelehrten ("mein Nächster") zum Du des
Verletzten. Von meiner Welt zu der des Anderen - eine Bewegung,
die den Kern des Gleichnisses bildet. Von dem Blick, der den
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Nächsten als Objekt, als Hilfeempfänger sieht, hin zu der Sicht, die
ihn als Subjekt einer Aktion der Annäherung begreift. Nähe ist
keine schlichte physische oder kulturelle Nachbarschaft, sie ist das
Ergebnis einer Option. Eine Verschiebung. (Konzilsereignis, S.413)
Gustavo Gutierrez fragte mich: „Hast Du Freunde unter den
Armen?“
Diese Verschiebung zur Welt des anderen hin ist eine
fundamentale Charakteristik christlicher Barmherzigkeit. Nur so wird
der andere nicht zum entwürdigten Objekt meiner wahrscheinlich
sogar gut gemeinten Hilfeleistung. Es geht nicht um mich und mein
Gut-Sein, sondern um das Leben des Anderen.
Noch einmal Gustavo Gutierrez: „Folgerichtig und entgegen dem
ersten Augenschein ist die Schlüsselfigur der Geschichte nicht der
Samariter, sondern jener, der in der Passage "ein gewisser Mensch"
(anthropos tis; Vers 30) heißt: das Opfer, der Entwertete,
Namenlose ohne Kennzeichnung. Über ihn wird nichts gesagt, er ist
eine anonyme, bedeutungslose Person, wir wissen nicht, ob er zum
jüdischen oder zum samaritanischen Volk gehörte, welches sein
Beruf war, auch nicht, was ihn zu seiner Wanderung veranlasst hat.
Er ist "der Andere", und in Bezug auf ihn definieren sich alle
anderen Personen der Erzählung, von denen wir etwas wissen.
Seine Lage als Misshandelter und Verlassener ist eine
Herausforderung an diejenigen, die da ihren täglichen, häufig
beschrittenen Weg zurücklegen.“ (Konzilsereignis, S.413)
Der Samariter nimmt die Herausforderung an und hebt durch seine
Barmherzigkeit die Bedeutungslosigkeit und Marginalisierung dieses
Anderen auf. „Dabei ist zu beachten, dass der Samariter nicht nur
erschüttert war, sondern praktiziert hat; so lautet denn auch das
letzte Wort Jesu an den Gesetzeslehrer: "Geh und handle ebenso!"
(Lk 10,37). Dies ist ein Missionsauftrag, in dem Sinn "schenke das
Leben, übe die Barmherzigkeit", ohne Ansehen der Person, im
besten und ursprünglichen Sinn des Wortes: Gib dein Herz mittels
konkreter Gesten dem Elenden, dem Hilflosen. Und das ist etwas,
was auch für die Gemeinschaft der Jünger des Herrn, die Kirche,
gilt.“ (Konzilsereignis, S. 416)
Jon Sobrino spricht in diesem Zusammenhang von einer nota
ecclesiae, einem Wesensmerkmal der Kirche. Seine Frage ist, ob
nicht das Glaubensbekenntnis um die Barmherzigkeit erweitert
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werden sollte: „Ich glaube die eine, heilige, katholische,
apostolische und barmherzige Kirche.“ Im Sinne Jesu käme es aber
sicher eher auf die Orthopraxie als auf geänderte Worte im
Glaubensbekenntnis an.
Paul Josef Nardini war in der Nachfolge Jesu ein im Prinzip
Barmherziger. Er hat die Gleichgültigkeit gegenüber den
Leidenden überwunden, die heute globale Dimensionen
angenommen hat. Papst Franziskus weist uns darauf hin, dass es
darauf ankommt, durch Barmherzigkeit als grundsätzliche Haltung
und als konkrete Werke die Globalisierung der Gleichgültigkeit zu
überwinden. Noch einmal Gutierrez: „Diese samaritanische Caritas
ist gemäß der Spiritualität, die das Konzil vertritt, die Seele der
Kirche, die der Aufrichtung der Gerechtigkeit und der Achtung für
die Menschenwürde einer jeden Person Stärke und Tiefe verleihen
soll.“ (Konzilsereignis, S. 419)
“Solo le pido a Dios”, hat Mercedes Sosa gesungen, “que el dolor
no me sea indiferente.” Nur darum bitte ich Gott, dass der
Schmerz (der anderen) mir nicht gleichgültig sei. (Pfingstsequenz!)
