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Der Ruhrbergmann zwischen Privilegierung und Statusverlust: Lohnpolitik von der Inflation bis zur Rationalisierung (1919 bis 1927)* RUDOLF TSCHIRBS Im April 1919 veröffentlichte der Bonner Professor Heinrich Dietzel einen Aufsatz unter dem polemischen Titel Ausbeutung der Arbeiter- klasse durch Arbeitergruppen, in dem er insbesondere den Bergleuten vorwarf, daß sie die Bürde der Teuerung „auf die Schultern Anderer zu walzen suchen". 1 Dem Lohnkampf der Gewerkschaften sprach Dietzel jegliches Moment des Klassenkampfes ab, da im Falle erfolgreicher Lohn- bewegungen eine wirtschaftlich übermächtige Minderheit, zu der er die Bergleute rechnete, über die schwächere Mehrheit triumphiere. Der „or- ganisierte Wahnsinn" pralle zwar unmittelbar auf das Kapital, in diesem Falle die „Zechenfürsten", doch die „Lohnschrauberei" wirke sich letzt- lich in einer Verteuerung der Kohle aus; „die arme zahlende Masse" hätte die Folgen der durch die Gewerkschaften verschuldeten Preiserhöhung zu tragen. Die Kaufkraft der Bergleute nehme zwar zu: „In gleichem Ver- hältnis nimmt die Kaufkraft der übrigen Arbeitergruppen ab. Die Männer mit dem starken Arm erraffen sich ein größeres Stück von der viel zu kurzen Güterdecke; auf den Rest entfällt ein um so kleineres." Während Dietzel 1919 ein Bild vom Bergmann entwarf, dessen Lohn- privilegien zur Verelendung der übrigen Bevölkerungsschichten führten, schienen sich acht Jahre später die Vorzeichen völlig verändert zu haben. • Dieser Aufsatz ist aus der Beschäftigung mit meiner vor dem Abschluß stehenden Bochumer Dissertation Tarifpolitik im Ruhrbergbau 1918-1933 entstanden. Seine Fertig- stellung wurde durch die großzügige Unterstützung der Stiftung Volkswagenwerk im Rahmen des Forschungsprojektes „Inflation und Wiederaufbau" ermöglicht, dessen Mit- gliedern ich viele Anregungen verdanke. 1 Heinrich Dietzel, Ausbeutung der Arbeiterklasse durch Arbeitergruppen, in: Deutsche Arbeit, 4. Jg. (1919), S. 145 ff. Die Zitate finden sich auf S. 147—149. Brought to you by | New York University Authenticated | 216.165.126.139 Download Date | 5/30/14 4:55 PM

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Page 1: Die Deutsche Inflation / The German Inflation Reconsidered. (Eine Zwischenbilanz / A Preliminary Balance) || Der Ruhrbergmann zwischen Privilegierung und Statusverlust: Lohnpolitik

Der Ruhrbergmann zwischen Privilegierung und Statusverlust: Lohnpolitik von der Inflation

bis zur Rationalisierung (1919 bis 1927)*

R U D O L F T S C H I R B S

Im April 1919 veröffentlichte der Bonner Professor Heinrich Dietzel einen Aufsatz unter dem polemischen Titel Ausbeutung der Arbeiter-klasse durch Arbeitergruppen, in dem er insbesondere den Bergleuten vorwarf, daß sie die Bürde der Teuerung „auf die Schultern Anderer zu walzen suchen".1 Dem Lohnkampf der Gewerkschaften sprach Dietzel jegliches Moment des Klassenkampfes ab, da im Falle erfolgreicher Lohn-bewegungen eine wirtschaftlich übermächtige Minderheit, zu der er die Bergleute rechnete, über die schwächere Mehrheit triumphiere. Der „or-ganisierte Wahnsinn" pralle zwar unmittelbar auf das Kapital, in diesem Falle die „Zechenfürsten", doch die „Lohnschrauberei" wirke sich letzt-lich in einer Verteuerung der Kohle aus; „die arme zahlende Masse" hätte die Folgen der durch die Gewerkschaften verschuldeten Preiserhöhung zu tragen. Die Kaufkraft der Bergleute nehme zwar zu: „In gleichem Ver-hältnis nimmt die Kaufkraft der übrigen Arbeitergruppen ab. Die Männer mit dem starken Arm erraffen sich ein größeres Stück von der viel zu kurzen Güterdecke; auf den Rest entfällt ein um so kleineres."

Während Dietzel 1919 ein Bild vom Bergmann entwarf, dessen Lohn-privilegien zur Verelendung der übrigen Bevölkerungsschichten führten, schienen sich acht Jahre später die Vorzeichen völlig verändert zu haben.

• Dieser Aufsatz ist aus der Beschäftigung mit meiner vor dem Abschluß stehenden Bochumer Dissertation Tarifpolitik im Ruhrbergbau 1918-1933 entstanden. Seine Fertig-stellung wurde durch die großzügige Unterstützung der Stiftung Volkswagenwerk im Rahmen des Forschungsprojektes „Inflation und Wiederaufbau" ermöglicht, dessen Mit-gliedern ich viele Anregungen verdanke.

1 Heinrich Dietzel, Ausbeutung der Arbeiterklasse durch Arbeitergruppen, in: Deutsche Arbeit, 4. Jg. (1919), S. 145 ff. Die Zitate finden sich auf S. 147—149.

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Lohnpolitik im Ruhrbergbau 1919-1927 309

Als das 4. Kabinett des Zentrumskanzlers Marx im Herbst 1927 eine Verbesserung der Beamtenbesoldung beschlossen hatte, brach in den Bergarbeitergewerkschaften ein Sturm der Entrüstung los. In einem Flug-blatt des Gewerkvereins Christlicher Bergarbeiter, das in der ersten De-zemberhälfte im Ruhrgebiet verteilt wurde, hieß es:2 „Aus dem sozialen Volksstaat will man einen Klassen- und Beamtenstaat machen. Die pro-duktiv tätige Arbeiterschaft soll niedergerungen werden. Den Bergarbei-tern werden gegenwärtig ausreichende Löhne verweigert. Für die öffentli-chen Beamten aber sind große Gehaltserhöhungen in Aussicht gestellt." Das Organ des Gewerkvereins, Der Bergknappe, hielt es für seine Pflicht, dafür zu sorgen, „daß der schwer schuftende, produktiv tätige Mensch nicht zum hungernden Kuli einer Herrenkaste herabgewürdigt wird". }

Auf einer Bergarbeiterversammlung in Wattenscheid forderte der Redak-teur des Bergknappen, Rütten, eine Beachtung der Bergarbeiterschaft, die „ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung im Staate und der Volksgemein-schaft" entspreche.4

Folgt man diesen pointierten Einschätzungen, die ihre Parteilichkeit kaum verbargen, so hatte der deutsche Bergmann in weniger als einem Jahrzehnt ein Schicksal erlitten, das ihn vom Privilegienpodest der „Ar-beiteraristokratie" , in die Niederungen einer Existenz stieß, in der „die Bergarbeiter buchstäblich am Hungertuch nagen".6 Die vorliegende Un-tersuchung macht es sich zur Aufgabe, die Tragfähigkeit dieser Stellung-nahmen als Eckpfeiler einer Periodisierungshypothese zu untersuchen, die den Zeitraum von 1919 bis 1927 umfaßt. Sie bleibt weitgehend auf die Ruhrbergleute beschränkt, was sich schon deshalb anbietet, weil dem Ruhrbezirk traditionell die Lohnführerschaft der deutschen Steinkohlen-reviere zukam.7

2 STAM, OBA Dortmund 1869. 5 Der Bergknappe, Nr. 45 vom 5. 11. 1927. 4 Essener Volks-Zeitung, Nr. 303 vom 3. 11. 1927. ' Vgl. die Begriffserklärung bei Eric J. Hobsbawm, Lenin und die „Arbeiteraristokratie"

(1970), in: ders., Revolution und Revolte. Aufsätze zum Kommunismus, Anarchismus und Umsturz im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1977, S. 174 ff. („Sie tritt auf, wenn die ökonomischen Umstände des Kapitalismus es ermöglichen, dem Proletariat bedeutende Zugeständnisse zu machen, wobei es einer gewissen Schicht von Arbeitern gelingt, sich aufgrund ihrer besonderen Gefragtheit, Qualifikation, strategischen Position, organisatori-schen Stärke usw. bedeutend bessere Bedingungen als der Rest zu verschaffen", S. 177).

6 Flugblatt des Christlichen Gewerkvereins (wie Anm. 2). 7 Als Ruhrbezirk wird hier die Region des rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbaus

verstanden, die die Zuständigkeitsbereiche des OBA Dortmund sowie partiell des OBA Bonn (für den linksrheinischen Bergbau des Bergamtes Krefeld) umfaßt.

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310 Rudolf Tschirbs

I

Zeitgenössische Diskussion und aktueller Forschungsstand

Während der christliche Bergarbeiterführer Heinrich Imbusch bemüht war, die Angriffe Dietzels auf die Bergarbeiter zu entkräften,8 stellte sich der den christlichen Gewerkschaften nahestehende Theodor Brauer mit seinem 1922 erschienenen Werk Lohnpolitik in der Nachkriegszeit aus-drücklich hinter Dietzel.9 Er suchte den Nachweis zu führen, daß die Ausnahmestellung der Bergarbeiter spätestens seit 1920 realisiert war, nachdem aufgrund der Ausführungsbestimmungen des KWG vom Au-gust 1919 die Preisbestimmungsbefugnisse auf den R K V und den Großen Ausschuß des R K R übergegangen waren, in dem die Stimmen der Ge-werkschaftsvertreter im Gefolge von Lohnerhöhungen häufig genug an-teiligen Preisanhebungen zum Durchbruch verholfen hatten.10 Brauer attackierte diese Form der Kooperation von Kapital und Arbeit als Bil-dung von Lohnmonopolen in sozialisierten Betrieben. Selbst der beharrli-che Vorkämpfer des Tarifvertragsgedankens Lujo Brentano bekannte 1923, daß er nach Kenntnisnahme der „Verschwörung von Arbeitgebern und Arbeitern im Reichskohlenrat auf Kosten der Gesamtheit" das Marx-sche Wort auf die Gewerkschaften angewandt habe, die mancherorts „ideallose, profitgierige kleine Bourgeois" geworden seien.11 Die zeitge-nössische Öffentlichkeit war sich partiell darin einig, daß die Bergleute nicht nur einen privilegierten Lohnstandard bewahrten, sondern auch nicht unerheblich an der inflationsbegünstigenden Preisschraube mit-drehten.12

H Vgl. Heinrich Imbusch, Ausbeutung der Arbeiterklasse durch Arbeitergruppen, in: Deutsche Arbeit, 4. Jg. (1919), S. 257 ff. Vgl. auch die Darstellung bei Klaus M. Wrede, Produktivität und Distribution im Uchte der deutschen gewerkschaftlichen Lehrmeinun-gen der Weimarer Epoche (1918-1933) (= Volkswirtschaftliche Schriften, H. 56), Berlin 1960, S. 63 ff.

" Theodor Brauer, Lohnpolitik in der Nachkriegszeit, Jena 1922, S. 127 ff. 10 Vgl. einführend den Beitrag von Keil, Die Organe der Kohlenwirtschaft, in: Die

deutsche Bergwirtschaft der Gegenwart. Festgabe zum Deutschen Bergmannstag 1928, Berlin 1928, S. 184 ff.

" Lujo Brentano, Der Ansturm gegen den Achtstundentag und die Koalitionsfreiheit der Arbeiter, in: Soziale Praxis, 32. Jg. (1923), Sp. 553.

w Vgl. auch Theodor Cassau, Die Gewerkschaftsbewegung. Ihre Soziologie und ihr Kampf, Halberstadt 1925,S. 321 f. („Nachdem in den außenpolitischen Wirren die Soziale sierung endgültig begraben war, fand die Gemeinwirtschaft im Kohlenbergbau, auf die ziemlich zeitig das böse Scherzwort von der .gemeinen Wirtschaft' geprägt worden war, ihr ruhmloses Ende in der systematischen Verknüpfung von Lohn und Preis " )

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Lohnpolitik im Ruhrbergbau 1919-1927 311

Dieser Befund steht in offensichtlichem Gegensatz zu den pauschalen Urteilen der Geschichtsschreibung der DDR. Jürgen Kuczynski beobach-tet einen „rapiden Verfall der Kaufkraft der Löhne mit Hilfe der Infla-tion" und vermutet hinter diesem Prozeß eine bewußte Förderung durch das Monopolkapital, „um die Lage der Arbeiter zu verschlechtern".13

Ahnlich urteilt Gossweiler, der die Arbeiter insbesondere aufgrund der Politik der montanindustriellen Monopolherren „permanentem Hun-ger" ausgeliefert sah.14 Auch die umstrittene Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung von Deppe, Fülberth und anderen konstatiert als Folge der Inflationskonjunktur „eine verelendete Arbeiterklasse, de-ren Reallöhne niedrig gehalten wurden".1^ Neuere westdeutsche Unter-suchungen wie die von Holtfrerich und Abelshauser hingegen unterzie-hen, ohne sich ausdrücklich auf die zeitgenössische Debatte über die Bergarbeiter-Lohnprivilegien zu beziehen, die Verelendungsthese einer kritischen Revision, wobei Holtfrerich zu dem Ergebnis kommt, daß sich die Nachkriegsinflation bis zum Beginn der Hyperinflation im Sommer 1922 keineswegs zum Nachteil der Arbeitnehmer ausgewirkt habe.16

Gleichwohl konzediert Holtfrerich im Anschluß an Bry, daß die Löhne „during the last phases of the crisis pitifully below the real wages that prevailed before the outbreak of World War I " lagen.17 Für die Ruhrberg-leute kam zu dem seit dem Sommer 1922 nachweislichen signifikanten Einbruch in der Reallohnentwicklung erschwerend hinzu, daß die Ruhr-kampfsituation nach dem Einmarsch von französischen und belgischen Truppen im Januar 1923 zu starken Fördereinschränkungen und Betriebs-stillegungen führte.18 Der Verlust der gewerkschaftlichen Machtposition

15 Jürgen Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 5: Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1917/18 bis 1932/33, Berlin 1966, S. 150.

14 Kurt Gossweiler, Großbanken, Industriemonopole, Staat. Ökonomie und Politik des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland 1914-1932, Berlin 1971, S. 151.

Frank Deppe/Georg Fülberth/Jürgen Harrer (Hrsg.), Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, 2., erw. Aufl., Köln 1978, S. 172 (Autor des Kapitels Die deutsche Gewerkschaftsbewegung in der Weimarer Republik ist Christfried Seifert).

16 Siehe Carl-Ludwig Holtfrerich, Die deutsche Inflation 1914-1923• Ursachen und Folgen in internationaler Perspektive, Berlin-New York 1980, S. 244; Werner Abelshauser, Verelendung der HandarbeiterΡ Zur sozialen Lage der deutschen Arbeiter in der großen Inflation der frühen zwanziger Jahre (Manuskript).

17 C.-L. Holtfrerich, Die Deutsche Inflation... (wie Anm. 16), S. 245. 18 Einen guten Überblick gibt Uwe Oltmann, Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns in

der Staats- und Währungskrise 1923/24. Die Bedeutung der Sozialpolitik für die Inflation, den Ruhrkampf und die Stabilisierung, Phil. Diss., Kiel 1968, insbes. S. 113 ff.

