die entwicklung der neurobiologie beeinflusst die zukunft der psychotherapie
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Der Nervenarzt 1•2001 | 1
Eine wesentliche Quelle der wissen-schaftlichen und therapeutischen Faszi-nation des psychiatrischen Fachgebietsentspringt der Möglichkeit, Wahrneh-mung, Emotion, Denken und Verhaltensowohl in psychologischen und sozialenKontexten, wie auch vor dem Hinter-grund einer biologischen Matrix zu er-kennen. Während diese Erkenntnisebe-nen in der Vergangenheit in der Regel ge-trennt bearbeitet werden mussten, sindheute im Zusammenhang mit einem ra-santen Wissensfortschritt integrative Zu-gangswege erkennbar, die zu einem neu-en Verständnis normalen und pathologi-schen Erlebens und Verhaltens führenwerden.
Mit der fortschreitenden Aufklärungmolekularer und zellulärer neuraler Me-chanismen aufgrund immer besserertechnologischer Möglichkeiten werdenwir zunehmend besser in die Lage kom-men, die (wechselseitige) Beziehung zwi-schen molekularen Strukturen einerseitsund bestimmten Mustern von Erlebenund Verhalten bzw. psychischen Störun-gen andererseits zu erkennen. Wir wer-den damit besser verstehen, wie geneti-sche Prädispositionen von Umweltein-flüssen moduliert werden und welchepsychosozialen Interventionsmöglichkei-ten zur Verhinderung oder Therapie psy-chischer Störungen sich hieraus ent-wickeln lassen. Im Hinblick auf dieseZielsetzung stellt gegenwärtig jedoch dievalide Präzisierung einzelner Subtypen
bzw. Subsyndrome psychischer Störun-gen eine vordringliche Aufgabe dar. Hier-bei kommen zuverlässig nachweisbarenbiologischen Variablen, der stärkeren Be-rücksichtigung von Krankheitsverlaufund Ansprechen auf Therapie, aber aucheiner Differenzierung und kognitiv-neu-rowissenschaflichen Fundierung der Psy-chopathologie besondere Bedeutung zu.
“Der Fortschritt in den kogniti-ven Neurowissenschaften
kann zu einem bahnbrechendbesseren Verständnis der
Leistungen funktional vernetz-ter Neuronenverbände führen.”
Der Fortschritt in den kognitiven Neuro-wissenschaften mit dem Wissen um Lo-kalisation und funktionelle Auswirkungzerebraler Schädigungen einerseits sowieder Entwicklung bildgebender Verfahrenunter Einsatz bestimmter Testparadig-men andererseits wird zu einem bahn-brechend besseren Verständnis der Lei-stungen funktional vernetzter Neuro-nenverbände führen. Neue Technologienwerden eine noch schnellere, real time-Abbildung funktioneller Variationen undso eine verbesserte Darstellung dynami-scher Prozesse im Zusammenhang mitmorphologischen Daten ermöglichen.Wir werden hierdurch besser verstehen,wie biologische Mechanismen neuro-
naler Netze einerseits und sensorischerbzw. kognitiver “Input” andererseits soeng miteinander verbunden sind, dasswir von selbstorganisierten, lernfähigenSystemen sprechen können. Ihre System-eigenschaften werden für das Verständ-nis und die Behandlung psychischer Stö-rungen bedeutsam werden. Die hohe ad-aptive Effizienz lernfähiger neuronalerSysteme wird hervorgebracht von so un-terschiedlichen, jedoch ineinandergrei-fenden Mechanismen wie Daueraktivie-rung bzw. Deaktivierung von Neuronen(long term potentiation, bzw. -depressi-on), Aussprossen und Vernetzung von Sy-napsen, adulter Neurogenese und ande-ren. Gerade die Aufklärung der Grund-lagen neuronaler Plastizität ist ein gutesBeispiel für die Verbindung von moleku-larer und kognitiv-neurowissenschaftli-cher Forschung.
Bereits heute zeichnet sich ein Inein-andergreifen von Erkenntnissen in Neu-robiologie und Psychotherapie ab. DieVielzahl möglicher “links” zwischen bei-den Bereichen übersteigt die Darstel-lungsmöglichkeiten eines Editorials. Je-doch sollen vielversprechende Beispieleskizziert werden.
EditorialNervenarzt2001 · 72:1–2 © Springer-Verlag 2001
V. AroltKlinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Westfälischen Wilhelms-Universität
Münster
Die Entwicklung der Neurobiologie beeinflusst dieZukunft der Psychotherapie
Prof. Dr.V. AroltKlinik und Poliklinik für Psychiatrie und
Psychotherapie der Westfälischen
Wilhelms-Universität Münster,
Albert-Schweitzer-Straße 11, 48129 Münster,
E-Mail: [email protected]
Editorial
◗ Die neuronale Plastizität ist eine wesentliche Vorbedingung für Lern-vorgänge und damit für die Verarbei-tung von Erfahrungen. Erhalt bzw.Förderung neuroplastischer Funktio-nen haben als Voraussetzung für Psy-chotherapie wesentliche Bedeutung. Sowirken Krankheitsprozesse, die dieneuronale Plastizität negativ beein-flussen, vermutlich psychotherapeuti-schen Interventionen entgegen. Dieskönnte z. B. bei traumatischem Stressder Fall sein, aber auch bei schwerendepressiven Störungen, mit Hinblickauf eine Dysregulation der HPA-Ach-se, dem Untergang hippokampaler(CA3-) Neurone und der Verminde-rung der Neurogenese. Interessanter-weise scheint die Gabe von Antidepres-siva die hippokampale Neurogenese zufördern. Denkbar ist auch, dass be-stimmte psychotherapeutische Techni-ken die neuronale Plastizität stimulie-ren. In diesem Zusammenhang kannauch der Einfluß von antidepressivwirksamer Psychotherapie auf die Cal-ciumhomöostase in Lymphozyten ge-sehen werden.