Das könnte für uns ein tägliches Gebet sein, damit wir umkehren
und handeln können wie der barmherzige Samariter, wie Nardini,
letztlich wie Jesus selbst, der mit seinem „misereor super turbam“
uns die Richtung gewiesen hat.
III. GERECHTIGKEIT IM REICH GOTTES: DIE VISION JESU VON
NAZARETH
Wer Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in einen Zusammenhang
bringt, muss zuerst eines betonen. Sie widersprechen sich nicht und
schon gar nicht schließen sie einander aus. In der klassischen
Formulierung von Thomas von Aquin klingt das so: „Gerechtigkeit
ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit; Barmherzigkeit ohne
Gerechtigkeit ist die Mutter der Auflösung.“ Papst Franziskus stellt
klar: „Es handelt sich dabei nicht um zwei gegensätzliche Aspekte,
sondern um zwei Dimensionen einer einzigen
Wirklichkeit.“(Misericordiae Vultus, MV 20)
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Ausführlich und klar hat das übrigens Kardinal Kasper in seinem
Buch „Barmherzigkeit“ ausgeführt. Ich gehe davon aus, dass wir
das auch im Buch über Barmherzigkeit von Papst Franziskus
nachlesen können, das in der letzten Woche im Vatikan vorgestellt
wurde.
Barmherzigkeit und Gerechtigkeit sind zwei Grundhaltungen der
Jüngerinnen und Jünger Jesu, die in der Bergpredigt des
Matthäus, die man ja oft als den Katechismus der jungen Kirche
bezeichnet hat, direkt hintereinander aufgeführt werden.
„Selig die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie
werden satt werden.
Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden.“ (Mt
5,6-7)
Ich erinnere mich an die Erzählung eines unserer jesuitischen
Professoren in St. Georgen. Er war in Venezuela zu einer
Gastvorlesung und begegnete in Caracas Obdachlosen, die dort
auf der Straße leben mussten. Er sagte: „Ich war davon überzeugt,
dass der „barmherzige Samariter“ die Blaupause für christliches
Handeln heute abgibt. Dort habe ich gesehen, dass neben dem
ersten, um den ich mich kümmern kann, gleich noch einer kommt
und dann noch einer und noch einer und immer so weiter. An
einer sozialpolitisch-strukturellen Lösung des Armutsproblems
kommen wir also gerade im Sinne des Samariters nicht vorbei.“ Alle
guten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, alle in der
Sozialpastoral Engagierten, die sich wirklich auf die Armen und
Bedrängten aller Art einlassen, kommen früher oder später zu
dieser Erkenntnis. Die Amerikanerin Dorothy Day hat gesagt: „Wir
brauchen ein System, das es uns leichter macht, gut zu sein“ und
in der brasilianischen Arbeiterpastoral geht das Wort um: „Die
Politik ist die schönste Form der Nächstenliebe“.
Von dort ist es nicht mehr weit zur bekannten Erkenntnis von
Bischof Kamphaus, der ja lange Zeit unser Misereor Bischof war: „Es
geht nicht nur darum den Verletzten zu verbinden, sondern die
Strukturen der Räuberei abzuschaffen und damit zu verhindern,
dass er überhaupt unter die Räuber fällt.“
Jon Sobrino weist darauf hin, dass wir nicht der Gefahr erliegen
dürfen, barmherzig zu sein und Barmherzigkeit zu üben,
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- ohne nur ein reines Mitgefühl zu haben, das nicht von einer Praxis
begleitet wird
- ohne die Gründe des Leidens zu analysieren
- ohne die strukturellen Ursachen anzugehen
- und ohne paternalistisch zu werden.
Es geht also um Gerechtigkeit. Vom biblischen Befund her will ich
dabei kurz zwei Dimensionen benennen:
a) Gerechtigkeit als Strukturprinzip einer Gesellschaft oder
Gerechtigkeit des Tuns im AT
Im Psalm 146 heißt es:
„Recht verschafft er den Unterdrückten,
den Hungernden gibt er Brot;
der Herr befreit die Gefangenen.
Der Herr öffnet den Blinden die Augen,
er richtet die Gebeugten auf.
Der Herr beschützt die Fremden und
verhilft den Waisen und Witwen zu ihrem Recht.
