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Plenarprotokoll 17/117 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 117. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Elvira Drobinski-Weiß und Michael Schlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl des Abgeordneten Dr. Gerhard Schick als Mitglied im Gremium gemäß § 10 a des Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetzes Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 9, 10, 13, 17 a und 40 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . Tagesordnungspunkt 4: a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes (Drucksachen 17/6070, 17/6361) . . . . Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes (Drucksachen 17/6246, 17/6361) . . . . Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes für eine be- schleunigte Stilllegung von Atom- kraftwerken (Drucksachen 17/5179, 17/6361) . . . . Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dorothee Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion DIE LINKE eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Atomgesetzes – Keine Übertragbarkeit von Reststrommen- gen (Drucksachen 17/5472, 17/6361) . . . . Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jürgen Trittin, Re- nate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, wei- teren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Atomge- setzes und zur Wiederherstellung des Atomkonsenses (Drucksachen 17/5035, 17/6361) . . . . Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jürgen Trittin, Re- nate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, wei- teren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des Atomge- setzes – Abschalten der acht unsi- chersten Atomkraftwerke (Drucksachen 17/5180, 17/6361) . . . . Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jürgen Trittin, Re- nate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, wei- teren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes (Beendigung der Nutzung von Atomkraftwerken zur kommerziel- len Energieerzeugung in Deutsch- land) (Drucksachen 17/5931, 17/6361) . . . . 13361 A 13361 B 13361 B 13364 A 13364 A 13364 C 13364 C 13364 C 13364 C 13364 D 13364 D 13364 D

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Plenarprotokoll 17/117

Deutscher BundestagStenografischer Bericht

117. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

I n h a l t :

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord-neten Elvira Drobinski-Weiß und MichaelSchlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wahl des Abgeordneten Dr. Gerhard Schickals Mitglied im Gremium gemäß § 10 a desFinanzmarktstabilisierungsfondsgesetzes

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord-nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Absetzung der Tagesordnungspunkte 9, 10,13, 17 a und 40 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . .

Tagesordnungspunkt 4:

a) – Zweite und dritte Beratung des vonden Fraktionen der CDU/CSU undFDP eingebrachten Entwurfs einesDreizehnten Gesetzes zur Änderungdes Atomgesetzes(Drucksachen 17/6070, 17/6361) . . . .

– Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Dreizehnten Gesetzes zurÄnderung des Atomgesetzes(Drucksachen 17/6246, 17/6361) . . . .

– Zweite und dritte Beratung des von derFraktion der SPD eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes für eine be-schleunigte Stilllegung von Atom-kraftwerken(Drucksachen 17/5179, 17/6361) . . . .

– Zweite und dritte Beratung des vonden Abgeordneten Dorothee Menzner,Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert,weiteren Abgeordneten und der Frak-tion DIE LINKE eingebrachten Ent-

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wurfs eines … Gesetzes zur Ände-rung des Atomgesetzes – KeineÜbertragbarkeit von Reststrommen-gen(Drucksachen 17/5472, 17/6361) . . . .

– Zweite und dritte Beratung des vonden Abgeordneten Jürgen Trittin, Re-nate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, wei-teren Abgeordneten und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines DreizehntenGesetzes zur Änderung des Atomge-setzes und zur Wiederherstellungdes Atomkonsenses (Drucksachen 17/5035, 17/6361) . . . .

– Zweite und dritte Beratung des vonden Abgeordneten Jürgen Trittin, Re-nate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, wei-teren Abgeordneten und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines VierzehntenGesetzes zur Änderung des Atomge-setzes – Abschalten der acht unsi-chersten Atomkraftwerke(Drucksachen 17/5180, 17/6361) . . . .

– Zweite und dritte Beratung des vonden Abgeordneten Jürgen Trittin, Re-nate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, wei-teren Abgeordneten und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines … Gesetzeszur Änderung des Atomgesetzes(Beendigung der Nutzung vonAtomkraftwerken zur kommerziel-len Energieerzeugung in Deutsch-land)(Drucksachen 17/5931, 17/6361) . . . .

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II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

– Bericht des Haushaltsausschusses ge-mäß § 96 der Geschäftsordnung(Drucksache 17/6362) . . . . . . . . . . . . .

b) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit

– zu dem Antrag der Abgeordneten Do-rothee Menzner, Eva Bulling-Schrö-ter, Ralph Lenkert, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion DIE LINKE:Sofortige Stilllegung der sieben äl-testen Atomkraftwerke und desAtomkraftwerks Krümmel

– zu dem Antrag der Abgeordneten Do-rothee Menzner, Dr. Barbara Höll, EvaBulling-Schröter, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion DIE LINKE:Atomausstieg bis 2014 – Für eine er-neuerbare und demokratische Ener-gieversorgung

– zu dem Antrag der Abgeordneten In-grid Nestle, Oliver Krischer, BärbelHöhn, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN: Versorgungssicherheit trans-parent machen – Keine Experimentemit atomarer „Kaltreserve“

(Drucksachen 17/5478, 17/6092, 17/6109,17/6361) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

c) – Zweite und dritte Beratung des vonden Fraktionen der CDU/CSU undFDP eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Neuregelung desRechtsrahmens für die Förderungder Stromerzeugung aus erneuerba-ren Energien (Drucksachen 17/6071, 17/6363) . . . .

– Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Neurege-lung des Rechtsrahmens für die För-derung der Stromerzeugung auserneuerbaren Energien(Drucksachen 17/6247, 17/6363) . . . .

d) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit

– zu dem Antrag der Fraktion der SPD:Energiewende jetzt

– zu dem Antrag der Abgeordneten Bär-bel Höhn, Hans-Josef Fell, Sylvia Kot-ting-Uhl, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN: Atomzeitalter beenden – En-ergiewende jetzt

(Drucksachen 17/5182, 17/5202, 17/6363)

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e) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit

– zu dem Antrag der Fraktion der SPD:10 Jahre EEG – Auf dem bestenWeg zu einer ökologischen und sozi-alen Energiewende

– zu dem Antrag der AbgeordnetenHans-Josef Fell, Bärbel Höhn, SylviaKotting-Uhl, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN: Erneuerbare Energieausbauen statt Atomkraft verlän-gern

(Drucksachen 17/778, 17/799, 17/4953) .

f) – Zweite und dritte Beratung des vonden Fraktionen der CDU/CSU undFDP eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Neuregelung energie-wirtschaftsrechtlicher Vorschriften(Drucksachen 17/6072, 17/6365) . . . .

– Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Neurege-lung energiewirtschaftsrechtlicherVorschriften(Drucksachen 17/6248, 17/6365) . . . .

g) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Wirtschaft und Technolo-gie

– zu dem Antrag der Abgeordneten RolfHempelmann, Dirk Becker, HubertusHeil (Peine), weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPD: Auf demWeg zu einem nachhaltigen, effizien-ten, bezahlbaren und sicheren Ener-giesystem

– zu dem Antrag der Abgeordneten RolfHempelmann, Dirk Becker, HubertusHeil (Peine), weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPD: Programmfür eine nachhaltige, bezahlbare undsichere Energieversorgung

– zu dem Antrag der Abgeordneten Ca-ren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, HerbertBehrens, weiterer Abgeordneter undder Fraktion DIE LINKE: Schutz-schirm für Stromkunden – Bezahl-bare Energiepreise gewährleisten

(Drucksachen 17/5181, 17/5481, 17/5760,17/6365) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

h) – Zweite und dritte Beratung des vonden Fraktionen der CDU/CSU undFDP eingebrachten Entwurfs einesGesetzes über Maßnahmen zur Be-schleunigung des Netzausbaus Elek-trizitätsnetze(Drucksachen 17/6073, 17/6366) . . . .

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 III

– Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes über Maßnah-men zur Beschleunigung des Net-zausbaus Elektrizitätsnetze(Drucksachen 17/6249, 17/6366) . . . .

– Bericht des Haushaltsausschusses ge-mäß § 96 der Geschäftsordnung(Drucksache 17/6367) . . . . . . . . . . . . .

i) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Wirtschaft und Technolo-gie zu dem Antrag der Abgeordneten In-grid Nestle, Hans-Josef Fell, Dr. AntonHofreiter, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Modernisierung der Stromnetze – Bür-gernah, zügig, für erneuerbare Ener-gien(Drucksachen 17/5762, 17/6366) . . . . . . .

j) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Wirtschaft und Technolo-gie zu dem Antrag der Abgeordneten RolfHempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil(Peine), weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD: Die Energieeffizienzverbessern – Auf dem europäischenSondergipfel zur Energiepolitik am4. Februar 2011 verbindliche Maßnah-men vereinbaren(Drucksachen 17/4528, 17/4785) . . . . . . .

k) – Zweite und dritte Beratung des vonden Fraktionen der CDU/CSU undFDP eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur steuerlichen Förderungvon energetischen Sanierungsmaß-nahmen an Wohngebäuden(Drucksachen 17/6074, 17/6358) . . . .

– Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur steuerlichenFörderung von energetischen Sanie-rungsmaßnahmen an Wohngebäu-den(Drucksachen 17/6251, 17/6358) . . . .

– Bericht des Haushaltsausschusses ge-mäß § 96 der Geschäftsordnung(Drucksache 17/6360) . . . . . . . . . . . . .

l) – Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Änderungdes Gesetzes zur Errichtung einesSondervermögens „Energie- undKlimafonds“ (EKFG-ÄndG)(Drucksachen 17/6252 (neu), 17/6356)

– Zweite und dritte Beratung des vonden Fraktionen der CDU/CSU undFDP eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung des Geset-

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zes zur Errichtung eines Sonderver-mögens „Energie- und Klimafonds“(EKFG-ÄndG) (Drucksachen 17/6075, 17/6356) . . . .

m) – Zweite und dritte Beratung des vonden Fraktionen der CDU/CSU undFDP eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Stärkung der klimage-rechten Entwicklung in den Städtenund Gemeinden(Drucksachen 17/6076, 17/6357) . . . .

– Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Stärkungder klimagerechten Entwicklung inden Städten und Gemeinden(Drucksachen 17/6253, 17/6357) . . . .

n) – Zweite und dritte Beratung des vonden Fraktionen der CDU/CSU undFDP eingebrachten Entwurfs einesErsten Gesetzes zur Änderungschifffahrtsrechtlicher Vorschriften (Drucksachen 17/6077, 17/6364) . . . .

– Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Ersten Gesetzes zur Än-derung schifffahrtsrechtlicher Vor-schriften(Drucksachen 17/6254, 17/6364) . . . .

o) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Verkehr, Bau und Stadt-entwicklung zu dem Antrag der Abgeord-neten Daniela Wagner, Oliver Krischer,Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN: Ungebundene EU-Mittel ausdem Konjunkturpaket (EEPR) unver-züglich für mehr Energieeffizienz underneuerbare Energien nutzen(Drucksachen 17/4017, 17/5225) . . . . . . .

p) Zweite und dritte Beratung des von denAbgeordneten Jan Korte, Dorothee Menz-ner, Dr. Barbara Höll, weiteren Abgeord-neten und der Fraktion DIE LINKE einge-brachten Entwurfs eines … Gesetzes zurÄnderung des Grundgesetzes (Gesetzzur grundgesetzlichen Verankerung desAusstiegs aus der Atomenergie) (Drucksachen 17/5474, 17/6349) . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 3:

Antrag der Fraktion der SPD: Die Ener-giewende zukunftsfähig gestalten(Drucksache 17/6292) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

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13367 B

13367 B

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IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Zusatztagesordnungspunkt 4:

Erste Beratung des von den AbgeordnetenJürgen Trittin, Volker Beck (Köln), CorneliaBehm, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än-derung des Grundgesetzes (Absicherungdes Wiederausstiegs aus der Atomenergiein Artikel 20 a)(Drucksache 17/6302) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sigmar Gabriel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rüdiger Kruse (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Nils Schmid, Minister (Baden-Württemberg) . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . .

Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) . . . . . .

Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dorothee Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . .

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dorothee Menzner (DIE LINKE) . . . . . . .

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . .

Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . .

Peter Götz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) . . . . . . . .

Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Kathrin Vogler (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . .

13368 A

13368 B

13371 A

13374 D

13376 D

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13391 B

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13397 D

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13401 A

13402 C

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13405 A

Namentliche Abstimmungen . . . . . . . . . . . . .

Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 5:

Antrag der Abgeordneten Sahra Wagen-knecht, Dr. Axel Troost, Dr. Barbara Höll,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE: Verursacher der Krise zur Kassebitten – Neue Bankenabgabe einführen(Drucksache 17/6303) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) . . . . . . . .

Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . .

Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . .

Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) . . . . . .

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) . . . . .

Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Dr. Frank Steffel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Nicolette Kressl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Bettina Kudla (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 41:

a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Umsetzung der EuropäischenDienstleistungsrichtlinie im Gesetz zumSchutz der Teilnehmer am Fernunter-richt (Fernunterrichtschutzgesetz)(Drucksache 17/6208) . . . . . . . . . . . . . . .

b) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Protokoll vom 27. Oktober2010 zur Änderung des Abkommensvom 11. August 1971 zwischen der Bun-desrepublik Deutschland und derSchweizerischen Eidgenossenschaft zurVermeidung der Doppelbesteuerungauf dem Gebiete der Steuern vom Ein-kommen und vom Vermögen(Drucksache 17/6257) . . . . . . . . . . . . . . .

c) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Abkommen vom 30. März2011 zwischen der BundesrepublikDeutschland und Irland zur Vermei-dung der Doppelbesteuerung und zur

13404 D, 13407 D13349 B

13412 D, 13415 B13418 A, 13420 B

13409 C

13409 C

13411 A

13423 A

13424 B

13425 B

13426 C

13428 A

13429 C

13431 B

13432 B

13433 B

13435 A

13436 C

13438 A

13438 A

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 V

Verhinderung der Steuerverkürzungauf dem Gebiet der Steuern vom Ein-kommen und vom Vermögen(Drucksache 17/6258) . . . . . . . . . . . . . . . .

d) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zu dem Abkommen vom18. Februar 2011 zwischen der Bundes-republik Deutschland und der RepublikZypern zur Vermeidung der Doppelbe-steuerung und zur Verhinderung derSteuerverkürzung auf dem Gebiet derSteuern vom Einkommen und vom Ver-mögen(Drucksache 17/6259) . . . . . . . . . . . . . . . .

e) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Änderung des Energiebetrie-bene-Produkte-Gesetzes(Drucksache 17/6278) . . . . . . . . . . . . . . . .

f) Antrag der Abgeordneten Tabea Rößner,Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck(Köln), weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Pressefreiheit europaweit umsetzen –Medien als wichtigen Grundpfeiler derDemokratie stärken(Drucksache 17/6126) . . . . . . . . . . . . . . . .

g) Antrag der Abgeordneten Dr. HaraldTerpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Zugang zu medizinischem Cannabis füralle betroffenen Patientinnen undPatienten ermöglichen(Drucksache 17/6127) . . . . . . . . . . . . . . . .

h) Antrag der Abgeordneten Agnes Krum-wiede, Monika Lazar, Krista Sager, weite-rer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Grundla-gen für Gleichstellung im Kulturbetriebschaffen(Drucksache 17/6130) . . . . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 5:

a) Antrag der Abgeordneten Dr. WilhelmPriesmeier, Heinz-Joachim Barchmann,Doris Barnett, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der SPD: GemeinsameEuropäische Agrarpolitik nach 2013 –Konzept zum „Greening“ der Direkt-zahlungen vorlegen(Drucksache 17/6299) . . . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten Hans-ChristianStröbele, Wolfgang Wieland, Jerzy Mon-tag, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ver-

13438 B

13438 B

13438 B

13438 C

13438 C

13438 C

13438 D

antwortlichkeit der Bundesregierungfür den Umgang des Bundesnachrich-tendienstes mit den Fällen Klaus Barbieund Adolf Eichmann(Drucksache 17/4586) . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 42:

a) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Ernährung, Landwirtschaftund Verbraucherschutz zu dem Antrag derAbgeordneten Nicole Maisch, CorneliaBehm, Harald Ebner, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN: Bericht zum Risikomanage-ment bei Lebensmittelkrisen vorlegen(Drucksachen 17/6107, 17/6337) . . . . . . . .

b)–j)

Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-schusses: Sammelübersichten 278, 279,280, 281, 282, 283, 284, 285 und 286 zuPetitionen(Drucksachen 17/6110, 17/6111, 17/6112,17/6113, 17/6114, 17/6115, 17/6116,17/6117, 17/6118) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 1:

Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktio-nen der CDU/CSU und FDP: Stuttgart 21– Ergebnis des Stresstests respektieren –Keine Blockadepolitik . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . .

Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Steffen Bilger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Ute Kumpf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Werner Simmling (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Martin Burkert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Karin Maag (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . .

Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . .

Tagesordnungspunkt 6:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurweiteren Erleichterung der Sanierung vonUnternehmen(Drucksache 17/5712) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13438 D

13439 A

13439 B

13440 B

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13452 B

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13454 D

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VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . .

Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) .

Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Matthias Heider (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Ingo Egloff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . .

Tagesordnungspunkt 7:

Vereinbarte Debatte: 70. Jahrestag des Über-falls Deutschlands auf die Sowjetunion . . .

Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP) . . . . . . . . . . . .

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Michael Glos (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . .

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Peter Beyer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 8:

Zweite und dritte Beratung des von der Frak-tion der SPD eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung des Artikel-115-Gesetzes (Drucksachen 17/4666 (neu), 17/6241) . . . . .

Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . .

Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . .

Bettina Hagedorn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Norbert Brackmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 21:

Beschlussempfehlung des Ausschusses fürWahlprüfung, Immunität und Geschäftsord-nung zu dem Antrag auf Genehmigung zurDurchführung eines Strafverfahrens(Drucksache 17/6384) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13455 A

13456 B

13457 D

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13465 C

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13473 B

13473 C

13475 B

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13479 A

13480 B

13481 D

13483 B

13484 A

13485 B

13486 D

Zusatztagesordnungspunkt 6:

Erste Beratung des von den Fraktionen derCDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfseines Neunzehnten Gesetzes zur Änderungdes Bundeswahlgesetzes (Drucksache 17/6290) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . .

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 7:

Antrag der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Tarifvertragssystemstärken – Allgemeinverbindliche Tarif-löhne und branchenspezifische Mindest-löhne erleichtern(Drucksache 17/4437) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ottmar Schreiner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) .

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Ottmar Schreiner (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . .

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 17:

b) Antrag der Bundesregierung: Fortsetzungder Beteiligung bewaffneter deutscherStreitkräfte an der AU/UN-Hybrid-Operation in Darfur (UNAMID) aufGrundlage der Resolution 1769 (2007)des Sicherheitsrates der Vereinten Nati-onen vom 31. Juli 2007 und Folgereso-lutionen (Drucksache 17/6322) . . . . . . . . . . . . . . .

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13501 A

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 VII

Cornelia Pieper, Staatsministerin AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Karin Evers-Meyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . .

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 12:

– Zweite und dritte Beratung des von derFraktion der SPD eingebrachten Ent-wurfs eines … Gesetzes zur Änderungdes Grundgesetzes (Artikel 3 Absatz 3Satz 1)(Drucksachen 17/254, 17/4775) . . . . . . .

– Zweite und dritte Beratung des von denAbgeordneten Dr. Barbara Höll, CorneliaMöhring, Matthias W. Birkwald, weiterenAbgeordneten und der Fraktion DIELINKE eingebrachten Entwurfs eines …Gesetzes zur Änderung des Grundge-setzes (Artikel 3 Absatz 3 Satz 1)(Drucksachen 17/472, 17/4775) . . . . . . . .

– Zweite und dritte Beratung des von denAbgeordneten Volker Beck (Köln), JerzyMontag, Kai Gehring, weiteren Abgeord-neten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung des Grundge-setzes (Artikel 3 Absatz 3 Satz 1)(Drucksachen 17/88, 17/4775) . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 8:

Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines …Gesetzes zur Änderung des Parteiengeset-zes und eines … Gesetzes zur Änderungdes Abgeordnetengesetzes(Drucksache 17/6291) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 9:

Antrag der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkel-mann, Herbert Behrens, Matthias W. Birk-wald, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKE: Kommission zur Überprüfungdes Abgeordnetenrechts – Mehr Transpa-renz und Verantwortung für das Gemein-wohl(Drucksache 17/6305) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13508 D

13510 A

13511 B

13512 C

13513 B

13514 A

13514 D

13515 A

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13515 C

Peter Altmaier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . .Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) . . . . .Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) . . . . .Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD) . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 14:Antrag der Abgeordneten Kirsten Lühmann,Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der SPD: Barrie-refreie Mobilität und barrierefreies Woh-nen – Voraussetzungen für Teilhabe undGleichberechtigung(Drucksache 17/6295) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 11:a) Zweite und dritte Beratung des von den

Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDPeingebrachten Entwurfs eines Neunund-zwanzigsten Gesetzes zur Änderung desAbgeordnetengesetzes – Einführung ei-nes Ordnungsgeldes(Drucksachen 17/5471, 17/6309) . . . . . . .

b) Beschlussempfehlung und Bericht desGeschäftsordnungsausschusses: Änderungder Geschäftsordnung des DeutschenBundestages hier: Einführung eines Ordnungsgeldes(§§ 36 bis 39 GO-BT)(Drucksache 17/6309) . . . . . . . . . . . . . . .

