die ästhetische entgrenzung des begriffs

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Z. Slaw. 37 (1992) 2, 184-196 Juri) Murasov Die ästhetische Entgrenzuifg des Begriffs Zu V. G. Belinskijs früher Literaturtheorie I Wenn jeder schriftlich-sprachliche Text zwei Ebenen, eine kognitiv-substantielle und eine perfor- mativ-rhetorische, aufweist, dann bietet dieses Modell nicht nur analytische Möglichkeiten, den künstlerischen Text gegenüber dem theoretischen zu profilieren, sondern es läßt sich gleichfalls heranziehen, um die gegenseitige Verschränkung, das unauflösbare Aufeinander-Verwiesen-Sein dieser beiden Textformen zu beschreiben. Der theoretisch-kognitive Text ignoriert um der Verbindlichkeit und Wahrheit seiner Aussagen willen seine mediale Bedingtheit, den rhetorisch-technischen Prozeß der Verschriftlichung, dem er in seinem Bestreben, genau das sagen zu können, was er auch meint, dennoch unentrinnbar unterworfen bleibt. Er stellt sich also blind gegenüber seinen eigenen Möglichkeitsbedingungen und begründet auf eben dieser Blindheit sein Selbstverständnis gegenüber dem künstlerischen Text^ Reziprok zum kognitiven verfährt der künstlerische Text, der stets mehr und anderes meint, als er sagt. Er eröffnet Bedeutungs- und Sinnhorizonte durch die Autonomisierung des rhetorischen, medialen Prozesses, durch die Eigenbewegung der Signifikanten. Die für jeden sprachlichen Kommunikations- und Verstehensprozeß unverzichtbare verläßliche und stabile Bindung des Bezeichnenden an das Bezeichnete wird suspendiert. Beide Textformen stehen somit in einer komplementären Beziehung zueinander. Die eine Textform ergänzt die jeweils andere; gegenseitig kompensieren sie ihre jeweiligen (für ihr Selbstverständnis aber stets konstitutiven) Defizite. Sie verhalten sich zueinander wie zwei Seiten einer Medaille: Sie schließen sich aus, um sich gleichzeitig wechselseitig zu bedingen. Dies aber bedeutet, daß die für die jeweilige Textform konstitutive Dominanz des rhetorischen oder kognitiven Prozesses niemals den im Medium von Sprache und Schrift liegenden Gegensatz zu neutralisieren und die Differenz zwischen Sagen und Meinen, zwischen Signifikant und Signifikat aufzuheben vermag. Die Binnenstruktur der beiden Textformen bleibt einem heterogenen Kräftespiel unterworfen. Ihr Unterschied besteht lediglich in der Ausgangsposition, von der aus der Text jeweils sein Spiel gegen sich selbst, gegen die ihm eigene strukturelle Beschränkung spielt. Vor diesem Hintergrund wäre es durchaus denkbar, daß literarische Epochen (oder auch „Kulturtypen" oder sogar individuelle Textkorpora) sich über ihre jeweilige Beziehung zu Text und Sprache, über ihr jeweiliges Zeichenbewußtsein^ hinaus auch durch ihre spezifische Struktur der Verflechtung von künstlerischem und theoretischem Text beschreiben und typologisieren lassen. Besonders augenfällig ist die Verschränkung von theoretischem und künstlerischem Text in der russischen Moderne, wie z. B. im russischen Symbolismus, wo die Grenzen zwischen den Systemen Kunst und Religion, Philosophie und Wissenschaft, Werk und Leben etc. ständig ver- ' vgl. dazu die grundlegende Arbeit von J. Derrida, Grammatologie, Frankfurt a. M. 1974. ^ vgl. dazu K). JloTMaH, K npo6jieMe xHnonorHH Kynbxypbi, in: Tpyabi no 3HaK0BHM cHcxeMaM III, Tapry 1967, S. 30-38, sowie ders., Das Problem des Zeichens und des Zeichensystems und die Typologie der russischen Kultur des 11.-19. Jahrhunderts, in: ders., Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, Kronberg/Ts. 1974; oder auch H. CMHpHOB, XyfloacecTBeHHbifi CMblCJi H 3B0JiiouHa noaxHHecKHx cHcxeM, MocKBa 1977. Brought to you by | Johns Hopkins University Authenticated | 128.220.68.44 Download Date | 4/13/14 11:39 PM

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Z. Slaw. 37 (1992) 2, 184-196

Juri) M u r a s o v

Die ästhetische Entgrenzuifg des Begriffs

Zu V. G. Belinskijs früher Literaturtheorie

I

Wenn jeder schriftlich-sprachliche Text zwei Ebenen, eine kognitiv-substantielle und eine perfor-mativ-rhetorische, aufweist, dann bietet dieses Modell nicht nur analytische Möglichkeiten, den künstlerischen Text gegenüber dem theoretischen zu profilieren, sondern es läßt sich gleichfalls heranziehen, um die gegenseitige Verschränkung, das unauflösbare Aufeinander-Verwiesen-Sein dieser beiden Textformen zu beschreiben.

Der theoretisch-kognitive Text ignoriert um der Verbindlichkeit und Wahrheit seiner Aussagen willen seine mediale Bedingtheit, den rhetorisch-technischen Prozeß der Verschriftlichung, dem er in seinem Bestreben, genau das sagen zu können, was er auch meint, dennoch unentrinnbar unterworfen bleibt. Er stellt sich also blind gegenüber seinen eigenen Möglichkeitsbedingungen und begründet auf eben dieser Blindheit sein Selbstverständnis gegenüber dem künstlerischen Text^ Reziprok zum kognitiven verfährt der künstlerische Text, der stets mehr und anderes meint, als er sagt. Er eröffnet Bedeutungs- und Sinnhorizonte durch die Autonomisierung des rhetorischen, medialen Prozesses, durch die Eigenbewegung der Signifikanten. Die für jeden sprachlichen Kommunikations- und Verstehensprozeß unverzichtbare verläßliche und stabile Bindung des Bezeichnenden an das Bezeichnete wird suspendiert. Beide Textformen stehen somit in einer komplementären Beziehung zueinander. Die eine Textform ergänzt die jeweils andere; gegenseitig kompensieren sie ihre jeweiligen (für ihr Selbstverständnis aber stets konstitutiven) Defizite. Sie verhalten sich zueinander wie zwei Seiten einer Medaille: Sie schließen sich aus, um sich gleichzeitig wechselseitig zu bedingen. Dies aber bedeutet, daß die für die jeweilige Textform konstitutive Dominanz des rhetorischen oder kognitiven Prozesses niemals den im Medium von Sprache und Schrift liegenden Gegensatz zu neutralisieren und die Differenz zwischen Sagen und Meinen, zwischen Signifikant und Signifikat aufzuheben vermag. Die Binnenstruktur der beiden Textformen bleibt einem heterogenen Kräftespiel unterworfen. Ihr Unterschied besteht lediglich in der Ausgangsposition, von der aus der Text jeweils sein Spiel gegen sich selbst, gegen die ihm eigene strukturelle Beschränkung spielt.

Vor diesem Hintergrund wäre es durchaus denkbar, daß literarische Epochen (oder auch „Kulturtypen" oder sogar individuelle Textkorpora) sich über ihre jeweilige Beziehung zu Text und Sprache, über ihr jeweiliges Zeichenbewußtsein^ hinaus auch durch ihre spezifische Struktur der Verflechtung von künstlerischem und theoretischem Text beschreiben und typologisieren lassen. Besonders augenfällig ist die Verschränkung von theoretischem und künstlerischem Text in der russischen Moderne, wie z. B. im russischen Symbolismus, wo die Grenzen zwischen den Systemen Kunst und Religion, Philosophie und Wissenschaft, Werk und Leben etc. ständig ver-

' vgl. dazu die grundlegende Arbeit von J. Derrida, Grammatologie, Frankfurt a. M. 1974. ^ vgl. dazu K). JloTMaH, K npo6jieMe xHnonorHH Kynbxypbi, in: Tpyabi no 3HaK0BHM cHcxeMaM III,

Tapry 1967, S. 30-38, sowie ders., Das Problem des Zeichens und des Zeichensystems und die Typologie der russischen Kultur des 11.-19. Jahrhunderts, in: ders., Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, Kronberg/Ts. 1974; oder auch H. CMHpHOB, XyfloacecTBeHHbifi CMblCJi H 3B0JiiouHa noaxHHecKHx cHcxeM, MocKBa 1977.