Der Herr liebt die Gerechten,
doch die Schritte der Frevler leitet er in die Irre.“
(Ps 146,7-9)
Hungernden, Gefangenen, Blinden, Gebeugten wird geholfen,
Unterdrückte, Fremde, Waisen und Witwen kommen zu ihrem
Recht. Die alttestamentliche Gerechtigkeit, die sedaqa, geht
dabei immer von den Schwächsten der Gesellschaft aus, von
denen, die am Rande stehen und gar schon ausgeschlossen sind.
Sie ist in diesem Sinn ausgleichende Gerechtigkeit. Die Qualität
einer Gesellschaft zeigt sich so an der Frage, wie sie mit ihren am
meisten verletzten und verletzlichsten Mitgliedern umgeht. „Die
Armen zuerst“ ist ein biblisch gut belegtes
Gerechtigkeitsverständnis, das sich konsequent in der
„bevorzugten Option für die Armen“ der lateinamerikanischen
Bischofskonferenzen seinen prominenten und für die Kirche
gültigen Ausdruck verschafft hat. Als auf dem Höhepunkt des
Konfliktes um die Befreiungstheologie die Sorge in einigen
kirchlichen Kreisen Europas hochkochte, dass die Kirche
Lateinamerikas die Reichen marginalisieren oder gar vergessen
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könnte, sagte uns der langjährige Kardinal von Sao Paulo, Dom
Paulo Evaristo Arns: „Wenn in einer Familie ein Kind besonders
schwach oder kränklich ist, wird eine gute Mutter sich immer ein
bisschen mehr um dieses Kind kümmern. Das bedeutet aber doch
nicht, dass sie die anderen Kinder weniger liebt.“
Gerechtigkeit im Sinne des Alten Testamentes zielt auf Inklusion,
auf Teilnahme und Teilhabe. Niemand soll ausgeschlossen
werden. In einem der Lieder zur Gabenbereitung singen wir: „Seht
unser Gott lädt alle ein, keiner soll verloren sein.“
In dieser Logik ist sedaqa ja auch als „Gemeinschaftstreue“
übersetzt worden. Solches Denken braucht strukturelle
Verankerung in Gesetzen zur Sozialpolitik und eine Justiz, bei der
dieses Recht wenn nötig eingeklagt werden kann. Das
Bundessozialhilfegesetz ist in seiner Grundhaltung ein
hervorragendes Beispiel für diese Grundhaltung. Es garantiert ein
menschenwürdiges Leben in unserem Land als ein Recht einer
jeden Bürgerin und eines jeden Bürgers und befreit die Armen aus
der Situation der Bittenden und den Staat aus der Rolle des
Almosengebers. Davon konnte Paul Josef Nardini nur träumen.
Durch seine Praxis und sein Leben darf er aber sicher als einer der
Vorkämpfer einer gerechten Gesellschaft gelten. Für ihn wie für
viele andere war Gerechtigkeit noch im Wortsinn „u-topisch“ also
ohne einen Ort. Aber sie „erhebt ein Volk“(Spr 14,34).
Dass solche strukturelle Gerechtigkeit heute im globalen Maßstab,
in der Weltgesellschaft, gedacht und verwirklicht werden muss,
versteht sich aus Sicht von Christinnen und Christen von selbst.
Wenn wir wirklich alle Kinder des einen Vaters sind, also logisch
Schwestern und Brüder in der einen Menschheitsfamilie, dann
können soziale Rechte nicht an nationalen Grenzen enden.
Entwicklungszusammenarbeit ist in diesem Sinn eine Spielart von
Weltsozialpolitik. Sie ist weltweite Solidarität für Gerechtigkeit, die
es zu globalisieren gilt.
Im Alten Testament braucht es dazu Könige und Propheten: Der
König war verantwortlich für die Durchsetzung der Gerechtigkeit
im Land und der Prophet sollte ihn bei Nichtbeachtung gerade
daran erinnern. Da häufig die Gebote Jahwes nicht eingehalten
wurden, mussten die Propheten immer wieder auf den Plan treten.
Die Prophetenbücher sind nicht umsonst von ähnlichem Umfang
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wie die Bücher, die uns über das Verhalten der Könige Israels
berichten.