Bernhard Kaster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .Christian Lange (Backnang) (SPD) . . . . . . . .Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) . . . . .Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . .

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 16:Antrag der Abgeordneten Michael Schlecht,Sabine Leidig, Dr. Barbara Höll, weitere Ab-geordnete und der Fraktion DIE LINKE:Keine zusätzlichen finanziellen Mittel desBundes oder der Bahn AG für Stuttgart 21(Drucksache 17/6129) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

13515 D13517 A13517 C13518 C

13519 C13520 D13521 C

13522 D

13523 A

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VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Zusatztagesordnungspunkt 10:

Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofrei-ter, Dr. Valerie Wilms, Stephan Kühn, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN: Stuttgart 21 – Kein Wei-terbau ohne Nachweis der Leistungsfähig-keit und ohne Klärung der Kosten und Ri-siken(Drucksache 17/6320) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 11:

– Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Übertragung ehebe-zogener Regelungen im öffentlichenDienstrecht auf Lebenspartnerschaften(Drucksachen 17/3972, 17/6359) . . . . . . .

– Zweite und dritte Beratung des von denAbgeordneten Volker Beck (Köln),Dr. Konstantin von Notz, Birgitt Bender,weiteren Abgeordneten und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zurGleichstellung der eingetragenen Le-benspartnerschaften mit der Ehe imBundesbeamtengesetz und in weiterenGesetzen(Drucksachen 17/906, 17/6359) . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 18:

Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl,Hans-Josef Fell, Krista Sager, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN: Moratorium jetzt – DringlicheKlärung von Fragen zu Mehrkosten desITER-Projekts(Drucksache 17/6321) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 15:

Antrag der Fraktionen der CDU/CSU undFDP: Effektive Regulierung der Finanz-märkte nach der Finanzkrise(Drucksache 17/6313) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 19:

Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen(Bönstrup), Christoph Poland, Dorothee Bär,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten ReinerDeutschmann, Patrick Kurth (Kyffhäuser),Sebastian Blumenthal, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der FDP: Ratifizierung der

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UNESCO-Konvention zum immateriellenKulturerbe vorantreiben(Drucksache 17/6314) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 12:

Antrag der Abgeordneten Ulla Schmidt (Aa-chen), Siegmund Ehrmann, Martin Dörmann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPD sowie der Abgeordneten Agnes Krum-wiede, Claudia Roth (Augsburg), Ekin Deli-göz, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ratifizierungdes UNESCO-Übereinkommens zur Be-wahrung des immateriellen Kulturerbesvorbereiten und unverzüglich umsetzen(Drucksache 17/6301) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . .

Herbert Frankenhauser (CDU/CSU) . . . . . . .

Ulla Schmidt (Aachen) (SPD) . . . . . . . . . . . .

Reiner Deutschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . .

Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 21:

Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gunkel,Heinz-Joachim Barchmann, Gabriele Fogra-scher, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPD: Übermittlung von Fluggastdatennur nach europäischen Grundrechts- undDatenschutzmaßstäbenhier: Stellungnahme gegenüber der Bun-desregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4EUZBBG zum RichtlinienvorschlagKOM(2011) 32 endg.(Drucksache 17/6293) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 13:

Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin vonNotz, Wolfgang Wieland, Volker Beck (Köln),weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Gutachten über diegeplanten EU-Fluggastdatenabkommen mitden USA und Australien beim Gerichtshofder Europäischen Union einholen(Drucksache 17/6331) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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13534 B

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 IX

Tagesordnungspunkt 20:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes überdie Neuordnung des Geräte- und Produkt-sicherungsrechts(Drucksache 17/6276) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 23:

Antrag der Fraktion der SPD: Besonderhei-ten der nationalen Finanzmärkte bei Um-setzung von Basel III berücksichtigen(Drucksache 17/6294) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 22:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurUmsetzung der Richtlinie 2010/78/EU vom24. November 2010 im Hinblick auf die Er-richtung des Europäischen Finanzauf-sichtssystems(Drucksache 17/6255) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Holger Krestel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 25:

Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel,Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:Für eine gerechte und entwicklungsförder-liche internationale Rohstoffpolitik(Drucksache 17/6153) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . . .

Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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13554 B

13554 D

Tagesordnungspunkt 24:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurUmsetzung der Beitreibungsrichtlinie so-wie zur Änderung steuerlicher Vorschrif-ten (Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsge-setz – BeitrRLUmsG)(Drucksache 17/6263) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . .

Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 26:

a) Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer,Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Transparenz undKontrolle bei der Förderung von un-konventionellem Erdgas in Deutschland(Drucksache 17/5573) . . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten Johanna Voß,Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter,weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKE: Keine Erdgasförderungauf Kosten des Trinkwassers – Frackingbei der Erdgasförderung verbieten(Drucksache 17/6097) . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Gerd Bollmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Johanna Voß (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 27:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Bildung, Forschung und Tech-nikfolgenabschätzung

– zu dem Antrag der Abgeordneten RenéRöspel, Ulla Burchardt, Dr. Ernst DieterRossmann, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD: 20 Jahre Büro fürTechnikfolgenabschätzung beim Deut-schen Bundestag – Ein gelungenes Bei-spiel und internationales Modell für denAustausch von Wissenschaft und Politik

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13567 C

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X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

– zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Krista Sager, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Tech-nikfolgenabschätzung im Bundestagund in der Gesellschaft stärken

(Drucksachen 17/3414, 17/3063, 17/6287) . .

Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . .

Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 28:

Antrag der Abgeordneten René Röspel,Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-PeterBartels, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD: Polarregionen schützen –Polarforschung stärken(Drucksache 17/5228) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ewa Klamt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . .

René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . .

Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 29:

Beschlussempfehlung und Bericht des Vertei-digungsausschusses zu dem Antrag der Abge-ordneten Inge Höger, Herbert Behrens, Janvan Aken, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKE: Schutz vor militäri-schem Fluglärm(Drucksachen 17/5206, 17/5918) . . . . . . . . . .

Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . .

Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Lars Klingbeil (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13568 D

13569 A

13570 C

13571 B

13572 A

13572 C

13573 C

13574 C

13574 D

13576 A

13576 D

13577 D

13578 C

13579 B

13580 B

13580 B

13581 B

13582 A

13582 D

13583 C

13584 B

Tagesordnungspunkt 30:

Beschlussempfehlung und Bericht des Sport-ausschusses zu dem Antrag der AbgeordnetenViola von Cramon-Taubadel, Claudia Roth(Augsburg), Monika Lazar, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN: Frauen- und Mädchenfußballstärken – Fußballweltmeisterschaft derFrauen 2011 gesellschaftspolitisch nutzen(Drucksachen 17/5907, 17/6281) . . . . . . . . . .

Klaus Riegert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Frank Steffel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Dagmar Freitag (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . . .

Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 31:

Antrag der Abgeordneten Stefan Schwartze,Petra Crone, Petra Ernstberger, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD:Programme „Schulverweigerung – Die2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“erhalten(Drucksache 17/6103) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Stefan Schwartze (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . .

Yvonne Ploetz (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 32:

a) Antrag der Abgeordneten Dr. LukreziaJochimsen, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE: Die Digitalisierung des kultu-rellen Erbes als gesamtstaatliche Auf-gabe umsetzen(Drucksache 17/6096) . . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten Ansgar Heve-ling, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), PeterAltmaier, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord-neten Reiner Deutschmann, Burkhardt Mül-ler-Sönksen, Jimmy Schulz, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der FDP:Digitalisierungsoffensive für unser kul-turelles Erbe beginnen(Drucksache 17/6315) . . . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

13585 B

13585 C

13586 D

13588 A

13589 A

13590 B

13591 B

13592 B

13592 C

13594 B

13595 C

13596 B

13597 C

13598 B

13598 B

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 XI

Zusatztagesordnungspunkt 14:

Antrag der Abgeordneten Siegmund Ehr-mann, Martin Dörmann, Petra Ernstberger,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPD: „Kulturelles Erbe 2.0“ – Digitalisie-rung von Kulturgütern beschleunigen(Drucksache 17/6296) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Siegmund Ehrmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Reiner Deutschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . .

Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 33:

a) Antrag der Abgeordneten Jan Korte,Dr. Dietmar Bartsch, Wolfgang Gehrcke,weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKE: NS-Vergangenheit in Bun-desministerien aufklären(Drucksache 17/3748) . . . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten Dr. h. c. Wolf-gang Thierse, Siegmund Ehrmann, PetraErnstberger, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der SPD: Personelle und in-stitutionelle Kontinuitäten und Brüchein deutschen Ministerien und Behördender frühen Nachkriegszeit hinsichtlichNS-Vorgängerinstitutionen untersu-chen(Drucksache 17/6297) . . . . . . . . . . . . . . . .

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 15:

Antrag der Abgeordneten Ekin Deligöz, KatjaDörner, Kai Gehring, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN: Personelle und institutionelleKontinuitäten und Brüche in deutschenMinisterien und Behörden der frühenNachkriegszeit hinsichtlich NS-Vorgänger-institutionen systematisch untersuchen(Drucksache 17/6318) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . .

Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . .

13598 C

13598 C

13599 B

13600 A

13601 B

13602 C

13603 D

13604 D

13605 A

13605 A

13605 B

13606 B

13606 D

13607 D

13609 A

Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . .

Anlage 2

Erklärung nach § 31 GO des AbgeordnetenAlbert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU) zurnamentlichen Abstimmung über den Entwurfeines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung desAtomgesetzes und zu den Abstimmungen zuweiteren Energiegesetzen (Tagesordnungs-punkt 4 und Zusatztagesordnungspunkte 3und 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 3

Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichenAbstimmung über den Entwurf eines Drei-zehnten Gesetzes zur Änderung des Atomge-setzes (Tagesordnungspunkt 4 a)

Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . .

Klaus Brähmig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Marco Bülow (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Heidrun Dittrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Ernst Hinsken (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Frank Hofmann (Volkach) (SPD) . . . . . . . . . .

Andrej Hunko (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Hilde Mattheis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dorothee Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Cornelia Möhring (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Yvonne Ploetz (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

13610 A

13611 C

13613 C

13615 A

13615 B

13615 D

13616 A

13616 A

13616 C

13617 D

13618 A

13618 A

13618 B

13618 C

13621 D

13622 A

13623 A

13623 A

13623 C

13623 D

13624 B

13624 B

13624 C

13624 D

13625 C

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XII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sabine Stüber (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . .

Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Johanna Voß (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 4

Erklärung nach § 31 GO der AbgeordnetenRalph Lenkert und Jens Petermann (beideDIE LINKE) zur namentlichen Abstimmungüber den Entwurf eines Dreizehnten Gesetzeszur Änderung des Atomgesetzes (Tagesord-nungspunkt 4 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 5

Erklärung nach § 31 GO der AbgeordnetenEkin Deligöz und Claudia Roth (Augsburg)(beide BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur na-mentlichen Abstimmung über den Entwurf ei-nes Dreizehnten Gesetzes zur Änderung desAtomgesetzes (Tagesordnungspunkt 4 a) . . . .

Anlage 6

Erklärung nach § 31 GO der AbgeordnetenDr. Hermann Ott, Till Seiler, Memet Kilic,Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn und MonikaLazar (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zurnamentlichen Abstimmung über den Entwurfeines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung desAtomgesetzes (Tagesordnungspunkt 4 a) . . . .

Anlage 7

Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichenAbstimmung über den Entwurf eines Drei-zehnten Gesetzes zur Änderung des Atomge-setzes und zur Abstimmung über den Entwurfeines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts-rahmens für die Förderung der Stromerzeu-gung aus erneuerbaren Energien (Tagesord-nungspunkt 4 a und c)

Michael Brand (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Manfred Kolbe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Anlage 8

Erklärung nach § 31 GO der AbgeordnetenGitta Connemann (CDU/CSU) zur namentli-chen Abstimmung über den Entwurf einesDreizehnten Gesetzes zur Änderung desAtomgesetzes und zur Abstimmung über den

13625 D

13626 C

13626 C

13626 D

13627 B

13627 C

13627 D

13628 C

13629 B

13630 A

13630 B

Entwurf eines Gesetzes über Maßnahmen zurBeschleunigung des Netzausbaus Elektrizi-tätsnetze (Tagesordnungspunkt 4 a und h) . . .

Anlage 9

Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmungüber den Entwurf eines Gesetzes zur Neure-gelung des Rechtsrahmens für die Förderungder Stromerzeugung aus erneuerbaren Ener-gien (Tagesordnungspunkt 4 c)

Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Jens Koeppen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 10

Erklärung nach § 31 GO der AbgeordnetenDr. Michael Fuchs und Andreas G. Lämmel(beide CDU/CSU) zur Abstimmung über denEntwurf eines Gesetzes zur Neuregelung desRechtsrahmens für die Förderung der Strom-erzeugung aus erneuerbaren Energien (Tages-ordnungspunkt 4 c) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 11

Erklärung nach § 31 GO des AbgeordnetenDr. Michael Luther (CDU/CSU) zu den Ab-stimmungen:

– Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelungdes Rechtsrahmens für die Förderung derStromerzeugung aus erneuerbaren Ener-gien

– Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelungenergiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften

– Entwurf eines Gesetzes über Maßnahmenzur Beschleunigung des NetzausbausElektrizitätsnetze

(Tagesordnungspunkt 4 c, f und h) . . . . . . . .

Anlage 12

Erklärung nach § 31 GO des AbgeordnetenArnold Vaatz (CDU/CSU) zu den Abstim-mungen über den Entwurf eines Gesetzes zursteuerlichen Förderung von energetischen Sa-nierungsmaßnahmen an Wohngebäuden undüber den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkungder klimagerechten Entwicklung in den Städ-ten und Gemeinden (Tagesordnungspunkt 4 kund m) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 13

Erklärung nach § 31 GO des AbgeordnetenTankred Schipanski (CDU/CSU) zu den Ab-stimmungen:

13631 A

13633 B

13633 D

13634 B

13634 D

13635 C

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 XIII

– Entwurf eines Dreizehnten Gesetzes zurÄnderung des Atomgesetzes

– Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelungdes Rechtsrahmens für die Förderung derStromerzeugung aus erneuerbaren Energien

– Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelungenergiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften

– Entwurfs eines Gesetzes über Maßnahmenzur Beschleunigung des NetzausbausElektrizitätsnetze

– Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichenFörderung von energetischen Sanierungs-maßnahmen an Wohngebäuden

– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung desGesetzes zur Errichtung eines Sonderver-mögens „Energie- und Klimafonds“(EKFG-ÄndG)

– Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung derklimagerechten Entwicklung in den Städ-ten und Gemeinden

– Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Ände-rung schifffahrtsrechtlicher Vorschriften

(Tagesordnungspunkt 4 a, c, f, h, k, l, m und n)

Anlage 14

Erklärung nach § 31 GO des AbgeordnetenWolfgang Nešković (DIE LINKE) zur Bera-tung des Entwurfs eines NeunundzwanzigstenGesetzes zur Änderung des Abgeordnetenge-setzes – Einführung eines Ordnungsgeldes(Zusatztagesordnungspunkt 11) . . . . . . . . . . .

Anlage 15

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:

– Entwurf eines Gesetzes zur Übertragungehebezogener Regelungen im öffentlichenDienstrecht auf Lebenspartnerschaften

– Entwurf eines Gesetzes zur Gleichstellungder eingetragenen Lebenspartnerschaftenmit der Ehe im Bundesbeamtengesetz undin weiteren Gesetzen

(Tagesordnungspunkt 11)

Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU)

Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) . . .

Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13635 C

13636 B

13637 B

13638 C

13639 B

13639 D

13640 B

13640 D

13641 D

Anlage 16Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderungdes Grundgesetzes (Artikel 3 Absatz 3 Satz 1)(Tagesordnungspunkt 12)Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) . . . . . . . .Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . .Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 17Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: Barrierefreie Mobilität und bar-rierefreies Wohnen – Voraussetzungen fürTeilhabe und Gleichberechtigung (Tagesord-nungspunkt 14)Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU) . . .Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .Petra Müller (Aachen) (FDP) . . . . . . . . . . . .Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 18Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: Effektive Regulierung derFinanzmärkte nach der Finanzkrise (Tages-ordnungspunkt 15)Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 19Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungder Anträge:– Keine zusätzlichen finanziellen Mittel des

Bundes oder der Bahn AG für Stuttgart 21– Stuttgart 21 – Kein Weiterbau ohne Nach-

weis der Leistungsfähigkeit und ohne Klä-rung der Kosten und Risiken

(Tagesordnungspunkt 16 und Zusatztagesord-nungspunkt 10)

13642 D13644 A13644 D13645 D13646 C

13647 B

13648 B13649 B13650 B13651 C13652 C

13653 C

13654 B13657 A13658 B13659 C

13660 C

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XIV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU). . . . . . . . . .

Ulrich Lange (CDU/CSU). . . . . . . . . . . . . . . .

Ute Kumpf (SPD). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Werner Simmling (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 20

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: Moratorium jetzt – DringlicheKlärung von Fragen zu Mehrkosten desITER-Projekts (Tagesordnungspunkt 18)

Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) . . . . . . . . .

René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . .

Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 21

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungder Anträge:

– Übermittlung von Fluggastdaten nur nacheuropäischen Grundrechts- und Daten-schutzmaßstäbenhier: Stellungnahme gegenüber der Bun-desregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3

13661 C

13662 D

13663 C

13664 C

13665 B

13666 A

13667 A

13668 A

13669 C

13670 B

13671 A

13671 D

des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4EUZBBG zum RichtlinienvorschlagKOM(2011) 32 endg.

– Gutachten über die geplanten EU-Flug-gastdatenabkommen mit den USA undAustralien beim Gerichtshof der Europäi-schen Union einholen

(Tagesordnungspunkt 21 und Zusatztagesord-nungspunkt 13)

Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 22

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: Besonderheiten der nationa-len Finanzmärkte bei Umsetzung vonBasel III berücksichtigen (Tagesordnungs-punkt 23)

Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13672 C

13673 D

13674 D

13676 A

13676 C

13622 D

13679 D

13680 D

13681 D

13682 B

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13361

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117. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert:Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, möchteich der Kollegin Elvira Drobinski-Weiß und dem Kol-legen Michael Schlecht zum jeweils 60. Geburtstag gra-tulieren, den sie am vergangenen Wochenende gefeierthaben, und im Namen des ganzen Hauses gute Wünscheübermitteln.