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— der Geldwertverfall ließ die Streikkassen völlig wertlos werden — führte zu Verschlechterungen jedoch nicht nur auf dem Lohnsektor, sondern auf dem gesamten Feld der tarifvertraglich seit dem Oktober 1919 regulierten Arbeitsbedingungen, wobei der von Feldman/Steinisch konstatierte Vorstoß der schwerindustriellen Arbeitgeber gegen die Sie-benstundenschicht der Untertagearbeiter nur den spektakulärsten Fall darstellt.19 Da die Inflation den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit im Ruhrbergbau lediglich vertagt hatte, war die Frage immer noch offen, „wie und von wem die Kosten des Krieges und der Stabilisierung bezahlt werden sollten" (Feldman).20 Die Notwendigkeit einer Ausweitung des Untersuchungszeitraums über die traditionelle Zäsur der Währungsstabi-lisierung 1923/24 hinaus liegt auch in dieser Perspektive auf der Hand.

II

Zur Ausnahmestellung der Ruhrbergleute in der Demobilisierungsphase

Die Kohleknappheit der Demobilisierungsperiode, die alliierten Repa-rationsforderungen, die Notwendigkeit einer für die Nahrungsmittelein-fuhr unabdingbaren Devisenbeschaffung durch Kohleexporte und ein Mangel an eingearbeiteten Facharbeitern verschafften den Ruhrbergleu-ten nach dem Zusammenbruch des wilhelminischen Systems in der Tat eine Ausnahmestellung unter der industriellen Arbeiterschaft, die ihres-gleichen suchte. Der spürbare Arbeitskräftemangel war ohne Zweifel eine der Voraussetzungen für die großen Bergarbeiterstreiks vom Dezember 1918 bis zum April 1919, die bislang vornehmlich unter dem Aspekt des revolutionären beziehungsweise alternativen Handlungspotentials jener Phase der jungen Republik analysiert wurden, in der die Politik noch

Gerald D. Feldman/Irmgard Steinisch, Die Weimarer Republik zwischen Sozial- und Wirtschaftsstaat. Die Entscheidung gegen den Achtstundentag, in: Archiv für Sozialge-schichte, 18. Jg. (1978), S. 353 ff. Zur Entstehung des Tarifvertrages vgl. Manfred Dörne-mann, Die Politik des Verbandes der Bergarbeiter Deutschlands von der Novemberrevolu-tion 1918 bis zum Osterputsch 1921 unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse im rheinisch-westfälischen Industriegebiet, Phil. Diss., Würzburg 1965, Bochum 1966, und demnächst die Bochumer Dissertation des Verfassers, Tarifpolitik im Ruhrbergbau 1918 bis 1933.

20 Gerald D. Feldman, Wirtschafts- und sozialpolitische Probleme der Deutschen De-mobilmachung 1918/19, in: Hans Mommsen/Dietmar Petzina/Bernd Weisbrod (Hrsg.), Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik. Verhandlun-gen des Internationalen Symposiums in Bochum vom 12.-17. ]uni 1973, Düsseldorf 1974, S. 636.

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Lohnpolitik im Ruhrbergbau 1919-1927 313

„plastisch" schien.21 So beklagte Generaldirektor Dehnke von der Ge-werkschaft Graf Bismarck im Februar 1919 lebhaft, daß sich jeder Schlep-per augenblicklich wie „der reine Herrgott" fühle, da man auf ihn ange-wiesen sei.22 Dehnke plädierte daher für einen verstärkten Lohnanreiz, um durch Schaffung einer „Reservearmee von Bergleuten" die betriebli-che Situation zugunsten des Arbeitgebers zu verändern. Habe man aber ein Überangebot von Arbeitskräften, würde das „uns letzten Endes unsere Leute wieder in die Finger geben".

Als die Sozialisierungsbewegung des Frühjahrs 1919 gescheitert war, stieg die Forderung nach der Sechsstundenschicht in den Rang eines sozialen Katalysators für die politisch höchst uneinheitlichen Gruppie-rungen der Ruhrbergarbeiterschaft auf. Es waren insbesondere dem syn-dikalistischen und unionistischen Lager zurechenbare Bergleute,23 die unter Außerachtlassung der volkswirtschaftlichen Notwendigkeit einer vermehrten Kohleproduktion, die angesichts des Verlustes wichtiger deutscher Kohlenreviere kaum ingnoriert werden konnte, eine radikale Schichtverkürzung auf ihr Panier geschrieben hatten. Dabei war nicht zu übersehen, daß die Forderung nach weiterer Arbeitszeitreduzierung — seit dem November 1918 galt anstelle der Vorkriegsschichtzeit von 8 V2 Stunden die Achtstundenschicht — nicht allein durch den berechtigten Wunsch motiviert war, eine spürbare Entlastung der physisch geschwäch-ten und unter der mangelnden Lebensmittelversorgung besonders stark leidenden Belegschaften herbeizuführen, sondern nicht unerheblich auch aus der Überlegung resultierte, daß mit der Einführung des Achtstunden-tages durch das ZAG-Abkommen und die Verordnung des Rates der

21 Eberhard Kolb, Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918-1919, Düssel-dorf 1972, S. 7. Siehe Peter von Oertzen, Die großen Streiks der Ruhrbergarbeiterschaft im Frühjahr 1919, in: VfZ, 6. Jg. (1958), S. 231 ff., sowie Erhard Lucas, Vrsachen und Verlauf der Bergarbeiterbewegung in Hamborn und im westlichen Ruhrgebiet 1918/19, in: Duis-burger Forschungen, 15. Bd. (1971), S. 1 ff.

22 Geschäftsausschußsitzung des R W K S vom 14. 2.1919. Ruhrkohle-Archiv ohne Sign. Die wirtschaftlichen Konsequenzen neuerlicher Lohnerhöhungen schätzte Dehnke wenig dramatisch ein, da die Wertlosigkeit des Papiergeldes und die Valutaverschlechterung evident sein. Zur Arbeitsmarktsituation vgl. Martin Sogemeier, Die Entwicklung und Rege-lung des Arbeitsmarktes im rheinisch-westfälischen Industriegebiet im Kriege und in der Nachkriegszeit, Jena 1922.

25 Zum Linksradikalismus vgl. neuerdings Klaus Tenfelde, Linksradikale Strömungen in der Ruhrbergarbeiterschaft 1905 bis 1919, in: Hans Mommsen/Ulrich Borsdorf (Hrsg.), Glück auf, Kameraden! Die Bergarbeiter und ihre Organisationen in Deutschland, Köln 1979, S. 199 ff., sowie Hans Mommsen, Soziale Kämpfe im Ruhrbergbau nach der Jahrhun-dertwende, in: A.a.O., S. 249ff.

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314 Rudolf Tschtrbs

Volksbeauftragten die Untertagearbeiter zu kurz gekommen waren. Das traditionelle Vorrecht einer kürzeren Arbeitszeit als bei den bergbauli-chen Tagesarbeitern sowie der übrigen Industriearbeiterschaft ließ die Schlußfolgerung gerecht erscheinen, daß dem Bergmann aufgrund der Gefährlichkeit und Schwierigkeit seines Berufes der alte Arbeitszeit-Vorsprung erneut einzuräumen sei, der vor dem Krieg 1 Vi Stunden (der Achteinhalbstundenschicht des Untertagearbeiters stand vor dem Krieg eine etwa lOstündige Arbeitszeit der Tagesbelegschaft gegenüber, die sich durch Pausen erheblich verlängerte) betragen hatte, durch den schemati-schen Achtstundentag jedoch völlig beseitig war.

Als die Ruhrbergarbeiter zunächst eine Schichtzeit von 7 Vi Stunden und schließlich, im April 1919, die Siebenstundenschicht erzwangen, setzten sie gleichzeitig durch, daß der Schichtlohn keine anteilige Kür-zung erfuhr.2 4 Die arbeitszeitpolitische Vorzugsstellung des Ruhrberg-mannes mußte freilich durch den Ruf nach dem Spitzenlohn für den Untertagearbeiter besonders prekär erscheinen. Eine Privilegierung der Bergleute in Lohn und Arbeitszeit war im anbrechenden Zeitalter einer reichseinheitlichen Sozialpolitik politisch allenfalls so lange durchsetzbar, wie der K a m p f um die Kohle noch nicht in ein Kohlenüberangebot umgeschlagen war.2'' In der Furcht vor weiteren, die Kohleproduktion lähmenden Streiks gestanden die Reichsinstanzen formal zwar die Sie-benstundenschicht zu, verstanden es aber durch massiven Druck auf die Tarifgewerkschaften, das Kohledefizit wenigstens partiell durch Uber-schichtenabkommen abzugleichen. 2 6 Der Zentrums-Arbeitsminister Heinrich Brauns kam den Bergleuten dadurch entgegen, daß er in seinen im Februar 1921 veröffentlichten lohnpolitischen Grundsätzen die Forde-rung nach dem Spitzenlohn für den eigentlichen gelernten Bergarbeiter unter Tage bekräftigte.2 7 Nicht nur während der Inflationsjahre blieb Brauns ein entschiedener Befürworter einer vom Bergmann angeführten interindustriellen Lohnhierarchie, was ihn indessen wiederholt nötigte, zugunsten der zwischen unternehmerischem Widerstand und dem Druck der linksradikalen Bewegung eingezwängten Tarifverbände zu interve-nieren.

-'1 Vgl. die Abkommen im Jahrbuch des Verbandes der Bergarbeiter Deutschlands 1919, Bochum 1920, S. 104—108.

-"' Mit der Weimarer Reichsverfassung wurde die bergbauliche Sozialpolitik von Preu-ßen auf das Reich delegiert.

·'' Vgl. neuerdings Gerald D. Feldman, Arbeitskonflikte im Ruhrbergbau 1919-1922. Zur Politik von Zechenverband und Gewerkschaften in der Überschichtenfrage, in: VfZ, 28. Jg. (1980), S. 168 ff.

r Siehe Heinrich Brauns, Lohnpolitik, Mönchengladbach 1921, S. 19.

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Lohnpolitik im Ruhrbergbau 1919-1927 315

III

Die Etablierung des Junktims von Lohn- und Preiserhöhungen

Gegenüber der Hamborner Streikbewegung vom Dezember 1918 hatte der freigewerkschaftliche Alte Verband schon frühzeitig geltend gemacht, daß durch unerfüllbare Lohnforderungen die Betriebe unrentabel würden und die Arbeiterschaft sich letztlich ins eigene Fleisch schneide. Nicht zu Unrecht verwies Otto Hue darauf, daß selbst eine sozialistische Gesell-schaftsform übermäßige Ansprüche zurückweisen müsse.28 Im Januar 1919 sah sich der Viererbund der Tarifgewerkschaften gezwungen, die zum Zwecke der sozialen Beruhigung des Reviers in der Ruhrarbeitsge-meinschaft von Arbeitgebern und Arbeiterverbänden ausgehandelten Zu-lagen über einen Vorschuß des Reiches zu beschaffen.29 Da die preispoliti-schen Kompetenzen beim Preußischen Handelsministerium und schließ-lich den Organen nach dem K W G lagen, verfielen die Grubenvertreter frühzeitig auf den Ausweg, die jeweils anstehenden Verhandlungen mit den Arbeiterorganisationen dazu zu benutzen, „um aufgrund höherer Unkosten und zukünftiger Zugeständnisse sie mit vor unseren Wagen zu spannen, für eine große Preiserhöhung einzutreten".3 0 Das Junktim von Lohn- und Preisverhandlungen wurde alsbald zu einer festen Einrichtung, auch wenn der Widerstand aus dem Lager der Hüttenzechen, die aufgrund von Kohlepreiserhöhungen in ihrer Exportsituation besonders gefährdet waren, nie ganz erlahmen sollte. Die vehementen Einwände von Paul Reusch von der G H H und Jacob Haßlacher von den Rheinischen Stahl-werken waren freilich mit einer Alternative zu dem sich herausbildenden Monetisierungskonzept des Zechenverbandes verknüpft, der sich unver-hohlen militärischer Zwangsmittel gegen aufbegehrende Belegschaften zu versichern trachtete.31

28 Siehe BAZ, Nr. 51 vom 21. 12. 1918, sowie die Rede des Freigewerkschafters Otto Hue, des Redakteurs der Bergarbeiter-Zeitung, am 10. 12. 1918 vor Werks- und Arbeiter-vertretern in Recklinghausen. Bericht des Bergrevierbeamten West-Recklinghausen an das OBA Dortmund vom 12. 12. 1918, STAM, OBA Dortmund 1814.

29 Siehe Schreiben des Zechenverbandes und des gewerkschaftlichen Viererbundes an die Reichsregierung vom 10.1.1919, BgA 13/515. Zum Viererbund zählten der freigewerk-schaftliche Alte Verband, der Gewerkverein Christlicher Bergarbeiter Deutschlands, der Hirsch-Dunckersche Gewerkverein sowie die Polnische Berufsvereinigung.

,ü Ausführungen Bergassessor Krawehls (Bergwerksdirektor bei den Rheinischen Stahlwerken) auf der Geschäftsausschußsitzung des RWKS am 9- 12. 1918, Ruhrkohle-Archiv ohne Sign.

" Siehe Geschäftsausschußsitzung des RWKS vom 14. 2.1919, Ruhrkohle-Archiv ohne

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Die Argumente der Hüttenkonzernvertreter in den Gremien des Ze-chenverbandes und des RWKS stachen auch deshalb nicht, weil es auf-grund mangelnder Verbandsdisziplin bei Arbeit Nordwest zu ständigen Uberbietungen der Bergarbeiterlöhne bei den Facharbeitern kam. Obwohl die Eisen- und Stahlindustriellen den Bergarbeiter-Spitzenlohn im rhei-nisch-westfälischen Industriegebiet grundsätzlich anerkannten, zumal eine fixierte Lohnhierarchie die Gefahr wechselseitiger Berufungen von Arbeitergruppen schmälerte, waren sie bis zum Ende der Inflation nicht in der Lage, diesem Postulat in ihrer lohnpolitischen Praxis Geltung zu verschaffen.52 Da auch die Bauarbeiterlöhne bereits im Sommer 1919 den zwischen Zechenverband und Bergarbeiterverbänden ausgehandelten Lohnsatz überschritten, zeigten sich starke Abwanderungstendenzen im Ruhrbergbau, die nur durch neue Lohnkonzessionen gebremst werden konnten. In diesem letztlich durch den Arbeitsmarkt determinierten lohnpolitischen Kräftefeld waren die Tarifverbände der Bergarbeiter ein eher zurückhaltender, vielfach nur geschobener Kräftefaktor. So verwun-dert es nicht, wenn die Bergarbeiter-Zeitung eine weitere Schichtzulage im Sommer 1919 mit deutlicher Skepsis kommentierte: „Wir wissen, daß eine Forderung die andere treibt wie ein Preis den anderen. Wir wissen auch, daß die geforderte Kohlenpreiserhöhung einen neuen Kreislauf von Preissteigerungen auslösen wird und daß die Bergarbeiter letzten Endes die Kosten mittragen müssen in Form von noch höheren Lebensmittel-und sonstigen Preisen."55

Die Bergarbeiterorganisationen, die den Abschluß eines Tarifvertrages anstrebten, gingen nur widerwillig auf die lohn- und preispolitische Ko-operation mit den Unternehmern ein. Von einer forcierten interessenpo-litischen Ausnutzung der volkswirtschaftlichen Ausnahmestellung des Ruhrbergmanns konnte bei Arbeiterführern wie Otto Hue und Heinrich Imbusch keine Rede sein.54

Signatur. Zum Begriff „Monetisierung" qualitativer Forderungen (im Sinne finanzieller Abgeltung) siehe: Detlev Albers, Ursachen und Verlauf sozialer Konflikte, dargestellt am Beispiel der italienischen Streikbewegung, 1968-1971, Rer. pol. Diss., Berlin 1974, S. 176, und Renate Genth, Die Entwicklung der Tarifpolitik der Metallgewerkschaften Italiens von 1930-1968, Bd. 1. Rer. pol. Diss., Berlin 1977, S. 289.

w Siehe etwa Schreiben des Zechenverbandes vom 19. 5. 1920, Historisches Archiv der GHH, 300 193 23/7.