Gerechtigkeit braucht beides: staatliches Handeln und
prophetisches Mahnen. Die Spannung zwischen beiden ist
offensichtlich und betrifft ja auch uns als Kirchen selbst: Als Caritas
sind wir Teil staatlicher Sozialpolitik, als Misereor erhalten wir
erhebliche Gelder aus der staatlichen
Entwicklungszusammenarbeit. Diese „Königsfunktion“ entbindet
uns aber keinesfalls der „prophetischen Funktion“. Beide müssen
notwendigerweise immer wieder in Konflikt geraten und dennoch
in ihrer ganzen Spannung ausgehalten werden. Bestenfalls
schaffen wir es, sie in eine produktive Spannung zu bringen. Das ist
eine große Herausforderung.
In der Taufe jedenfalls geben wir ja den Kindern in der Salbung mit
dem Chrisamöl beides mit auf den Weg: Königin sein, König sein
und eben auch Prophet und Prophetin sein in bester
alttestamentarischer Tradition. Und es ist gut, diese große Tradition
unseres Glaubens wach zu halten und immer neu lebendig
werden zu lassen.
In der diesjährigen Fastenaktion wollen wir die prophetische Seite
stärken. „Das Recht ströme wie Wasser“ ist das Leitwort aus dem
Buch des Propheten Amos, das wir in diesem Jahr gemeinsam mit
den brasilianischen Kirchen zum Leitwort unserer MISEREOR
Fastenaktion gemacht haben. Wir hoffen sehr, damit in unseren
Gemeinden einen Denk-, Dialog- und Umkehrprozess mit anregen
zu können, der die Frage nach der Gerechtigkeit in die Mitte
unserer Kirche stellt.
b) Gerechtigkeit als Haltung oder Gerechtigkeit des Seins im NT
Zunächst ist daran zu erinnern, dass diese
Gerechtigkeitsvorstellungen im NT aufgegriffen und bestätigt
werden. Denken Sie nur an das Magnifikat der Maria, das wir
täglich beten. Denken Sie an Josef, der ein Gerechter war und
natürlich an Jesus, der in der Antrittsrede, wie sie uns bei Lukas
überliefert ist gerade diese prophetische Tradition der
Gerechtigkeit aufgreift.
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Im NT wird aber noch eine Dimension der Gerechtigkeit deutlicher,
als sie in den Schriften des ersten Testamentes erkennbar ist:
Gerechtigkeit als persönliche Haltung.
Der Durst nach Gerechtigkeit ist Jesus eine Seligpreisung wert: „Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit.“(Mt 5,6)
Umgekehrt heißt das, dass ein Zuwenig an Gerechtigkeit uns
verhungern und verdursten lassen kann. Am Ende der Bergpredigt
mahnt Jesus unsere Sorge um die Gerechtigkeit an: „Euch aber
muss es zuerst um sein Reich und seine Gerechtigkeit gehen; dann
wird euch alles andere dazugegeben.“ (Mt 6,33) Das ist eine
deutliche Prioritätensetzung für unser Handeln und ruft, wie es in
der Schweiz heißt, nach einer „Reich-Gottes-
Verträglichkeitsprüfung“ unseres individuellen und pastoralen
Handelns als Kirche und Gemeinden. Ein ehrliches Audit gehört zu
unserem Glauben dazu, das danach fragt, was die Prioritäten
unseres Handeln sind. Die Fastenzeit wird dazu jetzt die beste
Gelegenheit geben. Ein lateinamerikanisches Gebet drückt es so
aus: „Herr gib denen, die Hunger haben Brot und denen die Brot
haben, Hunger nach Gerechtigkeit.“
Gerechtigkeit ist eine Sehnsucht, die Jesus angetrieben hat und sie
sollte in seiner Nachfolge auch unserem Leben die Richtung
geben und die Prioritäten setzen. Immerhin ist diese Aufforderung
Jesu ja auch mit einer großen Verheißung verbunden: „…und alles
andere wird euch dazugegeben.“ Was würde sich alles ändern an
unserem Handeln und an unserem Erscheinungsbild als Kirche,
wenn wir diese Verheißung Jesu glauben und ihr durch unser
Leben eine konkrete Gestalt geben könnten? Die
Strukturdebatten, die heute die kirchliche Landschaft prägen,
bekämen eine neue Dynamik und einen neuen, lebensfördernden
Schwung.