(Beifall)

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schlägt anstelledes aus dem Deutschen Bundestag ausgeschiedenen Ab-geordneten Alexander Bonde den Kollegen Dr. GerhardSchick als neues Mitglied im Gremium gemäß § 10 ades Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetzes vor. SindSie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall.Dann ist der Kollege Schick in das Gremium gewählt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-geführten Punkte zu erweitern:

ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemäß Anlage 5Nr. 1 b GO-BT

zu den Antworten der Bundesregierung aufdie Fragen 1 und 2 auf Drucksache 17/6273(siehe 116. Sitzung)

ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Die Energiewende zukunftsfähig gestalten

– Drucksache 17/6292 –

ZP 4 Erste Beratung des von den Abgeordneten JürgenTrittin, Volker Beck (Köln), Cornelia Behm, wei-teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-

NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfseines … Gesetzes zur Änderung des Grundge-setzes (Absicherung des Wiederausstiegs ausder Atomenergie in Artikel 20 a)

– Drucksache 17/6302 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)RechtsausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

ZP 5 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-fahren

a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Wilhelm Priesmeier, Heinz-Joachim Barchmann,Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD

Gemeinsame Europäische Agrarpolitik nach2013 – Konzept zum „Greening“ der Direkt-zahlungen vorlegen

– Drucksache 17/6299 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f)Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Wolfgang Wieland, JerzyMontag, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Verantwortlichkeit der Bundesregierung fürden Umgang des Bundesnachrichtendienstesmit den Fällen Klaus Barbie und AdolfEichmann

– Drucksache 17/4586 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)Auswärtiger Ausschuss (f)InnenausschussAusschuss für Kultur und Medien

Redetext

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13362 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Präsident Dr. Norbert Lammert

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ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionender CDU/CSU und FDP:

Stuttgart 21 – Ergebnis des Stresstests respek-tieren – Keine Blockadepolitik

ZP 6 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs einesNeunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bun-deswahlgesetzes

– Drucksache 17/6290 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)Rechtsausschuss

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten BeateMüller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Tarifvertragssystem stärken – Allgemeinver-bindliche Tariflöhne und branchenspezifischeMindestlöhne erleichtern

– Drucksache 17/4437 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Tourismus

ZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzeszur Änderung des Parteiengesetzes und eines… Gesetzes zur Änderung des Abgeordneten-gesetzes

– Drucksache 17/6291 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und GeschäftsordnungRechtsausschuss

ZP 9 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Dagmar Enkelmann, Herbert Behrens,Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter undder Fraktion DIE LINKE

Kommission zur Überprüfung des Abgeordne-tenrechts – Mehr Transparenz und Verant-wortung für das Gemeinwohl

– Drucksache 17/6305 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (f)Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss

ZP 10 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms, StephanKühn, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Stuttgart 21 – Kein Weiterbau ohne Nachweisder Leistungsfähigkeit und ohne Klärung derKosten und Risiken

– Drucksache 17/6320 –

ZP 11 a) Zweite und dritte Beratung des von den Frak-tionen der CDU/CSU, SPD und FDP einge-brachten Entwurfs eines NeunundzwanzigstenGesetzes zur Änderung des Abgeordneten-gesetzes – Einführung eines Ordnungsgeldes

– Drucksache 17/5471 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge-schäftsordnung (1. Ausschuss)

– Drucksache 17/6309 –

Berichterstattung:Abgeordnete Bernhard KasterChristian Lange (Backnang)Jörg van EssenDr. Dagmar EnkelmannVolker Beck (Köln)

b) Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Geschäftsordnungsausschusses

Änderung der Geschäftsordnung des Deut-schen Bundestages

hier: Einführung eines Ordnungsgeldes(§§ 36 bis 39 GO-BT)

– Drucksache 17/6309 –

Berichterstattung:Abgeordnete Bernhard KasterChristian Lange (Backnang)Jörg van EssenDr. Dagmar EnkelmannVolker Beck (Köln)

ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaSchmidt (Aachen), Siegmund Ehrmann, MartinDörmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD sowie der Abgeordneten AgnesKrumwiede, Claudia Roth (Augsburg), EkinDeligöz, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Ratifizierung des UNESCO-Übereinkommenszur Bewahrung des immateriellen Kulturerbesvorbereiten und unverzüglich umsetzen

– Drucksache 17/6301 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Tourismus

ZP 13 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Konstantin von Notz, Wolfgang Wieland,Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gutachten über die geplanten EU-Fluggastda-tenabkommen mit den USA und Australien

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13363

Präsident Dr. Norbert Lammert

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beim Gerichtshof der Europäischen Union ein-holen

– Drucksache 17/6331 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

ZP 14 Beratung des Antrags der AbgeordnetenSiegmund Ehrmann, Martin Dörmann, PetraErnstberger, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD

„Kulturelles Erbe 2.0“ – Digitalisierung vonKulturgütern beschleunigen

– Drucksache 17/6296 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss

ZP 15 Beratung des Antrags der Abgeordneten EkinDeligöz, Katja Dörner, Kai Gehring, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN

Personelle und institutionelle Kontinuitätenund Brüche in deutschen Ministerien und Be-hörden der frühen Nachkriegszeit hinsichtlichNS-Vorgängerinstitutionen systematisch un-tersuchen

– Drucksache 17/6318 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

ZP 16 Beratung des Antrags der Abgeordneten GünterGloser, Dr. Rolf Mützenich, Rainer Arnold, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Den Nahost-Friedensbemühungen neuenSchwung verleihen

– Drucksache 17/6298 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 17 Beratung des Antrags der Abgeordneten ManuelSarrazin, Priska Hinz (Herborn), Fritz Kuhn, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

zu den Legislativvorschlägen der Europäi-schen Kommission „WirtschaftspolitischeSteuerung in der EU“ (KOM [2010] 522, 523,524, 525, 526, 527)

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3des Grundgesetzes

Bundesregierung muss unverzüglich euro-päisch gestalten

– Drucksache 17/6316 –

ZP 18 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)zu dem Antrag der Abgeordneten Roland Claus,Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

zu dem Vorschlag für eine Verordnung (EU)Nr. …/… des Rates zur Änderung der Verord-nung (EG) Nr. 1467/97 über die Beschleuni-gung und Klärung des Verfahrens bei einemübermäßigen Defizit

– Ratsdok.-Nr. 14496/10 –

zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Ratesüber die Anforderungen an die haushaltspoli-tischen Rahmen der Mitgliedstaaten

– Ratsdok.-Nr. 14497/10 –

zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu-ropäischen Parlaments und des Rates über diewirksame Durchsetzung der haushaltspoliti-schen Überwachung im Euro-Währungsgebiet

– Ratsdok.-Nr. 14498/10 –

zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu-ropäischen Parlaments und des Rates zur Än-derung der Verordnung (EG) Nr. 1466/97 überden Ausbau der haushaltspolitischen Überwa-chung und der Überwachung und Koordinie-rung der Wirtschaftspolitiken

– Ratsdok.-Nr. 14520/10 –

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3des Grundgesetzes

– Drucksachen 17/5904, 17/6168 –

Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider (Erfurt)Otto FrickeRoland ClausPriska Hinz (Herborn)

ZP 19 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-ordneten Sahra Wagenknecht, Michael Schlecht,Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKE

zu dem Vorschlag einer Verordnung des Euro-päischen Parlaments und des Rates überDurchsetzungsmaßnahmen zur Korrekturübermäßiger makroökonomischer Ungleich-gewichte im Euro-Währungsgebiet (Ratsdok.14512/10, KOM[2010] 525)

und

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13364 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Präsident Dr. Norbert Lammert

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zu dem Vorschlag einer Verordnung des Euro-päischen Parlaments und des Rates über dieVermeidung und Korrektur makroökonomi-scher Ungleichgewichte (Ratsdok. 14515/10,KOM[2010] 527)

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3des Grundgesetzes

– Drucksachen 17/5905, 17/6175 –

Berichterstattung:Abgeordneter Garrelt Duin

ZP 20 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIELINKE:

Einschränkung des Versammlungsrechts durchMassenfunkzellenabfrage

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.

Die Tagesordnungspunkte 9, 10, 13, 17 a und 40 wer-den abgesetzt. Hierdurch kommt es zu den ebenfalls inder Zusatzpunktliste dargestellten Änderungen des Ab-laufs.

Schließlich mache ich noch auf zwei nachträglicheAusschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunkt-liste aufmerksam:

Der am 10. Juni 2011 überwiesene nachfolgende Ge-setzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirt-schaft und Technologie (9. Ausschuss) zur Mitbera-tung überwiesen werden:

Gesetzentwurf der Bundesregierung

Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung desKreislaufwirtschafts- und Abfallrechts

– Drucksache 17/6052 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Der am 27. Mai 2011 überwiesene nachfolgende An-trag soll zusätzlich dem Innenausschuss (4. Ausschuss)zur Mitberatung überwiesen werden:

Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, KatrinKunert, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneterund der Fraktion DIE LINKE

Rekommunalisierung beschleunigen – Öffent-lich-Private-Partnerschaften stoppen

– Drucksachen 17/5776 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss (f)Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Können Sie sich auch damit anfreunden? – Das ist of-fensichtlich so. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis p sowiedie Zusatzpunkte 3 und 4 auf:

4 a) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak-tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachtenEntwurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur Än-derung des Atomgesetzes

– Drucksache 17/6070 –

– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesDreizehnten Gesetzes zur Änderung desAtomgesetzes

– Drucksache 17/6246 –

– Zweite und dritte Beratung des von der Frak-tion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes für eine beschleunigte Stilllegung vonAtomkraftwerken

– Drucksache 17/5179 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Dorothee Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, weiteren Abgeordne-ten und der Fraktion DIE LINKE eingebrach-ten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderungdes Atomgesetzes – Keine Übertragbarkeitvon Reststrommengen

– Drucksache 17/5472 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Jürgen Trittin, Renate Künast, SylviaKotting-Uhl, weiteren Abgeordneten und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Dreizehnten Gesetzeszur Änderung des Atomgesetzes und zurWiederherstellung des Atomkonsenses

– Drucksache 17/5035 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Jürgen Trittin, Renate Künast, SylviaKotting-Uhl, weiteren Abgeordneten und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Vierzehnten Gesetzeszur Änderung des Atomgesetzes – Abschal-ten der acht unsichersten Atomkraftwerke

– Drucksache 17/5180 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Jürgen Trittin, Renate Künast, SylviaKotting-Uhl, weiteren Abgeordneten und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än-derung des Atomgesetzes (Beendigung derNutzung von Atomkraftwerken zur kom-merziellen Energieerzeugung in Deutsch-land)

– Drucksache 17/5931 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit (16. Ausschuss)

– Drucksache 17/6361 –

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Präsident Dr. Norbert Lammert

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Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Georg NüßleinMarco BülowMichael KauchDorothee MenznerSylvia Kotting-Uhl

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus-schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/6362 –

Berichterstattung:Abgeordnete Bernhard Schulte-DrüggelteSören BartolHeinz-Peter HausteinSven-Christian KindlerMichael Leutert

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten DorotheeMenzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE

Sofortige Stilllegung der sieben ältestenAtomkraftwerke und des AtomkraftwerksKrümmel

– zu dem Antrag der Abgeordneten DorotheeMenzner, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKE

Atomausstieg bis 2014 – Für eine erneuer-bare und demokratische Energieversorgung

– zu dem Antrag der Abgeordneten Ingrid Nestle,Oliver Krischer, Bärbel Höhn, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN

Versorgungssicherheit transparent machen –Keine Experimente mit atomarer „Kaltre-serve“

– Drucksachen 17/5478, 17/6092, 17/6109,17/6361 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Georg NüßleinMarco BülowMichael KauchDorothee MenznerSylvia Kotting-Uhl

c) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak-tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung desRechtsrahmens für die Förderung derStromerzeugung aus erneuerbaren Energien

– Drucksache 17/6071 –

– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Neuregelung des Rechtsrahmens

für die Förderung der Stromerzeugung auserneuerbaren Energien

– Drucksache 17/6247 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit (16. Ausschuss)

– Drucksache 17/6363 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Maria FlachsbarthDirk BeckerMichael KauchDorothee MenznerHans-Josef Fell

d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)– zu dem Antrag der Fraktion der SPD

Energiewende jetzt– zu dem Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn,

Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENAtomzeitalter beenden – Energiewende jetzt

– Drucksachen 17/5182, 17/5202, 17/6363 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Maria FlachsbarthDirk BeckerMichael KauchDorothee MenznerHans-Josef Fell

e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)– zu dem Antrag der Fraktion der SPD

10 Jahre EEG – Auf dem besten Weg zu ei-ner ökologischen und sozialen Energiewende

– zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-JosefFell, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENErneuerbare Energie ausbauen statt Atom-kraft verlängern

– Drucksachen 17/778, 17/799, 17/4953 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Maria FlachsbarthDirk BeckerMichael KauchDorothee MenznerHans-Josef Fell

f) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak-tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung en-ergiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 17/6072 –

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13366 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Präsident Dr. Norbert Lammert

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– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Neuregelung energiewirtschafts-rechtlicher Vorschriften

– Drucksache 17/6248 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus-schuss)

– Drucksache 17/6365 –

Berichterstattung:Abgeordneter Rolf Hempelmann

g) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie (9. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten RolfHempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil(Peine), weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD

Auf dem Weg zu einem nachhaltigen, effi-zienten, bezahlbaren und sicheren Energie-system

– zu dem Antrag der Abgeordneten RolfHempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil(Peine), weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD

Programm für eine nachhaltige, bezahlbareund sichere Energieversorgung

– zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay,Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Schutzschirm für Stromkunden – Bezahl-bare Energiepreise gewährleisten

– Drucksachen 17/5181, 17/5481, 17/5760,17/6365 –

Berichterstattung:Abgeordneter Rolf Hempelmann

h) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak-tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes über Maßnahmenzur Beschleunigung des Netzausbaus Elek-trizitätsnetze

– Drucksache 17/6073 –

– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes über Maßnahmen zur Beschleunigungdes Netzausbaus Elektrizitätsnetze

– Drucksache 17/6249 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Wirtschaft und Technologie(9. Ausschuss)

– Drucksache 17/6366 –

Berichterstattung:Abgeordnete Ingrid Nestle

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus-schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/6367 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Michael LutherKlaus BrandnerOtto FrickeRoland ClausPriska Hinz (Herborn)

i) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-ordneten Ingrid Nestle, Hans-Josef Fell,Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Modernisierung der Stromnetze – Bürgernah,zügig, für erneuerbare Energien

– Drucksachen 17/5762, 17/6366 –

Berichterstattung:Abgeordnete Ingrid Nestle

j) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-ordneten Rolf Hempelmann, Dirk Becker,Hubertus Heil (Peine), weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPD

Die Energieeffizienz verbessern – Auf dem eu-ropäischen Sondergipfel zur Energiepolitikam 4. Februar 2011 verbindliche Maßnahmenvereinbaren

– Drucksachen 17/4528, 17/4785 –

Berichterstattung:Abgeordnete Ingrid Nestle

k) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak-tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur steuerlichenFörderung von energetischen Sanierungs-maßnahmen an Wohngebäuden

– Drucksache 17/6074 –

– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur steuerlichen Förderung vonenergetischen Sanierungsmaßnahmen anWohngebäuden

– Drucksache 17/6251 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 17/6358 –

Berichterstattung:Abgeordnete Olav Gutting

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13367

Präsident Dr. Norbert Lammert

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Lothar Binding (Heidelberg)Dr. Birgit Reinemund

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus-schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/6360 –

Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider (Erfurt)Otto FrickeRoland ClausPriska Hinz (Herborn)

l) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Änderung des Gesetzes zur Er-richtung eines Sondervermögens „Energie-und Klimafonds“ (EKFG-ÄndG)

– Drucksache 17/6252 (neu) –

– Zweite und dritte Beratung des von den Frak-tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung desGesetzes zur Errichtung eines Sonderver-mögens „Energie- und Klimafonds“(EKFG-ÄndG)

– Drucksache 17/6075 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts-ausschusses (8. Ausschuss)

– Drucksache 17/6356 –

Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleSören BartolOtto FrickeRoland ClausSven-Christian Kindler

m)– Zweite und dritte Beratung des von den Frak-tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Stärkung derklimagerechten Entwicklung in den Städtenund Gemeinden

– Drucksache 17/6076 –

– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Stärkung der klimagerechten Ent-wicklung in den Städten und Gemeinden

– Drucksache 17/6253 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung(15. Ausschuss)

– Drucksache 17/6357 –

Berichterstattung:Abgeordneter Hans-Joachim Hacker

n) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak-tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten

Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände-rung schifffahrtsrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 17/6077 –

– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesErsten Gesetzes zur Änderung schifffahrts-rechtlicher Vorschriften

– Drucksache 17/6254 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung(15. Ausschuss)

– Drucksache 17/6364 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Valerie Wilms

o) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antragder Abgeordneten Daniela Wagner, OliverKrischer, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN

Ungebundene EU-Mittel aus dem Konjunk-turpaket (EEPR) unverzüglich für mehr Ener-gieeffizienz und erneuerbare Energien nutzen

– Drucksachen 17/4017, 17/5225 –

Berichterstattung:Abgeordneter Volkmar Vogel (Kleinsaara)

p) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Jan Korte, Dorothee Menzner, Dr. BarbaraHöll, weiteren Abgeordneten und der FraktionDIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines… Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes(Gesetz zur grundgesetzlichen Verankerungdes Ausstiegs aus der Atomenergie)

– Drucksache 17/5474 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses (4. Ausschuss)

– Drucksache 17/6349 –

Berichterstattung:Abgeordnete Ingo WellenreutherMichael Hartmann (Wackernheim)Dr. Stefan RuppertJan KorteWolfgang Wieland

ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Die Energiewende zukunftsfähig gestalten

– Drucksache 17/6292 –

ZP 4 Erste Beratung des von den Abgeordneten JürgenTrittin, Volker Beck (Köln), Cornelia Behm, wei-teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfseines … Gesetzes zur Änderung des Grundge-

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Präsident Dr. Norbert Lammert

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setzes (Absicherung des Wiederausstiegs ausder Atomenergie in Artikel 20 a)

– Drucksache 17/6302 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)RechtsausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Es liegen Entschließungsanträge der Fraktionen Bünd-nis 90/Die Grünen und Die Linke vor. Über vier Vorla-gen werden wir im Anschluss an die Debatte namentlichabstimmen.

Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-sicherheit hat die Anträge der Fraktion der SPD, derFraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen zu Rückstellungen im Kernenergiebereich aufden Drucksachen 17/5901, 17/5480 und 17/6119 nicht inseine Beschlussempfehlung einbezogen. Diese Vorlagensollen heute nicht behandelt werden. – Ich höre auchdazu keinen Widerspruch. Dann können wir so verfah-ren.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. –Auch dazu darf ich Einvernehmen feststellen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Bundesminister Dr. Norbert Röttgen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,Naturschutz und Reaktorsicherheit:

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Das Hohe Haus wird heute nach mindestens 30-jäh-riger kontroverser und zum Teil unversöhnlicher Debatteüber die Energiepolitik in unserem Land einen energie-politischen Konsens beschließen. Das ist ein Ereignis fürsich. Ich glaube, dass das heute im Zentrum steht undauch als Signal an unser Land und an die Bevölkerunggeht.

Wir haben monatelang – beileibe nicht nur in den letz-ten drei Monaten – über Cent-Beträge, über halbe Pro-zentpunkte und über Jahreszahlen diskutiert. Diese De-batte hat das Land geprägt und geht heute über dieFraktionen und die Parteien hinweg in eine gemeinsameEntscheidung des Bundestages, des Parlaments, ein. Ichglaube, nach den Gesprächen kann man sagen, dass sieauch von allen Bundesländern akzeptiert wird und dasssie ihr in der nächsten Woche zustimmen werden. Ichglaube, dass das eine wirkliche Weichenstellung ist, mitder unser Land jetzt dieses gemeinsames Projekt be-schließt. Es ist ein nationales Gemeinschaftsprojekt, dasheute beschlossen wird. Das ist ein sehr guter Tag fürDeutschland, für unser Land.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Zuruf von der SPD: Wir wa-ren schon einmal so weit!)

Es ist damit nichts beendet, sondern dieses nationaleGemeinschaftswerk geht jetzt los. Die Deutschen, unserLand, wollen dabei mitmachen. Es ist wirklich ein Ge-

meinschaftsprojekt, nicht nur der Politik, sondern desgesamten Landes.

(Thomas Oppermann [SPD]: Aber es ist nicht national!)

Es sind die Unternehmen, die mitmachen wollen unddie mitmachen werden. Es ist das Handwerk, das sichdarauf freut, unser Land erneuerbar, innovativ und effi-zient zu machen.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Es ist die Elektroindustrie. Es ist die IT-Branche, die sichdarauf freut und vorbereitet hat, mit intelligenten Netzenund intelligenten Leitungen ein ganz neues Industriefeldzu entwickeln.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Röttgen hat’s gepackt!)

Es ist die Chemieindustrie. Es ist die Automobilindustriemit dem Projekt der Elektromobilität. Es ist der Maschi-nenbau. Es ist die Energiewirtschaft.

Präsident Dr. Norbert Lammert:Einen Augenblick, bitte. Wir haben uns gerade darauf

verständigt, zweieinhalb Stunden zu debattieren. Dabeibesteht reichlich Gelegenheit, das, was jetzt in Zwi-schenrufen völlig unverständlich herüberkommt, in einerfür die deutsche Öffentlichkeit nachvollziehbaren Weisevorzutragen. – Im Augenblick hat der Umweltministerdas Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Klaus Ernst [DIE LINKE]: Norbert, dannmach mal!)

Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,Naturschutz und Reaktorsicherheit:

Meine Damen und Herren, ich glaube, dass man überjedes Detail reden und dass man in dem einen oder ande-ren Punkt auch unterschiedlicher Auffassung sein kann.Aber man muss auch ein Gespür dafür haben, dass esjetzt nicht nur darum geht, recht zu haben und in einzel-nen Punkten auf seiner Meinung zu bestehen,

(Lachen bei der SPD)

sondern man muss auch begreifen, dass jetzt dieses na-tionale Werk in Deutschland losgeht. Wir laden Sie nocheinmal dazu ein und begrüßen es, dass Sie bei diesemProjekt dabei sind. Es ist positiv für unser Land, dass esjetzt losgeht. Sie sollten jetzt endgültig über Ihren Schat-ten springen. Das tun andere auch.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Lachen bei der SPD)

Es ist doch ausgesprochen positiv, wenn etwa derChef von Eon, der die Entscheidung über den Ausstiegaus der Kernenergie so nicht befürwortet, sondern derdagegen argumentiert hat, jetzt, nachdem mit dem heuti-gen Tag absehbar und klar ist, wie die Entscheidung aus-geht, öffentlich erklärt, diese Energiewende sei eine „rie-sige Chance“ für das Land. Es ist doch positiv, dass jetztalle, auch die Energiewirtschaft, sagen: Wir stellen uns

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Bundesminister Dr. Norbert Röttgen

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an die Spitze dieser Bewegung, die vorteilhaft sein wirdund die große Chancen für unser Land beinhaltet.