" BAZ, Nr. 25 vom 21. 6. 1919. u Vgl. grundsätzlich: Gerald D. Feldman, Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen des

„Alten Verbandes" in der Weimarer Republik, in: H. Mommsen/U. Borsdorf (Hrsg.), Glück auf, Kameraden!... (wie Anm. 23), S. 301 ff., sowie Irmgard Steinisch, Der Gewerk-verein Christlicher Bergarbeiter, in: A.a.O., S. 273 ff.

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Gleichwohl überrascht die Großzügigkeit, mit der die Gewerkschafts-vertreter im R K V und R K R den Preisvorstellungen der Kohlensyndikate seit dem Frühjahr 1920 entgegenkamen. Als das R W M durch seinen Vertreter einen überhöhten Preisanstieg aufgrund von Selbstkostenbe-rechnungen zu Fall bringen wollte, mußte es sich den Vorwurf von Imbusch gefallen lassen, daß es die mit der Preisanhebung gekoppelte Lohnerhöhung „an den paar Mark scheitern lassen wol le" . " Die Arbeit-nehmervertreter zeigten in zunehmendem Maße die Bereitschaft, an der Preisschraube mitzudrehen, sofern verbandspolitische Erfolge in der so-zialen Befriedung des Ruhrreviers zu erwarten waren. Dem berechtigten Postulat Otto Hues: „Wir bewegen uns in einem verrückten Kreise, aus dem wir herauskommen müssen",36 folgten keine praktischen Konse-quenzen.

Die Inflationsmentalität der Arbeitsmarktparteien des Ruhrbergbaus erhielt erst durch die Reichsregierung einen Dämpfer, die im Sommer 1920 durch Einfrierung der Kohlenpreise die Bemühungen um Preisstabi-lisierung effektivieren wollte, zumal die Weltmarktpreise für deutsche Exportgüter inzwischen erreicht oder gar überschritten waren.37 Nach-dem der Bergarbeiterlohn durch den Lohndruck der Nachbarbranchen erneut ips Hintertreffen geraten war, hatte die Ruhrarbeitsgemeinschaft in der Erwartung weiterer Preiskonzessionen eine Lohnerhöhung verein-bart.38 In dem evidenten Dilemma zwischen Spitzenlohn-Postulat und Preisstabilisierung verfielen die Regierungsvertreter schließlich auf den Ausweg einer direkten Lohnsubventionierung. Während die Zechen den Ruhrbergleuten lediglich ein Plus von 1,50 Μ je Schicht auszuzahlen hatten, gab das Reich auf seine Kosten Lebensmittelgutscheine im Wert von 4,50 Μ je Mann und Schicht aus, um den Differenzbetrag zur verein-barten Lohnerhöhung von 6 , — Μ zu kompensieren.39 Die lohnpolitische Aktion war in doppelter Hinsicht fragwürdig: Zum einen griff das Reich in ein schon gültiges Lohnabkommen der Tarifkontrahenten ein, zum

" Mitgliederversammlung des RKV vom 28. 2. 1920, BA Koblenz, N1 Silverberg 182. ib Rede auf der a. o. Generalversammlung des Alten Verbandes vom 24.—26. 1. 1920,

BAZ, Nr. 6 vom 7. 2. 1920. 57 Zur Preisproblematik vgl. Theodor Transfeldt, Die Preisentwicklung der Ruhrkohle

1893-1925 unter der Preispolitik des RWKS und des Reichskohlenverbandes, Wirtsch.-und sbzialwiss. Diss., Leipzig 1926.

58 Siehe Mitgliederversammlung des RKV/Großer Ausschuß des RKR am 28. 5. 1920, in der Direktor Janus den Sachverhalt darstellt. BA Koblenz, N1 Silverberg 182.

>9 Siehe Zechenverband-Rundschreiben Nr. 49 an die Verbandszechen vom 29. 5. 1920, BgA 13/615. Ab August 1920 trugen die Zechen selbst die vollen Kosten.

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anderen mußte die Lohnsubvention den Reichshaushalt belasten und widersprach dadurch, wenn auch weniger spektakulär als eine Kohlen-preiserhöhung, der inflationsbremsenden Absicht.

Schon im August 1920 sah sich der Viererbund aufgrund der vorschies-senden Löhne in der Eisenindustrie und der chemischen Industrie zu einem neuen Lohnvorstoß veranlaßt, obwohl die Reichsindexziffer für Lebenshaltungskosten seit dem Mai eine deutlich abfallende Tendenz zeigte.40 Als er nicht mehr erreichte als die Übernahme der Kosten für die Lebensmittelgutscheine durch die Zechen, forderte Imbusch von der Re-gierung eine Umkehr in der bisherigen Lohnpolitik. Aus der Erkenntnis, daß angesichts des Antiinflationsprogramms des Kabinetts Fehrenbach die Preisobergrenze für Kohle erreicht war, folgerte er die Notwendigkeit eines Lohnabbaus in anderen Branchen, um das „richtige Verhältnis zwischen den Löhnen des Bergbaus und der übrigen Industrien" wieder-herzustellen.41 Eine derartige Rückgewinnung der Lohnspitzenposition war freilich nicht nur wegen des erwartbaren Widerstandes der übrigen Branchengewerkschaften unrealistisch, sondern vor allem wegen der mangelnden Kompetenz des Arbeitsministeriums, dessen Lohnpolitik im wesentlichen auf die schmale Plattform des preispolitisch gebundenen Bergbaus beschränkt war. Die Aufforderung des Zechenverbandes an Arbeit Nordwest zu mehr Lohndisziplin kam überdies zu spät.42 Die hohen Akkordlöhne der Eisenindustrie hatten zu erheblicher Unruhe unter den Zechentagesarbeitern geführt, die sich gegenüber der Nachbar-industrie benachteiligt fühlten. Die Tagesarbeiterverbände witterten schließlich in ihrem Rückzugsgefecht gegen das vom Alten Verband und dem christlichen Bergarbeiterverband vertretene Industrieverbandsprin-zip Morgenluft und kündigten ohne Rücksprache mit dem Viererbund die Lohnordnung zu Ende August. Die ungewöhnlich große Zahl von Arbei-terrepräsentanten der verschiedenen Richtungsgewerkschaften und Be-rufsverbände in der Lohnverhandlung am 4. August war ein deutliches

40 Siehe Verhandlungen in der Ruhrarbeitsgemeinschaft am 18./19. 8. 1920, BgA 13/522. Vom Mai 1920 bis zum August 1920 sanken die Reichsindexziffern der Lebenshal-tungskosten kontinuierlich von 11,02 (1913/14 = 100) auf 10,23- Siehe: Zahlen zur Geldent-wertung in Deutschland 1914 bis 1923, hrsg. vom Statistischen Reichsamt, Berlin 1925, S. 33.

41 Imbusch auf der Mitgliederversammlung von RKV/Großer Ausschuß RKR am 31.8. 1920, BA Koblenz, N1 Silverberg 182.

42 Siehe Schreiben des Zechenverbandes an führende Ruhrindustrielle vom 6. 9. 1920, BgA 13/522.

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Symptom des durch den Lohnrückstand verursachten Vertrauensschwun-des des Viererbundes.4J

Die Hoffnung der Reichsregierung auf eine größere Nachgiebigkeit der Ruhrbergleute in der Uberschichtenfrage vergrößerte den lohnpoliti-schen Spielraum im Oktober 1920 geringfügig. Obwohl ein am 19. Okto-ber im RAM zusammentretender Schlichtungsausschuß die Grenze der finanziellen Leistungsfähigkeit des Bergbaus schon überschritten sah, erhöhte er die Ruhrlöhne nicht nur um 2,— Μ je Schicht, sondern dekretierte zusätzlich zur Erhöhung des Kindergeldes um 1,— Μ ein Hausstandsgeld von 3,— Μ je Schicht.44 Das Kabinett Fehrenbach ent-schied wenig später negativ über einen entsprechenden Preisantrag des RWKS, obwohl sich der Reichsschatzminister im Sinne des Kohlesyndi-kats ausgesprochen hatte, weil die Gruben sonst „bei den steigenden Löhnen verelenden müßten".45 Dem Veto des RWM gegen den Preisbe-schluß der gemeinwirtschaftlichen Kohlegremien ließ RAM Brauns einen Tag später die Verbindlichkeitserklärung des Lohnschiedsspruchs folgen, die er mit den gestiegenen Lebenshaltungskosten und der Lohnhöhe anderer Berufe rechtfertigte.46 Die Ruhrunternehmer mußte der autori-tative Zangengriff des Staates um so mehr verbittern, als das RWM dem Ruhrbergbau für Oktober 1920 ausdrücklich Unrentabilität bescheinigte. Eine Stichprobe amtlicher Prüfer auf neun Zechen kam zu einer Selbstko-stenberechnung vom 210,— Μ je t, der Erlöse von lediglich etwa 170,— Μ (exkl. Nebenprodukte) gegenüberstanden.47 Während das RWM vom Mai 1920 bis zum März 1921 von seiner Veto-Vollmacht gegen Preisbe-schlüsse Gebrauch machte und damit verhinderte, daß die gemeinwirt-schaftlichen Gremien der Kohlenwirtschaft zu einem Selbstbedienungs-laden der Tarifparteien degenerierten, sah sich RAM Brauns mehrfach gezwungen, die Löhne der Ruhrbergleute anzuheben, da die Gefahr von Streiks die Kohleproduktion bedrohte. Das führte freilich zu einer Politik der Halbheiten, die das Stabilisierungsziel aufs Spiel setzte.

Gleichwohl verkürzte die Soziale Praxis in ihrem Kommentar zu den Oktober-Lohnerhöhungen die Lohnproblematik erheblich: „Sie stellen

45 Siehe Zechenverband an Hilgenberg und Stinnes vom 6. 8. 1920, und Protokoll der Tarifverhandlungen am 18./19. 8. 1920, BgA 13/522.

44 Siehe Schiedsspruch vom 19. 10. 1920, BgA 13/522. Siehe Sitzung Wirtschaftlicher Ausschuß des Reichsministeriums am 25.10.1920, BA

Koblenz, R 43 1/2171, sowie Sitzung Reichsministerium am 27. 10. 1920, a.a.O. 46 Siehe Verbindlichkeitserklärung des Schiedsspruches am 30. 10. 1920, BgA 13/522. 47 Siehe RWM an Reichskanzler vom 25. 1. 1921, BA Koblenz, R 43 1/2176.

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natürlich den Raubzug einer gemeinnötig gewordenen und daher all-mächtigen Arbeitergruppe auf die Taschen der Mitwelt dar."4 8 Die Last der Inflation werde damit von den Schultern der robusten Gruppen auf die schwächsten abgewälzt, die „in Krankheit, Elend und namenloser Not verkommen". Die Löhne der Nachbarbranchen schössen von der Öffent-lichkeit weitgehend unbemerkt vor, während die Lohnprivilegierung der Ruhrbergleute aufgrund der Parlamentarisierung und Politisierung der Preisfindung, die die jeweils vorausgehenden Lohnerhöhungen besonders grell beleuchtete, fraglos überschätzt wurde.

I V

Die sozialen Folgen der zentralen Lohnverhandlungen im deutschen Kohlenbergbau

Im Herbst 1921 gelang den Bergarbeitergewerkschaften ein unbe-streitbarer Erfolg im Kampf gegen die Reallohneinbußen. Mit Unterstüt-zung des Arbeitsministeriums setzten sie eine Zentralisierung der Lohn-verhandlungen für sämliche deutschen Stein- und Braunkohlenreviere in Berlin durch. An die Stelle eines zeitraubenden Hin- und Herpendeins zwischen den Revieren und den ministeriellen Anlaufstellen trat eine Effektivierung der Lohnpolitik, die die Funktionäre erheblich entlastete. Die gewerkschaftsorganisatorisch schwächeren Kohlenbezirke konnten überdies im Sog der Lohnführer aus Westfalen und Oberschlesien bessere Ergebnisse als in den bezirklichen Arbeitsgemeinschaften erzielen. Die Nähe der Regierungsstellen ermöglichte zudem ein schnelleres tarifliches Reagieren auf Teuerungstrends. Im Urteil der Gewerkschaftsführer bot eine Auslagerung des strukturellen Lohnkonflikts aus den unruhigen Revieren den Vorteil einer Umgehung des Verhandlungsdruckes, der von den Belegschaften ausging. Das führte indes ebenso zu einer Entpolitisie-rung der Lohnrunden wie der Preis, der den Unternehmern für ihr Einverständnis mit der Zentralisierung zu zahlen war: Die Arbeiterführer wurden für Preisabwälzungen künftig noch stärker in die Pflicht genom-men. Der sowohl verteilungs- als auch produktivitätsneutrale Tarifkurs führte zur Installierung einer Lohn-Preis-Maschine, die immer bedenken-loser die Folgelasten auf die Konsumenten abwälzte.

Den anfänglich noch widerstrebenden Bergbauvertretern hatte R A M Brauns sein Konzept einer zentralen „Friedenssicherung" angetragen, indem er die Vorteile einer Vermeidung der in vielen Revieren drohenden

« Soziale Praxis, 29. Jg. (1919/20), Nr. 56, Sp. 1340.

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Streikgefahr und des wechselseitigen Emportreibens der einzelnen Be-zirke hervorhob.49 Angesichts der Stärke der radikalen Strömungen hielt Brauns die Sicherung von „Ruhe und Frieden" für das oberste Gebot. Während die kleineren Reviere die Gefahr witterten, zu Kostgängern der großen zu werden, verwies Paul Silverberg von der Rheinischen Braun-kohle auf die eminenten Vorteile der Zentralisierung.50 Von ausschlagge-bender Bedeutung sei die Kehrseite der Lohnerhöhung, die Preiserhö-hung. Es empfehle sich daher schon aus taktischen Gründen ein gemein-sames Vorgehen, und zwar unter Mitwirkung des RWM und des RAM, „um gleichzeitig eine Zusage hinsichtlich der Preisdeckung zu erhalten". Pointiert gesprochen trieben die bergbaulichen Arbeitgeber den Teufel mit dem Beizebub aus: Wenn sie die ungeliebte Tarifintervention von RAM Brauns schon hinnehmen mußten, dann unter Hinzuziehung eines Repräsentanten aus dem RWM, dessen Deckungszusage die Vorausset-zung für Lohnkonzessionen darstellte. Als sich in der Fachgruppe Bergbau des RDI der massive Widerstand der kleineren und Nichtkohlenreviere gegen die Hegemonie der Herren aus dem Westen breitmachte, bewahrte erst eine Plattform lohnpolitischer Direktiven den deutschen Bergbau vor verbandspolitischem Zerfall.51 Kernpunkte der Basis künftiger Zusam-menarbeit waren die Festschreibung von Vorabsprachen über die zu bewilligende Lohnhöhe sowie die Maxime, Lohnerhöhungen nicht ohne gleichzeitige Preisanhebungen zu bewilligen.