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schoben und transzendiert werden und wo die Dichtung abstrakte Kunst- und Kulturtheorien „inszeniert" und umgekehrt Theorien durch poetische Schreibverfahren ästhetisch unterlaufen werden' . Nicht minder offensichtlich, aber in der Forschung bislang nicht beachtet sind textuelle Interferenzphänomene im beginnenden und frühen 19. Jahrhundert: so z. B. bei Karamzin, bei dem die (zunächst auf der Verknüpfung der Stil- mit der Selbsterkenntnisproblematik basierende) Suche nach Formen literarischer Erzählprosa in extensive Geschichtsschreibung einmündet oder in Odoevskijs philosophisch-literarischem Erzählzyklus „PycCKHe HOHH" oder schließlich auch bei Gogol', dessen literarisch-künstlerisches Werk nur einen schmalen Ausschnitt aus seinem schriftstellerischen Gesamtoeuvre darstellt und fast wie ein Intermezzo anmutet, eingerahmt von Studien zur „Allgemeinen Geschichte" einerseits und moraltheologischen und exegetischen Texten zur Kirchenväterliteratur andererseits. Die offensichtliche Instabilität der Grenze zwischen künstlerischem und theoretischem Text, die man in Rußland im frühen 19. Jahrhundert feststellen kann, resultiert aus der spezifischen Kultursituation Rußlands''. Der Gültigkeitsverlust der universalistischen Kulturkonzepte des russischen „npoCBemCHHe" des 18. Jahrhunderts und die Frage nach autochthon russischen For-men kultureller Selbstvergewisserung hatten zunächst nur zur bestürzenden Einsicht geführt, daß gerade die entscheidenden Instanzen kultureller Selbstvergewisserung (Literatur, Kunst und die damit in enger Beziehung stehenden Theoriebereiche Poetik, Ästhetik, Philosophie etc.) auf west-europäischen Ansätzen und Vorgaben gegründet sind und daß also eben das, was die Auto-chthonie einer nationalen Kultur zu spiegeln und zu verbürgen hat, höchstgradig allochthon ist^. Für die Literatur- und Theorieentwicklung in Rußland ergibt sich daraus eine vertrackte und letztlich schizoide Situation: Sie muß einerseits um der Idee der kulturellen Autochthonie willen das Fremde negieren, bedarf aber andererseits des Fremden weiterhin als Materialbasis für die Modellierung autochthoner Formen kultureller Selbstvergewisserung — und jetzt mit dem zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmenden Bedürfnis an kultureller Selbstreflexion erst recht' . Diese vertrackte Situation ist damit weit mehr als nur ein Problem, das in der Feststellung, Ruß-land habe keine eigenständige Literatur, oder in dem Topos der „HapOAHOCTb" fokussiert er-scheint und von den Dichtern und Theoretikern auf jeweils unterschiedliche Weise als Thema bedacht und diskutiert wird. Als Suche nach autochthon russischen Formen kultureller Selbstver-gewisserung hat sie gleichzeitig eine medial-rhetorische Dimension. Sie vermag somit beide Grundkoordinaten eines schriftlichen Textes zu erfassen und einzugreifen in dessen inneres

' vgl. A. Hansen-Löve, Zur Mythopoetik des russischen Symbolismus, in: W. Schmid (ed.), Mythos in der Slawischen Moderne, Wien 1987 (= Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 20), S. 61-104, hier S. 61 f.

'' Das Interferieren von theoretisch-begrifflichen und künstlerischen Schreibverfahren zu Beginn des 19. Jahr-hunderts in Rußland läßt sich aber mit der fast gleichzeitigen „Poetisierung der Wissenschaften" in der deutschen Romantik kaum vergleichen, denn die jeweiligen Voraussetzungen sind grundverschieden: In Deutschland ist das ästhetisch-literarische System ebenso wie das theoretisch-philosophische (wie auch das Gesamtsystem der Wissenschaften) in hohem Maße ausdifferenziert, in Rußland hingegen kann davon be-kanntlich nicht die Rede sein.

^ vgl. entsprechende Einsichten bei so unterschiedlichen Autoren wie A. F. Merz l j akov (z.B. A. 4>. MepsjiaKOB, PaacyaKfleHHe o POCCHHCKOHcjioBecHOCTH B HtiHeiuHeMee cocToaHHH, in: TpyAti o6.-Ba j(K)5HTEJIEH POCCHHCKOH CNOBECHOCTH, I, MocKBa 1812) und D. V. Venev i t inov (z. B.

B. BeHeBHTHHOB, O cocTOflHHH npocBemeHHS B PoccHH, in: ders., H36paHHoe, MOCKBE 1956, S, 209-213).

' Diese für die russische Kultur so zentrale Problematik „das Eigene/das Fremde" untersuchen im Zusammen-hang mit d e m Sprachenstre i t K) . J I o T M a H - B . A . VcneHCKHft , C n o p t i o asbiKe B Hanajie X I X B. KaK (i)aKT pyccKOH Kyjibxypw, in: Tpyabi no pyccKOH H cjiaBaHCKoii (})HJIOJIORHH 24 (V neHbie sanncKH TFV, 358). Tapry 1975, S. 168-253; hier S. 200-222.

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Kräftespiel zwischen kognitiv-substantiellen und rhetorisch-medialen Prozessen. Auf diese Weise werden in dieser schizoiden kulturellen Situation zwischen Allo- und Autochthonie die Grenzen zwischen theoretisch-begrifflichen und künstlerischen Schreibverfahren notorisch instabil. Ein herausragendes Beispiel dafür ist Belinskijs frühe Literaturtheorie und -kritik.

II

Daß in Belinskijs Texten der rhetorisch-formale Prozeß des Sagens und der gedanklich-substan-tielle des Meinens nicht auf eine für theoretisch-begriffliche Texte übliche Weise konvergieren, ist in der Belinskij-Forschung — aus ganz unterschiedlichen Deutungsperspektiven - immer wieder thematisiert worden, allerdings stets als eine Art Defekt der Belinskij sehen Texte, den es zu beheben gilt. Dieser Interpretationsmechanismus läßt sich an drei, voneinander stark abweichen-den, doch für die Forschungslage durchaus symptomatischen Belinskij-Deutungen aufzeigen. Im Kontext seiner Untersuchung „Hegel in Rußland" beschreibt Cizevskij^ den Literaturtheoreti-ker Belinskij als einen Eklektiker und Epigonen, der die philosophischen Ideen und Standpunkte wie Moden schnell und leichtfertig wechselt® und der darüber hinaus, unter dem Produktions-zwang eines professionellen Kritikers stehend, auch keine Zeit findet, die Theoreme und Begriffe westeuropäischer Ästhetik und Philosophie, mit denen er umgeht, eingehend zu studieren, um sie dann systematisch weiterzuführen'. Allerdings billigt Cizevskij dem russischen Literaturkritiker „literarisches Talent" und „hohe Qualitäten" seiner Sprache zu, spricht ihm aber gleichzeitig jegliche „Feinheit des ästhetischen Empfindens"'" kategorisch ab. Cizevskijs Argumentations-weise legt damit den Schluß nahe, daß Belinskijs Texte zwar durchaus gut formuliert seien, doch kaum einen referentiellen Sinn aufzuweisen haben, — ja daß Belinskij eigentlich selbst nicht so recht versteht, was er da schreibt. Die Entwicklung Belinskijs von Schelling zu Hegel und dann zum philosophischen Materialismus und literarischem Utilitarismus ist für Qzevskijs nur eine weitere Bestätigung dieses vernichtenden Urteils. Denn sie offenbart in ihrem unglücklichen utilitari-

' D. T s c h i z e w s k i j , Hegelin Rußland,in:ders. (Hrsg.), Hegel bei den Slaven, Darmstadt 1961,S. 207-229. - Z u r Kritik der Belinskij-Forschung vgl. auchK. S täd tke , Belinskij und das Ende der,Kunstperiode', in: ders.. Ästhetisches Denken in Rußland. Kultursituation und Literaturkritik, Berlin - Weimar 1978, S. 146-176; hier: S. 146-154.

' So schreibt Cizevskij: „Die Eigenschaften, die Belinskij als Kritiker besaß, sind treffend von Ju. Samarin charakterisiert worden: ,von der Zeit, da er Kritiker wurde, stand er immer unter dem Einfluß irgend eines fremden Gedankens.' Seine unglückliche Aufnahmefähigkeit, die Fähigkeit, leicht und oberflächlich zu verstehen, schnell und entschieden seine gestrige Denkart abzuleugnen, sich für das Neue zu begeistern und dieses Neue auf die Spitze zu treiben, hat ihn in ständiger Aufregung gehalten, die endlich zu seinem Normalzustand wurde und der I^twicklung seiner Begabung im Wege stand. Selbstredend ist die Über-nahme (fremder Gedanken! - D. C.) nicht nur eine harmlose, sondern auch notwendige Sache; schlimm war nur, daß ein Gedanke, den Belinskij übernahm, mochte er sich ihm auch aufrichtig und leidenschaftlich hingeben, ihm doch immer fremd blieb: Er hatte keine Zeit, diese Gedanken zu seinem Eigentum zu machen, sie sich tief anzueignen, eignete sie sich aber leider doch in solchem Maße an, daß er kein Bedürfnis hatte, selbständig zu denken. Daraus erklärt sich auch die ungeheure Leichtigkeit, mit der er seine Standpunkte wechselte, weil der Grund des Wechsels nicht in ihm, sondern außerhalb seiner lag." (D. T s c h i z e w s k i j , a. a. O., S. 207 f.).