Wir alle hier im Haus wollen das gemeinsam. Es istdie Koalition, die diesen Prozess angeführt hat,

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

aber wir alle kommen in diesem Prozess zusammen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Es ist der Koalitionsvertrag, der dieses Land in das Zeit-alter der erneuerbaren Energien führt.

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Heuchelei!)

Es sind nicht nur die Unternehmen, die an diesem Ge-meinschaftswerk mitwirken werden, sondern das sinddie Wissenschaft und die Forschung. Das sind die140 000 Ingenieure unseres Landes, die das als ihr Pro-jekt ansehen. Es sind ganze Institute und Lehrstühle,Forscher und Forschernetzwerke – ich war in der letztenWoche in der TH Aachen –, die sich jetzt zu nationalenZentren der Energieforschung zusammenschließen, weilsie wissen, dass es um die Zukunft unseres Landes geht.Diese Forscher, Ingenieure, Wissenschaftler machen da-bei mit. Das macht unser Land stark.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Es sind die Bürgerinnen und Bürger, die dieses Pro-jekt der Energiewende wollen, die mitmachen wollenund werden.

(Burkhard Lischka [SPD]: Jetzt auch die CDU!)

Sie sind dabei. Sie wissen, dass dieser Prozess nicht um-sonst ist. Natürlich ist das ein Investitionsvorhaben. Na-türlich kostet das auch etwas. Aber es wird keinen über-fordern. Die Leute wissen das. Die Leute wissen auch:Wenn man die neue Energieversorgung haben möchte,dann gehört auch eine neue Infrastruktur dazu. Wir brau-chen die Leute gar nicht zu belehren und so tun, als wür-den sie sich immer nur die Rosinen herauspicken. Ichbin davon überzeugt, dass die Menschen in diesemLande bei diesem Projekt der Energiewende und derneuen Energiepolitik voll dabei sind. Es ist zuallererstein Bürgerprojekt, das heute in Gang gesetzt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Das ha-ben die Bürger gegen Sie durchgesetzt!)

Denn genau das ist der Punkt: dass mit dem heutigen Tagdie Gesellschaft an den Start geht. Damit sind alle Strei-tigkeiten und Auseinandersetzungen in den Grundfragenbeigelegt.

Es mag zwar sein – so empfinde ich das bei IhrenZwischenrufen –, dass der eine oder andere doch nochSchwierigkeiten hat, sozusagen ein parteipolitischesThema zu verlieren,

(Zurufe von der SPD: Oh!)

aber dadurch, dass der eine oder andere von Ihnen einparteitaktisches Thema verliert, gewinnt das Land umsomehr. Sie haben sich in Ihren Parteien richtig entschie-den, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vollziehen Sie diesen Schritt nun konsequent weiter!Aus solchen Streitigkeiten und Spaltungen der Gesell-schaft mag man zwar parteipolitisches Kapital schlagen,

(Widerspruch bei der SPD)

aber jetzt geht es darum, das Land voranzubringen.

(Johannes Kahrs [SPD]: Sie haben zehn Jahre lang Zeit gehabt!)

Das haben Sie auch verstanden. Sie sollten sich in IhrenZwischenrufen nicht weniger intelligent benehmen alsgleich in Ihrem Abstimmungsverhalten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bekennen Sie sich dazu, dass Sie mitmachen! Es istrichtig, dass Sie mitmachen, weil es zu dem Konsens da-zugehört. Sie müssen und dürfen auch dazu stehen.

Was geschieht in der Sache? Wir haben beschlossen,die Kernenergie in Deutschland mit klaren Zeitpunktenversehen zu beenden.

Präsident Dr. Norbert Lammert:Herr Minister, gestatten Sie Zwischenfragen?

Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,Naturschutz und Reaktorsicherheit:

Nein, ich würde gerne im Zusammenhang reden.

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mehr Mut!)

– Ja, ganz bestimmt.

Wir werden die Kernenergie erstmalig bezogen aufkonkrete Daten für jedes Kernkraftwerk in Deutschlandbeenden. Es sind jetzt acht Kernkraftwerke, die nichtmehr ans Netz gehen werden. Zwei davon sind seit Jah-ren nicht am Netz. Das heißt, es geht darum, dass6,5 Gigawatt Leistung nicht mehr ans Netz gehen. Dassind 6,5 von 93 Gigawatt gesicherter Leistung bei82 Gigawatt Spitzenlast, die auf uns zukommen. Das istabsolut verkraftbar.

Das ist alles anspruchsvoll, aber das werden wir si-cher, weil wir alle diese Themen im Blick haben, reali-sieren und schaffen können. Ab dann gibt es einen suk-zessiven und klar gestalteten Prozess, der Sicherheitschafft. Alle können sich jetzt darauf einstellen und wer-den sich auch darauf einstellen.

Wir werden den Umstieg schaffen. Denn der Kon-sens, den wir herbeiführen, ist weit mehr als ein Aus-stiegskonsens: Es ist ein Umstiegskonsens. Es geht umden Umstieg auf erneuerbare Energien mit entsprechen-der Förderung, die aber immer weniger werden soll. Esist vielleicht einer der Diskussionspunkte, über die wirnoch reden müssen.

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Bundesminister Dr. Norbert Röttgen

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Meine Vorstellung bzw. die Vorstellung der Koalitionist nicht, dass es umso besser ist, je länger und höher dieFörderung gewährt wird. Der Ehrgeiz bei den erneuerba-ren Energien liegt vielmehr darin, dass sie im Markt an-kommen und eines Tages keine Förderung mehr bekom-men. Wir wollen nämlich die neuen Technologienvorrangig mit marktwirtschaftlichen Mitteln in denMarkt einführen. Dieses Ziel verfolgen wir mit demEEG und der Novelle des EEG.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir machen darum das Erneuerbare-Energien-Gesetzso wirtschaftsfreundlich und industriefreundlich, wie esnoch nie war, weil es alte Gegensätze sind, die neuenTechnologien zu fördern und gleichzeitig Industrielandbleiben zu wollen. Um das klar zu sagen: Wir als Koali-tion wollen alle Beiträge leisten, dass wir Industrielandbleiben. Wir wollen wirtschaftlich erfolgreich sein. Wirwollen sogar an der Spitze stehen. Wir wollen Wachstumhaben, aber wir wollen und werden es schaffen, Wachs-tum so zu organisieren, dass wir nicht die Lebensgrund-lagen der nächsten Generationen aufzehren. Das ist dasgroße Projekt, das wir in der Energiepolitik realisieren.Weit darüber hinaus schaffen wir eine Perspektive fürNatur und generationenverträgliches Wachstum, nationalund international.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Energieversorgung wird dezentraler werden. Pho-tovoltaik, Windenergie an Land und Biomasse bedeutendezentrale Energieversorgung. Es macht keinen Sinn,die eine Technologie gegen die andere auszuspielen.Windenergie an Land und Windenergie auf hoher Seesind unterschiedliche Technologien in unterschiedlichenEntwicklungsstadien. Sie werden von uns spezifisch ge-fördert, weil wir die Technologien jetzt loslassen undsich bewähren lassen wollen. Dann werden sich die bes-seren durchsetzen.

Die Versorgung mit erneuerbaren Energien wird mit-telständischer sein. Wir werden als großes Industrielandweiterhin das Engagement großer Energieversorgungs-unternehmen brauchen. Aber es werden sich viel mehrMittelständler dort engagieren. Ob kleine oder mittel-ständische Unternehmen: Die Energieversorger werdendezentral Energie erzeugen.

Die Energieversorgung in Deutschland wird technolo-gisch anspruchsvoller werden, nicht nur die konventio-nellen Technologien, die fossile Energieversorgung unddie nukleare Energieversorgung. Es wird vielmehr einpermanenter technologischer Lernprozess und Innova-tionsprozess in unserem Land starten. Die Energiever-sorgung wird sehr viel stärker vom Verbraucher her ge-steuert, weil wir nicht mehr nur Leitungen haben, in dieElektronen hineingeschossen werden – dabei ist der Ver-braucher ein passiver Abnehmer –, sondern weil der Ver-braucher in Zukunft mit intelligenten Zählern und intelli-genten Leitungen selber bestimmen kann, wann erwelchen Strom zu welchem Preis beziehen will. Die Au-tonomie des Verbrauchers wird erheblich gestärkt wer-den.

Wir werden eine heimischere Energieerzeugung be-kommen. Wir werden die Abhängigkeiten vom Import,politische und geopolitische Abhängigkeiten, aber auchdie Volatilität des Preises, also wirtschaftliche Abhän-gigkeiten, reduzieren. Wir werden den Import, also dasswir in Deutschland Geld verdienen und dafür Energie-brennstoff im Ausland kaufen müssen, deutlich reduzie-ren. Wir werden die Einkäufe aus dem Ausland ersetzendurch eine Wertschöpfung in Deutschland. Dadurch sindbereits bis heute 350 000 Arbeitsplätze in dieser Brancheentstanden. Es werden mehr werden, weil wir die heimi-sche Wertschöpfung mit der Energieversorgung fördern.

(Thomas Oppermann [SPD]: Heimisches Gas!)

Sie wird auch wettbewerbsfähiger werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Natürlich ist das ein Lernprozess, bei dem es um stän-dige Anpassungen geht.

(Lachen und Beifall bei der SPD und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber[SPD]: Vor allem ein persönlicher!)

– Das ist klar. Manche mögen die Selbsteinschätzung ha-ben, dass sie nicht mehr lernen müssen und schon immeralles wissen. Aber denjenigen, die von sich selber glau-ben und sich selber beklatschen, dass sie schon immeralles gewusst haben und die beste Politik für Deutsch-land machen, sage ich: Ein bisschen Demut täte allengut.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir wollen das Land nach vorne führen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Die erneuerbaren Energien werden durch diese Bun-desregierung nach vorne gebracht. Es ist diese Koalition,die die erneuerbaren Energien nach vorne führt. Der An-teil der erneuerbaren Energien beträgt derzeit 19 Pro-zent. Es ist diese Koalition, die in den letzten Monatenden nun erzielten Konsens organisiert hat

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

und einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, dass unserLand nun das – so glaube ich – mit Abstand bedeut-samste Investitions-, Innovations- und Modernisierungs-projekt in Angriff nimmt. Wir legen dafür die entspre-chenden Gesetze vor. Es handelt sich um achtGesetzentwürfe, ein Gesetzgebungspaket, das den Rah-men dafür absteckt.

Manche im Ausland fragen: Werden die Deutschendas schaffen? Kann man das überhaupt schaffen? Dennes ist erstmalig und deshalb bislang einmalig, dass sichein großes Industrieland bereit erklärt, eine solche tech-nologisch-wirtschaftliche Revolution durchzuführen.Wir tun das, weil wir glauben, dass das gut für unserLand ist. Aber selbst diejenigen im Ausland, die das be-klagen, sagen: Wenn es ein Land schaffen kann, dann istes Deutschland. Die Botschaft des heutigen Tages lautet:

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Bundesminister Dr. Norbert Röttgen

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Die Deutschen machen sich ans Werk. Es wird gut fürunser Land sein, weil wir alle zusammenstehen. Alsomachen wir uns ans Werk!

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Das Wort erhält nun der Kollege Sigmar Gabriel für

die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Sigmar Gabriel (SPD):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man

eben die Augen bei der Rede von Herrn Röttgen ge-schlossen hat, hat man sich gefragt: Ist er es eigentlichselber oder sein Karikaturist, der da spricht? Das warnicht ganz klar.

(Heiterkeit bei der SPD)

Herr Röttgen, ich nehmen Ihnen Ihre Rede wirklichnicht übel. Wer zur Atomenergie seine Meinung so oftgewechselt hat wie Sie, immer im Zusammenhang mitder Frage „Welchen nächsten Job peile ich eigentlich an,den des BDI-Geschäftsführers, den im Kabinett odervielleicht Schwarz-Grün?“, dem darf man nicht übelnehmen, dass er so laut und mit so viel Pathos spricht;denn so jemand muss sich eigentlich selber erst einmalvom Gegenteil dessen, was er vorher so alles erzählt hat,überzeugen.

(Beifall bei der SPD)

Alle Achtung!

In einem hat er allerdings recht: Die Bürgerinnen undBürger sind die Trägerinnen und Träger der Ener-giewende. Nur sind sie das, Herr Röttgen, schon seit fast30 Jahren. Die Wahrheit ist: Die Bürgerinnen und Bürgerhaben dies gegen Sie und Ihre Regierungskoalitiondurchgesetzt. Das ist es, was hier in Deutschland stattge-funden hat.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Natürlich wird der heutige Tag in die Geschichts-bücher eingehen; es ist wirklich ein historischer Tag. Dieweit übergroße Mehrheit des Hauses entscheidet sich ge-gen die Atomenergie und für den Ausstieg. Die SPD tutdas mit großem Selbstbewusstsein. Wir haben diesenSchritt vor fast 30 Jahren bereits als notwendig erachtet,vor der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl.

(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN)

– Ja, 1983, Hans-Jochen Vogel. – Wir haben das in einerArt und Weise getan, Herr Röttgen, an der Sie sich hät-ten ein Beispiel nehmen können. Willy Brandt hat vor25 Jahren öffentlich erklärt, sinngemäß: Dass wir einmalan die Atomenergie geglaubt haben, das war ein Fehler.Wir haben uns getäuscht in unserem Glauben an die Un-fehlbarkeit des Menschen und der Technik, und wir sind

als Sozialdemokraten bereit, zu sagen: Diesen Fehlermüssen wir rückgängig machen.

Den Mut und die Größe, die Brandt und Vogel damalshatten, hätten Sie heute an den Tag legen müssen. Dannwäre das, was Sie da so erzählt haben, etwas glaubwür-diger geworden.

(Beifall bei der SPD)

Millionen von Menschen brauchten keine Ethik-Kommission in Deutschland, um zu wissen, dass es eineHybris ist, den Menschen fast gottgleich zum unfehlba-ren Herrscher der bislang größten Risikotechnologie zuerklären. Deshalb ist klar, der Unterschied zwischen Ih-nen bei CDU/CSU und FDP einerseits und uns und auchden Grünen andererseits liegt auf der Hand: Wir be-schließen das hier aus voller Überzeugung, Sie jedochaus Gründen des schieren Machterhalts, der selbstver-schuldeten Alternativlosigkeit und einer Haltung, die Siestets gern anderen seit Jahr und Tag vorwerfen, nämlichblankem Opportunismus.

(Beifall bei der SPD)

Herr Röttgen, ich weiß nicht, ob es Ihnen entgangenist: Wir haben in diesem Haus bereits einmal einen Ener-giekonsens verabschiedet. 1998 hatten wir mit den Grü-nen endlich die Mehrheit und konnten nach einem lan-gen Diskussionsprozess mit allen Teilen derGesellschaft, insbesondere mit der Energiewirtschaftund der Industrie, dann vor elf Jahren den Ausstieg ausder Atomenergie beschließen.

Mehr als 20 Jahre Zeit wollten wir uns für diesenAusstieg nehmen – wir sind damals auch von den Um-weltverbänden kritisiert worden, dass wir es nichtschneller wollten –, 20 Jahre Zeit, Schritt für Schritt he-raus aus der Atomenergie, Schritt für Schritt hinein indie erneuerbaren Energien. Das ist der große Unter-schied zu dem politischen Handeln dieser Regierung.Noch vor einem halben Jahr wollten CDU/CSU undFDP, Frau Merkel und Herr Röttgen an der Spitze, dieLaufzeiten der Atomkraftwerke um 14 Jahre verlängern.Sie wollten 14 Jahre längere Laufzeiten selbst für alteAtomkraftwerke. Aus einem verlässlich geplanten Aus-stieg aus der Atomenergie machten sie eine für die In-dustrie scheinbar verlässliche Verlängerung der Nutzungder Atomenergie.

Die Folgen waren klar: Die Investitionen in die erneu-erbaren Energien gerieten ins Stocken. Die Modernisie-rung des Kraftwerksparks kam zum Erliegen. Entlassun-gen bei den Kraftwerksbauern waren die Folge. Sie,meine Damen und Herren, Frau Merkel, Herr Röttgen,Herr Westerwelle und alle, die dazugehören, haben eineder größten Erfolgsgeschichten der BundesrepublikDeutschland, die erneuerbaren Energien, im vollen Laufgestoppt. Das ist es, was Sie hier vor einigen Monatengetan haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: So einSchwachsinn!)

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13372 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Sigmar Gabriel

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Ich finde es gut, Herr Röttgen, dass Sie sich hier hinstel-len und sagen: 350 000 Arbeitsplätze haben wir geschaf-fen. – Ja, mit einem Erneuerbare-Energien-Gesetz, ge-gen das Sie, Frau Bundeskanzlerin, hier im Hausgestimmt haben! Das ist doch die Wahrheit, über die wirhier heute sprechen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Vor einem halben Jahr haben Sie Millionen von Men-schen verunsichert. Diejenigen, die längst zum Trägerder Energiewende geworden waren, Herr Röttgen,brauchten Sie nicht zu überzeugen; denn das waren sieschon. Denjenigen haben Sie gesagt: April, April,marsch zurück ins Atomzeitalter!

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! Unsinn!)

Das alles nur, weil Sie vier großen Energiekonzernen imHinterzimmer zwei- und dreistellige Milliardengewinnezuschustern wollten.

(Beifall bei der SPD)

Nun, keine sechs Monate später, die komplette Kehrt-wendung!

Damit Sie mich nicht falsch verstehen, Frau Bundes-kanzlerin: Wir freuen uns, dass Sie hier den Atomaus-stieg mit uns endlich gemeinsam beschließen. Wir tundies auch gerne zum zweiten Mal. Für Deutschland unddie Sicherheit in unserem Lande ist es ein guter Tag. Wirfreuen uns auch, weil dies für uns – übrigens auch für dieAntiatombewegung – ein Tag großer Genugtuung ist.30 Jahre Häme, 30 Jahre Verleumdung, 30 Jahre Belei-digung und Diffamierung, das haben wir von Ihnen er-fahren. Heute stimmen Sie endlich dem rot-grünen Aus-stieg zu. Wir erleben heute einen Tag großerGenugtuung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]:Das stimmt doch gar nicht! Ha, ha, ha, Traum-tänzer!)

Bei aller Chuzpe und allen rhetorischen Tricks undKniffen, mit denen Sie im Nachhinein Ihre energiepoliti-schen Wenden erklären wollen: Dieser Tag bedeutetnichts anderes als Ihr energiepolitisches Waterloo; denndieser Ausstieg ist unser Ausstieg, und dabei wird esauch bleiben.

(Beifall bei der SPD)

Aber klar ist auch: Die Art und Weise, wie Sie es ma-chen, ist mit erheblichen Risiken verbunden. Deutsch-land ist die größte Volkswirtschaft Europas und eine dergrößten der Welt.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Aber nicht in eu-rer Regierungszeit!)

Im Kern unseres Landes ist die IndustrieproduktionGrundlage unseres Wohlstandes. Die Energieversor-gung ist das Herz-Kreislauf-System der deutschenVolkswirtschaft. Sie, Frau Merkel, operieren alle sechs

Monate am offenen Herzen, und zwar mit wechselndenDiagnosen. Das muss jetzt ein Ende haben. Wissen Sie,warum wir heute zustimmen? Nicht weil wir nichtglaubten, es ginge auch schneller, sondern weil wir glau-ben, dass endlich wieder Planbarkeit und Berechenbar-keit in die Energiepolitik zurückkommen müssen, damitDeutschland auch Industriestandort bleiben kann undnicht ständig durch Sie, durch Ihr Hin und Her, verun-sichert wird.

(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Bei euch gab es 5 Millionen Arbeits-lose! Ihr seid so Helden!)

– Herr Kauder, ich weiß ja nicht, ob Sie Zeitung lesen.Weil Sie immer so schön dazwischenrufen, mache ichSie darauf aufmerksam, dass gestern der Aufsichtsrats-vorsitzende der BASF einen Artikel in der Bild geschrie-ben hat. Ich lese Ihnen daraus vor:

Insbesondere die energiepolitische Diskussion derletzten Wochen zeigt aber, dass uns diese Erfolge zuKopf gestiegen sind. Wir halten für selbstverständ-lich, was nicht selbstverständlich ist. Wir ignorierendie Industrie als Grundlage unseres Wohlstandes.