Die vom Ruhrrevier reklamierte Lohnführerschaft zeigte alsbald kräf-tige Schattenseiten. Bei Anbindung der übrigen Kohlenbezirke an den Ruhrtarif mußte sich der unternehmerische Widerstand auf dieses Ein-fallstor der Lohnrunden konzentrieren. Als Konsequenz der Zentralisie-rung zeichnete sich ab, daß der Lohnkampf nur wenig an Härte verlor und AnpassungsVerzögerungen an der Tagesordnung-blieben, während das Arbeitgeber-Ziel der automatischen Preisabdeckung die Regel wurde. Als im Mai 1922 aufgrund der Valutaverhältnisse der Bergbau in die Nähe des Weltmarktpreisniveaus geriet und auch die Anleiheverhandlungen der Reichsregierung ein Ende der Preistreppe signalisierten, stagnierte die Lohnentwicklung kurzzeitig. Anläßlich der schließlich erfolgreichen Überschichtenverhandlungen im Ruhrrevier analysierte RAM Brauns die

49 Siehe Besprechung über die Lohnbewegung am 26. 8. 1921, BgA 13/526. 50 Protokoll der Sitzung der Fachgruppe Bergbau des RDI vom 3.11.1921, BgA 13/527. 51 Siehe Ausschußsitzung der Fachgruppe Bergbau vom 13. 12. 1921, BgA 15/1038. Die

Opposition der kleineren Reviere kritisierte die Lohnzugeständnisse, die „dem Einfluß der zu leichten Ausgleichsmöglichkeit durch Kohlenpreiserhöhung" zugeschrieben wurden.

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bisherige Lohnpolitik mit bemerkenswerter Schonungslosigkeit: „Bisher konnten wir die Löhne der Bergarbeiter erhöhen auf Kosten des Kohlen-preises. Das fortgesetzte Sinken unseres Geldwertes und die Vermehrung der Banknoten gestatteten uns diese Lösung. Die Regierung brauchte nur den Vermittler zu spielen und für eine möglichst reibungslose Entwick-lung zu sorgen."52

Nur einen Monat später, nach dem Scheitern der Anleiheverhandlun-gen und dem weiteren Sinken des Markkurses, wurde den Bergleuten bereits eine durchschnittliche Lohnerhöhung von 35,— Μ bewilligt, die mit den erheblichen Lohnsteigerungen anderer Berufe und der angekün-digten Anhebung von Beamten- und Angestelltengehältern legitimiert wurde.53 Die Bergarbeiter-Zeitung erkannte deutlich, daß der Nominal-lohnzuwachs nicht als verbandspolitischer Erfolg gefeiert werden konnte: „Es ist eine Tragikomik unseres Elends, daß uns eine erneute Verschlech-terung der Mark vorübergehend eine Erleichterung bringen soll. Desto sicherer und gründlicher wird das Verhängnis sein."54

Der Lohnkonflikt vom Herbst 1922 beleuchtete nochmals kraß den Widerspruch von Kohlenpreisstabilisierung und Spitzenlohnpostulat. Als die Unternehmer sich weigerten, ein Lohnschiedsgericht zu be-schicken, besetzte Brauns die Arbeitgeberbank kurzerhand mit weisungs-gebundenen staatlichen Bergwerksdirektoren. Der oktroyierte und am 2. Oktober verbindlich erklärte Schiedsspruch gestand erstmals Zuschläge „zum Ausgleich der im Monat Oktober zu erwartenden Teuerung" zu, ein Entgegenkommen, mit dem Brauns den Weg für eine Verlängerung des Überschichtenabkommens zu ebnen hoffte.55 Ergebnis der zentralen Lohnverhandlungen war eine Hierarchisierung der Tarifregionen, die mit einer bezirklichen Nivellierung einherging.56

Seit dem Februar 1922 wurden über einen von den Kohlesyndikaten und dem RWM entwickelten Koeffizienten — im März lautete er auf 3,263 — Lohnerhöhungen „automatisch" durch Preiserhöhungen kom-pensiert, wobei auch Material- und sonstige Selbstkostenerhöhungen be-

Zitiert nach BAZ, Nr. 24 vom 17.6. 1922 („Reichsminister bei den Ruhrbergleuten"). " Siehe Schiedsspruch Mehlichs vom 15. 6. 1922, BgA 13/530. ^ BAZ, Nr. 25 vom 24. 6. 1922. " Schiedsspruch vom 29. 9. 1922, BgA 13/533. Sb Vgl. Carl Lehmann, Verhältnis des Nominal-Leistungslohnes der Gesamtbelegschaft

je Kopf und Schicht sowie Hauer je Schicht in den Steinkohlenbezirken Oberschlesien, Niederschlesien, Sachsen und Aachen zu demjenigen im Ruhrgebiet, in: RABl. (Nichtamtl. Teil) 12 (1924), S. 288f f .

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Lohnpolitik im Ruhrbergbau 1919-1927 323

TABELLE 1

Zentrale Lohnverhandlungen im Bergbau im Jahre 1922

Tarif-Bezirk Erzielte Lohnerhöhungen (in Mark) am: 1.2. | 1.3. | 20.4. 16.6. | 1.7. | 1.8. 1.9. | 1.10. | 1.11. I 16.11. 1.12.

Steinkohlen Ruhrrevier 1 4 , - 1 7 , - 4 0 , - 25 - 4 0 , - 6 5 - 2 9 0 , - 1 5 0 , - 379,20 5 6 5 , - 7 5 0 , -Aachen 1 2 , - 14,60 35,75 2 1 , - 34,70 56,55 2 6 1 , - 1 3 8 - 298,60 5 0 0 , - 6 7 5 , -Bayern (Stein-

5 0 0 , - 6 0 0 , -kohlen) 5,60 12,60 3 6 , - 1 5 , - 2 4 , - 45,50 2 3 2 , - 1 2 0 , - 303,35 5 0 0 , - 6 0 0 , -Bayern (Pech-

562,50 6 7 5 , -kohlen) - 12,60 3 6 , - 22,50 3 6 , - 58,50 2 6 1 , - 1 3 5 , - 341,80 562,50 6 7 5 , -Niederschlesien 11,50 14,50 3 6 - 2 0 , - 35,50 55,25 246,50 131,50 298,60 481,55 6 7 5 , -Oberschlesien 1 5 , - 17,50 4 4 , - - 58,50 2 6 5 , - 1 4 2 , - 360,25 5 3 5 , - 7 5 0 , -Sachsen 11,50 14,50 3 6 , - 2 0 , - 4 1 , - 6 1 , - 2 7 0 , - 139,50 3 4 0 , - 5 6 0 , - 6 7 5 , -Niedersachsen 1 1 , - 13,50 3 4 , - 21,50 3 4 , - 61,75 246,50 127,50 322,35 5 3 1 , - 637,50 Ibbenbüren 1 2 , - 14,50 3 6 , - 22,50 9,50 6 5 , - 266,80 1 3 5 , - 3 4 9 , - 5 7 0 , - 6 8 0 , -

(Quelle: Jahrbuch des Verbandes der Bergarbeiter Deutschlands 1922, Bochum 1923, S. XIVf.)

rücksichtigt wurden." Ein von Hugo Stinnes verfolgter Plan, durch Auf-schlag eines Modernisierungsbonus die Inflation zur Verbesserung der veralteten Zechen und zum Neubau von Schachtanlagen und Kokereien zu nutzen, konnte sich indes im RKR nicht durchsetzen, da die Wirkung für die Verbraucher als „verhängnisvoll" erachtet wurde.58 Außenwirt-schaftliche und reparationspolitische Aspekte ließen den Stinnes-Plan allerdings plausibel erscheinen, zumal ein vergleichsweise niedriger Ruhrkohlenpreis Frankreichs Interesse an Reparationskohle verstärkte; denn Frankreich, das unter starkem Kohlenmangel litt, brauchte lediglich den im Vergleich zum Weltmarktpreisniveau äußerst günstigen Inlands-preis zu begleichen, während Deutschland teure englische Importkohle beziehen mußte.59

57 Versammlung der Mitglieder des RWKS vom 10. 3. 1922, Ruhrkohle-Archiv e 239. Vgl. auch Th. Transfeldt, Die Preisentwicklung... (wie Anm. 37), S. 42 ff. Transfeldt urteilt, daß „die Lohnentwicklung immer mehr der eigentliche Regulator des Kohlenprei-ses" wurde, a.a.O., S. 130.

58 Siehe Ausschußsitzung der Fachgruppe Bergbau am 25.1.1922, BgA 15/1058, sowie Schreiben des RKR (Bennhold) an die Mitglieder vom 28. 2. 1922, BA Koblenz, N1 Silverberg 148.

" Vgl. Ferdinand Friedensburg, Kohle und Eisen im Weltkriege und in den Friedens-schlüssen, München 1934, S. 189 ff. und S. 203.

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Die Gewerkschafter erkannten mit wachsendem Mißmut, daß der Nut-zen der Lohnzentralisierung ungleich verteilt war. Das widersprüchliche Verhalten der Bergwerksvertreter bei Lohn- und Preisverhandlungen wurde mit Verbitterung kommentiert: „Im ersteren Falle drücke man immer auf die Löhne im Interesse der Gesamtwirtschaft, bei den Preis-verhandlungen dagegen wolle man möglichst hohe Preise haben."60 An-läßlich der Tarifvertragsverhandlungen im Juli 1922 blieb der Versuch des Viererbundes erfolglos, von dem bisherigen Lohnzahlungsmodus herun-terzukommen, der in drei Abschlagszahlungen von je etwa 30 % bis zum 15. des laufenden und dem 5. beziehungsweise 25. des Folgemonats von-statten ging. Dieser Passus des Manteltarifs behielt bis weit in die Hyper-inflation des Sommers 1923 seine Gültigkeit.61 Einem in Niederschlesien schon seit Jahrzehnten ausgeübten Verfahren der wöchentlichen Löh-nung verweigerte der Zechenverband wegen der dadurch bedingten Ver-mehrung des Kapitalbedarfs seine Zustimmung. Während die Beamten-besoldung am Monatsersten im voraus zur Auszahlung kam und der Verbrauchszeitraum weitgehend in der ersten Monatshälfte lag,62 bekam der Ruhrbergmann seinen Lohn zu zwei Dritteln erst ausgezahlt, wenn die Teuerungsentwicklung des Folgemonats weiteren Höhepunkten zu-strebte. Seit dem Sommer 1922 war damit seine relative lohnpolitische Vorzugsstellung völlig verspielt; unter den Bedingungen der Ruhrbeset-zung bot sich für die Ruhrunternehmer ein vortrefflicher Ansatzpunkt, die Weichen für die Stabilisierungskrise in ihrem Interesse zu stellen.

Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit und Reallohnverfall hatten für die Tarif-gewerkschaften im Ruhrgebiet verheerende Folgen. Das Aufflackern syn-dikalistischer und unionistischer Unruhen im Mai 1923 signalisierte überdeutlich, daß die von den Arbeiterführern zur Stärkung der deutschen Ruhrkampffront beobachtete lohnpolitische Zurückhaltung immense Loyalitätseinbußen bei den Belegschaften provozierte. Während sich die Gewerkschaftsfunktionäre, wie ein linksoppositioneller Kritiker im Alten Verband anmerkte, wie „Staatsmänner" verhielten,63 verweigerten die bergbaulichen Arbeitgeber dem von RAM Brauns entwickelten Konzept

60 Sitzung RKV/Großer Ausschuß RKR vom 30. 8. 1922, BA Koblenz, N1 Silverberg 184.

61 Der Wortlaut des Tarifvertrages vom 1.8. 1922 findet sich im Jahrbuch des Verbandes der Bergarbeiter Deutschlands 1922, Bochum 1923, S. 147 ff. Siehe auch Aktennotiz über die Verhandlungen von RAM Brauns mit dem Zechenverband am 8. 11. 1922, BgA 13/534.

62 Vgl. dazu den Beitrag von Andreas Kunz in diesem Band, S. 347—384. 65 Siehe die Rede Rosemanns: Protokoll der 24. Generalversammlung zu Dresden,

abgehalten vom 15. bis 19. Juni 1924, Bochum 1924, S. 143.

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Lohnpolitik im Ruhrbergbau 1919-1927 325

einer Kombination von tariflicher Einigung und gleitender Lohnklausel, die sich in anderen Branchen in bescheidenem Ausmaß bewährte, ihre Unterstützung.64 Die auch im Bergbau zur Feststellung der Höhe eines Entwertungszuschlages vorgesehene paritätische Kommission trat erst gar nicht in Tätigkeit, und es blieb bei den zeitraubenden schiedsgerichtli-chen Verhandlungen. Bezeichnenderweise beklagten selbst einige Werksdirektionen den völlig unzureichenden Lohnstand. So schrieb am 26. Oktober 1923 die Leitung von „Rheinelbe", daß es der Belegschaft unmöglich sei, „auch nur einigermaßen von den zugestandenen Löhnen die erforderlichsten Lebensmittel zu kaufen, ohne an Ersatz für ver-brauchte Winterkleidung zu denken", und die Zeche Monopol konsta-tierte am selben Tag: „Die starke innerpolitische Spannung sowie der völlig unzureichende Lohn, der, in Gold umgerechnet, gerade eine Mark beträgt, wirken verständlicherweise sehr lähmend auf die Arbeitslust."65

V

Reallohnentwicklung und Lohngruppengefüge in der Inflation

Auf der Basis eigener Berechnungen kam der Zechenverbands-statistiker Ernst Jüngst im Frühjahr 1921 zu dem Ergebnis,66 daß sich der Ruhrbergarbeiter „zurzeit besser steht als vor dem Krieg. Eine Berufs-gruppe, von der ein gleiches gesagt werden kann, dürfte selbst innerhalb der Arbeiterschaft kaum, außerhalb dieser überhaupt nicht zu finden sein." War bei Jüngst das verbandspolitische Erkenntnisinteresse unleug-bar, so dominierte in den im Frühjahr 1922 vom Arbeitsministerium veröffentlichten Untersuchungen der Wunsch, die Lohnpolitik des Mini-steriums als besonders effektiv herauszustellen.67 In bezug auf die Hauer des Ruhrreviers wurde das Verhältnis von tatsächlichem Lohn und einem errechneten Gleitlohn dargestellt, und zwar derart, daß die Ruhrgebiets-Durchschnittsteuerungszahl eines Monats stets den Koeffizienten für das Gleiten des Lohnes des folgenden Monats bildete. Danach lag der Lei-

64 Siehe C. Lehmann, Verhältnisse des Νominal-Leistungslohnes... (wie Anm. 56), S. 290 f.

" Rheinelbe an die Hauptverwaltung der Gelsenkirchener Bergwerks-AG vom 26. 10. 1923, und Zeche Monopol an die Hauptstelle in Essen vom 26. 10. 1923, Gelsenberg-Archiv, GBAG 920-50.

66 Ernst Jüngst, Der Lohn der Ruhrbergarbeiter im Lichte der amtlichen Teuerungsstati-stik, in: Glückauf, 57 Jg. (1921), S. 302.