' Cizevskij: „Auch die Art der schriftstellerischen Tätigkeit Belinskijs gestattete ihm kaum, zu einer ab-schließenden Darstellung seines Gedankensystems - wenn er ein solches besessen hätte - zu kommen: fast immer in großer Not, unter dem Druck von Herausgebern von Zeitschriften, an welchen er mitarbeitet, war er gezwungen neben den größeren Artikeln, die er mit Begeisterung schrieb. Hunderte von Notizen und Besprechungen von laufenden Neuigkeiten - sogar von medizinischen Werken - abzufassen." (ebd., S. 209) ebd., S. 207.

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stisch-unkünstlerischen Ende das von Anfang an vorliegende Mißverständnis zwischen Belinskij und der deutschen idealistischen Ästhetik und Philosophie". Ganz anders sieht dies A. Lavreckij in seiner Monographie^^. Er ist davon überzeugt, daß sich Belinskij souverän auf der Höhe der ästhetischen und philosophischen Diskussionen des zeitge-nössischen Europas bewegt und aus einer kritischen Bilanz dieser Auseinandersetzungen seine originäre Realismustheorie entfaltet". Auch bei Lavreckij wird dabei die Entwicklung des Lite-raturkritikers als ein besonders evidenter Beleg herangezogen. Von Anfang an deutet sich nämlich in der Eigenart von Belinskijs Theorierezeption schon das materialistisch-realistische Spätkonzept an, das in den frühen Arbeiten lediglich unter einem idealistischen Begriffsgewand verborgen l iegt". Die Belinskij-Interpretationen von Cizevskij und Lavreckij stehen in einer spiegelbildlichen Bezie-hung zueinander: Sie gründen sich auf denselben Dichotomien, argumentieren aber auf diametral entgegengesetzte ideologische Bekenntnisse hin. Beide Autoren gehen dabei von einer in den Texten Belinskijs zu beobachtenden Kluft zwischen substantiell-inhaltlicher Aussage und sprach-lich-begrifflichem Ausdruck aus, — einer Kluft, in der sie dann ganz gegensätzliche ideologische Bekenntnisse plazieren, sie damit gleichsam ideologisch „auffüllen" und so diesen vermeintlich gravierenden Makel der Belinskijschen Texte beheben. Sigurd Fastings Monographie" ist ein Beispiel für die neuere Forschung, die versucht, jenseits ideologischer Präsumtionen wissenschaftlich neutral zu argumentieren Fasting geht es darum , „einen Beitrag zur inneren Geschichte der Literaturtheorie Belinskijs zu liefern". Seine Monographie will „Begriffe untersuchen, die dieser Theorie zugrunde liegen, und zeigen, wie diese Begriffe die Theorie strukturieren"'^. Den Aufbau von Belinskijs Theorie er-mittelt Fasting vornehmlich über ihre ästhetischen und philosophischen Prätexte und durch die

" Hier schließt sich Cizevskij J. Eichenwald an, den er mit folgender Passage zitiert; „Ich begrüße die philoso-phischen Bestrebungen Belinskijs, aber wenn ich daran denke, daß eine gewöhnliche und natürliche Ent-wicklung einen Menschen von der materialistischen Jugend, vom naiven Utilitarismus eines Gymnasiasten weg, weiter und höher führt und daß Belinskij gegen die Vernunft und gegen die Natur einen umgekehrten Weg durchgemacht hat und die Wahrheit des tiefen Gedankens verloren hat, die er schon vom deutschen Idealismus empfangen hatte ..., dann ist es mir unmöglich, den organischen Charakter seiner Entwicklung anzuerkennen und sehe in ihm immer deutlicher nur einen Apostaten". Cizevskij verschärft dieses Urteil, in dem er noch hinzufügt: „Wir glauben, daß Belinskij nur deswegen die ,Wahrheit des tiefen Gedankens' so leicht verlieren konnte, weü er sie nie selbst erworben, sondern immer nur von den anderen passiv empfan-gen, und sie sich dazu auch nicht ganz innerlich angeeignet hatte", (ebd. a. a. O., S. 229)

" A . JlaBpeuKHH, 3cTeTHKa BejiHHCKoro, MocKBa 1959. " vgl. z. B.: „PaapaGoTaHHaH BCJIHHCKHM Teopna pea:iH3Ma aBHJiacb BejiHKHM BKjiaÄOM B pyccxyio

H MHPOBOK) 3CTeTHKy." (ebd., 5), sowie: „Meacfly HfleajiHCXHiecKHMH h SMnHpHHecKHMH njin ByjibrapHO-MaxepHajiHCTHHecKHMH B033peHHaMH Ha cymnocxb HCKyccxBa H K0jie6.jiioxca sanaflKoeBponeHCKaa acxexHKa h KpnxHKa XIX Bexa, xo cxanoBacb na oflHy h3 3XHX XOTBK spcHHa, xo nwxaacb MexaHmecKH, coeflHHHXb HX. B KOHueniiHH BejiHHCKoro npeoflOMHW xe npoxHBopeHHfl, Koxopbie xapaKxepHbi KaK fljia HaeajiHCXHHecKoä, xaK h «na SNUiMpHiecKOH XOHKH 3peHHa.... Biviecxe c xeM, Bce HMnoHHpyiomHe Ka«iecxBa npefliuecxBeHHHKOB, rjiy5HHa h mnpoxa HX MHCJIH, coxpaHeHbi B Hacxo cxonb npoxHBonojioacHHX HM Hfleax spenoro BeuHHCKoro." (ebd., S. 363) vgl. z. B.: „He coflepacaHHe, a jinnib 4)opMa acxexHHecKoro MumneHHa BejiHHCKoro Morna 6bixb B H3BecxHbie HepHOflbi HfleajiHCXHiecKOH. ... B xoM nepHGÄe pasBHXHa BejiHHCKoro, KoxopbiH oöbiHHO CHHxaiox HCKJiioHHxejibHO HfleajiHCXHiecKHM, MoacHo H flonacHO oÖHapyacHXb MaxepHa.nHCXHHecKHe xeHfleHHHH BO BCCH HX npeoflOJieBaiomeH HflcajiHSM CHjie." (ebd., S. 16) Wieder-holt spricht Lavreckij davon, daß bei Belinskij die materialistische Theorie von einer „idealistischen Phraseo-logie" kaschiert sei. (vgl. ebd., S. 42 oder 293) S. Fast ing, V. G. Behnskij, Die Entwicklung seiner Literaturtheorie, Bd. I (Die Wirklichkeit ein Ideal), Bergen - Oslo - Tromso 1972.

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Analyse des Rezeptionsvorgangs. Leitendes Kriterium ist dabei das der Adäquatheit im Hinblick auf die Quellentexte. Mit diesem Kriterium neigt dann Fasting allerdings dazu, Belinskijs Texte auf eine ganz spezifische Weise zu präparieren. Ein Bestand an Aussagen und Begriffen wird — gemessen an den Quellen - als „inkonsequent", „unbestimmt", „unklar", oder als „unverständ-lich"'® und somit für die Interpretation als irrelevant ausgesondert. Mit einer solchen Ausgren-zung verwandelt Fasting diese Aussagen und Begriffe zu inhaltsleeren Sprachfiguren, zum reinen Ausdruck, dem der übrige Text als substantieller Inhalt und als das eigentlich von Belinskij Gemeinte gegenübersteht. Damit aber kehrt die von Cizevskij und Lavreckij in den Texten Belin-skijs angenommene Kluft von Meinen und Sagen auch in Fastings Untersuchung wieder - hier nun allerdings durch die Instanz der Quellentexte beglaubigt.

Diese Differenz von Gesagtem und Gemeintem wäre für Fasting sicherlich nicht beunruhigend gewesen, wenn es sich bei Belinskij um literarische Texte handeln würde. Anders aber verhält es sich offenbar bei literaturtheoretischen, also primär kognitiven Texten, von denen die herkömm-liche Forschung begriffliche und argumentative Konsistenz und vor allem einen intentionalen Fixpunkt erwartet, auf den hin der rhetorische Prozeß des Sagens und der gedanklich-substantielle des Meinens zusammenlaufen. Diese Erwartung ist es, die Fastings Interpretationsstrategie steuert und ihn zwingt, einen Teil des Textes als bedeutungslos-unverständlich auszugrenzen, um zu verhindern, daß dieser den übrigen Text infiziert und dessen vermeintlich gesichertes Verständnis gefährdet. Damit reagiert Fasting letzdich ganz analog zu Cizevskij und Lavreckij: das Auseinan-derdriften von Signifikat und Signifikant erscheint als ein von der Interpretation zu behebender Defekt des Belinskij sehen Textes.