Ich weiß nicht, ob Ihnen das aufgefallen ist: Er meintSie. Er meint das, was Sie hier im Land treiben. Allesechs Monate die Energiepolitik zu ändern, das kann nurein Land überleben, das so kräftig wie Deutschland ist.Jedes andere Land wäre durch diese Form der Planlosig-keit der Energiepolitik, die Sie an den Tag gelegt haben,in den Bankrott geritten worden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]:Sie merken ja schon gar nicht mehr, wenn Siekritisiert werden! Der meint doch Sie!)

– Nein, nein, Herr Kauder. – Was Frau Merkel veranstal-tet, ist das größte wirtschaftspolitische Experiment seitder deutschen Einheit. Mit einem Unterschied: Es warunnötig. Wir waren auf einem guten, berechenbarenWeg. Aber wer Energiepolitik in hektischen Wendungenbetreibt, muss wissen, dass das einfach Milliarden Eurokostet.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Unserem Land geht es gut!)

Wer den Kraftwerksbau erst zum vollständigen Erliegenbringt, um ihn dann umso schneller anzufahren, dertreibt die Preise in die Höhe. Wer alle Energieeinspar-programme aus der Zeit der Großen Koalition verstüm-melt oder ganz abschafft, der muss sich nicht wundern,dass gegen steigende Strompreise niemand mit Kosten-sparen ankommen kann. Sie ganz persönlich, Frau Bun-deskanzlerin, haben mit Ihrer Laufzeitverlängerung fürdie Atomindustrie unserem Land wirtschaftlich enormgeschadet. Die Kosten gehen in die Milliarden.

(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: So ein Blödsinn!)

Es ist Ihre Stop-and-go-Politik, die alles viel teurermacht. Mit dem berechenbaren und kontinuierlichenAusstieg von Rot-Grün wäre es wesentlich klüger gewe-sen. Diese Kostensteigerungen haben weder die Bürger

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13373

Sigmar Gabriel

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noch die Industrie zu verantworten. Ich bin froh, dass dieSPD-Ministerpräsidenten in den Verhandlungen mit Ih-nen dafür gesorgt haben, dass zum Beispiel der Teil derenergieintensiven Industrie, der bisher von zu hohenStrompreisen entlastet wird, ausgeweitet wird.

Aber ich sage Ihnen auch: Wir wollen dafür sorgen,dass es dabei bleibt, dass dieser Ausstieg konsequent einUmstieg in eine sichere, bezahlbare und nachhaltigeEnergieversorgung wird, und zwar aus einem Guss. Wirwerden aufpassen, dass die deutsche Industrie am Stand-ort bleiben kann. Wieso verweigern Sie sich eigentlichdem klugen Vorschlag von Herrn Töpfer und von HerrnHauff, ein nationales Forum Energiewende einzurich-ten? Es ist doch Unsinn, zu glauben, dass wir mit denGesetzen hier das Problem bewältigt hätten.

Der Prozess, der jetzt kommt, ist das Schwierige. Esist doch keineswegs mit dem getan, was wir hier heuteverabschieden werden. Sie reden ständig mit Überschrif-ten; aber auf das Kleingedruckte kommt es an. Wir brau-chen auch ein energiepolitisches Preismonitoring. Wirmüssen nachsteuern, und das dürfen wir weder Ihnennoch Ihren Ministern überlassen, weil Sie es nicht kön-nen. Das haben Sie doch in der Vergangenheit gezeigt.

(Beifall bei der SPD)

Das muss außerhalb Ihrer Regierung stattfinden, am bes-ten gleich hier im Parlament.

Sie werden auch nicht überrascht sein, dass wir nichtjedem Gesetz hier zustimmen. Normalerweise brauchenwir anderthalb Jahre für die Novellierung des EEG; dasist ein kompliziertes Gesetz. Sie machen das in acht Wo-chen. Ich weiß nicht, ob Sie gelesen haben, was der Bun-despräsident zu seiner Jahresbilanz in einem Interviewmit der Zeit gesagt hat. Er behauptet dort, dass mit denEntscheidungsmöglichkeiten im Parlament Schindludergetrieben wird und dass es so nicht geht. Wissen Sie, wener meint? Er meinte Sie, Frau Bundeskanzlerin, und IhreRegierung. Das ist das, was draußen gerade stattfindet.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Wir stimmen wirklich zu, weil wir Planbarkeit undBerechenbarkeit zurückbekommen wollen, und nicht,weil wir glauben, dass Ihre Politik unsere Zustimmungverdient. Es geht um das, was in unserer Gesellschaft beialler Vielfalt und Verschiedenheit am Ende ebenfalls ge-schaffen werden muss: Vertrauen, Glaubwürdigkeit undeben Berechenbarkeit von politischem Handeln – Prinzi-pien, meine Damen und Herren, die diese Regierung unddie Kanzlerin an der Spitze seit ihrem Amtsantritt vormehr als anderthalb Jahren Tag für Tag mit beklemmen-der Konsequenz Stück für Stück aufzubrauchen schei-nen.

Ihre Stop-and-go-Politik, Ihre hektischen Wechsel inder Energiepolitik, die heute zur Abstimmung stehen,sind doch symptomatisch für die Politik, die Sie inDeutschland betreiben. Das gleiche Muster dieses Poli-tikversagens trifft doch auf alle anderen Felder ebenfallszu: auf die Bundeswehrreform, auf den Umgang mitSteuern und insbesondere auf den Umgang mit der Euro-

Krise. Ich frage Sie, Frau Kanzlerin: Warum kommenSie eigentlich nicht auf die Idee, in Europa die Chanceder erneuerbaren Energien jetzt einmal zu nutzen und zusagen: „Lasst uns nicht noch 20 Jahre ergebnislos überDesertec und den Strom aus der Sahara für Europa re-den“? Wir sollten in Andalusien, in Griechenland, inPortugal und auch in der Türkei anfangen.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dorothee Menzner [DIE LINKE])

Das wäre ein Wachstumsprogramm für Europa.

Sie schüren Ängste in Europa. Sie treiben die Anti-europäer in die Parlamente und in die Regierungen.Europa braucht wieder Hoffnung, und erneuerbare Ener-gien bringen Hoffnung und Arbeitsplätze in Deutschlandund in ganz Europa. Das brauchen wir jetzt und nichtdas, was Sie da derzeit treiben.

(Beifall bei der SPD)

Beispiele für Ihre Stop-and-go-Politik habe ich ge-nannt. Die Wählertäuschungen sind unglaublich großgeworden; sie sind der Markenkern der Regierung. DerSpiegel stellt in dieser Woche fest: „Es wird nicht re-giert, sondern gedealt.“ Unter diesen Dealern scheint einrauer Ton zu herrschen. Sie warten jetzt wieder auf dennächsten Knigge-Gipfel. Sie müssten mittlerweile ge-lernt haben, dass Sie von Freiherren keine Hilfe mehrbekommen.

(Lachen des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])

Aber es geht nicht nur um den Stil, sondern auch umden Inhalt dessen, was Sie tun. Tatsache ist: Diese Koali-tion passte von Anfang an nicht in die Zeit, und sie hattenur zwei große Projekte: die Laufzeitverlängerung unddie Steuersenkung. Die Laufzeitverlängerung beerdigenwir heute und die Steuersenkung, wenn Sie nicht klügerwerden, im Bundesrat, Frau Kanzlerin. Darauf könnenSie sich verlassen.

(Beifall bei der SPD)

Der Vorgänger der heutigen Kanzlerin hat einmal denSatz geprägt: „Erst das Land, dann die Partei.“ Bei Ih-nen, Frau Bundeskanzlerin, ist das immer umgekehrt.Sie sind immer zuerst CDU-Taktikerin und nur gelegent-lich, wenn wir Glück haben, auch einmal Kanzlerin.

(Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Frechheit! –Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Un-verschämtheit! – Weitere Zurufe von derCDU/CSU)

– Wissen Sie: Es wäre doch nicht schlimm, wenn nur ichdas sagen würde. Aber lesen Sie einmal den Spiegel, dieWelt, die Bild und andere in dieser Woche, also Ihre kon-servativen Blätter. Von denen schreiben wir doch inzwi-schen unsere Reden ab, weil uns schlimmere Darstellun-gen gar nicht mehr einfallen können als die, die in derÖffentlichkeit zu finden sind.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) –Volker Kauder [CDU/CSU]: So weit sind Siegekommen, dass Sie abschreiben! Sie schrei-ben ab!)

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13374 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Sigmar Gabriel

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– Nein, Herr Kauder. Aber ich habe Ihnen gegenüber ei-nen Vorteil: Ich schaue in die Gesichter der Abgeordne-ten Ihrer Koalition, und diese Gesichter zeigen mir:Ganz viele wissen, dass das stimmt, was ich hier geradesage, und Sie wissen es im Grunde natürlich auch.

(Beifall bei der SPD – Lachen bei Abgeordne-ten der CDU/CSU)

Bei Ihnen ist Pfeifen im Walde.

Es geht wirklich um das, was in Deutschland gemachtwerden muss. Ihrer Regierung fehlt alles, was die politi-sche Führung eines 80-Millionen-Volkes braucht: einegemeinsame Grundausrichtung, ein vertrauensvollerUmgang, ein ordentliches Handwerk, eine konsequenteund entschiedene Führung. Was Sie da treiben, das trifftaber leider nicht nur Sie, sondern das ist ein Turbo, einKatalysator für Politikverachtung in Deutschland. Estrifft inzwischen alle Politikerinnen und Politiker in die-sem Land, weil niemand mehr der Politik traut, weil dieLeute jeden Tag merken, dass man Ihnen nicht mehrtrauen kann, meine Damen und Herren. Sie sind verant-wortlich für das, was hier in Deutschland passiert.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Welches Politikverständnis Sie haben, das offenbarenSie ja freundlicherweise, sodass man wörtlich zitierenkann. Als die FAZ Sie am 22. Juni gefragt hat: „Warumwollen Sie sich eigentlich treffen beim Thema Steuer-senkung, und was ist Ihr Ziel?“,

(Zuruf von der FDP: Thema!)

haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, geantwortet:

Wann kommt was und wie kommt jeder dabei aufseine Kosten?

Das ist das Ziel Ihres Treffens: Wie kommt jeder dabeiauf seine Kosten? – Das ist kein Motto fürs Regieren;das ist das Motto eines Räuberhauptmanns, der auf derWaldlichtung seine Beute verteilen will. Das ist das, wasSie da machen.

(Beifall bei der SPD)

Hier geht es nicht darum, wer in Ihrer Koalition aufwelche Kosten kommt. Hier geht es nicht darum, derFDP eine Steuersenkung zu gönnen nach dem Motto„Jede Milliarde ein Punkt mehr bei der Wahl“. Hier gehtes darum, dass Sie sich zum Beispiel an die Verfassungunseres Landes halten, und das heißt: keine dauerhaftenMehrausgaben, wenn man keine entsprechenden Mehr-einnahmen dafür hat. Sie müssen Schulden senken in un-serem Land und dürfen nicht der FDP Steuergeschenkeversprechen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auf der Waldlichtung verteilen Sie Beute, die es inDeutschland nicht gibt, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Das ist die Politik eines ziemlich armseligen Räuber-hauptmanns in dieser Regierung.

Alles, was da passiert, führt dazu, dass die MitgliederIhrer Regierung Sie an bestimmte Dinge erinnern, wasnormalerweise unser Job ist. In der Vergangenheit war esnämlich immer so: Wenn etwas nicht funktionierte, hatdie Opposition gesagt: Frau Kanzlerin, bestimmen Siemal die Richtlinien der Politik! – Nun halte ich das in-zwischen für eine Drohung. Aber mittlerweile fordertdas Ihr eigener Koalitionspartner von Ihnen.

Ich glaube, dass Sie in erheblichem Maße nicht nurder Industrie und der Wirtschaft schaden, sondern auchdem Vertrauen in die Verlässlichkeit der demokratischenPolitikgestaltung. Ich sage Ihnen: Wenn Sie wirklichMut haben, Frau Bundeskanzlerin, und wenn Sie etwasfür Deutschland tun wollen, dann kommen Sie nach demHerbst nicht mit dem soundsovielten Neustart zurück,sondern hören Sie einfach auf! Das wäre der beste Neu-start für unsere Republik, den wir uns derzeit vorstellenkönnen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall beiAbgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Das Wort erhält nun der Bundesminister für Wirt-

schaft und Technologie, Philipp Rösler.(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Lieber Herr Kollege Gabriel, waren Sie nichtmal Umweltminister?

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Ich finde, dafür haben Sie heute herzlich wenig zumThema geredet.

(Thomas Oppermann [SPD]: Aber es hat wehgetan!)

– Es war eher ein allgemeinpolitischer Teil. Es scheint jahoch herzugehen bei der Frage: Wer wird eigentlichKanzlerkandidat?

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Sigmar Gabriel [SPD]: Sie jedenfalls nicht! –Hubertus Heil [Peine] [SPD]: 18 Prozent!)

Zwei davon sitzen hier vorn, einer sitzt dahinter. Mirliegt, anders als Ihnen, Herr Gabriel, Polemik vollkom-men fern, aber ich glaube, wir haben heute die Kaltre-serve der sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten gese-hen.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

In einem hat Herr Gabriel recht – das wird die Grünenärgern –: Die erste Partei, die das Thema Umweltpolitikaufgebracht hat, waren in der Tat die Sozialdemokraten.

(Zuruf von der SPD: Es könnte etwas ruhiger sein hier!)

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13375

Bundesminister Dr. Philipp Rösler

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– Ich wäre auch ganz dankbar, wenn Sie jetzt ruhigerwären. Ich wollte Sie zu Beginn einmal loben, ganzkurz; es wird danach nicht so schön für Sie.

Herr Gabriel hat zu Recht einmal gesagt, dass die So-zialdemokraten die Umweltpolitik erfunden haben undnicht die Grünen; denn es war Willy Brandt, der vomblauen Himmel über der Ruhr gesprochen hat. Es warenübrigens ebenfalls die Sozialdemokraten, die vehementden Einstieg in die Kernenergie gefordert haben nachdem Motto „Billiger Strom für alle“.

Sie haben Ihre Position geändert. Das haben Sie er-klärt, und es wurde allgemein akzeptiert. Diese Regie-rungskoalition hat – ebenso wie Sie – die Ereignisse inFukushima wahrgenommen. Diese Ereignisse haben unsnicht unbeeindruckt gelassen. Wir haben daraufhin ge-sagt: Das ist das erste Ereignis, die erste Katastrophe, dieaufgrund technischen Versagens zustande gekommen ist.

(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es wäre verantwortungslos, meine sehr verehrten Da-men und Herren, wenn eine Regierung in einem solchenFall nicht reagieren würde. Sie können sich winden, Siekönnen dazwischenrufen, aber am Ende dieses Tageswerden Sie genau unserem Ausstiegsbeschluss zustim-men. Das zeigt: Sie unterstreichen die Richtigkeit unse-rer politischen Entscheidung.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Burkhard Lischka [SPD]: Was für eine schwa-che Rede!)

Das können Sie guten Gewissens tun; denn Ihr Aus-stiegsbeschluss war ausdrücklich ein anderer. Sie habennämlich nur den Ausstieg beschlossen. Sie haben abervergessen, zugleich als Alternative den Einstieg und denAusbau erneuerbarer Energien in Deutschland zu be-schließen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Widerspruch bei der SPD und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben sich damit zufriedengegeben, zu sagen: Wirsteigen hier aus. – Die notwendige Entscheidung zu tref-fen, die gebraucht worden wäre, um zum Beispiel denAusbau von Ersatzkapazitäten voranzutreiben, haben Sieaber nicht gewagt.

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und die ganzenWindräder sind aus Pappmaschee! – Lachenbei der SPD)

Auch heute verweigern Sie sich solchen sinnvollenVorschlägen. Sie alle wissen: Wir brauchen bis zum Jahr2013 10 Gigawatt und bis zum Jahr 2020 nochmals10 Gigawatt Ersatzkapazitäten. Das bedeutet im Übrigennicht nur den Ausbau erneuerbarer Energien, sondernauch den Zubau von konventionellen Kraftwerken. Ichbin sehr gespannt, ob die Grünen dann den Mut haben,auf unserer Seite zu stehen, wenn es darum geht, kon-ventionelle Kraftwerke zu bauen.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Auf Ihrer nie!)

Bisher sind Sie immer nur dabei, zu demonstrieren,wenn es darum geht, neue Kraftwerke – seien es Kohle-kraftwerke, Gaskraftwerke – oder die dazu notwendigenHochspannungsleitungen zu bauen.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Bei Ihnen weiß man ja nicht, ob Sie imnächsten Bundestag sind!)

Solch ein Verhalten hat nichts mit Glaubwürdigkeit zutun. Zur Ehrlichkeit hingegen gehört: Wer den Ausstiegund den Umstieg will, der braucht den Einstieg in erneu-erbare Energien, aber auch den Ausbau von konventio-nellen Kraftwerken.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dafür werden jetzt im Gesetzespaket – Energiewirt-schaftsgesetz, Netzausbaubeschleunigungsgesetz – dieVoraussetzungen geschaffen. Sie alle wissen: Wir müs-sen schneller vorankommen, wenn es darum geht, dienotwendigen Netze auszubauen. Bisher haben wir Pla-nungszeiten von zehn Jahren, hinzu kommen noch dieBauzeiten. Wir wollen diesen Zeitraum auf vier Jahre re-duzieren.

Die Bundesländer, die Sie bereits angesprochen ha-ben, haben alle gemeinsam – sechzehn zu null – aus-drücklich gefordert, dass wir den Netzausbau nicht nurüber die vorhandenen Gesetze beschleunigen, sonderndass wir uns weiterhin dafür einsetzen, auf europäischerEbene das materielle Recht zu ändern, damit wir dieMöglichkeit haben, beim Netzausbau und beim Kraft-werksausbau schneller voranzuschreiten. Lieber HerrKollege Gabriel, das ist eine Ohrfeige für Sie; denn inIhrer Zeit als Umweltminister haben Sie genau das nichtgeschafft. Das war zum Schaden nicht nur der Umwelt-politik, sondern auch der deutschen Wirtschafts- und In-dustriepolitik.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Menzner?

Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie:

Nein. – Das wird nunmehr nachgeholt. Wir brauchennicht nur den beschleunigten Ausbau der Netze und derkonventionellen Kraftwerke, sondern auch ein besseresErneuerbare-Energien-Gesetz. Erstmalig wird hier aufMarkt und auf Effizienz gesetzt, weil wir davon über-zeugt sind, dass es Quatsch ist, bei dem Ausbau der er-neuerbaren Energien nur auf Subventionen und Regulie-rungen zu setzen. Wir werden – auch wenn Ihnen dasnicht gefällt – in diesem Bereich Marktprinzipien brau-chen – wie beispielsweise die Marktprämie –, um beimAusbau der erneuerbaren Energien schneller voranzu-kommen. Das zeichnet die schwarz-gelbe Regierungs-koalition aus, im Unterschied zu Ihrem rot-grünen Aus-stiegsbeschluss von 2002.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

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13376 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Bundesminister Dr. Philipp Rösler

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Gleichzeitig geht es in der Tat darum, die Wirtschaftnicht übermäßig zu belasten; denn sie steht in Bezug aufdie Energiepreise nicht nur in einem europäischen, son-dern auch weltweiten Wettbewerb. Deswegen ist es rich-tig, sich auf europäischer Ebene für die Strompreiskom-pensation einzusetzen, um energieintensive Industrien zuentlasten.

Gleichzeitig kommt es zu einer Entlastung des Mittel-standes in Deutschland, weil durch das neue Erneuer-bare-Energien-Gesetz erstmalig kleine und mittelstän-dische Unternehmen von der Energieumlage befreitwerden können und dadurch eine Erleichterung erfahren.Das zeigt, dass wir nicht nur darauf achten, die Energie-versorgung in Deutschland umzustellen, sondern dasswir gleichzeitig ein Augenmerk darauf haben, dass un-sere deutsche Wirtschaft gerade im Hinblick auf die klei-nen und mittelständischen Unternehmen wettbewerbsfä-hig bleibt. Sie von der SPD schauen als ehemals großeVolkspartei auf die großen Konzerne. Wir schauen auchauf den Mittelstand in Deutschland.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – RolfHempelmann [SPD]: Das haben wir letztesJahr gesehen!)

In der Tat sind gerade diese Unternehmen in Bezugauf die Energieumstellung sehr positiv gestimmt, aus ei-nem ganz einfachen Grund. Die europäischen Nachbarnfragen uns: Was passiert eigentlich gerade bei euch inDeutschland, was macht ihr eigentlich im Bereich derEnergieumstellung? Da steht ein Fragezeichen und keinAusrufezeichen; denn man ist sehr gespannt, was geradein Deutschland passiert.