67 Siehe Fritz Foth, Tatsächliche und gleitende Löhne, in: RABl. (Nichtamtl. Teil) Nr. 4 (1922), S. 131 ff.

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stungslohn 1920 von September bis November, 1921 gar von April bis November über dem fingierten Gleitlohn, wobei das Maximum im No-vember 1921 erreicht war.68 Diese Berechnung vernachlässigt fre^ich nicht nur den Kaufkraftaspekt, sondern auch den verzögerten Lohnzah-lungsmodus; sie liefert daher nur unsichere Anhaltspunkte für den Rück-schluß des Autors, daß die Bergleute „ihre Lohnposition entsprechend dem besonderen Charakter ihrer Arbeit und ihrer Bedeutung für das Wirtschaftsleben gegenüber den übrigen Arbeitnehmern verbessert ha-ben".

Aufschlußreicher sind die Berechnungen des Statistischen Reichsamtes über die Wochenlöhne der Hauer und Schlepper im Ruhrgebiet, zumal sie die Kriegsinflation mit einbeziehen.

TABELLE 2

Nominal- und Realwochenlöhne der Hauer und Schlepper im Ruhrgebiet (Barverdienst: 1913 = 100)

I

Jahr 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919

Nominal 40 ,50 38 ,88 42 ,60 51 ,12 64 ,20 80,88 138,36 Real 100 9 3 , 3 81,3 74,4 62,7 63,7 82,4

II

Jahr Januar Febr. März April Mai Juni

1920 Nominal 241 ,14 241 ,14 241 ,14 292 ,50 295,98 318 ,18 Real 80,0 70,2 62,7 69,3 66 ,4 72,6

1921 Nominal 402 ,90 405 ,18 405 ,66 420,90 434 ,46 439 ,02 Real 84,4 87,3 88,0 92,2 95,9 92,9

1922 Nominal 732 822 9 4 2 1 056 1 230 1 326 Real 83,1 78,8 76 ,3 73,8 80,7 75,7

1923 Nominal 28 176 85 674 98 430 98 430 124 206 309 438 Real 47,7 75,6 86,2 79,9 69,6 70,8

68 Im November 1921 stand ein Leistungslohn von 106,62 Μ einem errechneten Gleit-lohn von 76,46 Μ gegenüber, a.a.O., Tabelle S. 130 f.

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Lohnpolitik im Ruhrbergbau 1919-1927 327

TABELLE 2 (Fortsetzung) Nominal- und Realwochenlöhne der Hauer und Schlepper

im Ruhrgebiet (Barverdienst: 1913 = 100)

Jahr Juli August Sept. Oktober Novemb. Dezemb.

1920 Nominal Real

321,00 74,4

350,70 84,6

353,10 85,9

396,90 91,6

400,38 88,4

399,90 85,3

1921 Nominal Real

441,66 86,5

444,66 81,9

512,16 89,9

517,38 82,2

741 97,5

720 90,5

1922 Nominal Real

1 662 69,5

2 244 59,1

4 314 75,6

5 418 51,6

10 602 52,6

18 318 62,2

1923 Nominal Real

1 118 664

47,6

34,2 Mill. 78,5

893 Mill. 74,7

441 Mrd. 81,2

19 998 Mrd. 55.7

34 890 Mrd. 73,3

(Die Zahlen basieren von 1913 bis 1919 auf dem Barverdienst im Jahresdurchschnitt, von Januar 1920 bis November 1922 auf dem Barverdienst im Monatsdurchschnitt nach der amtlichen Lohnstatistik, vom Dezember 1922 ab auf dem tarifmäßigen Durchschnittslohn nach den Lohnordnungen für den Ruhrbezirk, einschließlich Sozialzulage für Ehefrau und zwei Kinder, ausschließlich Kohlendeputat.

Quelle: Zahlen zur Geldentwertung in Deutschland 1914-1923, Berlin 1925, S. 40f.)

Das Statistische Reichsamt bezieht sich auf einen Verbrauchszeitraum vom 8. des Berichtsmonats bis zum 7. des Folgemonats (vom Februar 1920 bis zum August 1923). Der in der Hyperinflation gravierende verspätete Auszahlungsmodus wird demnach nicht gebührend berücksichtigt. Über-dies kranken die Zahlen des Statistischen Reichsamtes daran, daß Tarif-löhne anderer Arbeitergruppen mit Effektivverdiensten der Bergleute verglichen werden.69 Die Überschätzung der Lohnposition der Bergarbei-ter in Relation zu anderen Einkommensgruppen basiert nicht unerheblich

69 Die Quelle vergleicht Tariflöhne von Eisenbahnarbeitern und Buchdruckern mit Effektivlöhnen der Hauer und Schlepper (Barverdienst). Daher ist die Schlußfolgerung von C.-L. Holtfrerich,Die deutsche Inflation... (wie Anm. 16), S. 238, nur bedingt gültig, wenn er eine zusätzliche Lohndrift vermutet.

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328 Rudolf Tschirbs

auf diesem Umstand. Während Lohndrift und Überarbeitszuschläge im Barverdienst berücksichtigt sind, mangelt es in anderen Branchen an kontinuierlichen Effektivlohndaten.7 0 Gleichwohl kommt auch Holtfre-rich zu der Einsicht, daß die Ruhrbergarbeiter in den Jahren von 1919 bis 1922 „trotz ihrer Schlüsselrolle für den wirtschaftlichen Wiederaufbau immerhin um cirka 20 % unter ihrem Realeinkommensniveau von 1913" lagen.71

Wenig Plausibilität kommt in bezug auf die Ruhrbergleute allerdings dem Versuch Holtfrerichs zu, einen realen Einkommensrückgang partiell durch die Arbeitszeitverkürzungen am Kriegsende auszugleichen und sie als ein „Mehr an Muße" im Warenkorb der Arbeiterhaushalte zu Buche schlagen zu lassen.72 Abgesehen davon, daß eine Arbeitszeitverkürzung nicht mit einer Kaufkraftsteigerung einhergeht,7 3 müßten bei einer sol-chen Verrechnung die Arbeitszeitreduzieruhgen aus dem Katalog der „sozialen Errungenschaften" der revolutionären Umbruchsituation, zu der traditionell auch die Verordnung über Tarifverträge und das Betriebs-rätegesetz gezählt werden,74 gestrichen werden; eine Doppelbuchung des Achtstundentages (beziehungsweise der Siebenstundenschicht) verbietet sich. Da überdies im Barverdienst der Ruhrbergleute die Zuschläge für Uberschichten enthalten sind, die die wöchentliche Arbeitszeit der Unter-tagearbeiter während der Dauer von Mehrarbeitsabkommen 7 5 von 42 auf 4 9 Wochenstunden (1913: 51 Wochenstunden) schraubten, fallen die Lohndaten des Barverdienstes als Basis für eine Ermittlung des Arbeitszeit-Bonus aus.

Die Kategorie des „Leistungslohnes", in dem zwar die Arbeiterversi-cherungsbeiträge, nicht aber die Uberschichten berücksichtigt sind, wäre

70 Auf die Problematik verweist schon Rudolf Meerwarth, Zur neuesten Entwicklung der Löhne, in: Zeitschrift des Preußischen Statistischen Landesamtes, 62. Jg. (1922), S. 333.

71 C.-L. Holtfrerich, Die deutsche Inflation... (wie Anm. 16), S. 231. " A.a.O., S. 241—245. 7* So schon die Argumentation von R. Meerwarth, Zur neuesten Entwicklung der

Löhne... (wie Anm. 70), S. 333-74 Vgl. auch die Argumentation bei C.-L. Holtfrerich, Die deutsche Inflation... (wie

Anm. 16), S. 227. 71 Vom Februar 1920 bis zum 3. März 1921 wurde laut Überschichtenabkommen wö-

chentlich zweimal eine halbe Überschicht verfahren; danach kam bis zum September 1922 kein neues Überschichtenabkommen zustande. Ein neues Abkommen vom 24. August 1922 sah wöchentlich dreimal je zwei Überstunden vor, es war bis zum 17. Dezember 1922 gültig. Vgl. Paul Osthold, Die Geschichte des Zechenverbandes 1908-1933, Berlin 1934 (Übersicht im Anhang).

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Lohnpolitik im Ruhrbergbau 1919-1927 329

für das Vorgehen Holtfrerichs angemessener.76 Will man freilich den geldwerten Vorteil von Deputatkohlen und wirtschaftlichen Beihilfen77

mit einbeziehen und auch den seit 1919 gewährten Jahresurlaub rechne-risch berücksichtigen, so empfiehlt sich die Heranziehung des in der Zechenverbandsstatistik ausgewiesenen „Gesamteinkommens".78 Die reale Einkommenssituation der eigentlichen, mit der Gewinnung der Kohle befaßten Bergleute, der Hauer und Schlepper, sowie der erwachse-nen männlichen Tagesarbeiter soll daher für beide Einkommensarten dargestellt werden, wobei der Lohnzahlungsmodus dadurch seinen Nie-derschlag findet, daß das arithmetische Mittel der Reichsindexziffern für Lebenshaltung des laufenden und des Folgemonats zugrunde gelegt wird.

Die T A B E L L E 3 kann wegen der differenzierten Teuerungsentwicklung im Ruhrgebiet lediglich Anhaltspunkte bieten.79 Die Leistungslohnentwick-lung, zeigt stärkere Einbußen der realen Einkommen der eigentlichen Bergleute als die Zahlen des Statistischen Reichsamtes, Einbußen, die wegen des Auszahlungsmodus seit dem Frühjahr 1922 gravierende Aus-maße annahmen. Betrachtet man die Entwicklung des realen Gesamtein-kommens, so zeigt sich, daß die Hauer und Schlepper aufgrund der

76 Zur Unterscheidung der Lohnbegriffe vgl. Ernst Jüngst, Die Statistik im Ruhrbergbau, in: Ernst Herbig/Ernst Jüngst (Hrsg.), Bergwirtschaftliches Handbuch, Berlin 1931, S. 95.

77 Zur Deputatfrage vgl. Karl Bonsiep, Die Rechtsverhältnisse bei der Deputatkohlen-abgabe im preußischen Stein- und Braunkohlenbergbau, in: Zeitschrift für Bergrecht, 69. Jg. (1929), S. 316 ff. Der Begriff der wirtschaftlichen Beihilfen (Deputatkohle und Preisvor-teile etwa bei verbilligter Lebensmittelabgabe durch Werksanstalten) wird von E. Schrei-ber, Die Grundbegriffe der abgeänderten preußischen Lohnstatistik für den Bergbau, in: Zeitschrift für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen, Bd. 69, (1921), S. 253 ff., erläutert. Die Ermittlung des Wertes der wirtschaftlichen Beihilfen für 1913 stößt auf erhebliche Schwie-rigkeiten, da die Schätzwerte der Bergbehörden vor der Reform der Lohnstatistik zu niedrig zu liegen scheinen. Die Zeitschrift für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen, Statistischer Teil, gibt für den Bereich des OBA Dortmund folgende Zahlenangaben: 1912 — 2,4 Pfg.; 1913 — 5,7 Pfg.; 1914—18,9 Pfg.; 1916 — 21,1 Pfg.; 1917 — 27,7 Pfg. In der folgenden Tabelle wird ein geschätzter Satz von 20 Pfg. dem Basislohn „Gesamteinkommen" für das Jahr 1913 zugeschlagen; der tatsächliche Wert dürfte noch höher gelegen haben.

78 Da die behördliche Statistik mit ihrer durchschnittlichen vierteljährlichen Lohnnach-weisung in der Inflation versagt, ist die allerdings nur begrenzt vorliegende Zechenver-bandsstatistik benutzt worden. Ein Nachteil der Schichtlohnbasis ist die Tatsache, daß zwar der — für Untertagearbeiter 100%ige — Uberschichtenzuschlag berücksichtigt ist, der Basislohn für Uberarbeit durch ein rechnerisches Verfahren aber eliminiert wird. Ein differenzierter Nachweis für gelernte, angelernte und ungelernte Arbeiter ist vor 1921 auf Effektivlohnbasis nicht möglich.

79 Wegen der ihm Ruhrgebiet stark divergierenden Teuerungsentwicklung bieten so-wohl der Essener Index als auch ein Durchschnittsindex für die Region wenig Vorteile.

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3 3 0 Rudolf Tschirbs

T A B E L L E 3

Nominal- und Realschichtlöhne der Ruhrbergarbeiter 1920 bis 1922

Leistungslohn2 je Schicht (in M) Gesamteinkommen^ je Schicht (in M)

Jahr Monat Hauer und erw. männl. Ar- Hauer und erw. männl. Ar- Arithmetisches Mittel der Jahr Schlepper better über Tage Schlepper beiter über Tage Reichsindexziffer aus lau-

fendem und Folgemonat

1913=6,75 1913=100 1913=4,56 1913=100 1913=6,95 1913=100 1913=4,76 1913=100 1913/14=1

Nomina] Real Nominal Real Nominal Real Nominal Real

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

1920 Apr. 46,75 64.3 34,38 70,0 55,95 74,7 39,78 77,6 10,77 Mai 47 ,33 64,2 34,45 69,1 57,50 75,7 39,81 76,5 10,93

Juni 49 ,03 67,6 35,81 73,1 60,82 81,5 41,62 81,4 10,74 Juli 49,50 70,2 35,67 75,1 59,70 82,3 41.30 83,1 10,44 Aug. 54,45 79,2 40,14 86,5 65,32 92,2 46,41 95,7 10,19 Sept. 54,85 77,9 40,14 84,4 66,90 92,3 46,40 93,5 10,43 Okt . 57,15 77,3 42,05 84,2 73,89 97,1 51,74 99,3 10,95 Nov. 57,73 74,9 42,14 81,2 75,76 95,8 52,46 96,8 11,38 Dez. 57,65 73,1 42,07 78,9 75,36 92,8 52,34 94,1 11,69

1921 Jan. 58,15 74,1 41,96 79,1 76,66 94,8 52,47 94,8 11,63 Febr. 58,53 75,9 41,90 80,4 76,46 96,3 51,99 95,6 11,43 März 58,61 76,6 41,96 81,2 73,61 93,? 52,60 97,5 11,33 Apr. 61,15 80,6 44,61 87,0 71,24 91,2 53,41 99,8 11,24 Mai 63,41 82,1 49,26 94,4 76,46 96,2 60,29 110,7 11,44

Jun i 64,17 78,6 49,23 89,3 77,55 92,3 59,50 103,4 12,09 Juli 64,61 74,1 49,18 83,5 78,41 87,3 59,93 97,4 12,92 Aug. 65,11 71,2 49,13 79,6 79,02 84,0 59,87 92,9 13,54 Sept. 76,36 78,6 59,99 84,9 90 ,30 90,3 70.68 103,2 14,39 Okt. 77,23 69,8 59,13 79,1 90,18 79,1 70.57 90pt 16,40 No». 100,86 84,7 86,64 102,6 122,68 95,3 102,30 116,0 18,52 Dez. 106,10 79,2 86,56 95,6 124,79 90,5 104.04 110,1 19,85

1922 Jan. 106,95 70,6 86,57 84,6 124,12 79,6 102,90 96,3 22,45 Febr. 121,34 67,3 100,30 82,3 140,20 75,5 118,17 92,9 26,73 M a n 141,44 66.2 117.29 81,2 162,91 74,0 137,08 90,9 31,67 Apr. 159,26 65.2 131,75 79,8 184,26 73,2 157,29 91,3 36,20 Mai 187,19 69,6 154,43 85,2 213,53 77,3 179,64 94,9 39,75

Jun i 202,52 62.9 167,69 77,1 229,51 69,2 194,58 85,7 47 ,70 Juli 259,23 58,4 220,64 73,5 242,64 64,0 253,30 80,9 65,79 Aug. 351,44 49,4 278,89 58,0 389,26 53,1 315,15 62,8 105,42 Sept. 688 ,80 57,7 548,68 68,0 787,87 64,1 632,19 75,1 176,93 Okt. 843,04 37,5 675,10 44,4 1 000,25 43,2 799,91 50,4 333,38 Nov. 1 599,00 41,9 1 270,00 49,2 1 988,00 50,6 1 577,00 58,6 565,58

Errechnet auf der Basis der Bezirkslohnstatistik des Zechenverbandes, Historisches Archiv der G H H , 300 130 1/0, und des arithmetischen Mittels der Reichsindexziffer für Lebenshaltungskosten (nach Zahlen zur Geldentwertung..., S. 33) aus laufendem und Folgemonat. a) Leistungslohn (ohne Abzug der Arbeiterbeiträge zur sozialen Versicherung) ist der

Verdienst der Gedingearbeiter oder der Schichtlohn, beide ohne alle Zuschläge für Überarbeiten sowie ohne Hausstands- und Kindergeld und ohne den Wert der wirt-schaftlichen Beihilfen (Preisvorteil bei Deputaten und Lebensmitteln).

b) Das Gesamteinkommen umfaßt zusätzlich die Uberarbeitszuschläge, den Soziallohn, die geldwerten Vorteile und die Urlaubsvergütung (vom April bis zum Dezember 1920 ist die Urlaubsvergütung nicht miteinbezogen). Die Basiszahlen waren wegen der Reform der Lohnstatistik 1921 nicht exakt zu ermitteln. Auf der Basis der Angaben der Zeitschrift für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen, Statistischer Teil, wird für die geldwerten Vorteile ein Betrag von 0,20 Μ zusätzlich zum Leistungslohn 1913 als Schätzwert in Anschlag gebracht.