Im folgenden soll nun ein Lektüreansatz vorgeschlagen werden, der nicht auf eine vorschnelle Weise auf Einstimmigkeit von Gesagtem und Gemeintem drängt und diese da erzwingt, wo heterogene Kräfte wirken und wo sich möglicherweise ästhetische und begrifflich-reflektierende Schreibweisen gegenseitig durchkreuzen und überlagern, - ein Lektüreansatz also, der die Mög-lichkeit in Betracht zieht, daß sich der „Sinn" von Belinskijs Texten - ähnlich wie in künstlerisch-literarischen Texten — erst im Verlauf eines Prozesses einstellt, der die Differenzen und die gegen-läufig-dekonstruktive Bewegung von Sagen und Meinen nachvollzieht und reflektiert. Ein solches Leseexperiment von Belinskijs Literaturtheorie und -kritik erfolgt anhand von Ausschnitten aus den Texten „JlHxepaTypHbie MeHxaHHa" (1834) und „O pyccKOÖ noBecxH H nosecTax r . r o r o j i a " (1835).

in

Bereits mit dem ersten großen Aufsatz „JlHTepaxypHbie MCHxaHHH. 3.iierHa B npoae" gelingt es Belinskij, sich als Literaturkritiker zu etablieren - und das, obwohl er seinen Zeitgenossen eigent-lich nichts Neues mitzuteilen hat: der frühromantische Literaturbegriff - Literatur als Symbol

" vgl. vo r allem auch V. T e r r a s , Belinskij and Russian Literary Criticism. The Heritage of Organic Aesth-etics, Wisconsin 1974.

" vgl. S. F a s t i n g , a. a. O., S. 9. " Im Rahmen der ausführlichen Analyse von Belinskijs „Literarische Träumereien" widmet Fasting einen

ganzen Abschnitt den „Inkonsequenzen in Belinskijs Beurteilung der russischen Literatur": vgl. ebd., S. 1 0 1 - 1 0 9 ; wenn Fasting Belinskijs Theorie v o m künstlerischen Schaffen mit entsprechenden Überlegun-gen Schellings vergleicht, gelangt er zu dem Schluß: „In Belinskijs Theorie ist es in der Tat völlig unklar, welche Funktion das ,bewußte Handeln' des Künstlers im Schaffen eigentlich hat." (ebd., S. 131); Oder gemessen an Hegel oder Schelling muß natürlich für Fasting Belinskijs „Auffassung vom ,Leben der ewigen Idee"' als „ziemlich unklar und unbestimmt" erscheinen, (vgl. ebd., S. 297).

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einer nationalen Kultur - und auch die Hauptthese, daß Rußland keine mit westeuropäischen Literaturen vergleichbare, eigenständige Nationalliteratur vorzuweisen habe, waren seit den späten 20er Jahren bereits gängige literaturkritische Topoi . A u f die zum konstanten Problembe-stand der Belinskij-Forschung zählende Frage nach dem innovativen Moment dieses Essays findet Fasting folgende Antwort :

„ D a s Neue seines Aufsatzes besteht ... nicht auf seinen Grundbegri f fen an sich, sondern eben auf dem Versuch, sie zu einer einheitlichen Theorie zusammenzuschmelzen und von dieser Theorie aus die russische Dichtung praktisch-kritisch zu b e w e r t e n " " . Für eine kritische Prüfung dieser Aussage bietet sich an, von einer Passage des Aufsatzes auszu-gehen, in der sich Belinskij selbst ausdrücklich mit dem Problem von Tradition und Innovation beschäftigt. Diese Passage, genauer gesagt, der dritte Artikel der insgesamt zehn nimmt eine Schlüsselposition im Gesamtaufbau des Essays ein: Denn nachdem Belinskij seinen Literatur-begriff expliziert hat (vgl. 1,23 ff.) und bevor er dann auf die Entwicklung der russischen Lite-ratur zu sprechen kommt, nimmt er sich hier noch einmal Zeit, um seine eigene Vorgehensweise vor dem Hintergrund jenes Genres zu bedenken, auf das er sich mit seinem Essay eingelassen hat: des Genres des sog. obozrenie, das ihm aber selbst bereits f ragwürdig erscheint. Seine Skepsis gegenüber der Tradition dieses literaturkritischen Genres legt Belinskij seiner Leserschaft in den Mund:

„ K a K , HTO xaKoe? Heyacejin oöospeHHe?" cnpauiHBaicT Mena HcnyraHHbie HHTaTCJiH. ^ a , MHJiocTHBbie rocyflapH, OHO XOTB H HC COBCBM o5o3peHHe, a noxoace n a TO. HxaK -silence! H o HTO H BHacy? Bbi MopmHxecb, noacHMaexe njicnaMH, BH x o p o M KpHHHxe MHC: „Hex, 6 p a x , c x a p a myxKa - ne H a f l y e m t . . . M t i eme ne 3a6i.iJiH H npeacHHX o5o3peHHH, ox Koxopbix HaM »cyxKO npHxoflHJiocb! MLI, noacajiyfi, nanepef l npcnxcM xeöe HaHsycxb Bce x o , o HCM XBi HaM 6 y a e m b n p o n o B e g o B a x b . Bce 3xo MM H caMH anacM HC xyace xe5a . " ( I ,25 f . ) . E s folgt eine mit viel Verve formulierte Persiflage herkömmlicher Literaturübersichten, bei der Belinskij alle tradierten theoretischen wie historischen Formalisierungsschemata als allesamt der russischen Literatur äußerlich und inadäquat zurückweist: Die spekulativen Versuche, über die Ursprungsfrage einen Begri f f von Literatur zu gewinnen, findet Belinskij ebenso indiskutabel und irrelevant wie den Zugang der vergleichenden Literaturbetrachtung oder wie auch die noch an-haltenden Auseinandersetzungen um das Begriffspaar „KJiacCHi;H3M" - „poManxHSM" (vgl. I,26f.). Implizit stellt er damit die Forderung nach einer rein immanenten, von keinerlei formalisie-render Interpretation getrübten Darstel lungsform. Auf eine solche Weise meint Belinskij, der Ent-wicklung der russischen Literatur - im Unterschied zu den herkömmlichen Literaturübersichten -erstmals wirklich gerecht werden zu können^'. Diese von Belinskij hier verfochtene Haltung, die den Text in seiner unmittelbaren Immanenz zu erfassen sucht, ist freilich nicht unproblematisch; und vor allem stellt sich da sofort die Frage, ob eine solche Ti lgung jeglicher Distanz überhaupt

" S. F a s t i n g , a. a. O., S. 57. Hier und im folgenden bezieht sich die römische Ziffer auf die Band-, die lateinische auf die Seitenzahl der Ausgabe B. F. BenHHCKHH, IIojiHoe co5paHHe coHHHeHHH, MoCKBa 1953-1959. Seine Polemik gegen die bisherigen literarischen Rundschauen schließt Belinskij mit vier „Argumenten" ab, mit denen er sein Publikum zum Weiterlesen bewegen möchte: „Bo-nepBblx: nOTOMy, ITC He XOHy MyHHTb Bac aeBOTOK), OT KOTOPOH, H caM ÄOBOJibHO cxpa^aio. Bo-BTopbix: NOTOMY, qTO He xony inapraxaHHTb, xo ecxt, ROBOPHXB CBbicoKa o XOM, nero ne snaio, a ecuH H SHaio, xo OHCHb C6HBHHBO H HeonpeaeneHHO. B-xpexbHx: noxoMy, HXO Bce 3xo npeKpacHO Ha CBOCM Mecxe, HO K pyccKoä HHxepaxype, npcAMexy Moero o5o3peHHa, HHinano ne OXHOCHXCA: Haaeiocb oxKpbixb .JIAPHHK ropasflo npome. B-nexBepxbix: noxoMy, HXO XBepflO HOMHIO npeMyflpoe npaBHJio 5biBmero namero KPHXHKA, 6jia»ceHHo0 NAMAXH HHKOFLHMA ApHcrapxoBHia HaaoyMKa, HXO m y n o , ANA n e p e e 3 f l a Hepes jiyacy Ha HCJinoKc, pacKJ ia f lb iBaxb n e p e a c o 6 o i o MopcKyio K a p x y . " (I, 28).

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möglich ist — ein Zweifel, den übrigens auch Fr. Nietzsche in einer Charakterisierung dieser Lektürehaltung anmeldet: „ . . . einen Text als Text ablesen zu können, ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen, ist die späteste Form der .inneren Erfahrung', - vielleicht eine kaum mögliche Vieles spricht dafür, daß ähnliche Zweifel sich auch bei Belinskij eingestellt haben müßten. Denn nach dieser Zurückweisung aller herkömmlichen Formalisierungsverfahren besinnt er sich darauf, daß auf Distanznahme wohl nicht ganz zu verzichten sei und daß sich letztlich bei einer solchen unmittelbaren Lektürehaltung das Subjekt im fremden Text verlieren und sich damit als Urheber eines neuen (literaturkritischen) Textes auslöschen würde. Es liegt also in der Möglichkeitsbedin-gung von Belinskij s eigenem Text, des Schreibprozesses selbst, daß hier nun im Gegenzug zu der gerade vertretenen Lektürehaltung das Problem des Standpunktes, der „TOHKa 3peHHa", plötzlich virulent wird und Belinskij sich gezwungen sieht, dieses Problem für sich und seine Leser zu klären: Ä x o n y , HTO5M H H x a x e n H BHfle.iiH, c KaKOH TOMKH apeHHf l C M o x p i o a n a n p e ^ M e x , o K O T o p o M

BH3Baj ICH Cyf lHTb, H BCJICflCTEHC KaKHX npHHHH H n O H H M a i O TO HJIH flpyrOC TaK, a He 3 T a K .