Unsere Nachbarn trauen uns zu, dass das, was wir unsvorgenommen haben, möglich wird; sie haben sogarAngst davor, dass das, was wir uns vornehmen, am Endeerreicht wird, weil sie wissen: Wenn wir neue Produkte,Dienstleistungen und Güter in den Bereichen der erneu-erbaren Energien und der Effizienz produzieren bzw. be-reitstellen, dann wird das ein Wettbewerbsvorteil für diedeutsche Wirtschaft im europäischen, aber auch im welt-weiten Rahmen sein. Die Energieumstellung ist deswe-gen auch für die Wirtschaft nicht negativ, sondern aus-drücklich positiv, weil sie uns neue Chancen bietet imInland, im europäischen Markt, aber genauso im übrigenAusland.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir sind davon überzeugt, dass das, was wir auf denWeg bringen, in der Tat ein großer Schritt auf dem Wegzur Energieumstellung ist. Die Arbeit ist mit der Verab-schiedung der vorliegenden Gesetzentwürfe nicht abge-schlossen; die Arbeit, die mit der Energieumstellungverbunden ist, beginnt jetzt erst. Denn das, was vor unsliegt, ist ein ähnlich großes Projekt wie die Wiederverei-nigung – es ist fast schon gleichbedeutend –:

(Johannes Kahrs [SPD]: Wer schreibt Ihnen denn die Reden?)

Gerade im Bereich der Infrastrukturprojekte haben wirdamals gesehen, dass es sehr wohl möglich ist, in der Sa-che Großes zu leisten, wenn sich ein ganzes Land an-

strengt und alle gemeinsam an einem Ziel arbeiten. Dasgeht im Bereich der Infrastruktur; das geht im Bereichder Energieumstellung.

(Johannes Kahrs [SPD]: Lassen Sie sich mal etwas aufschreiben! Das wäre besser!)

– Auch wenn Sie dazwischenrufen: Sie werden demAusstiegsbeschluss zustimmen

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein, Sie stimmen unserem zu!)

und sich einmal mehr dem Einstieg in den Ausbau dererneuerbaren Energie verweigern.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch kein Einstieg!)

Das ist am Ende nicht glaubwürdig. Es geht hier nichtum Ihre Politik, die Sie damals unter Rot-Grün begon-nen haben; es geht hier um eine andere Politik, nämlicheine vernünftige und realistische Umstellung der Ener-gieversorgung in Deutschland.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Wer hat denn all die Jahre den Einstieg verwei-gert? Die FDP! Wer hat Wahlkampf gegen dieWindkraft geführt? Die FDP!)

Das ist der Unterschied zwischen einer Koalition, die re-giert, und einer Opposition, die am Ende doch gegen diewesentlichen Neuerungen der vorliegenden Gesetzent-würfe ist.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion

Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Röttgen, Sie müssen mir eine Sache erklären. Sie habenheute gesagt, dass der Ausstieg aus der Atomenergieeine Revolution ist. Im Dezember 2010 haben Sie unserklärt, dass die Verlängerung der Nutzung der Atom-energie eine Revolution ist.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das war die Konterrevolution!)

Ich finde, Sie sollten innerhalb der Union einmal klären,was eigentlich eine Revolution und was eine Konter-revolution ist, damit man sich darüber verständigenkann.

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN, derSPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Gysi, daskönnen Sie doch erklären, was der Unterschiedist!)

– Herr Kauder, selbstverständlich.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13377

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Präsident Dr. Norbert Lammert:Herr Kollege Gysi, für die Klärung dieses Unter-

schieds stellen Sie doch sicher Ihre sachverständige Be-ratung zur Verfügung.

(Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause)

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):Aber selbstverständlich, Herr Präsident. Ich wollte

das gerade Herrn Kauder anbieten. Da er davon keineAhnung hat, werde ich ihm das gerne erklären. Aber eskostet Sie ein teures Essen – damit das klar ist!

(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN und der SPD)

Davon abgesehen wird der Bundestag heute mit denStimmen von Union, FDP, SPD und Grünen einen halb-herzigen Atomausstieg beschließen. Es liegt nur an derAtomkatastrophe von Fukushima, dass er angesichts die-ser Mehrheitsverhältnisse im Bundestag überhaupt zu-stande kommt. Einige Dinge, die Sie hier regeln, entset-zen und enttäuschen mich wirklich; denn ich glaube,dass man konsequenter aus einer solchen KatastropheSchlussfolgerungen ziehen muss.

(Beifall bei der LINKEN)

Auch die Grünen werden zustimmen; sie haben dafüreinen Parteitag gemacht. Ich muss den Grünen ehrlicher-weise sagen: Das ist schon ein wenig wichtigtuerisch,deshalb einen Parteitag zu veranstalten. Sie wusstendoch, dass es auf Ihre Stimmen gar nicht ankommt, weildie Koalition eh die Mehrheit hat. Ich muss Ihnen abereines lassen: Sie haben eine fantastische Medienöffent-lichkeit erreicht.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Purer Neid!)

Ich muss über solche Tricks neu nachdenken.

Im Kern ging es Ihnen doch darum, der Union zu zei-gen, dass Sie zu einer Koalition mit der Union fähigsind. Sie wollen doch gerne die frühere Rolle der FDPübernehmen und bei der Frage, ob nun die SPD oder dieUnion regiert, zum Schalter werden.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! Das ist peinlich!)

Das ist ein bisschen schlicht.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! In der Tat! Du bist schlicht!)

– Das gilt aber für Sie, Herr Trittin.

Drei Parteien hätten wirklich einen Parteitag durch-führen müssen: die CDU, die CSU und die FDP.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre auch, Gregor Gysi!)

Wissen Sie auch, warum? Ihre Parteitage haben doch dieVerlängerung der Nutzung der Atomenergie beschlos-sen; Sie haben das katastrophalerweise im Dezemberumgesetzt. Bevor Sie jetzt einen Wechsel vornehmen,

hätten Sie Ihre Parteien eigentlich fragen müssen, ob siedamit einverstanden sind.

(Christian Lindner [FDP]: Haben wir doch! Rostocker Parteitag!)

Um Ihr Demokratieverständnis will ich mich aber nichtweiter kümmern. Ich wollte nur auf die Begrenztheithinweisen.

(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder[CDU/CSU]: Gerade Sie! Gysi und die Demo-kratie! – Christian Lindner [FDP]: Schlecht re-cherchiert!)

Jetzt nehme ich zu den Zielen Stellung, die Sie aufge-ben, die wir aber für wichtig halten. SPD und Grüne sa-gen, dass im Kern jetzt das beschlossen wird, was sieschon 2002 beschlossen hatten. Wenn Sie diese Auffas-sung ernsthaft vertreten, dann sagen Sie damit, Fuku-shima hätte an Ihren Entscheidungen von 2002, wennSie jetzt regieren würden, nichts geändert. Finden Sienicht, dass das deutlich zu wenig ist? Hätten Sie nicht sa-gen müssen: „Auch wir ziehen daraus Schlussfolgerun-gen und machen das eine oder andere wesentlich konse-quenter“?

(Beifall bei der LINKEN)

Das Zweite ist, meine Damen und Herren von SPDund Grünen: Was Sie sagen, stimmt nicht ganz. Die Re-gierungskoalition legt jetzt immerhin konkrete Terminefür die Abschaltung einzelner AKW fest. Solche gab esbei Ihnen gar nicht.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir!)

Das Hauptproblem ist aber ein anderes: Die Regie-rung bestimmt die Fristen nach den Amortisationszeitenfür die AKW und nicht nach der Machbarkeit. Auch da-bei machen Sie mit.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich komme darauf noch zurück. Die Regierungskoalitionweigert sich, das Ganze unumkehrbar zu machen. Auchdas nehmen Sie letztlich in Kauf. Sie weigert sich auch,die großen Energieriesen zu zerlegen und zu rekommu-nalisieren, um das Ganze wesentlich demokratischer zugestalten.

(Rainer Brüderle [FDP]: Verstaatlichung!)

Was in Ihren Gesetzentwürfen überhaupt nicht enthaltenist, ist die Antwort auf die Frage, wer eigentlich die Kos-ten der Energiewende zu bezahlen hat. Wo bleibt die so-ziale Abfederung? Dazu ist nichts geregelt.

(Beifall bei der LINKEN)

Jetzt komme ich zu den einzelnen Punkten. Wissen-schaftlich nachgewiesen ist nach unserer Auffassung,dass der Ausstieg bis Ende 2014 machbar ist. Die Grü-nen haben gesagt: bis Ende 2017. Ich nehme das einmalso hin. Trotzdem stimmen Sie jetzt dem Jahr 2022 zu.Womit begründen die Bundesregierung und die Koali-tion in den Gesetzentwürfen, dass sie das Jahr 2022 neh-men? Sie sagen, dass die Atomkraftwerke sich andern-

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Dr. Gregor Gysi

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falls nicht amortisierten und die Atomkraftwerke nurdann mit Gewinn bewirtschaftet werden könnten, wennman sie erst 2022 schließen würde. Das heißt, aufWunsch von Eon, EnBW, RWE und Vattenfall sind dieFristen so gesetzt worden.

Ich sage Ihnen Folgendes: Es geht um die Frage derMachbarkeit und nicht um die Frage, was sich für dievier Energiekonzerne rechnet. Man kann die Bevölke-rung nicht vier oder sieben Jahre länger dem Fukushima-Risiko aussetzen, nur damit sich die AKW für diese vierKonzerne rechnen. Genau das wird gemacht. Genau dasbeschließen Sie mit.

(Beifall bei der LINKEN)

Alle Parteien im Bundestag sagen: Der Ausstieg ausder Atomenergie soll unumkehrbar sein. Das ist einewichtige industriepolitische Wende. Darauf ist hierschon hingewiesen worden. Warum, Herr Kauder undHerr Brüderle, weigern Sie sich, das Grundgesetz zu än-dern? In Österreich steht in der Verfassung: Atomwaffenund die Nutzung der Atomenergie sind verboten. – Wa-rum nehmen wir das nicht in das Grundgesetz auf?

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben doch eine Zweidrittelmehrheit dafür. Das istdoch keine Schwierigkeit. Es gibt große Mehrheiten imBundestag und im Bundesrat dafür. Wenn wir das auf-nehmen würden, wäre es unumkehrbar – das garantiereich Ihnen –, weil sich nie wieder eine Zweitdrittelmehr-heit im Bundestag oder im Bundesrat fände, die bereitwäre, den Ausstieg aus der Atomenergie rückgängig zumachen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn Sie das nicht machen, dann machen Sie einenAtomausstieg mit Rückfahrkarte. Herr Röttgen hat er-klärt, ein solches Vorgehen würde künftige Mehrheitenbinden. Ja genau, das soll künftige Mehrheiten binden.Deshalb nimmt man doch etwas in das Grundgesetz auf.

(Beifall bei der LINKEN)

Er will sie eben nicht binden. Ich kann Ihnen schon jetztsagen, wie das laufen wird: 2013 werden Sie sich einenWiedereinstieg nicht trauen. Ich glaube zwar nicht, dassSie dann noch die Mehrheit haben werden; aber selbstwenn Sie sie hätten, würden Sie sich das, wie gesagt,nicht trauen. 2017 wird der Atomausstieg aber schon solange zurückliegen, dass Sie vielleicht sagen werden:Jetzt könnte man doch wieder einsteigen. – Das möchteich nicht. Wir möchten der Bevölkerung diese Sorgenehmen. Deshalb muss der Ausstieg ins Grundgesetz ge-schrieben werden.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nun haben die Grünen schnell auch noch einen Ge-setzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes einge-bracht. Darüber stimmen wir heute aber noch nicht ab-schließend ab. Für unseren Gesetzentwurf beantragenwir übrigens eine namentliche Abstimmung. In IhremGesetzentwurf, lieber Herr Trittin und liebe Frau Künast,nennen Sie das Jahr 2022 als Ausstiegsdatum. Damit sa-

gen Sie der Bevölkerung: Selbst wenn wir ab 2013 regie-ren, werden wir nichts beschleunigen. Durch die Fest-schreibung des Jahres 2022 im Grundgesetz nehmen Siesich jeden Spielraum. Sie müssen dann auch offen undehrlich sagen,

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das steht da drin!)

dass Sie sich von dem Ausstiegsdatum 2017 völlig ver-abschiedet haben. Selbst wenn Sie die absolute Mehrheithätten, würden Sie beim Jahr 2022 bleiben. Ich finde,das spricht gegen Sie.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Hermann Ott[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau le-sen!)

Jetzt kommen wir zum dritten Punkt, zur Demokrati-sierung der Energieversorgung. Die Konzerne sind undbleiben zu mächtig. Wie mächtig die vier Konzerne sind,haben SPD und Grüne festgestellt, als sie versucht haben,den Atomausstieg zu organisieren. Wir haben gesehen,wie schwierig das war, wie weit sie den Konzernen ent-gegengekommen sind. Meines Erachtens sind sie ihnenviel zu weit entgegengekommen; das ist aber eine andereFrage. Die jetzige Regierungskoalition, die ja auf Wunschdieser vier Konzerne und natürlich auch anderer die Ver-längerung der Laufzeiten beschlossen hat, schreibt jetztwieder in den Gesetzentwurf, dass man das auf dieseWeise macht, damit sich das rechnet und damit die Kon-zerne nicht einen halben Euro Verlust machen, nachdemsie auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger und der ande-ren Unternehmen schon 100 Milliarden Euro Gewinnegemacht haben. Deshalb werden so lange Fristen gewähltund deshalb wird die Bevölkerung länger diesem Risikoausgesetzt.

Ich sagen Ihnen: Wenn wir die Macht der vier Kon-zerne nicht auflösen, wird die Politik ohnmächtig; das istdas Problem. Deshalb schlagen wir eine Zerlegung und,soweit es geht, eine Rekommunalisierung vor, damit diePolitik wieder zuständig wird für die Energieversorgungder Bevölkerung genauso wie für die Wasserversorgung,für Gesundheit und Bildung. Öffentliche Daseinsvor-sorge gehört in öffentliche Hand und nicht in den Privat-besitz zur Profitmaximierung.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich verstehe die Energiekonzerne. Sie sagen: Wermehr Strom verbraucht, bekommt ihn billiger, und werweniger Strom verbraucht, bekommt ihn teurer. Markt-wirtschaftlich ist das ja nicht unvernünftig gedacht, aberwir wollen doch Energieeinsparung, wir wollen dochEnergieeffizienz. Erklären Sie beispielsweise einmal ei-ner alleinerziehenden Mutter mit einem Kind, die relativwenig Strom verbraucht, wieso sie pro Kilowattstundemehr zahlen muss als ein Millionär mit einer Villa undeinem Swimmingpool. Das ist abstrus! Das kann mannur politisch regulieren, aber Sie verweigern die politi-sche Regulierung dieser Preise.

(Beifall bei der LINKEN)

Uns ist das ein wichtiges Anliegen.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13379

Dr. Gregor Gysi

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Zu dem, was Sie machen, kommt jetzt noch ein Zu-ckerbrot hinzu.

(Rainer Brüderle [FDP]: Was?)

Sie fördern riesige Windparks in der Nord- und Ostsee.Wer verdient daran? Die vier Konzerne, weil es die ein-zigen sind, die sich das Ganze leisten können. Sie be-kommen also noch mehr geschenkt. Mein Gott, hörenSie doch einmal auf, jeden Tag die Versicherungen, dieBanken und die Riesenkonzerne zu beschenken! Angeb-lich wollen Sie etwas für die kleinen und mittleren Un-ternehmen tun, aber Sie vergessen sie täglich. Deshalbsage ich immer: Wir sind die einzige Mittelstandpartei.

(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der FDP: Oh!)

Sie von der FDP bestreiten das noch, aber es ist wahr.Bei der Solarenergie werden Produkte genutzt, die vonkleinen und mittleren Unternehmen hergestellt werden.Da fördern Sie nicht. Nur die großen Windparks werdenunterstützt. Das entlarvt alles.

(Rainer Brüderle [FDP]: 70 Prozent der Um-lage! – Michael Kauch [FDP]: Kabarett!)

Nun kommen wir zum nächsten Punkt: die erneuerba-ren Energien. Ich frage: Wo ist Ihre angekündigte Offen-sive für erneuerbare Energien geblieben? Alles, was Siehier beschließen wollen, hatten wir schon. Da gibt esnichts Neues. Glauben Sie nicht, dass man deren Ausbauviel stärker fördern muss, um die Energiewende soschnell und zuverlässig wie möglich herbeizuführen,und zwar – da hat Herr Gabriel recht – europaweit? Ge-nau das wäre die Aufgabe; aber da versagen Sie.

Kommen wir zur sozialen Gestaltung. Das Ganzekostet Geld. Ihre einzige Sorge betraf die energieintensi-ven Unternehmen. Diesen haben Sie schon zugesichert,dass sie um bis zu 1,2 Milliarden Euro entlastet werden.Das haben Sie sofort geregelt. Aber was arme Haushaltemachen, was kleine Unternehmen mit geringen Umsät-zen machen, das kümmert Sie alles nicht. Genau daskönnen wir nicht akzeptieren.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich nenne noch einmal die Zahlen. Im Durchschnittverbraucht eine Bezieherin von Hartz IV Strom für44 Euro im Monat. Im Hartz-IV-Satz sind aber nur30,42 Euro für Storm vorgesehen. Woher soll sie dieDifferenz nehmen? Sie zahlen ihr die ja nicht aus. Esgibt jährlich 800 000 Sperren der Strom- und Gasversor-gung. Gehen Sie einmal in einen solchen Haushalt, undschauen Sie sich einmal an, wie Kinder ohne Gas undStrom leben müssen. Ich halte das für grundgesetzwid-rig. Deshalb fordern wir als Erstes: Strom- und Gassper-ren sind zu verbieten.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Zweite, das wir fordern, sind Stromsozialtarife.Wir müssen jedes Energieunternehmen – ob öffentlichoder privat: das spielt gar keine Rolle – verpflichten, ineinem bestimmten Umfang finanziell schwachen Haus-halten Sozialtarife anzubieten. Dazu müssen sie ver-pflichtet werden. Sonst organisieren wir, bedingt durchdie Verteuerung des Stroms, eine Katastrophe.

Wir brauchen auch ganz dringend eine staatlicheStrompreiskontrolle. Da geht es nicht, wie Sie immer ru-fen, um Planwirtschaft. Das ist völliger Quatsch. Dannhätten wir in der Bundesrepublik Deutschland bis zurersten Hälfte der Großen Koalition Planwirtschaft ge-habt. Da gab es nämlich eine staatliche Strompreiskon-trolle.

Da geht es um eine ganz andere Frage: Es geht um dieFrage der Zuständigkeit der Politik für eine Lebensfrageder Bürgerinnen und Bürger und der Unternehmen. Dakönnen Sie nicht immer sagen: Das geht uns gar nichtsan, das machen die vier Konzerne. SPD und Union ha-ben uns erzählt, es gebe da so viel Wettbewerb, dass wirkeine staatliche Preiskontrolle bräuchten. Da kann ichbloß lachen. Diese vier Konzerne sind doch in der Lage,mittwochs miteinander zu telefonieren, und dann verab-reden sie sich, wie sie uns zwei Wochen später abzo-cken. So läuft das. Deshalb möchte ich Ihre Zuständig-keit haben, damit die Wählerinnen und Wähler auchwissen, an wen sie sich wenden müssen.

(Beifall bei der LINKEN)

Dann brauchen wir einen Energiesparfonds. Ich willIhnen das auch erklären: In den ärmeren Haushalten undbei den kleinen Unternehmen mit geringen Umsätzensind lauter technische Geräte im Einsatz, die einen ho-hen Stromverbrauch haben. Die können es sich nichtleisten, neue Technik zu erwerben. Deshalb haben wirdie Schaffung eines Fonds vorgeschlagen, der jährlichmit 2,5 Milliarden Euro zu bestücken ist. Damit mussgeholfen werden, dass neue Technik erworben wird;denn wir alle brauchen die Energieeinsparung. Deshalbmüssen wir hier politisch handeln und aktiv werden.

Präsident Dr. Norbert Lammert:Herr Kollege.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):Ich bin gleich fertig, Herr Bundestagspräsident.

Ich sage Ihnen: Alle Mehrkosten, die Sie verursachen,werden allein die Bürgerinnen und Bürger sowie diekleinen und mittleren Unternehmen zu tragen haben.Das ist falsch. Wir können dem Ganzen nicht zustim-men. Von unserer Fraktion gibt es ein Nein, auch wennendlich der Ausstieg aus der Atomenergie beginnt. Dasbegrüßen wir trotzdem.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Mit Nein beginnt gar nichts!)

– Nein, passen Sie auf: Ganz umgekehrt, Herr Kauder.Stimmen Sie doch erst einmal der Grundgesetzänderungzu.

(Zurufe von der CDU/CSU: Oje!)

Ich verspreche Ihnen: Wenn wir das Grundgesetz heuteändern, lassen wir uns auch auf einen Kompromiss ein.Mal sehen.

(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder[CDU/CSU]: Wer mit Nein stimmt, steigt ausaus den Erneuerbaren!)