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Lohnpolitik im Ruhrbergbau 1919-1927 331

Überarbeitszuschläge, des nachrevolutionären Soziallohnes, der Urlaubs-vergütung und der wirtschaftlichen Beihilfen bis zum Dezember 1921 vergleichsweise geringfügig verloren. Seit Januar 1922 zeichnet sich auch hier ein deutlicher, dauerhafter Einbruch ab.

Bemerkenswert ist das bei weitem günstigere Abschneiden der erwach-senen männlichen Tagesarbeiter, einer Lohngruppe, die Facharbeiter, Angelernte und Ungelernte einschließt. Die Entwicklung des realen Ge-samteinkommens zeigt hier bis in den Sommer 1922 hinein nicht nur ein Beibehalten des Reallohnstandes von 1913, sondern bisweilen ein signifi-kantes Überschreiten. Ein Teil der ungleichen Entwicklung der Einkom-men von eigentlichen Bergleuten und Übertagearbeitern geht zweifels-ohne auf das Konto der inflationsbedingten Lohnnivellierung von Fach-arbeitern und Minderqualifizierten, wobei letztere auch aufgrund ihres seit der Novemberrevolution spürbar verstärkten Einflusses auf die Ge-werkschaftspolitik aufholten.80

T A B E L L E 4

Verhältnis der Löhne von Hauern und Schleppern und von erwachsenen männlichen Arbeitern über Tage

im Ruhrbezirk 1913 bis 1922 (Hauer und Schlepper = 100)

Leistungslohn Gesamteinkommen Jahr/Monat Hauer und

Schlepper Tagesarbeiter Hauer und

Schlepper Tagesarbeiter

1913 100 67,6 100 68,5 1920

68,5

April 100 73,5 100 71,1 Juli 100 72,1 100 69,2 Dezember 100 73,0 100 69,5

1921 69,5

Juli 100 76,1 100 76,4 Dezember 100 81,6 100 83,4

1922 83,4

Juli 100 85,1 100 86,6 November 100 79,4 100 79,3

(Quelle: wie T A B L I . I . E 3)

80 Vgl. hierzu auch R. Meerwarth, Zur neuesten Entwicklung der Löhne... (wie Anm. 70), S. 335.

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332 Rudolf Tschtrbs

Die Lohnnivellierung bei eigentlichen Bergleuten und Tagesarbeitern, die sich im übrigen auch bei den Tariflöhnen zeigt, beruht zudem auf dem Anspruch des gewerkschaftlichen Viererbundes als Befürworter des Indu-strieverbandsprinzips, auch die bislang in starkem Maße in den Berufs-verbänden anderer Branchenprovenienz beheimateten Tagesbelegschaf-ten zu integrieren. Der relative Aufstieg des Tagesarbeiters war das Opfer, das die Bergarbeiterorganisationeri der Durchsetzung des Tarifvertrages im gesamten mit dem Bergbau zusammenhängenden Arbeitsbereich schuldeten. So gehörte der Konflikt mit dem freigewerkschaftlichen und dem christlichen Metallerverband seit 1919 zum gewerkschaftlichen All-tag. Der integrale Anspruch der Bergarbeitergewerkschaften verbot jede Nachlässigkeit im Kampf um Mitgliederzuwachs über Tage.

Nicht zuletzt sei aber auf den schon von Meerwarth ins Feld geführten arbeitsmarktpolitischen Einfluß auf die Lohnentwicklung verwiesen.81

Die starke Nachfrage nach Kohle wurde besonders durch eine Vermeh-rung der Belegschaften befriedigt. Es war mehr den Gesetzen des Ar-beitsmarktes als der gewerkschaftlichen Machtposition zuzuschreiben, daß die Löhne der Bergleute sich lange Zeit auf einem relativ hohen Stand bewegten. Hier waren es aber vornehmlich die Tagesarbeiter, die auf-grund der Lohnentwicklung der Nachbarbranchen Nutznießer des Ar-beitsmarktes waren. So war die Lohnspitzenposition für den Bergarbeiter im Juli 1919 von der ZAG gefordert worden, um den Arbeitskräftebedarf zu befriedigen. Auch Staatssekretär Hirsch forderte im September 1919 eine gezielte Lohnpolitik, um eine Abwanderung von Bergleuten zu ver-hindern. Im Frühjahr 1922 wanderten viele Ruhrbergleute ins Bauge-werbe ab, wo die Hochkonjunktur die Löhne anheizte.82

Wenn der Bergbau als arbeitsintensiver Industriezweig in der Rekon-struktionsphase die erforderlichen Kohlenmengen nur über Mehreinstel-lungen fördern konnte, dann war für das Anschwellen der Ruhrarbeiter-schaft ein hohes Lohnniveau nötig. Das Konzept einer interindustriellen

91 A.a.O., S. 334. Abelshauser würdigt diesen Aspekt in seinem Manuskript nicht hinrei-chend.

82 Beschluß der ZAG vom Juli (ohne genauere Datierung) 1919. BgA 13/514. Zu den Ausführungen Hirschs siehe Gerald D. Feldman/Heidrun Homburg, Industrie und Infla-tion. Studien und Dokumente zur Politik der deutschen Unternehmer 1916-1923 (= Hi-storische Perspektiven 5), Hamburg 1977, Dokument Nr. 11, S. 230 ff. Zur Abwanderung ins Baugewerbe siehe Jahrbuch des Verbandes der Bergarbeiter Deutschlands 1922, Bo-chum 1923, S. 294. Einen differenzierten Einblick in die Arbeitsmarktbewegungen eröffnen die Berichte über die Lage des Arbeitsmarktes in Westfalen, STAM, Landesarbeitsamt N R W 2, auf die mich mein Bochumer Kollege Norbert Ranft freundlicherweise hingewie-sen hat.

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Lohnpolitik im Ruhrbergbau 1919-1927 333

Lohnhierarchie mit dem Bergmann an der Spitze war demnach nicht nur ein auf der Arbeitsmühe basierendes normatives Gedankengebäude, son-dern eine arbeitsmarktpolitische Notwendigkeit. Auch ohne die Lohnin-tervention des RAM wäre die Einkommensentwicklung im Ruhrbergbau nicht völlig ungünstig verlaufen.

So bleibt zu resümieren, daß die Lohnspitzenposition des Bergarbeiters zeitweilig wohl tatsächlich existierte, aber vornehmlich wegen des Lohn-drucks der im Arbeitsmarkt benachbarten Branchen, die den Ruhrbergbau ein ums andere Mal lohnpolitisch überflügelten. Entgegen dem landläufi-gen Bild vom privilegierten Hauer, der s'ich auf Kosten der übrigen Nation bereicherte, waren es die über Tage Beschäftigten, die bis ins Jahr 1922 hinein ihre reale Einkommenssituation verbesserten oder beibehiel-ten, während der bergmännische Gedingefacharbeiter seine nachweisli-chen Kaufkrafteinbußen bis Ende 1921 nur erträglich gestalten konnte. Das Wort von der nivellierten Armut der Inflationszeit trifft auf den Ruhrbergbau frühestens seit dem Sommer 1922 zu.8} Die bis dahin er-staunlich günstige Einkommensentwicklung der Tagesbelegschaften, bei denen die Minderqualifizierten den Facharbeitern nur unerheblich nach-standen,84 läßt sich erst dann in ihrem Ausmaß richtig einschätzen, wenn die Arbeitszeitverkürzung von zwei Stunden gegenüber 1913 berücksich-tigt wird, die durch Überarbeit (und Uberarbeitszuschläge) weit weniger als bei den eigentlichen Bergleuten kompensiert wurde.

VI

Wirtschaftliche Rekonstruktion, Rationalisierung und die Ruhrbergleute

Der Einbruch in der realen Einkommensentwicklung seit 1922, durch die Ruhrkampfsituation 1923 forciert, ist nicht lediglich als ein Hineinho-len des Ruhrbergmannes in ein kollektives Inflationsschicksal der Lohn-abhängigen zu bewerten, sondern als ein Auftakt einer neuen sozialen Epoche, in der das Jahrzehnte überdauernde Leitbild eines privilegierten Knappenstandes endgültig verblassen sollte. Der Angriff der Ruhrarbeit-

85 Zur Abnahme der Lohndifferenzen zwischen Facharbeitern und Ungelernten vgl. auch Gerhard Bry, Wages in Germany, 1871-1945, Princeton I960, S. 218 f.

84 Nach der Bezirkslohnstatistik des Zechenverbandes stand im Mai 1922 der Leistungs-lohn des Facharbeiters über Tage bei 162,60 Μ (Gesamteinkommen: 191,38 M), der des „sonstigen Arbeiters" bei 151,27 Μ (Gesamteinkommen: 175,13 M), was einem Verhältnis von 100:93 gleichkommt.

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334 Rudolf Tschirbs

geber auf die tarifliche Schichtzeit von sieben beziehungsweise acht Stun-den im Herbst 1923 war nur die Spitze eines Eisberges, der die in der Demobilisierungsphase genährten Hoffnungen auf soziale Anerkennung und einkommenspolitische Würdigung der schweren und gefahrvollen Tätigkeit des Ruhrbergmannes zermalmen sollte. Schon vor der mit der Währungsstabilisierung besiegelten Anbindung des Ruhrbergbaus an den Weltkohlenmarkt wurden die Weichen für eine Restrukturierung der bergbaulichen Arbeitsverhältnisse gestellt, die die Frage danach, wer die Kosten von Krieg und Stabilisierung zu zahlen hätte, eindeutig beantwor-tete. So hatte Ernst Brandl, Vorstandsmitglied der Gelsenkirchener Bergwerks-AG, bereits im März 1922 angekündigt, sobald „durch Errei-chung des Weltmarktpreises oder die erhoffte Stabilisierung unserer Va-luta der volle Wettbewerb eintrete, würden Lohnerhöhungen nicht mehr in Frage kommen".85

Mit der Rückendeckung einer Verhandlungsvollmacht des Reiches für die Regelung von Kohlereparationen mit der Alliierten Kontrollkommis-sion MICUM nutzten die Ruhrunternehmer die desolate wirtschaftliche Situation nach Abbruch des Ruhrkampfes. Der zunächst gescheiterte Arbeitszeitoktroi vom Oktober 1923 wurde von einer Zechendirektion ungeschminkt kommentiert: „Das Vorgehen, ganz im Gegensatz zu den bisherigen Gepflogenheiten eine solche einschneidende Maßnahme ohne Fühlungnahme mit den Gewerkschaften zur Durchführung zu bringen, war zwar gewagt, versprach aber bei der augenblicklichen Wirtschaftslage Erfolg."86 Als der Zechenverband bei der widerrechtlichen Einführung der Vorkriegsschichtzeiten gebremst wurde, suchten die Krupp-Zeche Sälzer-Neuack und der Thyssen-Bergbau durch mehr oder weniger dik-tierte Werkstarife das Tarifvertragssystem zu unterlaufen. Auf Sälzer-Neuack verfuhren weite Kreise der Belegschaften die um eine Stunde verlängerten Schichten in der Hoffnung, mit dem zugesagten günstigeren Lohn eines AI-Akkordschlossers nach dem Tarif von Arbeit Nordwest gleichzuziehen und die Notlage der Familien dadurch zu lindern.87 Der Lohndruck fungierte als unverhohlenes Mittel der Erzwingung verlänger-ter Arbeitszeiten.

8' Brandt an Holling (Fachgruppe Bergbau) vom 27.3.1922, betr. seine Ausführungen in der Ausschußsitzung des Reichsrats am 21. 3. 1922, BgA 15/186.

86 Schacht Zollern II (Scheulen) an Bergass. Eichler vom 11. 10. 1923. Gelsenberg-Archiv, GBAG 920-50.

87 Siehe Bericht des Revierbeamten des Bergreviers Werden an das OBA Dortmund vom 24. 11. 1923 (einschließlich Anlagen), STAM, OBA Dortmund 1393.

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Lohnpolitik im Ruhrbergbau 1919-1927 335

Der Thyssen-Bergbau rühmte sich gegenüber dem Zechenverband der betrieblichen Suspendierung von Grund- und Soziallohn, von Urlaub und tariflicher Schichtzeit. Die Bergwerksdirektion eliminierte gleichzeitig die Rechte des Betriebsrates und erklärte, sie habe sich durch Tarife, Lohnordnung und Richtlinien nicht gebunden gefühlt, da sie sich nur von den „Gesetzen der Wirtschaft" leiten lassen könne.88 Als die Bergarbeiter-funktionäre nach Abschluß eines Mehrarbeitsabkommens Ende Novem-ber aus Berlin ins Revier zurückkehrten, lag bereits die Kündigung von Manteltarif und Lohnordnung vor. In den folgenden Wochen bestimmte der Zechenverband in enger Zusammenarbeit mit Arbeit Nordwest das Tempo des Lohnabbaus, wobei der staatliche Schlichter den fortgesetzten Tarifbrüchen mehr oder weniger sekundierte.89 Die Rückverlegung der Lohnrunden von Berlin nach Essen war nur das sichtbare Zeichen einer radikalen Veränderung der tarifpolitischen Landschaft.