(I,29f.). Wie kann eine solche Standpunktbestimmung jetzt aber überhaupt noch aussehen - vor allem, wenn hier doch zwei, sich gegenseitig ausschließende argumentative Bewegungen vorliegen? Denn einerseits drängt Belinskij um der Wahrhaftigkeit willen auf die Tilgung von distanzieren-den Formalisierungsverfahren, andererseits aber bedeutet Standpunktklärung Distanznahme und Reflexion ihrer Kriterien. In einer solchen aporetischen Konstellation muß somit die Bestimmung der „TOHKa spCHHH" einerseits auf einer Ebene erfolgen, auf der sich alle literaturtheoretischen Distinktionen und analytisch-begrifflichen Vermittlungen aufheben, sie muß also auf einer emi-nent allgemeinen, philosophisch-metaphysischen Ebene vorgenommen werden. Andererseits aber kann Belinskij diesen Abstraktionsschritt nicht begrifflich-argumentativ vollziehen, sondern er muß jetzt im Gegenteil versuchen, diesen Schritt als einen Prozeß der Rückgewinnung von be-griffsfreier Unmittelbarkeit erscheinen zu lassen. Ein solches aporetisches Unterfangen kann aber nur gelingen, wenn Belinskij in seiner Standpunktklärung Sprachgestalt und Inhalt der Rede, Bezeichnendes und Bezeichnetes voneinander abtrennt, wenn er also mit seiner Sprache auf Kon-kretion und Anschaulichkeit drängt, um gleichzeitig etwas in der Endlichkeit prinzipiell nicht Faßbares, nämlich eine metaphysische Idee zu bezeichnen. Diese Aporie kennt nur eine rhetorische Lösung, und diese tendiert zur Figur der Allegorie. Ihr semiotischer Mechanismus gründet sich im Unterschied zum Symbol genau auf dieser differentiellen Beziehung zwischen Gesagtem und Gemeintem, Repräsentation und Repräsentiertem, Bild und Substanz. Das Allegorische bedeutet - nach W. Benjamin - „genau das Nichtsein dessen, was es vorstellt"^^.

Unmittelbar anschließend an die eben zitierte Passage, in der Belinskij die Notwendigkeit, seine „TOHKa speHHa" darzulegen, unterstrichen hat, folgt nun eine lange allegorische Darstellung des in der Tradition der russischen Schellingrezeption stehenden Identitätsgedanken: Becb 5ecnpeae.n:bHi>m n p e K p a c H b i ä 5O»CHH MHP CCTB HC HTO HHOC, KAK FLBIXAHHE CAHHOH,

BCHHOH m e a . . . , n p o H B J i f l i o m e H C H B ö e c H H c n c H H b i x 4 ) o p M a x , KaK B e j i H K o e s p e j i H m e

a ö c o j i i o T H o r o e A H H C T s a B öecKOHCHHOM p a 3 H o o 6 p a 3 H H . TOJIBKO n j i a M C H H o e n y s c x B O

C M e p T H o r o M o a c c T n o c T H r a T i . , B CBOH C B e r n b i e MTHOBCHH«, KaK BCJIKKO TCHO 3TOH a y u i H

Bce j ieHHOH, c e p / m e K O T o p o r o c o c x a B J i a i o T r p O M a ^ H b i e c o j i n q a , acHJibi - n y T H MJieHHbie,

a K p O B b HHCTblH 3(|)Hp. /l^JIA 3T0FI MACH HCT HOKO«: OHa ACHBCT 5 e C n p e C T a H H O , TO eCTb

F. N i e t z s c h e , Gesammelte Werke, München 1924, Bd. 19 (Der Wille zur Macht), S. 12. ^ W. Ben jamin , Gesammelte Schriften, Bd. 1, 1, Frankfurt a. M. 1974, S. 406.

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Ju. MURASOV, Die ästhetische Entgrenzung des Begriffs 191

öecnpecxaHHO XBopHX, HTO6H paspymaxb, H paapyrnaex, ixoöbi XBopnxb. Ona Bonjiomaexca B 6jiecxamee cojiHije, B BejimcojienHyio njianexy, B ÖJiyAamyio KOMexy; ona acHBex H AWIUHT - H B 6ypHi.ix npHJiHBax H oxnasax Mopeä, H B CBHpenoM yparane nycxbiHb, H B luejiecxe nHCXbCB, H B »cypHaHHH pynba, H B pbiKaHHH nbBa, H B cjieae MJIaAeH^a, H B yjibiÖKe Kpacoxbi, H B BOHC HejioBCKa, H B cxpoHHbix co3/iaHHHX RCHHH ... KpyacHxca Kojieco BPCMCHH c 6bicxpoxoK) HcnocxHacHMOK), B 6e35pe3CHbix paBHHHax He5a noxyxarox CBCTHJia, KaK HcxomHBinHecfl ByjiKaHbi, H saacHxaioxcH HOBMC ; na scMjie npoxoflax pOAH H nOKOHeHHH H SaMCHHIOXCfl HOBbIMH, CMCpXb HCXpcGjiaCX »CH3Hb, aCH3Hb yHHHXO»CaeX cMepxb; CHJibi npHpoflbi öopioxca, Bpaac^yiox h yMHpoxBopaioxcH CHJiaMH nocpeflcx-ByiomHMH, H rapMOHHa qapcxByex B 3 X O M BCHHOM öpoaccHHH, B 3 X O H Gopböe Hanaji H BcmecxB. TaK - naea acHBex: M U acHO B H ^ H M 3 X O HaiuHMH ciia6biMH ruasaMH. ( 1 , 3 0 )

Auf diese Weise fährt Belinskij über zwei Seiten fort, von einem Sinnbild zum nächsten eilend, um das zu sagen, wovon eigentlich nicht die Rede ist. Übrigens erklärt sich eben daraus auch die unverhältnismäßige Länge der Passage. Die Etablierung des allegorischen Mechanismus erfordert nicht nur eine gewisse Extension des Textes, sondern die Spezifik dieses Mechanismus beruht gerade auf der Unabschließbarkeit des in sich selbst kreisenden und in dieser Bewegung sich verlierenden Sprachprozesses.

Wo ist aber nun dieser Standpunkt, den zu bestimmen Belinskij unternommen hat, und von dem aus — wie die Forschung behauptet — Belinskij versucht, eine „einheitliche Theorie" zu entwickeln? Dieser Standpunkt kann natürhch weder ausschließlich auf der Seite des Gemeinten noch auf der des Gesagten zu suchen sein, sondern resultiert aus deren Wechselspiel. Belinskij artikuliert seinen Standpunkt — gleichsam virtuell - durch den allegorischen Sprechakt selbst, indem er Gesagtes und Gemeintes auseinanderdriften läßt und damit die Grenze zwischen begrifflicher Theorie und literarischem Text verschiebt. Belinskijs „XOHKa spCHHa", von der aus er die russische Literatur dann darzustellen gedenkt, wird so - ganz analog zum Mechanismus in literarischen Texten -durch die Spezifik des Eingriffs in die für das Medium Sprache konstitutive Beziehung zwischen Ausdruck und Inhalt generiert. Und wenn schließlich nach der langen Passage über die „ewige Idee" Belinskij relativ lapidar auf Kunst und Literatur zu sprechen kommt, dann erscheint seine vorgetragene Kunstanschauung als Selbstbespiegelung und Resümee dessen, was er selbst über Seiten hinweg soeben unternommen hatte.

KaKoe ace Ha3HaHeHHe H KaKaa iieub HCKyccxBa? ... H 3 o 6 p a a c a x b , BocnpoHSBOflHXb B c j i o B e , B 3ByKe, B l e p x a x H KpacKax H/ieio B c e o G m e ö acH3HH npHpoflbi : BOX eflHHaa H Bennaa xcMa HCKyccxBa! IlosxHHecKoe OAymeBneHHe ecxb oxönecK XBopamefi CHUbi npHpoflbi. ( 1 , 3 2 ) ^ ' '

Romantische Kunstanschauung und eigene ästhetische Schreibweise, begriffliches Konzept und innertextuell-rhetorische Realisierung setzen sich hier bei Belinskij gegenseitig voraus und sind untrennbar in einem den Gesamttext umgreifenden selbstreferentiellen Prozeß aufeinander bezo-gen. Belinskij formuliert seinen Standpunkt und stellt ihn gleichzeitig unter Beweis nicht auf der Grundlage von begrifflicher Formalisierung und Argumentation, sondern nach dem Modell eines ästhetischen Textes, - ähnlich einem literarischen Erzähler. Von einem solchen im ästhetischen Diskurs selbst situierten Standpunkt aus vermag Belinskij dann auch den Anspruch zu erheben, die russische Literatur unmittelbar aus ihrer Immanenz heraus und damit erstmals wirklich ange-messen beurteilen zu können. Damit ist Belinskijs „XOHKa 3peHHa" kaum durch diskrete literatur-

^ Belinskijs Ausführungen zur „ewigen Idee" beruhen nicht auf einer begrifflichen, philosophisch-theoreti-schen Argumentation, sondern bilden eine allegorische Darstellung; bei Belinskij selbst handelt es sich also -wie in der Kunst - um ein „H3o6pa»ceHHe" oder „B0cnp0H3BefleHHe B cjiOBe".