Dazu kommt aus der paulinischen Theologie ein zweiter Aspekt der
Gerechtigkeit: „Gerecht gemacht aus Glauben“ (Röm 5,1) Auf die
Frage, die uns gerade in der Klimadebatte immer wieder gestellt
wurde: „Sind wir noch zu retten?“, müssten wir ja eigentlich
theologisch korrekt antworten: „Wir sind schon gerettet.“
Angesichts der weltweiten Katastrophen, des millionenfachen
Leidens und Sterbens ist das eine gewagte These, die nur mit
größter Demut ausgesprochen und unbedingt mit der Praxis der
Gerechtigkeit begleitet werden muss, damit sie nicht in den Ohren
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Leidenden zynisch klingt. Dennoch gilt: Aus dem Indikativ „wir sind
gerecht gemacht“ wird der Imperativ „Sorgt Euch zuerst um das
Reich Gottes uns seine Gerechtigkeit.“ Nur in dieser Reihenfolge
bleibt das Evangelium eine befreiende Botschaft und verkommt
nicht zu einer Ansammlung ethischer Ideale.
Auf die Zukunft der Kirche angesprochen, beschwört Pater Alfred
Delp die „Rückkehr der Kirchen in die Diakonie“ und Dietrich
Bonhoeffer etwa zeitgleich und auch unter den Bedingungen der
Haft: „Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im
Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen“.
(Bonhoeffer, Tegel, 1944)
IV. NOCH EINMAL BARMHERZIGKEIT – DIE GRÖSSERE GERECHTIGKEIT
Schon in meinen ersten Überlegungen zur Barmherzigkeit wurde
deutlich, dass im Leben und folglich auch in der Nachfolge Jesu
die Barmherzigkeit nicht nur als Impulsgeber am Anfang
christlichen Handelns steht, sondern es begleitet und prägt und
eben auch am Ende übertrifft.
Zwei Aspekte will ich nur kurz benennen:
a) „Dann erwarten wir, gemäß seiner Verheißung, einen neuen
Himmel und eine neue Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt.“
(2 Petr. 3,13) Erlauben wir uns einen kurzen Moment die
Vorstellung, wir würden in einer komplett gerechten
Gesellschaft wohnen, so bin ich sicher, dass es dort noch
ausreichend Platz für die Barmherzigkeit gäbe. Mit perfekten
Verteilungs- und Ausgleichsmechanismen sind eben nicht alle
Fragen des Lebens erledigt. Erstens fällt unter irdischen
Bedingungen immer einer durch das soziale Netz, der den
Regeln nicht entspricht und durch kein Gesetz geschützt wird.
Zweitens sind menschliche Nähe, Güte, Freundlichkeit,
Annahme und Anteilnahme auch unter gerechten
Bedingungen menschliche Ausdrucksformen, die unser Leben
lebenswert machen. Barmherzigkeit hat viele Gesichter.
b) Ein zweites kommt hinzu. Das Leitwort des Jahres der
Barmherzigkeit „Barmherzig wie der Vater“ stammt ja aus dem
Lukasevangelium und ist der abschließende Satz eines Absatzes
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aus der Feldrede Jesu, in der er uns, seine Jüngerinnen und
Jünger auffordert, unsere Feinde zu lieben, die andere Wange
hinzuhalten, das Hemd zu überlassen, wenn uns schon der
Mantel weggenommen wurde und jedem zu geben ohne
etwas zurückzuverlangen. Wir werden gefragt, welchen Dank
wir erwarten, wenn wir nur denen Gutes tun, die uns Gutes tun.
„Ihr aber sollt eure Feinde lieben und sollt Gutes tun und leihen,
auch wenn ihr nichts dafür erhoffen könnt.“ (Lk 6,35) und als
Begründung wird angeführt: „denn auch der Höchste ist gütig
gegen die Undankbaren und Bösen“. Bei Matthäus wird das
abgeschlossen mit der Aufforderung: „Ihr sollt also vollkommen
sein, wie es euer himmlischer Vater ist.“ (Mt 5,48) und bei Lukas:
„Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist.“ Barmherzigkeit
geht über gut begründete, und niemals zu überspringende
Gerechtigkeit weit hinaus.
Im portugiesischen gibt es für diese Haltung das Wort:
„gratuidade“. Rahner übersetzt es im theologischen
Zusammenhang mit Ungeschuldetheit. Es meint dieses Mehr an
Freiheit, losgelöst von Zweck und Strategie, diesen Schuss Güte
und Menschlichkeit, der „gratis“, oder wie es Meister Eckart
ausgedrückt hat „ohne warum“ hinzugeben wird.