Die Arbeitslosigkeit im Revier bot einen wirksamen Ansatzpunkt zur Umstrukturierung der Belegschaften. Eine Zechenleitung erkannte: „Die augenblickliche Wirtschaftslage gibt nunmehr eine Handhabe, den Be-trieb produktiver zu gestalten, wenn bei seiner Wiederaufnahme eine Auswahl der fleißigsten und tüchtigsten Arbeiter getroffen wird. Zu diesem Zwecke ist es das Beste, mit einer allgemeinen Kündigung vorzu-gehen . . . Wünschenswert ist es, daß die Inbetriebnahme mit der Verlän-gerung der Arbeitszeit zusammenfällt."90

Die zweifelsohne notwendige Neuzusammensetzung der Arbeiter-gruppen unter relativer Vermehrung der produktiven eigentlichen Berg-leute, der Hauer und Schlepper, vollzog sich von 1924 bis 1927 in Anleh-nung an den Vorkriegsstand. (Siehe TABELLE 5 auf S. 336.)

Die nach dem Offenbarungseid der Markstabilisierung einsetzende Absatzkrise wurde mit Zechenstillegungen und Betriebszusammenfas-sungen beantwortet. Die in den Inflationsjahren noch unsystematisch und theorielos betriebenen positiven Rationalisierungsmaßnahmen wurden seit 1924 forciert; die Kombination von Mechanisierung und Betriebs-konzentration unter Tage, die im sogenannten Großrutschenbetrieb bei

88 Siehe den Bericht der Gewerkschaft Fr. Thyssen an den Zechenverband vom 2. 12. 1923, Historisches Archiv GHH, 30 100/24 b, und Bericht des Bergrevierbeamten in Duisburg an das OBA vom 30. 11. 1921, STAM, OBA Dortmund 1397.

89 Vgl. hierzu G. Feldman/I. Steinisch, Die Weimarer Republik zwischen Sozial- und Wirtschaftsstaat... (wie Anm. 19), S. 414 ff.

90 Zollern II (Scheden) an Bergass. Eichler vom 8. 11. 1923, Gelsenberg-Archiv, GBAG 920-50.

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336 Rudolf Tschirbs

TABELLE 5

Anteil der einzelnen Arbeitergruppen an der Gesamtbelegschaft im Ruhrbezirk

Arbeitergruppe 1913 %

1922 % 1924 %

1925 % 1926 %

1927 %

Kohlen- und Gesteins- "J hauer >

Gedingeschlepper J Reparaturhauer Sonstige Arbeiter un- V

ter Tage J

50,7

26,3

37,97 4,43

11,97

19,28

43,01 4,22

11,44

17,42

43,21 4,81

11,82

16,92

44,91 4,59

11,32

16,68

44,62 5,89

11,16

16,54

zusammen unter Tage 77,0 73,65 76,09 76,76 77,50 78,21

Facharbeiter Ί Sonstige Arbeiter über l

Tage J Jugendliche männl. unter

16 Jahren Weibliche Arbeiter

19,3

3,7

6,29

16,35

3,60 0,11

6,27

16,14

1,44 0,06

6,30

15,58

1,30 0,06

6,55

14,73

1,16 0,06

6,44

13,98

1,31 0,06

zusammen über Tage 23,0 26,35 23,91 23,24 22,50 21,79

Erwachsene männliche überhaupt 96,3 96,29 98,50 98,64 98,78 98,63

(Quelle: Brandi/Jüngst, Das Rubrrevier, in: Die deutsche Bergwirtschaft der Gegenwart, Berlin 1928, S. 49).

flacher Lagerung kulminierte, bewirkte einen beispiellosen Rationalisie-rungseffekt.91 In einem Dreischichtensystem mit klarer Arbeitsdifferen-zierung schrieb die Betriebsorganisation jeder Kameradschaft ihre Pen-sumarbeit vor, damit das System der weitgehenden Ausnutzung aller Grubeneinrichtungen, vom Abbau bis zur Schachtförderung, nicht ins Stocken kam. Die Ausleuchtung der Großbetriebspunkte optimierte nicht nur die Sichtbedingungen des Arbeiters, sondern auch die des Steigers; damit waren die Voraussetzungen eines bis dahin noch nicht bekannten Antreibesystems geschaffen. Die Hauerleistung je Schicht übertraf 1927 mit 2 ,450 t klar den Stand von 1913 (1 ,845 t).

g 1 Vgl. einführend Eva Cornelia Schock, Arbeitslosigkeit und Rationalisierung. Die Lage der Arbeiter und die Kommunistische Gewerkschaftspolitik 1920-1928, Frankfurt/M.-New York 1977; Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der

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Lohnpolitik im Ruhrbergbau 1919-1927

TABELLE 6

Förderung und Leistung im. Ruhrrevier 1913 bis 1927

337

Beleg- Förderung Leistung der schaft insgesamt arbeits- Kohlen- und Untertage- Gesamtbeleg-

Jahr täglich Gesteinshauer arbeiter je schaft je

t t je Schicht

t Schicht

t Schicht

t

1913 409 183 114 550 153 379 840 1,845 1,182 0,943 1920 496 559 88 255 780 291 755 1,496 0,830 0,631 1921 547 330 94 114 785 311 381 1,565 0,809 0,628 1922 552 188 97 346 176 322 873 1,591 0,815 0,634 1924 452 317 90 969 875 299 483 1,903 1,081 0,860 1925 433 879 104 335 566 345 054 2,100 1,179 0,946 1926 384 507 112 192 119 370 730 2,377 1,374 1,114 1927 407 577 118 022 353 389 995 2,450 1,385 1,132

(Quelle: Hold, Die Entwicklung der Bergbautechnik, in: Die deutsche Bergwirtschuft der Gegenwart, Berlin 1928, S. 152).

Seit 1924 wurde der Ruhrbergmann von starker Arbeitslosigkeit be-troffen; die Zahl der Arbeitsuchenden erreichte 1926 mit 34 053 (= 8,8 <7r der Belegschaft) ihren Höhepunkt. Von den im April 1926 ausgewiesenen arbeitsuchenden Bergleuten (46 372) waren 29 274 verheiratet. D ie Tat-sache, daß fast die Häl f te von ihnen, nämlich 21 548, zu den qualifizierten Hauern gehörte, verdeutlichte, daß der Untertage-Facharbeiter von den Krisenfolgen nicht ausgenommen blieb.42

Aber auch der nicht wegrationalisierte Hauer wurde von den Wirkun-gen der Rationalisierung voll erfaßt. Die Verkleinerung der Steigerreviere ermöglichte im Großrutschenbetrieb die individuelle Leistungsbemes-sung im Gruppengedinge, da der Steiger schließlich sogar den Anteil des

deutschen Wirtschaft (Enquete-Ausschuß): Die Arbeitsverhältnisse im Steinkohlenberg-bau in den Jahren 1912-1926, Berlin 1928. Vgl. ferner die einschlägigen Aufsätze in: E. Herbig/E.Jüngst (Hrsg.), Bergwirtschaftliches Handbuch... (wie Anm. 76), S. 133ff., sowie in der Zeitschrift Glückauf, Jg. 1924 ff. Einzelnachweise demnächst in der Diss, des Verf.

Siehe Georg Berger, Die Arbeitslosigkeit im deutschen Steinkohlenbergbau, in: Ma-nuel Saitzew (Hrsg.), Die Arbeitslosigkeit der Gegenwart, Zweiter Teil: Deutsches Reich I (= Schriftendes Vereins für Sozialpolitik 185/11),München-Leipzig 1932,S. 1 ff. ,und Hans Meis (Bearb.), Der Ruhrbergbau im Wechsel der Zeiten, Essen 1933,S. 349. Vom 1. 1.1923 bis zum 1. 1. 1924 ging der Stand der Ruhrbelegschaften um 100000 Arbeiter auf 460000 zurück.

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einzelnen Akkordlöhners an der der Gesamtkameradschaft zustehenden Lohnsumme nach einem Punktsystem bewerten konnte. Seine Observie-rungstätigkeit begann schon bei der 1925 in breitem Maßstab eingeführ-ten „planmäßigen Seilfahrt", bei der revierweise angefahren wurde, wo-bei Unpünktlichkeit den Verlust der Schicht mit sich brachte. Die in der Revolutionsphase beseitigte Revierprämie für Steiger wurde von 1922 bis 1924 wieder eingeführt , wodurch der Steiger an einem scharfen Arbeits-tempo interessiert wurde.

Der mit Preßluft betriebene Abbauhammer, der die Kohlenhacke völlig verdrängte, teilte seine Vibrationen dem ganzen Körper des Hauers mit. Zusammen mit der Schrämmaschine und der Kohlenrutsche verursachte er einen solchen Geräuschpegel, daß die Arbeiter sich nicht nur kaum noch verbal verständigen konnten, sondern auch in der Wahrnehmung der Warngeräusche des Gebirges behindert wurden, was die Zahl der Verletzungen durch Stein- und Kohlenfall in die Höhe trieb. Ohr- und Lungenschädigungen, Sehnenscheidenentzündungen und rheumatismus-ähnliche Krankhei ten nahmen zu. Nervöse Schädigungen als besonders bei älteren Hauern auftretende Krankheitsbilder wurden von den Knapp-schaftsärzten nicht angemessen gewürdigt, so daß der Kranke häufig zum Simulanten und schließlich zum Arbeitslosen gemacht wurde.93

Für den an der technologischen Epochenschwelle stehenden Hauer bestand wenig Anlaß, die Arbeit mit der Keilhacke, die meistens liegend, in engen Räumen und mit Blick- und Bewegungsrichtung nach oben absolviert werden mußte, nachträglich zu romantisieren, doch die vor der planmäßigen Rationalisierung vorherrschende Unübersichtlichkeit des Untertagebetriebes, die eine gleichzeitige Aufsicht der Arbeiter wie in der Werkstat t unmöglich machte, hatte dem Hauer noch ein Gefühl von Selbständigkeit und Selbstverantwortung vermitteln können. Nun stand die Maschine mit ihrem ununterbrochenen Lärm zwischen ihm und der Kohle. Die selbstverordnete Pause, „das Bergamt auf der Kiste", fiel fort. Der Arbeitsrhythmus war durch das Betriebsführerbüro vorgeschrieben, ein den eigenen physischen Schwankungen folgender Wechsel von schar-fer Arbeitsphase und routinierter Tätigkeit entfiel. Arbeitshetze, Antrei-berei, Kommunikat ionsmangel waren die Zeichen der neuen Zeit. Es waren nicht in erster Linie die Gewinnungsmaschinen, die den Hauer zum Industriearbeiter „degradierten", sondern ihre Einsatzmöglichkeit im Rahmen der kalkulierten Betriebsorganisation. Die „Verhältnisse neu-

<H Siehe hierzu und zum folgenden: Die Arbeitsverhältnisse im Steinkohlenbergbau... (wie Anm. 91), S. 225 ff., S. 258 ff.

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Lohnpolitik im Ruhrbergbau 1919-1927 339

zeitlicher Fabrikarbeit" blieben, trotz der Rückschläge des Großrutschen-betriebes, das Idealbild der Unternehmer.9 4 Die Annäherung an die Be-dingungen der Fabrik nahm dem Hauer seinen Nimbus. Der Bergbauin-dustriearbeiter unterschied sich kaum noch von seinen Kollegen in den Großbetrieben der Nachbarindustrien.

Wie problematisch es war, den Spitzenlohn des eigentlichen Bergman-nes zu realisieren, zeigte sich nach 1924 nicht erst im interindustriellen Vergleich,95 sondern schon in der Bergwerksindustrie selbst, wo die Ar-beitsmarktentwicklung die normative, an der Arbeitsmühe und Gefähr-lichkeit der Tätigkeit orientierte Lohnkonzeption gründlich in Frage stellte. Die Lohnordnung vom 1. März 1924 hatte zwar durch die Aufhe-bung der Nivellierung der Lohngruppen den Hauer als Gedingefacharbei-ter wieder deutlich an die Spitze der Schichtlohnskala gerückt. Das Tarif-lohngefüge veränderte sich ab 1. Mai 1927 geringfügig weiter zugunsten der unter Tage Beschäftigten. Ein Reallohnvergleich mit dem Vorkriegs-stand zeigt jedoch, daß die Hauer die eigentlichen Verlierer der nachinfla-tionären Lohnumstrukturierung waren, da sich die Tagesarbeiter auf einem Ausgangsniveau etablierten, das ihrem sogenannten „Friedensreal-lohn" bedeutend näher kam. Nach den allerdings zu günstig angesetzten Berechnungen der Arbeitgeber erreichte der Facharbeiter über Tage für das ganze Jahr 1924 bereits 94,15 % des Friedensreallohnes, wohingegen der Gedingehauer lediglich auf 86,71 % kam.96

Das Gefüge der effektiven Schichtlöhne bis 1927 zeigt, daß der Lohn der gelernten Arbeiter über Tage vor dem der Untertagefacharbeiter und der Gedingefacharbeiter am stärksten anstieg.97

Für das relativ starke Ansteigen der Effektivschichtlöhne der sonstigen Untertagearbeiter sorgte vor allem die zunehmende Beschäftigung von Handwerkern im Zuge der Mechanisierung der Förderung. Die Fachar-beiter über Tage verbesserten sich deshalb signifikant, da ihr Einkom-mensstand in steter Relation zu den Löhnen der Nachbarindustrien des Ruhrgebiets zu regulieren war.

94 Vgl. Glückauf, 65. Jg. (1929), S. 661. 9"· Vgl. hierzu Fritz Poth, Die Entwicklung der Löhne im Steinkohlenbergbau, in der

eisenschaffenden Industrie und im Baugewerbe seit 1924, Wirtsch.- und sozialwiss. Diss., Köln 1949, Köln 1950.

9 6 Siehe Jahresbericht des Bergbauvereins für 1930, Essen 1931, S.81. Seit dem Mai 1924 hatte RAM Brauns durch tarifpolitische Interventionen für eine Aufbesserung der extrem niedrigen Stabilisierungslöhne gesorgt.

97 Siehe Werner Retzlaff, Das Lohngefüge im deutschen Steinkohlenbergbau von 1886 bis 1956, Rechts- und staatswiss. Diss., Freiburg i. B. 1958, S. 130.

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340 Rudolf Tschirbs

TABELLE 7

Index der Schichtverdienste der erwachsenen männlichen Belegschaft

im Ruhrbergbau 1924 bis 1921 (1924 = 100)

Arb eitergrup pen/Jahr 1924 1927

Unterirdisch beschäftigte Arbeiter Hauer 100 132 Schlfepper 100 130 Reparaturhauer 100 138 Sonstige Untertagearbeiter 100 1-37

Tagesarbeiter Facharbeiter 100 140 Sonstige Übertagearbeiter 100 133

Ein Blick auf die Jahresverdienste belegt die grundlegende Verschie-bung im Lohngruppengefüge seit 1924 am deutlichsten. Die Arbeitszeit-dimension verrückt das Bild gänzlich zugunsten des Tagesfacharbeiters. Aufgrund der höheren Gesamtschichtzahl im Jahr — der unmittelbar mit der Förderung befaßte eigentliche Bergmann verfuhr aus betriebs- oder absatztechnischen Gründen weniger Schichten — wurden die Gedinge-löhner seit 1927 von den qualifizierten Tagesarbeitern überflügelt.98

TABELLE 8

Jahresverdienste der wichtigsten Arbeitergruppen im Ruhrbergbau 1924 bis 1921 (in RM)

Arbeiterkategorie / Jahr 1924 1925 1926 1927

Kohlen- und Gesteinshauer 1 848 2 235 2 489 2 596 Schlepper 1 625 1 591 2 201 2 313 Reparaturhauer 1 498 1 868 2 103 2 233 Sonstige Untertagearbeiter 1 177 1 487 1 689 1 774 Facharbeiter über Tage 1 709 2 206 2 452 2 603 Sonstige Übertagearbeiter 1 418 1 774 1 955 2 075 Gesamtbelegschaft 1 582 1 955 2 195 2 304

08 A.a.O., S. 202. Im Jahre 1927 betrug der Anteil der Facharbeiter über Tage 6,44 % der Gesamtbelegschaft, der der sonstigen erwachsenen Tagesarbeiter 13,98 % der Gesamtbe-legschaft.