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theoretische Bestimmungen faßbar, sie ist vielmehr eine Haltung, die im Text jenseits begrifflicher Distinktion realisiert wird und in die sich Belinskij bei seinem Versuch, eine adäquate und auto-chthon-russische Form der Literaturbetrachtung zu entwickeln und die dann daraus resultierende aporetische Argumentation zu bewältigen, gleichsam „hineinschreibt".

Nun läßt sich auch Belinskijs Darstellung der Entwicklung der russischen Literatur und sein Urteil, daß Rußland keine wahrhaft volkstümliche Literatur besitze, nicht mehr danach beurteilen, wie konsequent oder plausibel hier ein bestimmtes literarhistorisches oder -theoretisches Konzept, eine „einheitliche Theorie" ̂ ^ appliziert wird. Vielmehr strebt Belinskij hier eine ästhetische Über-bietung an. Seine ästhetische Haltung berechtigt ihn dabei zum totalen Vorwurf an die russische Literatur, wahre Volkstümlichkeit, wenn auch in Einzelfällen wie bei Derzavin oder Puskin äußerst knapp, letztlich aber doch verfehlt zu haben (vgl. 1,46-52 bzw. I,72ff.)^''. Gleichzeitig aber wirkt dieses negative Urteil affirmativ auf seinen eigenen Standpunkt zurück und profiliert ihn als den einzig der russischen Nationalkultur gemäßen. Belinskijs prophetischer Blick und seine immer wiederkehrende Überzeugung, eine neue Phase einer autochthon-russischen Literatur und Kultur stehe unmittelbar bevor (vgl. 1,101), wird also durch die ästhetisch geleistete Überbietung im Text selbst verankert und durch diesen selbst verbürgt. In den „Literarischen Träumereien" erscheint das Versprechen von der Zukunft einer autochthon russischen Literatur und Kultur in der Realität des Textes bereits eingelöst.

Daraus ergibt sich eine spezifische Position des Textes im System der Zeit: Der Text expandiert nicht in ein Gestern und Morgen, um die Zeit in einem Raster formal-begrifflicher Bestimmungen stillzustellen und zu überwinden, sondern er liefert sich ihr bedingungslos aus. Er ist wesentlich ereignishaft und — wie die Zeit selbst - flüchtig^'. Denn angesiedelt auf der Schwelle zu der neuen literarhistorischen Phase der „HapOAHOCTb", drängt der Text auf die Erfüllung seiner Prophetie und damit auf seine Bestätigung ebenso wie auf seine Revision. Und tatsächlich: bereits nach einem Jahr „entdeckt" Belinskij den Schriftsteller Nikolaj Gogol' als Leitfigur der vorhergesehenen und durch den Text der „literarischen Träumereien" bereits vorweggenommenen autochthon-russi-schen Literatur und Kultur und feiert ihn nun mit dem umfangreichen Aufsatz „O pyccKOH noBecTH H noBecTf lx r . r o r o j i a " .

Mit der Entdeckung Gogol's als Leitfigur einer neuen „volkstümlichen" Epoche der russischen Literatur bestätigt und erfüllt zwar Belinskij seine „Literarischen Träumereien", doch deren tex-tuelles Konzept, mit dem er versucht hatte, die Allochthonie der russischen Literatur und Kultur zu überwinden, ist nun unter diesen neuen - von Belinskij freilich selbst produzierten — Bedingun-gen in Frage gestellt. Läßt sich Belinskijs ästhetische Haltung, die er für sich als Theoretiker in Anspruch nimmt, gegenüber der eines nun anerkannten russischen Dichters jetzt überhaupt noch profilieren? Muß er nicht diese Haltung aufgeben und sie nun an die von ihm entdeckte neue literarische Leitfigur abtreten?

^̂ So S. F a s t i n g , a. a. O., S. 57. ^ Bezeichnend ist auch, wie Belinskij diese beiden für ihn - neben Kry lov und Griboedov - herausragenden

Dichter der russischen Literatur gegeneinander ausspielt: Während bei Derzavin nach Belinskij wesentlich Unbildung und „HeBeaceCTBo" (vgl. I, 50) die Authentizität seiner Dichtung begründen, hält er Puskin einen Mangel an „HeMciiKO-xyÄoacecTBeHHoe BOcnHTaHHe" (vgl. I, 72) vor.

" Überhaupt läßt sich auch die Tendenz feststellen, daß der Text seinen eigenen Schriftcharakter nicht akzep-tiert, ihn zu negieren versucht, zugunsten einer Orientierung am verbalen Sprechakt. Im Laufe der Entwick-lung Belinskijs scheint sich der Schwerpunkt dann allerdings zu verlagern hin zu einer Orientierung an der Schrifdichkeit. Eine analoge Tendenz läßt sich im Werk G o g o r s feststellen und an der Entfaltung des Motivbereichs Schrift/Schreiben/Abschreiben darstellen. (Unter diesem Aspekt wäre Gogol's Erzählung „Der Mantel" als metapoetischer Text zu untersuchen.)

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Ju. MURASOV, Die ästhetische Entgrenzung des Begriffs 193

A u f den ersten Blick scheint Belinskij tatsächlich diese Konsequenz zu ziehen. Denn in seinem Gogol ' -Aufsa tz bemüht er nun ein ganzes Arsenal herkömmlicher Uteraturtheoretischer Begriff-lichkeit und scheint sich also damit gerade auf jene Formalisierungen einzulassen, die er noch vor einem Jahr systematisch unterlaufen hatte. So beginnt er seinen Gogol ' -Aufsa tz mit theoretischen Ausführungen über zwei dichterische Grundformen, die „reale" und „ ideale" Dichtung. Offenbar unter dem Eindruck der deutschen Ästhetik, möglicherweise sogar unter dem von Schillers „na iver" und „sentimentalischer" Dichtung^' trifft Belinskij folgende Unterscheidung: n 0 3 3 H H A B y M H , T a K C K a s a T b , C n 0 C 0 6 a M H o 6 l . e M J i e T H B O C n p O H S B O f l H T HBJieHHH »CH3HH. 3 T H

c n o c o Ö M n p o T H B o n o j i o a c H M OOTH a p y r o M y , XOTH B c a y T K o f lHOH n e j i H . r i o a x HJIH

nepeco3flaeT »CH3Hb n o coöcxBeHHOMy Hfleany, saBHcameMy ox o 6 p a 3 a e r o B033peHHa Ha B c m H , o x e r o o x H o m e H H H K M H p y , K BCKy H H a p o a y , B K o x o p o M OH a c H B e x , HJIH

B 0 C n p 0 H 3 B 0 a H X 6 6 BO BC6H 6 6 H a r O X 6 H HCXHH6, OCXaBaHCb B 6 p 6 H BC6M HOflpOÖHOCXHM,

K p a C K a M H O X X e H K a M 6 6 aeHCXBHX6.HbHOCXH. I l o a X O M y n 0 3 3 H I 0 MOACHO p a 3 f l 6 : i H X b H a A B a ,

x a K C K a 3 a x b , 0 X A 6 J i a - n a udea/ibnyw u peaAbHym. ( 1 , 2 6 2 )

Bezeichnenderweise aber bleibt nun diese von Behnskij ausführlich vorgetragene Unterscheidung (vgl. 1,262-270) nahezu funktionslos für den Argumentat ionsgang des gesamten übrigen Auf-satzes. Für die Darstellung der Entwicklung der russischen Erzählung hat diese Unterscheidung keine Bedeutung: Bei Marlinskij, den Belinskij ausführlich behandelt, wird polemisch festgestellt, daß dessen Prosa so schlecht sei, daß sie weder der „realen" noch der „ idealen" Dichtung zuzurech-nen sei (vgl. 1,273); bei Odoevski j entdeckt er sowohl „ ideale" als auch „reale" Elemente (vgl. 1,276), bei Pogodin , Polevoj und Pavlov taucht schheßlich die Unterscheidung explizit nicht mehr auf Zwar repräsentiert dann für die Gegenwart G o g o l ' die „reale" Dichtung, doch einen „idealen" Dichter vermag Belinskij in der gesamten russischen Literatur nicht zu entdecken, — formuliert aber trotzdem dessen zukünftige Aufgabe :