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Präsident Dr. Norbert Lammert:Das Wort erhält nun die Kollegin Renate Künast,

Bündnis 90/Die Grünen.

(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Wer wardenn die Beifahrerin beim Landesgeschäfts-führer?)

Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies ist

der Zeitpunkt, an dem man Dank aussprechen muss –Dank an all die vielen Menschen, die weit über 30 Jahrein diesem Land den Mut hatten, zu kämpfen, die sichweit über 30 Jahre in diesem Land eingemischt undfriedlich demonstriert haben und auch nicht aufgehörthaben, zu kämpfen, als einige von ihnen kriminalisiertwurden, als Wasserwerfer selbst an kältesten Tagen Was-ser auf sie spritzten, als richtig Druck im Dorf und in derStadt war. Das will ich hier ausdrücken. HerzlichenDank an all diese; denn sie haben sich um die ZukunftDeutschlands verdient gemacht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Klaus Traube als einer, der mal in einem AKW mitge-arbeitet hat, wurde kriminalisiert und unter Druck ge-setzt. Marianne Fritzen in Gorleben ist eine, die wirklichihr ganzes Leben einem beharrlichen Kampf gewidmetund Bewegungen immer wieder zusammengeführt hat.Diesen gehört unser Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich erwähne auch die Winzerinnen und Winzer, dieBäuerinnen und Bauern in Wyhl, den Bauern Maas ausKalkar oder Walter Mossmann, der uns bei so mancherDemo oder auch an manchen Tagen in der RepublikFreies Wendland mit seinen Liedern zusammenge-schweißt hat, wenn der Druck von außen sehr groß war.Er hatte damals den Mut, zu sagen: Es steht überm Rheineine Burg aus Beton, weh denen, die drum herum woh-nen. – Er drückte die Sorge aus: Wenn es nur nicht zuspät ist. – All jenen gehört Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das gilt auch für Holger Strohm, der das Buch Fried-lich in die Katastrophe geschrieben hat, für die Mütter-initiativen und für die „Ärzte gegen den Atomkrieg“. Alldenen gehört der heutige Tag. Sie haben sich im Sommer2001 über den ersten Atomausstieg gefreut. Auch wennviele von ihnen, was ich verstehe, jetzt nicht zufriedensind, ist das ein großer Schritt, den Deutschland mit sei-nen Bürgerinnen und Bürgern gemacht hat, die Demo-kratie gewagt haben, als man sie anfeindete. DieserSchritt gehört diesen Menschen, und das gehört in diesesProtokoll.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Der Atomkonsens des Jahres 2001 war ein Zwischen-schritt. Ich habe nie geglaubt, dass sich das Oligopol dervier Atomkonzerne nicht dagegen wehren würde. EinenAugenblick lang haben wir gedacht: Pacta sunt ser-vanda. Sie unterschreiben etwas und halten sich daran.Wir haben aber schnell gemerkt, dass dem nicht so ist.Wir haben immer gewusst: Erst dann, wenn das letzteAtomkraftwerk in diesem Land abgeschaltet ist, ist dieseBewegung erfolgreich gewesen, und dann wird sie sichneu ausrichten. Deshalb, meine Damen und Herren, sageich Ihnen: Sie können gerne von einem großen Konsenssprechen. Auch die heutige Entscheidung, die deutschenKernkraftwerke stufenweise bis spätestens 2022 abzu-schalten und die sieben ältesten Meiler plus Krümmelsofort stillzulegen, ist nur ein Zwischenschritt der Anti-AKW-, der Umwelt- und der Grünen-Bewegung. Wirsind noch lange nicht fertig. Wir fangen jetzt erst richtigan.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was hat die Bewegung erreicht? Sie hat den Konsensüber den Ausstieg im Jahr 2001 erreicht. Außerdem hatsie dafür gesorgt, dass Sie jetzt gezwungen sind, sich zubewegen. Gegen den erbitterten Widerstand des Energie-oligopols und gegen den erbitterten ideologischen Wi-derstand der Pro-AKW-Parteien hat diese Bewegung er-reicht, dass heute 17 Prozent des Stroms in Deutschlandaus erneuerbaren Energiequellen stammen. Auch das istnur ein Zwischenschritt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der LINKEN)

– Wenn es noch mehr ist, ist das schöngerechnet.

Immerhin hat dies auch der Bundeswirtschaftsminis-ter erkannt, der hier gerade ein Erstsemesterseminar zumThema Wirtschaftspolitik abgehalten hat.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Hat er überhaupt Abitur?)

Aber immerhin, der Mann ist ja neu im Amt.

Ich sage Ihnen: Mit all Ihrem Gerede von einer Brü-ckentechnologie, von einer Energierevolution und vonEnergiewenden – nach dem Motto „Jetzt geht es erstrichtig los“ – haben Sie sich selbst widerlegt. Die Brücke,die noch im letzten Jahr angeblich notwendig war, muss-ten Sie jetzt selbst ein Stück weit einreißen. Wer wollte,konnte immer wissen. Carl Friedrich von Weizsäckerzum Beispiel hat vor 25 Jahren, und zwar vor der Kata-strophe von Tschernobyl, klar gesagt: Die Technik derSolarenergie hat Fortschritte gemacht, die sie als haupt-sächliche Energiequelle des kommenden Jahrhundertsmöglich erscheinen lässt. – Man konnte also wissen,wenn man wissen wollte und nicht auf dem Schoß dervier Stromkonzerne saß.

Eines ist klar: Jetzt können auch Sie von den Ent-scheidungen des heutigen Tages nicht mehr abrücken.Jetzt hat die Bewegung einen Zustand der Stärke er-reicht. Das wird heißen: Jetzt geht es mit voller Kraft ineine zukunftsfähige, nachhaltige, dezentrale, effizienteEnergieerzeugung, die Sie jahrelang blockiert haben.

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Renate Künast

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Jetzt ist Schluss mit den Milliardensubventionen für dieAtomenergie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich muss an dieser Stelle auf eines hinweisen: Vielesagen immer, die neuen Technologien seien so teuer.Meine Damen und Herren, wovon reden wir hier? Fürdie Atomenergie wurden ungefähr 200 Milliarden Euroan Subventionen und Forschungsgeldern zur Verfügunggestellt. Das ist noch nicht einmal alles. Hinzu kommt,dass uns die Atomenergie hochradioaktiven Müll hinter-lässt. Die Summen, die notwendig wären, um eine halb-wegs sichere Lagerung des Atommülls zu gewährleisten– wenn wir denn einen Ort dafür fänden –, sind noch garnicht bezifferbar. Insofern sage ich insbesondere inRichtung der Abgeordneten der Koalitionsfraktionen:Solche Zwischenrufe, wie Sie sie vorhin gemacht haben,verbieten sich. Hören Sie auf, ideologisch zu sein!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD – Wider-spruch bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP)

Arbeiten Sie endlich mit daran, dass Deutschland einLand der erneuerbaren Energien wird, in dem der Müllnicht jahrtausendelang von Generation an Generationübergeben wird!

Ich stelle fest: Heute ist ein guter Tag. Allerdings hät-ten Sie, Frau Bundeskanzlerin, all dies schon im letztenJahr wissen können. Mir ist egal, ob Sie aus Wahl-kampfsorge oder aus Überzeugung dazugelernt haben.Mir reicht die Ironie der Geschichte, dass Sie sich jetztfaktisch dem annähern müssen, was Sie jahrzehntelangbekämpft haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Jetzt kann niemand mehr infrage stellen, dassDeutschland die Energiewende will. Die Menschen inDeutschland wollen nicht auf Kosten anderer Generatio-nen leben, indem sie ihnen strahlenden Atommüll über-lassen. Ich sage Ihnen: Die Menschen in Deutschlandwollen auch nicht durch Kohleverstromung und CO2-Ausstoß auf Kosten nachfolgender Generationen leben.Jetzt geht es in Richtung Nachhaltigkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Von der Entscheidung, die Laufzeit zu verkürzen,wird Schwarz-Gelb nicht abrücken können. Die heutigeEntscheidung zur erneuten Laufzeitverkürzung und zurAbschaltung der acht ältesten Kernkraftwerke ist einWegweiser für die weitere Entwicklung des Industrie-standorts Deutschland. Ich sage ganz klar: Das ist auchfür die Industrie – und das wollten Sie immer – ein Zei-chen der Klarheit. Rückwärts wird es nicht mehr gehen.Es geht nur noch vorwärts, in das Zeitalter der Erneuer-baren. Heute ist ein Tag, von dem etwas ausgehen kann,gerade weil die Pro-Atom-Parteien jetzt anders abstim-men müssen. Von heute an werden wir anders leben, an-ders transportieren und anders produzieren. Wir sind

noch nicht fertig. Dieser Umbau der Gesellschaft fängtjetzt erst an.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Jetzt schaut die Welt auf uns. Wir werden dem gerechtwerden müssen. Die Größe der Aufgabe ist, zu zeigen,dass das viertgrößte Industrieland der Welt diese Auf-gabe meistert. Wir haben die Verantwortung, zu zeigen,dass der Umbau funktioniert. Wir haben heute aber auchdie Verantwortung, nicht hierzulande etwas abzuschal-ten, was wir in anderen Ländern noch finanzieren. Auchdie Nichterteilung von Hermesbürgschaften, zum Bei-spiel für Brasilien, gehört zu einem eindeutigen Kurs.Wir sind weder hier noch anderswo für die Atomenergie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Zu diesem eindeutigen Kurs wird auch gehören, dasswir in Zukunft neue Technologien, Effizienz und Wissenmit anderen Gesellschaften und anderen Staaten teilen,damit sich die derzeitigen Entwicklungs- und Schwel-lenländer wirtschaftlich entwickeln können und einegute Energieversorgung haben.

Wenn wir heute Ja sagen, dann handelt es sich defini-tiv um ein „Ja, aber“. Die Grünen stimmen zu, die vonIhnen bis 2040 verlängerte Laufzeit auf 2022 zurück-zusetzen – mit einem Stufenplan und einem festen End-datum. Wir stimmen zu, dass die sieben ältesten Kern-kraftwerke und Krümmel vom Netz genommen werden,auch wenn wir wissen, dass es schneller gehen könnteund man aus heutiger Sicht schon 2017 aus der Atom-energie aussteigen könnte.

(Zuruf von der FDP: Wie denn?)

Deshalb sagen wir: Ja, aber. Für all das zu sorgen, wirddie Aufgabe der Grünen nach der nächsten Bundestags-wahl sein.

Die Sicherheit der verbleibenden AKW haben Sienach Fukushima nicht ehrlich geregelt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das kerntechnische Regelwerk gehört in den Bundes-anzeiger. Das wäre eine der Lehren, die wir aus den Er-eignissen in Fukushima ziehen müssten angesichts desWissens, dass auch hochtechnologische Länder solcheUnfälle erleben können.

Ein weiterer Punkt. Sie haben nicht den Mut, die End-lagerfrage offen anzupacken. Wir sagen: Wir braucheneine ergebnisoffene, bundesweite Suche nach einemEndlager. Wir wollen den Stopp des illegalen Weiterbausvon Gorleben, und zwar sofort.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wer es mit der Energiewende ernst meint, sagt Jadazu, im Grundgesetz zu verankern, dass der Betrieb vonAtomkraftwerken untersagt wird. Auch diesen Antraghaben wir eingebracht. Wir sagen Ja zur Verkürzung derLaufzeiten. Wir sagen aber auch „aber“. „Aber“ sagenwir zu Ihrem ehrgeizlosen Erneuerbare-Energien-Ge-setz; ich weiß, dass die Bundesländer noch hier und dortmit Ihnen darüber diskutieren werden. Das fängt schon

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Renate Künast

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bei den Zielen an. Dass bis 2020 nur 35 Prozent desStrombedarfs durch Ökostrom gedeckt werden sollen, istzu wenig. Wir müssen uns ein Ziel von deutlich über40 Prozent setzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen den Schwerpunkt auf dezentrale, kleineAnlagen setzen. Wir müssen den Schwerpunkt außerdemauf einen Netzausbau setzen, der nicht neue Konflikteproduziert. Gerade im 21. Jahrhundert müssen wir insbe-sondere bei diesem Thema den Bürgern unseren Respektausdrücken, indem wir sagen: Jede Planung und jede Be-schleunigung beginnt mit einer ehrlichen Bürgerbeteili-gung.

Heute stellen wir eines fest: Deutschland steht an derSchwelle, im 21. Jahrhundert Vorreiter für die GreenEconomy zu sein. Wir Grüne werden diese Rolle anneh-men und nicht nur heute dafür sorgen, dass beschlossenwird, wie ausgestiegen wird. Wir wollen darüber hinauszeigen: Wir sind auch in Deutschland ein Garant für in-ternationalen Klimaschutz und für eine internationaleKlimawende.

Ich bin heute stolz darauf – und auch ein bisschen ge-rührt –, was eine Bewegung, die früher diskriminiert undkriminalisiert wurde, alles geschafft hat. Wir alle – ichhabe es am Anfang gesagt – haben unser Land verändert.Ich sage Ihnen: Heute ist ein guter Tag für Deutschland.Wir sind sehr stark, und wir werden weiterhin für Verän-derungen sorgen, hin zu einer nachhaltigen, verantwor-tungsvollen Wirtschaft, die nicht auf Kosten andererlebt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Das Wort erhält nun der Kollege Rüdiger Kruse für

die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Rüdiger Kruse (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Frau Künast, über Ihre Rede habe ich mich gefreut,weil Sie, die Sie die Einzigen sind, die tatsächlich in al-ler epischen Breite die Frage „Wer hat es erfunden?“stellen dürften, es nicht getan haben. Das spricht fürSouveränität.

Sie haben die Frage aufgeworfen – natürlich rheto-risch gemeint –, ob die Grünen noch ein Thema habenwerden, wenn sie dieses Ziel erreicht haben. Ich gebe Ih-nen auch in diesem Punkt recht: Selbstverständlich wer-den Sie wieder Themen finden; das kann ich aus der Er-fahrung der Union belegen.

(Thomas Oppermann [SPD]: Ja! Jeden Tag neu!)

Die Union war es, die – in einem Alleingang, wenn manso will – die soziale Marktwirtschaft eingeführt hat. Diesist ein Projekt, das heute weltweit Anerkennung findetund von den Sozialdemokraten schon seit langem nichtmehr kritisiert wird. Heute wird sie höchstens von einerPartei kritisiert.

Aber damit war die Geschichte der Union noch nichtbeendet. Das Thema „Integration in das westliche Bünd-nis“ war anfangs auch keine Konsenspolitik.

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wie die Ostpolitik!)

– Lassen Sie mir doch die Chance, im Laufe meinerRede auch bei der SPD etwas Gutes zu finden. Andersals Ihre Redner bin ich nicht der Meinung, dass jeweilsdie eigene Partei allein selig machend ist. Bevor ich aufdie Ostpolitik zu sprechen komme – die einen Verdiensthat; darüber bestand ebenfalls kein Konsens in diesemHause –, möchte ich darauf aufmerksam machen, dassuns die Integration in das westliche Bündnis gelungenist. Es trägt noch heute.

Lassen Sie mich auf das Thema Wiedervereinigungzu sprechen kommen, das zumindest geschichtlich nichtso weit zurückliegt, als dass sich die meisten Menschennicht mehr daran erinnern könnten und als dass wir unsnicht mehr daran erinnern könnten, dass maßgeblicheVertreter, nämlich die, die hier das operative Geschäftgeleitet haben, gesagt haben: Das geht nicht, das wollenwir nicht. Das war übrigens Oskar Lafontaine. Auchnach der Wiedervereinigung, die sicherlich ein großesKernthema der Union war, war es nicht so, dass wirkeine Themen mehr hatten. Das heißt, Ihnen wird es ge-nauso gehen wie uns, die wir in der Lage sind, unserePositionen neu zu überdenken.

Als Sie sich gegründet haben, lag es wohl eher nichtin Ihrer Gründungsabsicht, dass Sie die ersten Einsätzeder Bundeswehr mit verantworten. Sie haben sich da-mals richtig entschieden, aber es war in Ihrer Grün-dungsgeschichte nicht vorgesehen.

(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Energiepolitik ist das Thema!)

Herr Gabriel sieht das anders. Herr Gabriel ist weit indie Geschichte zurückgegangen, um jemanden zu fin-den, der schon vor Tschernobyl etwas Kritisches überdie Atomenergie gesagt hat, wobei man sagen muss,dass Willy Brandt zu jenem Zeitpunkt nicht mehr in deroperativen Verantwortung war.

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Vorsitzenderder SPD! – Zuruf des Abg. Ulrich Kelber[SPD])

– Ja, das hat er auf einem Parteitag gesagt. Wissen Sie,das wäre in etwa so, als wenn ich jetzt das Buch Ein Pla-net wird geplündert hochhalten würde, das HerbertGrühl als CDU-Abgeordneter geschrieben hat.

(Zurufe von der SPD: Gruhl hieß der!)

Wenn man will, dann kann man sich immer auf seineStandpunkte zurückziehen.

(Zuruf von der SPD: Wer ist denn deswegen aus der CDU ausgetreten?)

– Sehen Sie, deswegen sind die Grünen gegründet wor-den. Helmut Kohl hat einmal gesagt – er konnte nämlichreflektieren –: Es war ein Fehler, zu wenig auf HerbertGruhl zu hören. Das heißt, die uns sehr bekannte Debatteaus dem Werbefernsehen – Stichwort: „Wer hat es erfun-

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Rüdiger Kruse

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den?“ – hat noch einen anderen Teil. Es geht nicht im-mer nur darum, wer es erfunden hat, sondern es gehtauch darum, wer an der Umsetzung beteiligt ist. An die-ser Umsetzung wollen und werden wir uns beteiligen.

Man darf hier auch einmal daran erinnern, wer dieKatalysatortechnik eingeführt hat, wer das erste Windradgebaut hat und wer das erste Umweltministerium einge-richtet hat.

(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: So ist es! –Rolf Hempelmann [SPD]: SPD Hessen1970! – Weitere Zurufe von der SPD: Oh!)

– SPD Hessen 1970. Vorher war die Umweltpolitik beimInnenministerium angesiedelt, und wir haben die erstenEinspeiseregelungen eingeführt.

Ich glaube aber, das ist nicht der wesentliche Punkt,sondern der wesentliche Punkt ist, zu erkennen, dassman eine Neubewertung von Sachverhalten vornehmenkann. Es ist richtig: In den 60er-Jahren ist ein kollektiverFehler begangen worden – übrigens im Einvernehmender großen Parteien –, nämlich die Entscheidung, maß-geblich auf Atomenergie zu setzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Solche Irrtürmer muss man dann auch mal wieder korri-gieren.

Herr Gysi, Sie und Ihr System hatten mit kollektivenIrrtümern ja viel zu tun; denn Sie haben immerhin40 Jahre lang versucht, darauf eine Republik zu gründen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Hallo?So ein langer Bart!)

Insofern war es sehr beeindruckend, wie Sie sich hierhingestellt haben. Weil Sie Jurist sind, hatte ich von Ih-nen eigentlich erwartet, dass Sie eine rückwirkende Ab-schaltung der Atomkraftwerke verlangen. Das Einzige,was Sie hier tun, um sich zu legitimieren, ist, zu sagen:Ich bin der brutalstmögliche Abschalter.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ist das das neue Niveau der CDU?)

– Das müssen Sie erst einmal erreichen.

Es war ein wenig überraschend – das schaffen Siesonst ja eigentlich immer –, dass Sie heute die Bonizah-lungen für die Banker ausgelassen haben. Ansonstenlanden Sie immer beim gleichen Thema.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, komisch!)

Das mag etwas mit Ihrer Marke zu tun haben.

Sie haben hier den Energieverbrauch angesprochenund uns vorgeworfen, dass wir jene begünstigen, die be-sonders viel Energie verbrauchen. Entschuldigung, aberdie größten Energieverbraucher sind eben nicht die Mil-lionäre mit ihren Schwimmbecken.

(Jörg van Essen [FDP]: Das hat Oskar Lafontaine auch gedacht!)

Das mag zwar nach Ihrer Vorstellung so sein. Aberdie größten Energieverbraucher sind Unternehmen: zumeinen die Deutsche Bahn, mit der wir alle gerne fahren,und zum anderen die sogenannte energieintensive Indus-trie. Nur weil der deutsche Arbeiter mit Ihrer Parteikeine Solidarität mehr hat, müssen Sie ihn jetzt nichtverraten. Wenn Sie die energieintensive Industrie in die-sem Land ihrer Basis berauben – das scheinen Sie ja zuwollen, weil Sie sagen, dass sie mehr zahlen sollen alsder normale Einzelverbraucher –, dann vernichten SieArbeitsplätze.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn Sie diese Arbeitsplätze vernichten, dann vernich-ten Sie auch die Hoffnung, dass wir das, was wir unsvorgenommen haben, auch umsetzen können.