Genau darin erscheint etwas von der „Güte und Menschenliebe
Gottes (Tit 3,4), von der der Titusbrief an Weihnachten spricht.
Im Kontakt mit unseren Partnern in den verschiedenen Teilen der
Welt spüren wir genau das: Unser Kampf für Gerechtigkeit erhält
durch Barmherzigkeit, menschliche Gesten, freundschaftliche
Begegnungen, gegenseitiges Interesse eine Tiefe und Wärme, die
uns neben den konkreten Ergebnissen unserer Projektarbeit, die wir
in aufwendigen Wirkungsanalysen messen, eine starke Motivation
gibt, immer weiter zu gehen.
Und um noch einmal auf Nardini zurückzukommen. Es muss am
Ende auch Barmherzigkeit für die Barmherzigen geben. In einem
uns in unserer kirchlichen und gesellschaftlichen Situation vielleicht
ein wenig befremdlichen Eifer sagt er: „Gott immer mehr zu
erkennen, ihm allein anzuhangen, an ihm allein Geschmack zu
finden, ihm meine ganze Liebe, alle meine Jugendkraft zu weihen,
uns so im wahrsten Sinn ein Brandopfer der himmlischen Liebe zu
werden. Wie glücklich wäre ich, wenn ich mich ganz in
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hingebender Demut in seinem heiligen Liebesfeuer aufzehren
könnte.“ Dass er am Schluss selbst, aufgezehrt von diesem heiligen
Liebesfeuer Gast sein darf beim großen Gastmahl im ewigen
Reich, sollten wir von der Barmherzigkeit Gottes für ihn erhoffen
dürfen – selig gesprochen von der Kirche.
V. DIE KRAFT DER PERIPHERIE – SUBJEKTWERDUNG AM RAND UND
EVANGELISIERUNG VON DEN RÄNDERN HER
Und jetzt zum ersten Teil des Titels des Referates: Die Kraft der
Peripherie. Wir lernen gerade in den letzten Jahren, dass sich das
alte Paradigma von Zentrum und Peripherie, klassisch aufgeteilt in
Nord und Süd, immer mehr auflöst.
Die Peripherie ist überall: in den Slums von Sao Paulo, auf dem
Müllberg in Kairo, bei den Fischern auf den Philippinen, unter den
Textilarbeiterinnen von Bangladesch. Unter den arbeitslosen
Jugendlichen in Spanien oder Griechenland, unter den
Flüchtlingen im Aufnahmelager in Gießen, in Pirmasens, in den
alten Zechensiedlungen im Ruhrgebiet, in Mecklenburg
Vorpommern…
Das Zentrum ist überall: In der City in London, im Frankfurter
Bankenviertel, am Tegernsee und in Blankenese, in der Wallstreet,
in der Avenida Paulista in Sao Paulo, in Shenzen in China, in
Bangalore in Indien, in Abu Dhabi im Nahen Osten und auch in
den Reichenvierteln von Petersburg und Moskau.
Der Norden ist im Süden und der Süden im Norden. Mitten in der
Peripherie begegnen wir dem Zentrum und im Zentrum ist die
Peripherie.
Das vorausgeschickt habe ich bisher davon gesprochen und das
mit dem biblischen Zeugnis und dem Anliegen von Papst Franziskus
zu untermauern versucht, dass es für die Jüngerinnen und Jünger
Jesu und ihre Kirche darum gehen muss, herauszugehen, eine
„Iglesia en salida“, eine Kirche die aus sich selbst heraustritt, zu
sein.
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Alfred Delp hat das in seinen Schriften so formuliert: „Rückkehr in
die Diakonie habe ich gesagt. (…) Damit meine ich das
Nachgehen und Nachwandern auch in die äußersten
Verlorenheiten und Verstiegenheiten des Menschen, um bei ihm
zu sein genau und gerade dann, wenn ihn Verlorenheit und
Verstiegenheit umgeben. „Geht hinaus“, hat der Meister gesagt,
und nicht „Setzt euch hin und wartet, ob einer kommt.“ Ich bin
sicher, Nardini hätte diesen Satz unterschrieben.