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Lohnpolitik im Ruhrbergbau 1919-1927 341

Zu einem sozialpolitischen Streitpunkt wurde die Benachteiligung des Hauers und des Schleppers im Zusammenhang mit Tariflohnerhöhun-gen. Seit dem Dezember 1924 verfochten die Arbeitgeber die Auffassung, daß eine Tariflohnerhöhung für die Gedingelöhner dann zu unterbleiben hatte, wenn der Hauermindestlohn des neuen Tarifs, der in fester Rela-tion zum Schichtlohn des Reparaturhauers stand, auf der betreffenden Schachtanlage bereits erreicht beziehungsweise überschritten war. Im Falle eines „vorauseilenden Gedinges" blieb der hart arbeitende Berg-mann bei Tarifverbesserungen unberücksichtigt; die Zechenverwaltun-gen nutzten somit die Chance der „Gedingebereinigung", um zu hohe Effektivlöhne, die als Konsequenz ihrer im Zuge der Rationalisierung akzentuierten Leistungsideologie eher plausibel erschienen, zu beschnei-den ." Die Arbeitgeber machten keinen Hehl daraus, daß sie damit eine „Bestrafung" der Arbeiterschaft für wirtschaftsgefährdende Lohnerhö-hungen bezweckten.

Ebenfalls heftig umstritten waren die sogenannten Scheingedinge, durch die mit Bedacht zu niedrig gesetzte Gedinge nachträglich aufgebes-sert wurden, um auf der Schachtanlage den geforderten Hauerdurch-schnittslohn zu erreichen, der bei normaler Arbeitsleistung wenigstens 15 % über dem Reparaturhauer-Schichtlohn liegen sollte. Diese Praxis wurde durch die Zechendirektionen offensichtlich nicht direkt befürwor-tet, doch der Druck, der auch auf den in der Regel selbst das Gedinge vereinbarenden Fahrsteigern lastete, führte auch hier zu einem dem Geist des Tarifvertrages zuwiderlaufenden Modus.100

Gedingeschreiben und Gedingekürzungen machten den Hauer sukzes-sive zum Objekt diktatorischer Akkordsetzungen, auf die er oft nur noch auf dem Papier Einfluß nehmen konnte. Die Arbeitslust der Gedingelöh-ner sank, da das Leistungsprinzip offensichtlich zur Farce degenerierte. In Verbindung mit der verhaßten Maschinenarbeit führten die Willkürmaß-nahmen teilweise zur Resignation bei den Hauern, die sich ihrer Arbeits-stätte mehr und mehr entfremdet sahen.101 Hier vollzog sich ein von den Arbeiterorganisationen zwar zur Kenntnis genommener, letztlich aber

99 Siehe Jahresbericht des Zechenverbandes für 1925, Essen 1926, S. 8. Zu tarifrechtli-chen Fragen vgl. A. Müssig, Das Gedinge im rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau, Bochum 1931.

100 Vgl. etwa die Auseinandersetzungen im RKR am 4. 8., 22. 10. und 10. 12. 1926. BA Koblenz, N1 Silverberg 151.

,01 Vgl. hierzu auch Hendrik de Man, Der Kampf um die Arbeitsfreude. Eine Untersu-chung auf Grund der Aussagen von 78 Industriearbeitern und Angestellten, Jena 1927, S. 55—57.

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schwer zu steuernder Prozeß, durch den wesentliche Bereiche bergmänni-scher Identitätsfindung dem gewerkschaftlichen Zugriff wieder entzogen zu werden drohten.

V I I

Die Reaktion der Bergarbeiterorganisationen

Es spricht vieles dafür, das Jahr 1922 als den Beginn der eigentlichen Rekonstruktionsphase des Ruhrbergbaus zu betrachten, nachdem die In-flation zuvor lediglich einen Aufschub in der Bewältigung der sozialen und wirtschaftlichen Kriegsfolgen gestattet hatte.1 0 2 Während in der Demobi-lisierungsphase die Hoffnungen der Ruhrbergleute auf eine einkommens-politische Vorzugsstellung vordergründig genährt und regierungsseitig auch bekräftigt wurden, zeichnete sich mit dem Beginn der Hyperinfla-tion der illusionäre Charakter einer von Produktivitätsgesichtspunkten losgelösten Lohnhierarchie deutlich ab. Der Rekurs auf einen glorifizier-ten Vorkriegsstand mit dem Bezugsjahr 1913 war durchaus symptoma-tisch für den Versuch, dem in der Öffentlichkeit unleugbaren Schwund an Sozialprestige einen Fixpunkt in der Vergangenheit entgegenzusetzen, ein Vorgehen übrigens, das sich spiegelbildlich bei den Bergwerksvertre-tern findet, die Rationalisierungsmaßnahmen mit einer Ausweitung von Kapazitäten verbanden, um die vorkriegszeitliche Vormachtstellung der Ruhrkohle auf den Märkten zu reetablieren.

Im freigewerkschaftlichen Alten Verband vollzog sich ein seit 1924 beobachtbarer lohnpolitischer Paradigmenwechsel, der die normative Orientierung der tarifpolitischen Legitimationstechniken durch eine Pro-duktivitätsorientierung ersetzte.1 0 3 Im christlichen Bergarbeiterverband hingegen wurde das Leitbild einer „gerechten Lohnhierarchie" mit Be-harrlichkeit gepflegt, und es war keineswegs zufällig, daß die Beamtenbe-soldungserhöhung von 1927 hier mit besonderer Empörung registriert wurde.104 Während die Kollegen des Alten Verbandes die Belegschaften

102 Vgl. auch Costantino Bresciani-Turroni, The Economics of Inflation. Α Study of Currency Depreciation in Post- War Germany, 3. Aufl., London 1968, S. 403, der den Beginn der Rekonstruktion der deutschen Wirtschaft erst im Anschluß an die Stabilisierung des Jahres 1923 datiert.

llH Das Funktionärs-Organ des Alten Verbandes Verband und Wirtschaft, 6. Jg. (1927), H. 5, erklärte nach der Lohnbewegung im April 1927, daß der Reallohn von 1913 nun ctreicht sei.

104 Zur Lohnpolitik der christlichen Gewerkschaften vgl. neuerdings Albrecht Siegler,

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Lohnpolitik im Ruhrbergbau 1919-1927 343

auf das Auslaufen der Lohnordnung im April 1928 verwiesen, machte Imbusch den vergeblichen Versuch, Reichskanzler Marx für einen Lohn-Nach-schlag zu gewinnen, obwohl der Lohnschiedsspruch vom April 1927 auf Antrag der Gewerkschaften verbindlich erklärt worden war.

Eine Funktionärsversammlung des Bochumer Bezirks des Gewerkver-eins schilderte dem Reichskanzler die Lebenslage der Bergleute als trost-los, ja unerträglich.105 Das kürzliche Votum der Bergarbeiterorganisatio-nen gegen eine Kohlenpreiserhöhung, mit dem man den eigenen lohnpo-litischen Spielraum beschnitten hatte, wurde als nutzloses Opfer bezeich-net: „Unsere bisherige Rücksichtnahme dem Volksganzen gegenüber können wir leider nicht mehr voll und ganz aufrechterhalten, weil wir Bergarbeiter erfahren haben, daß nur wenige Volksschichten außer der Bergarbeiterschaft sich um das Volksganze kümmern und nur die eigenen Interessen im Auge haben."

Die Reichskonferenz des Gewerkvereins formulierte den Vorwurf: „Die Reichsregierung mißt offensichtlich mit zweierlei Maß. Sie ist unge-recht. Den heute schon Bessergestellten will sie erheblich mehr geben."1 0 6

Ein im Bergknappen angestellter Einkommensvergleich sah den Reichs-beamten der Gruppe III, Ortsklasse A, einschließlich der Zuschläge mit einem Monatsgehalt von 255 Μ gegenüber dem Ruhrgebietshauer mit etwa 52 Μ schon vor der Besoldungserhöhung im Vorteil.107 Imbusch beklagte in einem persönlichen Schreiben an seinen Zentrumskollegen Reichskanzler Marx, daß es unmöglich sei, „schwerarbeitenden gelernten, qualifizierten Arbeitern und Angestellten, die in der Produktion tätig sind", an Einnahmen weniger zu geben als den unteren Beamtengrup-pen.108 Die Enttäuschung über den durch die Besoldungspolitik des Rei-ches offenkundig gewordenen Bedeutungsverlust der in der Anfangs-phase der Republik vielfach bevorzugten und in ihrem Status öffentlich aufgewerteten Bergleute kulminierte in dem Marx gemachten Vorwurf, „daß Sie praktisch nicht sozial sind. Sie haben für soziale und wirtschaftli-che Dinge überhaupt kein Gefühl und keine Auffassungsgabe."

Die Lohnpolitik der christlichen Gewerkschaften Deutschlands (1894-1933), Wirtschafts-wiss. Diss., Mannheim 1978.

Gewerkverein Christlicher Bergarbeiter an Reichskanzler Marx vom 2. 10. 1927, BA Koblenz, R 43 1/2176.

106 Der Bergknappe, Nr. 42 vom 15. 10. 1927. 107 A.a.O., Nr. 45 vom 5. 11. 1927. 108 H. Imbusch an Marx vom 12. 11. 1927, DGB-Archiv, N1 Imbusch, Niederschriften

Heinrich Imbusch 1923—1932.

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3 4 4 Rudolf Trchirbs

Der Verlust der Immediatstellung der Bergleute zum Staat und ihre „Verdrängung" durch die augenscheinlich zum bevorzugten Objekt staat-licher Fürsorge avancierten Beamten wurde in Kreisen des christlichen Bergarbeiterverbandes besonders heftig durchlitten, und es steht außer Frage, daß dieser Zusammenhang weniger mit den Mitteln eines dürren Einkommensvergleichs als mit den Kategorien der Sozialpsychologie analytisch erschlossen werden kann.1 0 9 Gleichwohl spiegelt sich in diesem Vorgang der Endpunkt einer Lohnpolitik, die in ihrem Anfangsstadium zumindest programmatisch eine auf Arbeitsmühe, Gefährlichkeit, Ent-behrung und volkswirtschaftlicher Bedeutung basierende Exponierung des Bergmannes anerkannte, mit dem Einsetzen der Hyperinflation und schließlich durch die Markstabilisierung aber zunehmend ihrer Grundla-gen beraubt wurde. Dabei verdient die charakteristische Zeitverschiebung hervorgehoben zu werden, die die Haltung des christlichen Bergarbeiter-verbandes kennzeichnet. Es war nicht die nachweisliche Verelendung der Bergarbeiterschaft, die die nachhaltige Radikalisierung im Gewerkverein auslöste, sondern das Gefühl offenkundiger Zurücksetzung gegenüber anderen Einkommensgruppen. Die Entwicklung im Ruhrbergbau seit 1923 lehrte aber, daß der „gerechte Lohn" unter den Bedingungen einer strukturellen Krise nicht zu realisieren war. Die Rationalisierung er-zwang die Einsicht in die Notwendigkeit eines Kurswechsels der Gewerk-schaften, denen im gesamten Bereich der Arbeitsbedingungen der Wind ins Gesicht blies, wie ein Funktionär des Alten Verbandes vor der Beleg-schaft der Zeche „Dahlbusch" anschaulich darlegte: „Wenn wir früher eine achteinhalb stündige Arbeitszeit hatten, so war doch die Arbeitszeit bedeutend kürzer als heute. W o bleibt die Romantik im Bergbau? Damals konnte man gemütlich auf der Kiste sitzen, Propaganda für die Organisa-tion betreiben. Sind wir erst einmal soweit, daß sämtl. Anlagen Untertage elektrisch beleuchtet sind, wie es ja heute schon immermehr in fortschrei-tendem Maße der Fall ist, dann ist der Grubenbetrieb zum Fabrikbetrieb herabgesunken. Dazu die Trabanten der Grubenherren, welche ungese-

l0,) Der Bergknappe mobilisierte die traditionellen Ressentiments gegenüber der Ar-beitsmühe der Beamten: „Niemand wird im Ernst bezweifeln, daß der Kohlenarbeiter, der Arbeiter und Angestellte privater Bereiche überhaupt, im Durchschnitt sehr viel mehr Arbeit zu leisten hat, sehr viel verantwortungsvollere Arbeit zu leisten hat, daß gerade der Bergarbeiter außerdem unter sehr viel ungünstigeren ungesünderen Verhältnissen zu arbeiten hat, als der Staatsbeamte nicht nur der untersten Klassen, sondern auch sehr viel höherer Klassen." Der Bergknappe, Nr. 46 vom 11. 11. 1927.

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Lohnpolitik im Ruhrbergbau 1919-1927 345

hen heranschleichen, keinen Augenblick ist man mehr vor ihnen sicher. Wir sind nur noch Ausbeutungsobjekt."110

Was vordergründig wie eine nostalgische Beschwörung einer idealisier-ten Vergangenheit anmutet, war freilich der agitatorische Auftakt des scharfen Lohnkonflikts vom Frühjahr 1928, der nicht zuletzt wegen der verhärteten Haltung der schwerindustriellen Unternehmerverbände des Westens 111 die staatliche Schlichtung zu massiver Intervention nötigte.

Summary

During the past years, historians have again raised the question, as to which social groups were the winners or losers of the great inflation after World War I. Contrary to the opinion, that monopoly capital consciously accelerated the process of inflation in order to lower workers' wages, it has been argued that all classes of employees had managed to preserve an astonishingly high level of income well into the period of hyperinflation.

This essay takes up the contemporary argument that during the time of demobilization the Ruhr mining workers had succeded in securing for themselves rather a privileged wage level because of the importance of coal for the national economy, which was essentially payed for by „the poor masses". The ministry of labor of the Reich had indeed guaranteed industrial top wages to the minerSj and the wage agreements in the German hard coal districts were closely related to the publicly controlled rising coal prices. These miners' privileges were, however, quite overes-timated. Closer examination distinctly shows that the hewer was far from enriching himself at the expense of the rest of the nation. The laws of the labor market rather than trade union influence ensured that the Ruhr miners did not suffer more from inflation than they did.

The period after the turning-point of the stabilization crisis in 1923/24 and the development of the Ruhr miners' working conditions once Ruhr coal had to compete on the world market is examined next. The conse-quences of the rationalization process up to 1927 were unemployment, an intensification of the labor process, and a decrease in the miners' status.

110 Referat auf der Belegschaftsversammlung der Zeche Dahlbusch in Rotthausen am 26. 2. 1928, BgA 13/560.

111 Vgl. Hans Mommsen, Sozialpolitik im Ruhrbergbau, in: H. Mommsen/D. Pet-zina/B. Weisbrod (Hrsg.), Industrielles System... (wie Anm. 20), S. 316—318, und Bernd Weisbrod, Schwerindustrie in der Weimarer Republik. Interessenpolitik zwischen Stabili-sierung und Krise, Wuppertal 1978.

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346 Rudolf Tschirbs

Finally, one can demonstrate that the trade unions' reaction wavered between their insistence on »just wages« and the need for a new course in wage policy which would increasingly take into account various aspects of productivity.

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