“Bereits heute zeichnet sich einIneinandergreifen von Er-
kenntnissen in Neurobiologieund Psychotherapie ab.”
◗ Eine jüngst erschienene Studie amTiermodell zeigt, dass ausgeprägtefrühkindliche Vernachlässigung unddie hieraus resultierende, dauerhafteStressanfälligkeit auf nicht-geneti-schem Wege über Generationen an dieNachkommen weitergegeben werden.Eigene frühe Bindungserfahrungenbzw. deren intrapsychische Repräsen-tationen werden auch beim Menschenan Nachkommen weitergegeben. Diesgilt sowohl für unsichere Bindungssti-le (⇒ dauerhafte Stressanfälligkeit? ⇒Beeinträchtigung der neuronalen Pla-
stizität?) wie sicheres, protektiv wir-kendes Bindungsverhalten. Aufgrundwelcher Mechanismen setzt die Mutternun ihre eigene Beziehungserfahrungin ihr Verhalten gegenüber dem Kindum? Könnten eine verminderte zere-brale Repräsentation entsprechenderVerhaltensmöglichkeiten oder Bah-nungseffekte die Grundlage hierfürdarstellen und kommt hierdurch einemangelhafte Empathie für das kindli-che Bindungsbedürfnis zustande?
◗ Gedächtnisinhalte lassen sich konzi-pieren als dynamisch in zwei semide-pendente (an verschiedenen Hirn-strukturen gebundene) Subsysteme or-ganisiert. Während das deklarative(explizite) Gedächtnis der bewusstenErinnerung an wahrgenommene Er-eignisse dient, sind im prozeduralen(impliziten) Gedächtnis eine Fülle vonautomatischen motorischen und sen-sorischen Reaktionsbereitschaften ge-speichert. Diese Systemfunktionensind nicht aktuell bewusst, z. T. jedochbewusstseinsfähig. Während dies fürautomatische motorische Abläufe un-mittelbar evident ist, wissen wir nochwenig darüber, ob in dieser Weise auchtatsächlich signifikante, das individu-elle Verhalten und Erleben bestim-mende, weil emotional relevante Ge-dächtnisinhalte gespeichert sind. Vor-liegende Befunde aus der Angstfor-schung weisen jedoch in diese Rich-tung. So zeigt sich, dass angstgetönteReize verarbeitet und gespeichert wer-den, obwohl sie nicht bewusst wahrge-nommen werden, und dass bewussteund unbewusste Angstverarbeitungvermutlich auf unterschiedlicher Akti-vierung subkortikaler Strukturen be-ruhen. Wir wissen jedoch noch wenigdarüber, mit Hilfe welcher zellulä-rer/molekularer Mechanismen Angst-bereitschaft bzw. die genetische Prä-disposition hierfür organisiert ist. Wei-tere Fortschritte wären nicht nur fürdas Verständnis von Angsterkrankun-gen von Bedeutung, sondern z.B. auchzur Überprüfung der Modellvorstel-lung einer auf unbewussten Gedächt-nisinhalten beruhenden “Signalangst”als Initiator von Abwehrmechanismenmit pathogenetischer Bedeutung.
◗ Erfolgreiche Psychotherapie kann dasorganische Korrelat psychischer Stö-rungen beeinflussen. Gegenwärtig amdeutlichsten erkennbar ist dieser Sach-verhalt bei Zwangsstörungen, bei de-nen eine Hyperaktivität eines Regel-kreises (fronto-orbitaler Kortex – an-teriores Cingulum – Basalganglien –Thalamus) angenommen wird. Bei er-folgreicher kognitiv-behaviouralerTherapie wird eine signifikante Ver-minderung der Aktivierung der Pro-jektionsbahnen von rechtsfrontoorbi-talem Kortex zu rechtem N. cau-datus,rechtem Gyrus cingulum und rechtemThalamus beobachtet. An diesem Bei-spiel zeigt sich auch, wie neurobiologi-scher Erkenntnisgewinn (hier durchbildgebende Verfahren) unsere Vorstel-lung von Störungsmechanismen undTherapiemöglichkeiten beeinflusst.
Spannende Zeiten kommen auf uns zu.Neue Technologien und erheblicher Wis-senszuwachs werden die Möglichkeit zueiner neurobiologisch fundierten Vali-dierung unserer heutigen psychothera-peutischen Erklärungsmodelle und Vor-gehensweisen eröffnen. Umgekehrt kön-nen aber auch Erfahrungen aus Theorieund Praxis der Psychotherapie richtungs-weisend für neurobiologische For-schungsansätze sein. Eine kognitiv-neu-rowissenschaftlich verankerte Psychopa-thologie, die differenzierte Kenntnis undWertung biographischer Einflüsse, einezunehmend bessere Kenntnis der biolo-gischen (genetischen) Matrix und insbe-sondere das Verständnis der Interaktio-nen zwischen diesen Ebenen werden ent-scheidende Impulse für die Weiterent-wicklung der Psychotherapie in For-schung und Praxis geben. Es bleibt ange-sichts der gegenwärtigen Mittelknapp-heit bzw. -verteilung zu hoffen, dass For-schung und klinisch-praktische Umset-zung eine ihrer Bedeutung entsprechen-de Förderung erfahren.
Literatur
Ein um aktuelle Literaturangaben er-gänztes Manuskript kann vom Autor be-zogen werden.
| Der Nervenarzt 1•20012
Nervenarzt2001 · 72:1–2 © Springer-Verlag 2001