Als Papst Franziskus im Januar 2015 auf den Philippinen war, wurde
er von Kardinal Tagle mit folgendem Satz verabschiedet: „Heiliger
Vater, wir würden gerne mit Ihnen gehen, aber nicht nach Rom,
sondern an die Peripherien der Welt“.
Wie wir bereits am Samariter gesehen haben, ist der Weg der
Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit einer, der uns vom
gewohnten, eingeübten, selbstverständlichen Pfad abringt. Wir
verlassen das Zentrum unserer Welt. Wir brechen mit unserem Ego-
Zentrismus.
Angekommen an der Peripherie, wo auch immer sie sei, – und das
ist jetzt das Anliegen dieses letzten Punktes meines Vortrages –
begegnen wir aber nicht nur „der Verlorenheit und
Verstiegenheit“, wie es Pater Delp genannt hat, nicht nur dem
Schmerz, dem Hunger, der Einsamkeit, der Hoffnungslosigkeit, der
Gewalt, den Drogen, den Krankheiten, dem Analphabetismus…
Nein wir begegnen auch der Kraft der Peripherie. Zwei Aspekte will
ich kurz entfalten:
1) Das Sakrament des Bruders und der Schwester
Zuallererst ist natürlich darauf hinzuweisen, dass wir im Sinne der
Endgerichtsrede des Matthäus in den Hungernden, Durstigen,
Fremden, Obdachlosen, Nackten, Kranken und Gefangenen
Christus selbst begegnen. Das ist ja für uns eine ungeheure
Zumutung: es verrückt unsere gesellschaftlichen und auch
kirchlichen Maßstäbe. Und es ist für uns ein großes Glück: Am Rand
begegnen wir der Mitte unseres Glaubens: Christus selbst.
Ich kenne keine andere Religion (außer der jüdischen, mit der wir
ja in geschwisterlicher Weise verbunden sind), in der sich Gott so
radikal an den Armen bindet. In einer Predigt zum 100. Geburtstag
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von Hans-Urs von Balthasar erinnert der heutige Kardinal Koch
daran, dass für diesen großen Theologen der Arme zum
„Sakrament des Bruders“ wird. Ich zitiere:
„Balthasar (konnte) für eine echte christliche „Theologie der
Befreiung“ eintreten, die im Antlitz des armen und leidenden
Menschen den auferstandenen und erhöhten Christus selbst
entgegenkommen sieht. Denn der arme und leidende Mensch ist
der privilegierte Zugangsort zu Christus und seine geheime, jedoch
sehr reale Epiphanie. Von Balthasar konnte sogar von einem
„Sakrament des Bruders“ – und natürlich auch der Schwester –
sprechen und dieses öffentliche Sakrament so interpretieren: Der
Bruder und die Schwester wird zum (und jetzt zitiert Kardinal Koch
Balthasar selbst) „Träger der Anrede Gottes, zum Sakrament des
Wortes Gottes an mich. Dieses Sakrament spendet sich im Alltag,
nicht im Kirchenraum. Im Gespräch, nicht während der Predigt.
Nicht in Gebet und Betrachtung, sondern dort, wo ... es sich
entscheidet, ob ich im Gebet wirklich Gottes Wort gehört habe.
Mons. Romero sagte in einer seiner Homilien: ≫Es gibt ein Kriterium,
das uns wissen lässt, ob Gott uns nahe oder fern ist: Wer immer sich
um den Hungernden, Nackten, Armen, Verschwundenen,
Gefolterten, Gefangenen, Leidenden kümmert, der ist Gott nahe
≪ (5. Februar 1978). Die Geste gegenüber dem Anderen, die
Annäherung an den Verlassensten entscheidet über die
Gottesnähe oder –ferne.
So begegnen wir an der Peripherie der zweifelsohne paradoxen
Macht Gottes, die ihre „Kraft in der Schwachheit erweist“ (2 Kor
12,9). Den heute vielzitierten Gottsuchern können wir im Geist des
Evangeliums einen Tipp geben, wo er zu finden ist: Im Antlitz des
leidenden Menschen. Dort ihm begegnen heißt auch, dort seine
Kraft für ein Leben in Würde erfahren, dort angesteckt werden
vom Traum des Gottesreiches und seiner Gerechtigkeit und dort
Barmherzigkeit erfahren, weil wir selbst barmherzig gewesen sind.
Die johanneische Überzeugung, dass Christus der Weg zum Vater
ist, findet gerade hier ihre geschichtliche Konkretion und ihren
such- und besuchbaren Ort.