... y H6ro 6cx6CXBeHHOcxb, rapMOHHH c 3aK0HaMH fl6HCXBHX6JibH0CXH - fl6Jio nocxopoHH6e; B xaKOM cjiyiae OH KaK 5bi 3apaH66 ycjioBjiHBaexca, floroBapHsaexca c HHxax6JieM, Hxo6bi XOX B6PHII CMy Ha C.IIOBO H HCKaJI B 6R0 C03flaHHH HH aCH3HH, a MblCHH. MbICJIb - BOX np6flMex e r o B f l 0 X H 0 B 6 H H a . ( 1 , 2 6 8 )

Damit ist die Unterscheidung von „idealer" und „realer" Dichtung auf eine signifikante Weise asymmetrisch und funktioniert offensichtlich nicht nach dem Muster herkömmlicher begrifflicher Formalisierung. Funktion erlangt sie erst, wenn man sie vor dem Hintergrund der selbstreferen-tiellen Prozesse der „Literarischen Träumereien" betrachtet. Dann markiert sie nämlich jenes entscheidende Moment , durch das sich Belinskijs eigene ästhetische Haltung von der des Dichters G o g o l ' unterscheiden läßt: nämlich durch das Objekt der „Inspirat ion" („BflOXHOBCHHe"). Wäh-rend der „reale" Dichter v o m mimetischen Nachvol lzug der Wirklichkeit ausgeht, um diese zu poetisieren, geht Belinskij, entsprechend dem „idealen" Dichter, von der gedanklichen Welt aus, von der Theorie, deren begrifflich-diskursiven Rahmen er dann ästhetisch transzendiert. Diese

^ Allgemein wird hier natürlich F. Schillers Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung" als hauptsächliche Quelle angegeben; so auch bei S. F a s t i n g , a. a. O., S. 117, oder auch bei V. Ter ra s , a. ä. O., S. 53. Doch bleibt unberücksichtigt, wie Belinskij Schillers Unterscheidung, indem er sie auf Gogol's Dichtung anwendet, in das genaue Gegenteil verkehrt: Schiller bezeichnet den „sentimentalischen" Dichter als „Idealisten", der nach „Darstellung des Ideals" strebt und den „naiven" als „Realisten", der sich um „mögüchst vollständige Nachahmung des Wirklichen" bemüht (vgl. F. Schi l ler , Werke in fünf Bän-den, Weimar 1958, Bd. 1, S. 319). Der grundlegende Unterschied zwischen Belinskij und Schiller liegt aber darin, daß für Belinskij die stark satirische Dichtung Gogol's „reale" Dichtung ist, nach Schiller hingegen jede Satire, sowohl „scherzende" wie „pathetische", „sentimentalisch" sein muß. Ebenso ist für letzteren die antike Dichtung „naiv" (vgl. ebd., S. 324), diese aber rechnet Belinskij zur „idealen" Dichtung.

13 Z. Slawistik, Bd. 37 (1992) 2

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beiden zueinander reziproken Formen ästhetischer Inspiration stellen also zunächst kein deskripti-ves Konzept dar, das Ordnung in die Vielfalt literarhistorischer Erscheinungen zu bringen ver-sucht, sondern sie modellieren vielmehr die Beziehung des Literartheoretikers zu seinem Gegen-stand: Sie gestatten es Belinskij, seine „TOHKa speHHH" neu zu bestimmen, seine eigene ästhetische Haltung gegenüber der Gogol 's zu definieren und damit weiter aufrechtzuerhalten. Dieses ästhetische Inspirationskonzept der „idealen" Dichtung liegt dann auch Belinskijs ver-meintlicher Analyse von Gogol 's Erzählungen zugrunde, dessen Grundprinzip eine Art Überset-zung oder Umschrift darstellt von Gogol 's „realer" Dichtung in die „ideale" Dichtung des lite-raturkritischen Textes. Belinskij geht von einer Reihe mehr oder minder der poetologischen Tradition entstammenden Begriffe aus, wie z. B. „BHMMCJl" (vgl. 1,290 ff.), „COBepuiCHHaH HCTHHa » C H S H h " (vgl. I,292ff.) oder „ K 0 M H 3 m " (vgl. 1,298 ff.). Diese wendet er auf die Erzählun-gen an, um - wie er ausdrücklich erklärt - die Spezifik von Gogol 's Dichtung zu bestimmen. Doch argumentiert er dann nicht distinktiv, um zu zeigen, wie dessen literarische Texte gerade unter diese und nicht andere Begriffe zu fassen sind. Vielmehr dienen ihm diese nur als partikulare Blickpunkte, von denen er jeweils ausgeht, um dann die Perspektive auf die Vergegenwärtigung einer totalen Bedeutungs- und Lebensfülle des literarischen Textes hin zu öffnen. Bei jedem Merk-mal oder Begriff gelangt er zum gleichen Ergebnis, daß sich nämlich in Gogol 's Texten das Leben in seiner Totalität zeige^'. Der gesetzte begriffiich-argumentative Interpretationsrahmen wird damit von einer immer wieder evozierten Bedeutungsfülle der Gogol'schen Erzählungen über-wuchert; im permanenten Bezug auf das Ganze werden begriffliche Distinktionen unterlaufen und aufgehoben. Auf diese Weise durchziehen zwei gegenläufige Tendenzen Belinskijs Text: einerseits die Tendenz zur begrifflich-analytischen Zerlegung von Gogol 's Erzählungen nach bestimmten Merkmalen, andererseits die Tendenz zur begriffslosen Vergegenwärtigung ihrer ästhetischen Authentizität. Gerade mit letzterer Tendenz hängt auch Belinskijs Neigung zu umfangreichen Paraphrasen und Zitaten zusammen — als ein Versuch, die ästhetische Authentizität von Gogol 's Erzählungen in seinen eigenen literaturkritischen Text hineinzuholen und sie hier dem Leser ein zweites Mal zu präsentieren. Unter diesem Aspekt tendiert seine Literaturkritik zur Verdopplung des literarischen Primärtextes in einem totalen Zitat:

E c j i h 5b i h B3f lyMaji BBinHCbiBaxb Bce M e c r a , flOKastiBaiomHe, h t o r . F o r o j i b yj ioBHji h a c i o onHCbiBaeMOH acH3HH H BepHO BOcnpoHSBCJi ee , x o m h c npHui J iocb ö b i c n H c a T b n o q x H B c e e r o nOBeCTH, OT CHOBa flO CHOBa. (1,295; Hervorhebung - Ju. Nicht nur in dieser Hinsicht ähnelt Belinskijs üteraturkritisches Verfahren dem Metier der Schrei-ber und Kopisten, das später Gogol ' in der Figur des Kollegienassessors Akakij Akakievic sati-risch gestalten wird. Wie für Gogol 's Akakij Akakievic geht es dabei auch für Belinskij natürlich um mehr als nur um ein mechanistisches Reproduzieren des fremden Textes. Denn indem Belinskij mit diesem Verfahren seine eigene begriffliche Argumentation überlagert, durchkreuzt und immer wieder aufhebt, verliert die literaturtheoretische Begrifflichkeit an Kontur und geht unter in der Vergegenwärtigung von Gogol 's Texten. Damit modelliert — analog dem Konzept der „idealen" Dichtung - Belinskijs eigener Text den Übergang von der begrifflichen Argumentation in die literarische Imagination und stellt mit dieser ästhetischen Entgrenzung des theoretischen Begriffs gleichfalls die künstlerisch-inspirierte Haltung seines Autors Belinskij unter Beweis. Aber wäh-rend er noch in den „Literarischen Träumereien" versucht hatte, die russische Literatur in ihrer Gesamtheit ästhetisch zu überbieten, so bemüht er sich hier unter den nun gewandelten Be-

® Typisch in diesem Zusammenhang ist Belinskijs Formulierung: „ . . . B 3 T 0 M oiepKe Becb HenoBeK, B C a

»CH3Hb e r o , c ee npomeAiuHM, HacToamHM h 6y f ly inHM!" (I, 194). ^ vgl. ebenso die ausführliche Paraphrase I, 293f.

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Ju. MURASOV, Die ästhetische Entgrenzung des Begriffs 195

dingungen nur noch darum, den „volkstümlichen", „realen" Dichter Gogol' einzuholen und sich an dessen Seite als „idealer" (Theorie-)Dichter zu behaupten. Im Zusammenhang mit dieser ästhetischen Entgrenzung des literaturtheoretischen Begriffs steht auch Belinskijs Affinität zu Eigennamen. Nicht der abstrakten Begrifflichkeit kommt formalisie-rende und ordnende Funktion zu, sondern dem Eigennamen, der in semiotischer Hinsicht dem Begriff genau entgegengesetzt ist. Im Eigennamen weist bekanntlich der Signifikant einen direkten Bezug auf das Denotat auf, im Begriff hingegen wird dieser Bezug durch das Signifikat dissoziiert. Der Eigenname funktioniert (auf der Ebene der Sprachzeichen) stets distinktiv, schließt aber gleichzeitig (durch seinen direkten denotativen Bezug) eine unendliche Bedeutungs-fülle ein; sein Inhalt ist wie die Realität selbst unerschöpflich. Auch der Gegensatz von abstrakt und konkret erscheint im Eigennamen neutralisiert. Auffällig ist Belinskijs Vorliebe für Eigen-namen nicht nur bei der Periodisierung der russischen Literatur, die stets nach Dichternamen vorgenommen wi rd ' ' , sondern vor allem in seiner Beschäftigung mit literarischen Figuren, die immer wieder um den Eigennamen kreist: B caMOM flcjie, OnernH, J I C H C K H H , XaTbana, SapeiiKHÖ, PenexHnoB, XjiecxaKOB,

TyroyxoBCKHH, n j i axoH MnxaHJioBHH Topan , KHaacHa MHMH, NY.IIBXEPHH HBaHOBHa,

A4)aHacHH HßaHOBHH, Ulnjuiep, ÜHCKapes, ÜHporoB - pasBC Bce 3TH co6cTBeHHMe HMCHa

xenepb yace HC HapHu;axe:ibHbie? H, 6oace MOH! KaK MHoro CMbicjia saKjiioHaex B ce5e Kaac^oe

H3 HHx! 3 x 0 noBecxb, poMan, HcxopH», no3Ma, apaMa, MHoroxoMHaa KHHra, Kopone: aenbm

MHP B OaHOM, XOKbKO B OflKOM CJIOBe! ... H KaKOH MaCXCp T. T o r o j l b BbIflyMblBaXb XaKHe

cjioBa! (1,296)'"

Mit ihrem Eigennamen vermag sich hier jede literarische Figur mit ihrem unerschöpflichen Inhalt auf der Ebene der Sprachzeichen durch sich seihst repräsentieren. - Diese spezifische Semiotik des Eigennamens führt nun wieder zurück zu der für Belinskijs frühe Literaturkritik und -theorie so zentralen „Hap0/];H0CXb"-Thematik und zum Problem der schizoiden Kultursituation Rußlands zwischen Allo- und Autochthonie. In den beiden Texten, „JlHXepaxypHbie MCHXaHHa" und „O pyccKOH noBecTH H noBecxax r. Foxona", erfolgt die Bewältigung der Erfahrung von kultureller Allochthonie und die Suche nach autochthonen Formen kultureller Selbstvergewisserung auf ganz ähnliche Weise: Einerseits bemüht sich Belinskij um die Einführung, die kritische Sichtung und Darlegung von begrifflichen literaturtheoretischen Formalisierungsverfahren, um durch sie die Frage nach der Autochthonie der russischen Literatur und Kultur formulieren zu können, andererseits aber unterminiert er im Gegenzug diese begrifflich-distinktiven Verfahren als der russischen Literatur und Kultur nicht angemessen und als wesentlich allochthon. Dadurch wird

So weist Belinskij in den „Literarischen Träumereien" die Unterscheidung von Klassizismus und Romantik vehement zurück und schlägt die Periodisierung in „Lomonosovsche", „Karamzinsche" und „Puskinsche" Periode der russischen Literatur vor.

^̂ vgl. auch Belinskijs Äußerung über die Figur Pirogovs aus Gogol's „HeBCKHH IIpocneKT": „He xony roBopHTb o xex, o Koxopbix H xaK ysKe MHoro roBopHji, cKaacy XOUBKO O6 GAHOM xaKOM exo cnoBeHKe, 3X0 - ÜHpoxoB! ...CßaxHxejiH! Aa 3xo iienaa Kacxa, uenbm napofl, iienaa Hauna! O eflHHCXBeHHuä, HecpaBHCHHbiH ÜHpoxoB, xHH H3 xHnoB, nepBoo6pa3 H3 nepB005pa30B! Tbl MHorooöieMJiiomee, HCM IIIaHJioK, MHorosHaiHxejibHee, hbm «taycx!(...) ^a , rocnofla, flHBHOCJiOBiiosxox - nnporoB! 3 x o CHMBOJl, MHCXHqeCKHH MHcJ), 3X0, HaKOHCU, Ka^XaH, KOXOpblH XaK lyflHO CKpoeH, HXO npHfleX no njienaM xbicaiH HenoBCK! O, r. Toxonb 5oiibmoH Macxep BbiayMbisaxb xaKne cjioBa (...)" (I, 296f. -Hervorhebung - Ju. M.) - Was Belinskij in diesem Kontext dann auch als „XHIIHSM" bezeichnet, stellt also kaum ein abstraktes theoretisches Konzept von der literarischen Figur dar, sondern ist vielmehr eine lite-raturkritische Strategie, die an der spezifischen semiotischen Struktur des Eigennamens ansetzt. Inter-essanterweise wird Gogol' später seine Erzählung „Der Mantel" mit der Geburt des Helden und mit dem Problem der Namensfmdung beginnen.

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die kognitiv-substantielle Ebene der Texte von der performativ-rhetorischen abgetrennt. Die Texte als Ganzes scheinen gleichsam der Semiotik des Eigennamens nachgebildet zu sein: Sie differenzieren und ordnen nicht auf der Ebene der Inhalte, der Signifikate, sondern vornehmlich auf der der Signifikanten; gleichzeitig entsteht durch diese Eliminierung von inhaltlich-begriff-lichen Differenzen eine sich permanent vervielfältigende (und damit den denotativen Bezug von Eigennamen imitierende) Bedeutungsfülle. Was die Texte auf diese Weise meinen, ist nun unver-hältnismäßig mehr und etwas ganz anderes, als was sie sagen: Es geht den Texten darum, daß sie zum einen die schizoide Situation zwischen kultureller Allo- und Autochthonie strukturell nach-bilden, zum anderen aber diese hier und jetzt durch die jenseits der abstrakten Begrifflichkeit artikulierte Haltung gegenüber der eigenen Literatur und Kultur in der Realität des Textes (und damit in der Praxis/Wirklichkeit selbst) überwinden.

Diese Form der kulturellen Selbstbesinnung weist eine spezifische, am Prinzip der Diskontinuität orientierte Dynamik auf. Sie zeigt sich deutlich in der Beziehung, in der die beiden Texte „JlHxepaxypHMe MCHTaHHa" und „O pyccKoö noBCCxH H noBCcrax r . Foro j i «" zueinander stehen. Wie oben dargestellt, wird der Text der „Literarischen Träumereien" obsolet im Augen-blick seines Erscheinens und fordert aus sich heraus einen Nachfolgetext. Der Gogol'-Aufsatz setzt dann mit der Unterscheidung von „realer" und „idealer" Dichtung genau an dem Problem an, das aus der Exponierung von Belinskijs ästhetischer Haltung in den „Literarischen Träumereien" resultiert. Dieses literaturtheoretische Konzept von „realer" und „idealer" Dichtung setzt Belin-skij in der Besprechung von Gogol's Erzählungen in die Praxis seines eigenen Textes um, indem er hier die Grenze zwischen ästhetischem und eigenem literaturkritischen Text annulliert, damit aber nachträglich dem gesamten Text seine stabile begriffliche Basis entzieht. Auf diese Weise wird auch der Gogol'-Aufsatz flüchtig und ereignishaft und drängt auf klärende Nachfolgetexte. Zu dieser Klärung setzt Belinskij gegen Ende der 30er Jahre an mit seinen z. T. auf Hegels Philosophie fundierten Überlegungen zur Methode der Literaturkritik und der darauf basierenden Analyse von Gogol's Komödie „Der Revisor" in dem Aufsatz „Fope OT yMa" (1840). Hier reflektiert er die notorische Instabilität seiner literaturtheoretischen Konzepte, indem er seine eigene Theorie als „ABHacymaaca acxeXHKa"^' beschreibt; hier findet er auch mit dem Ausdruck vom „MtirnjICHHC B oöpasax"^'' jene prominente Formel, die in die Geschichte der russischen Literaturtheorie eingegangen ist und die einen präzisen Reflex seiner eigenen zwischen begrifflichem Denken und literarischer Imagination intermittierenden Schreibweise der frühen Texte darstellt.

In dem Art ikel „ O KpHTHKe H JiHTepaxypHbix MHeHHHX ,M0CK0BCK0r0 HaGmoflaxeita"' (1836) hebt

Belinskij seine eigene literaturtheoretische und literatutkritische Methode gegenüber der seiner Vorläufer (vor allem Merzljakov) und Zeitgenossen ab und beschreibt sie zutreffend als „flBHacymaaca acxexHKa" (vgl. II, 123). vgl. III, 431 oder IV, 585. Zum „o6pa3"-Begriff bei Belinskij vgl. R. Lachmann, Der Potebnjasche Bild-Begriff als Beitrag zu einer Theorie der ästhetischen Kommunikation. (Zur Vorgeschichte der Bachtinschen Dialogizität), in: dies. (Hrsg.), Dialogizität, München 1983, S. 29-50, hier S. 31-34.

Anschrift des Verfassers: Dr. Jurij Murasov, Universität Bielefeld, Postfach 8640, W-4800 Bielefeld 1

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