2) Die evangelisatorische Kraft der Armen
Es gehört zu den stärksten Eindrücken unserer Arbeit bei MISEREOR,
dass unsere Projektverantwortlichen in der Regel ermutigt, beseelt
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und gestärkt aus dem Besuchen der Partner zurückkommen. Ich
kenne das persönlich auch aus vielen Begegnungen. Natürlich ist
dort nicht alles eitel Sonnenschein. Natürlich gibt es Probleme,
Widersprüche, Scheitern. Es gibt auch Horror und Schrecken,
Ausweglosigkeit und Tod.
Aber was bleibt und uns prägt und was uns auch antreibt, sind die
Wärme der menschlichen Begegnungen, die Lebendigkeit und
Tiefe eines gelebten Glaubens, die Ehrlichkeit und Anziehungskraft
einer scheinbar unbesiegbaren Hoffnung der Armen, die sich auf
den Weg gemacht haben. Ich will und darf das nicht idealisieren
und ich meine auch nicht diesen oft oberflächlichen Eindruck,
dass die Menschen im Süden so freundlich sind und immer noch
tanzen und lachen. Das tun sie auch.
Aber ich meine, was Gustavo Gutierrez ‚die evangelisierende Kraft
der Armen‘ nennt und die in der Bergpredigt des Matthäus so
ausgedrückt wird: „Selig die arm sind vor Gott.“ (Mt 5,3) Das sind
die, die alles von Gott erwarten, die ihm zutrauen, dass er sich um
uns und seine Erde kümmert und dass er seine Verheißung des
neuen Himmels und der neuen Erde, in denen die Gerechtigkeit
wohnt (2 Petr 3,13), auch einhält. Diese Menschen sagen noch oft:
„So Gott will“ und sie meinen es auch so.
„Verzweiflung ist das Privileg der Reichen“, habe ich immer wieder
gehört. Was soll eine Mutter mit vier Kindern, der Mann im Alkohol
oder ganz weg, auch machen, als dafür zu sorgen, dass Essen auf
den Tisch kommt, die Kinder in die Schule gehen und dass sie das
Notwendigste für den Lebensunterhalt verdient. Für Verzweiflung ist
da kein Platz.
Und auch nicht für eine billige Hoffnung, die aus
selbstproduziertem, positivem Denken stammt. Lebendig und
kraftvoll kann dort nur eine Hoffnung sein, die von Gott geschenkt
ist und die deshalb von den Menschen auch nicht
weggenommen werden kann.
Diese Armen sind Träger einer Hoffnung und Subjekte der
Evangelisierung. Wir müssen als Missionare Gott nicht dorthin
bringen. Er ist immer schon da. Vielmehr dürfen wir Gott dort
entdecken und in seiner Gegenwart neu lebendig werden.
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Wenn Sie jemals das Glück hatten, inmitten einer scheinbar
ausweglosen Situation, manchmal umgeben von Armut, Dreck
und Gestank, die Erfahrung der Gegenwart Gottes machen zu
dürfen, dann werden Sie Ehrfurcht empfinden.
Aus dieser Mystik wächst eine Kirche, die ganz nah an den
Menschen ist, die das Leiden nicht vergisst und die dennoch auf
die Auferstehung in den neuen Himmel und die neue Erde hinein
hofft. Diese Kirche empfängt die Kraft der Peripherie und kann sie
immer neu verschenken.
Diese Kraft ist in den Schwachen mächtig.
Sie durchkreuzt die herkömmlichen Kategorien von Macht und
Ohnmacht und ist doch wirkmächtig.
Sie ist die Sprengkraft eines gelebten Glaubens, die die
Hoffnungslosigkeit der Welt nicht verdoppelt, wie es die
Würzburger Synode gesagt hat.
Sie öffnet die Zukunft der Welt auf Gott hin und führt sie ihrer
Erfüllung zu.
Sie ist ein Schatz in einem zerbrechlichen Gefäß. (2 Kor 4,7a)
Paul Josef Nardini war ein solches zerbrechliches Gefäß. Er ist die
Wege der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit gegangen. An ihm
wurde deutlich, dass das Übermaß der Kraft von Gott und nicht
von uns kommt. (2 Kor 4,7b) – vom Gott an der Peripherie, wo er
sich bis heute finden lässt.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.