Das, was wir uns umzusetzen vorgenommen haben,mag im Augenblick wie ein nationaler Alleingang ausse-hen. Es gibt immer wieder Kritiker, die sagen: Wennman das schon macht, dann bitte nicht alleine. Es ist abernun einmal so: Irgendjemand muss sich zuerst bewegen.In diesem Fall sind wir das. Das ist der einzige Punkt,bei dem ich mit Herrn Gabriel auf einer Linie liege. Al-lerdings sage ich das und brülle es nicht.

Das ist ein Thema, das eine solche Dynamik hat, dassdadurch ein Impuls für Europa gegeben werden kann.Das ist das, was wir brauchen; denn die Impulse für Eu-ropa, die es früher gegeben hat – das Erreichen von Frie-den, Freizügigkeit usw. –, sind Wirklichkeit geworden.Das heißt, wir brauchen einen neuen Impuls. Wir wollen,wenn wir über Europa diskutieren, nicht mehr nur überKostenfaktoren oder anonyme Bürokratie reden, sondernwir brauchen für Europa eine Idee, die sinnstiftend ist.

(Ulrich Kelber [SPD]: Sagen Sie das mal IhrerKanzlerin! – Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwi-schenfrage)

– Frau Sager, ich danke Ihnen, dass Sie mich angesichtseiner verbleibenden Redezeit von null Sekunden retten.

Präsident Dr. Norbert Lammert:Das geht zwar eigentlich nicht durch bilaterale Ab-

sprachen.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Rüdiger Kruse (CDU/CSU):Frau Sager und ich sind uns aus Hamburg vertraut.

Präsident Dr. Norbert Lammert:Aber ich stelle jetzt einmal ein Interesse an einer Zwi-

schenfrage und die Genehmigung des Redners, eine sol-che Frage zu stellen, fest. – Bitte schön, Frau Sager.

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Die Hamburger schaffen das auch ohne den Präsiden-

ten.

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Präsident Dr. Norbert Lammert:Nein, das schon mal gar nicht.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt bekommt sie keine!)

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Kollege Kruse, Sie heben in Ihrer Rede sehr

stark darauf ab, dass jede Partei an den Punkt kommenkann, an dem sie sagt: Wir müssen Positionen der Ver-gangenheit revidieren und uns gründlich damit auseinan-dersetzen, dass unsere Position vielleicht nicht richtiggewesen ist. Ich habe großes Verständnis dafür, dass Siegegenüber Ihrer eigenen Fraktion jetzt nicht mit der Hal-tung auftreten: Seht, ihr Leute, ich habe euch ja schonimmer gesagt, dass das der falsche Weg war.

Als die Grünen ihre Position zum Beispiel in der Au-ßenpolitik verändert haben, haben wir in der Partei, aufParteitagen und in der Öffentlichkeit eine sehr intensiveund sehr offene demokratische Auseinandersetzung da-rüber geführt. In einem demokratischen Verfahren habenwir dann gesagt: Wir nehmen eine Richtungsänderungvor; wir korrigieren uns.

Ich frage Sie – da denke ich ähnlich wie der Bundes-präsident –: Glauben Sie nicht, dass es für die großenAufgaben, die jetzt vor unserem Land liegen, was dieseEnergiewende angeht, besser gewesen wäre, wenn IhrePartei in einem ähnlich demokratischen, öffentlichen,vielleicht auch von harten Auseinandersetzungen beglei-teten Verfahren zu dieser Kurskorrektur gekommenwäre?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Rüdiger Kruse (CDU/CSU):Zunächst einmal darf ich sagen, dass ich, auch wenn

wir als Hamburger sehr vertraut sind, die Koordinierungund Unterstützung des Präsidenten selbstverständlichsehr begrüße.

Ich hatte den Eindruck, Frau Sager, dass die Debattein der Union doch sehr öffentlich gewesen ist und dieverschiedenen Standpunkte deutlich geworden sind.Diese Debatte begann vor etwa einem Jahr, als es umdieses Thema ging. Das war übrigens nicht meinWunsch, sondern ein Wählerauftrag; denn all diejenigen,die die christlich-liberale Koalition gewählt haben,wussten, dass es diese im Zusammenhang mit der Finan-zierbarkeit des Klimaschutzes für wichtig erachtete, dieLaufzeit zu verlängern. Es gab einen Grundkonsens inder Bevölkerung, wonach das okay war.

Damals gab es auch den Grundkonsens: Wir wollenkeine großen Strompreiserhöhungen. Das hat sich jetztnach Fukushima geändert. Die Bereitschaft der Men-schen, mehr zu zahlen, ist in allen Teilen der Bevölke-rung gewachsen. Auch dort folgen die CDU/CSU unddie FDP dem Souverän, was in einer Republik richtig ist.

Wir haben eine Debatte geführt. Wir haben sicherlichtrotz vieler bürgerlicher Aspekte, die uns verbinden, eineunterschiedliche Kultur. Aber Sie können nicht sagen,

dass diese Debatte nicht öffentlich gewesen wäre. Sie istsogar sehr öffentlich gewesen; denn wir haben auch inden Medien sehr intensiv diskutiert. Norbert Röttgen hatfür seine Position intensiv geworben. Ich bin in meinemWahlkreis durch Kreisverbände und Ortsverbände gelau-fen und habe über Energiepolitik diskutiert, und zwarschon seit letztem Juni. Insofern sind wir hier sehr breitaufgestellt. Anders ist nicht zu verstehen, dass wir imHerbst letzten Jahres die Laufzeitverlängerung – derText dazu bestand aus sechs Seiten – beschlossen haben.Die restlichen 60 Seiten waren sehr gut. Wir haben dieEnergiewende auf einer breiten Basis beschlossen. – Ichdanke für Ihre Frage.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Jetzt wird mir der Präsident gleich sagen, dass meineRedezeit zu Ende ist. Ich glaube, dass wir, anders alsmeine Redezeit, erst am Anfang einer sehr guten Ent-wicklung stehen. Ich freue mich sehr, dass es am Endeeinen breiten Konsens für diese herausragende Aufgabegibt. Das, worin wir unsere Vielfalt einbringen können,ist die Umsetzung des Ganzen. Dafür haben wir be-währte Instrumente, sodass die Umsetzung sicher gelin-gen wird. Ein Wert ist auch, dass Union und FDP beidiesem Thema, das sehr wirtschaftsnah ist, die Kompe-tenz dafür haben,

(Lachen des Abg. Rolf Hempelmann [SPD])

diesen Beschluss konsensuell umzusetzen. Das ist unserVorteil gegenüber Ihnen, Herr Gabriel.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne-ten der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Ich erteile das Wort nun dem Minister für Finanzen

und Wirtschaft des Landes Baden-Württemberg, HerrnNils Schmid.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Nils Schmid, Minister (Baden-Württemberg):Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Wenn Gerhard Schröder das Lukas-Evangelium zi-tiert, dann muss etwas Wichtiges geschehen sein. Er hatnämlich angesichts des Kurswechsels der Regierungs-mehrheit in diesem Haus gesagt, dass im Himmel mehrFreude über einen einzigen reuigen Sünder ist als über99 Gerechte. Diesem Zitat kann ich mich nur anschlie-ßen. Ich freue mich über viele Hundert reuige Sünder indiesem Haus.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Doch kommt man angesichts der aktuellen Diskus-sion schon ein bisschen ins Grübeln. Wenn Parteien25 Jahre brauchen, nämlich von dem Unglück in Tscher-nobyl bis zur Katastrophe in Fukushima, um zu erken-nen, dass die Atomkraft eine nicht beherrschbare Tech-nologie ist, dann frage ich mich: Wie lange brauchendann dieselben Parteien, um einzusehen, dass Steuersen-kungen auf Pump ein Riesenfehler sind?

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13385

Minister Dr. Nils Schmid (Baden-Württemberg)

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(Beifall bei der SPD)

In beiden Fällen gibt es keine sachlichen Gründe fürdiesen plötzlichen U-Turn. Man kann leicht nachvollzie-hen, dass hier taktische Erwägungen eine Rolle gespielthaben. So wie jetzt die Pläne für Steuersenkungen derRettungsring für den neuen FDP-Vorsitzenden sein sol-len, so war der U-Turn bei der Kernenergiepolitik vor al-lem dem Ziel geschuldet, kurz vor der Landtagswahl inBaden-Württemberg mit ganzer Kraft auf die Bremse zutreten, um eine marode Landesregierung vor der Abwahlzu retten.

Wie Sie sehen, ist dieser Versuch mächtig in die Hosegegangen. Deshalb redet jetzt der Vertreter einer neuenLandesregierung in Baden-Württemberg in diesem Ho-hen Hause.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das zeigt: Verlässlichkeit, Planbarkeit und Prinzipien-treue in der Politik werden von vielen Menschen in die-sem Land eingefordert.

(Ulrich Kelber [SPD]: Herr Kauder, hören Sie mal auf Ihren Landsmann!)

Sie müssen sich darauf verlassen können, dass nichtKlientelinteressen, sondern Vernunft und SachverstandEntscheidungen leiten.

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Jetzterzählen Sie mal, wie das bei Stuttgart 21 ist!Wie ist denn da die gerade Linie der SPD?)

Nur dann kann das Vertrauen, das zerstört worden ist,wieder zurückgewonnen werden.

Gerade die Unternehmen in Baden-Württembergbrauchen verlässliche Rahmenbedingungen. Die Stadt-werke, die Mittelständler, die großen Industriekonzerneund auch das Autoland Baden-Württemberg sind mehr,als es in anderen Bundesländern der Fall ist, darauf an-gewiesen, dass gerade in der Energie- und Wirtschafts-politik Verlässlichkeit, Planbarkeit und Investitions-sicherheit gewährleistet sind.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb begrüßt die baden-württembergische Landes-regierung, dass die neue Bundesregierung, wenn auchhandwerklich schlechter, zu dem alten Atomkonsens zu-rückkehren will, den Gerhard Schröder, Jürgen Trittin,Frank-Walter Steinmeier, Werner Müller und viele an-dere ausgehandelt haben und der vor wenigen Monatenohne Not aufgekündigt worden ist. Aber auch da gilt derSpruch vom reuigen Sünder. Wenn die Lernkurve derCDU/CSU auch bei anderen Themen so steil ist, dannkann man hoffen, dass bei den Steuersenkungen nichtderselbe Fehler wiederholt wird.

(Beifall bei der SPD)

Eines ist aber auch klar: Die Geschwindigkeit derEnergiewende in Deutschland entscheidet sich in Baden-Württemberg, nicht nur weil die neue Landesregierungvier AKW und eine riesige Schuldenlast von der altenLandesregierung geerbt hat – es ist eine schwere Hypo-

thek, dass wir die Übernahme des Anteils an EnBW reindurch Schulden finanziert haben –, sondern auch, weil esein Paradebeispiel dafür ist, was die schwarz-gelbeEnergiepolitik in der Vergangenheit an Versäumnissenangerichtet hat. Ich denke nur an den wichtigen Bereichder Windenergie.

Wo ist denn das böse Wort von der „Verspargelungder Landschaft“ entstanden? Das war in Baden-Württemberg.

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: „Wind-monster“ haben die immer gesagt!)

Die Herren Teufel, Kauder und Mappus haben diesesWort bis zum Gehtnichtmehr gebraucht und den Ausbauder Windenergie in Baden-Württemberg verhindert. Jetztwollen sie plötzlich die Frontmänner der erneuerbarenEnergien sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bevor wir von Verspargelung reden, würde ich lieberdarüber reden, dass jedes Windrad, das an einem geeig-neten Ort aufgestellt ist, ein Ausweis baden-württember-gischer Ingenieurskunst ist, auf den wir stolz sein soll-ten. Das ist technischer Fortschritt, der nicht verhindertwerden darf.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bei der Förderung der Onshorewind-energie Verschlechterungen plant.

(Michael Kauch [FDP]: Das ist schlichtweg gelogen!)

Bezeichnend ist auch, dass die baden-württembergischeRiege der CDU/CSU-Bundestagsfraktion um HerrnKauder und Herrn Pfeiffer nichts Besseres zu tun wis-sen, als den Bereich, der für Baden-Württemberg in dennächsten Jahren besonders wichtig ist, weiter zu ver-nachlässigen und zu verschlechtern. Sie tun damit demIndustriestandort Baden-Württemberg einen schwerenTort an. Sie haben sich zu Recht in die hintere Reihe ver-zogen, Herr Kauder.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Schlecht?

Dr. Nils Schmid, Minister (Baden-Württemberg):Ja.

Präsident Dr. Norbert Lammert:Bitte schön, Herr Kollege Schlecht.

(Zuruf von der SPD: Jetzt gibt es wieder SPD-Schelte!)

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Michael Schlecht (DIE LINKE):Herr Minister, in Baden-Württemberg gibt es insoweit

eine günstige Voraussetzung für die Energiewende, alsdas Energieversorgungsunternehmen in Baden-Württem-berg in öffentlichem Eigentum ist und damit öffentlicherKontrolle untersteht. Was mich allerdings verwundert,ist erstens, dass Sie zur Geschäftspolitik der EnBW– Ziel sollte es sein, den Energieumbau voranzubringen –bekundet haben, auf diese keinen Einfluss nehmen zuwollen, sondern die EnBW weiterhin als ganz normalesmarktwirtschaftliches kapitalistisches Unternehmen ar-beiten lassen wollen.

(Zurufe von der SPD: Oh!)

Zweitens wundert mich folgender Punkt: Selbst alsder Geschäftsführer der EnBW erklärt hat, er sei zwarein Atommann, aber wenn sich die poltischen Verhält-nisse gewandelt hätten, sei er durchaus bereit, sich denalternativen Energien zuzuwenden, aber das würde8 Milliarden Euro kosten, hat sich die neue Landesregie-rung nicht einmal ansatzweise damit befasst, in ihr eige-nes Unternehmen zu investieren, um den Umbau derEnergieversorgung voranzubringen. Das habe ich ver-misst.

Präsident Dr. Norbert Lammert:Herr Kollege, Sie müssen sich jetzt aber zeitlich ein

bisschen disziplinieren.

Michael Schlecht (DIE LINKE):Noch einen Satz. – Warum haben Sie das nicht ganz

anders gehandhabt? Ist das nicht wirklich schon ein ers-tes großes Versagen Ihrer Politik im Hinblick auf denEnergieumbau?

(Lachen bei der SPD)

Dr. Nils Schmid, Minister (Baden-Württemberg):Darauf soll ich antworten? Herr Kollege, ein großes

Versagen Ihrerseits ist, zu verkennen, dass EnBW eineAG ist. Deshalb gibt es keine Geschäftsführer, sondernVorstandsvorsitzende. Es gilt das Aktienrecht für dasVerhältnis zwischen Eigentümer und Vorstand. Deshalbist es selbstverständlich, dass die Landesregierung imRahmen des Aktienrechts Einfluss auf die Strategie, abernicht auf Einzelheiten der Geschäftspolitik nehmenwird. Alles andere wäre rechtswidrig. Sie wollen michdoch wohl nicht zu rechtswidrigem Verhalten auffor-dern?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Herr Minister, da Sie jetzt so schön damit angefangen

haben: Würden Sie noch eine Bemerkung der KolleginFlachsbarth einbeziehen wollen?

(Sigmar Gabriel [SPD]: Unbedingt! –Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das muss manhaben wollen!)

Dr. Nils Schmid, Minister (Baden-Württemberg):Ja.

Präsident Dr. Norbert Lammert:Bitte schön, Frau Dr. Flachsbarth.

Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU):Herr Minister, ich habe lediglich eine Nachfrage in

der Sache. Sie haben eben gesagt, dass die Unionsfrak-tion an der Verschlechterung der Bedingungen für denAusbau der Windenergie onshore maßgeblich beteiligtgewesen sei. Könnten Sie mir bitte freundicherweise imDetail nachweisen, wo das der Fall ist,

(Sigmar Gabriel [SPD]: In ganz Baden-Württemberg!)

insbesondere in Bezug auf den SDL-Bonus oder das Re-powering? Ich möchte das Gegenteil behaupten: DieUnionsfraktion hat gemeinsam mit dem Koalitionspart-ner für eine maßgebliche Verbesserung der Bedingungenim Vergleich zum Status quo gesorgt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Nils Schmid, Minister (Baden-Württemberg):Es geht zuerst um die Ausgestaltung der Degression

bei der Förderung der Windenergie. Ich bin der Auffas-sung, dass der jetzige Vorschlag nicht ausreichend ist.Sie wissen ganz genau, dass in Baden-Württemberg einriesiger Nachholbedarf besteht.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum wohl?)

Stellen Sie sich einmal vor: Weniger als 1 Prozent unse-res Stroms wird aus Windenergie erzeugt. VergleichbareLänder wie Rheinland-Pfalz mit ähnlicher Topografieund ähnlicher Windhöffigkeit haben bereits einen Anteilvon 10 Prozent erreicht. Jetzt haben die Südländer – üb-rigens auch Herr Seehofer für Bayern – erklärt, dass siesich langsam an diesen Schnitt heranrobben wollen. Da-für brauchen wir Unterstützung; denn eine dezentraleEnergieversorgung funktioniert nur, wenn wir die Ge-winnung von Energie aus Wind, Wasser, Biomasse undSonne in den jeweiligen Regionen des Landes fördern.Deshalb sage ich: Aus baden-württembergischer Sichtist die jetzige Ausgestaltung der Förderung von Wind-energie im EEG nicht ausreichend. Darüber werden wirnoch diskutieren müssen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vor allem brauchen wir eine mentale Veränderung.Ich höre ständig, wie die Chancen der erneuerbarenEnergien beschworen werden. Ich bin in den letzten Jah-ren und Monaten durch das Industrie- und Mittelstands-land Baden-Württemberg gereist und habe viele Unter-nehmen besichtigt. Darunter war kein einziges, das mitgroßer Begeisterung neue AKW bauen wollte. Es gibtaber ganz viele Unternehmen, die hochleistungsfähigeWindkraftanlagen oder Photovoltaikanlagen fertigen unddiese in die ganze Welt exportieren. Das ist die Zu-kunftschance des Industriestandorts Baden-Württem-

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13387

Minister Dr. Nils Schmid (Baden-Württemberg)

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berg. Sie haben über Jahre hinweg zum Beispiel denAusbau der Windenergie als „Verspargelung der Land-schaft“ verteufelt. Da sehen Sie einmal, wie rückständigSie waren!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gerade weil wir das wichtigste Industrieland inDeutschland sind, entscheidet sich die Energiewende inBaden-Württemberg, auch wenn es um den Ausbau dererneuerbaren Energien geht. Gerade in einem Industrie-land wie Baden-Württemberg haben wir aufgrundunserer gesunden Struktur aus Mittelständlern und Groß-industrie sowie unserer Maschinen-, Anlagenbau- undElektroindustrie, die für die notwendigen technologi-schen Inputs für Anlagen zur Erzeugung erneuerbarenStroms sorgt, für den Ausbau der Speichertechnologieund für die Verknüpfung von E-Mobilität und dezentra-ler Energieerzeugung, die Chance, Modellregion dafürzu sein, wie die Energiewende funktionieren kann. Ichsage Ihnen eines: Wir warten nur darauf, dass die Bun-desregierung und die Mehrheit in diesem Haus uns end-lich die Instrumente dafür in die Hand gibt. Alleineschaffen wir das in Baden-Württemberg eben nicht.

Dazu gehört, dass Sie eine ordentliche Förderung dererneuerbaren Energien hinbekommen; ich bin auf dasBeispiel Onshorewindenergie eingegangen. Dazu ge-hört, dass Sie Kapazitätsmärkte für Neubauten vonKraftwerken schaffen. Wir sind uns einig, dass insbeson-dere hocheffiziente Gaskraftwerke dabei eine großeRolle spielen. Dazu gehört auch, damit der Industrie-standort gesichert wird, dass wir Rücksicht auf die ener-gieintensiven Branchen nehmen.

Das ist das Paket, das Baden-Württemberg braucht;das ist das Paket, das Deutschland braucht. Dieses Paketlag vor zehn Jahren auf dem Tisch. Es lag mit beiden Fa-cetten auf dem Tisch. Ich glaube, Herr Rösler war da-mals noch nicht dabei. Es gab den Ausstiegsfahrplan;daran mögen sich manche vielleicht noch erinnern. Manerinnert sich vielleicht auch noch daran, dass es ein EEGgab, das damals eingeführt worden ist, vor allen Dingendank des Engagements von Hermann Scheer aus Baden-Württemberg.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Damals, als es um das EEG und die Frage ging, ob diegroße Wasserkraft dabei berücksichtigt werden soll – Stich-wort Rheinfelden –, war die CDU/CSU-Bundestagsfrak-tion dagegen. Anschließend rühmen Sie sich, wie toll Siedie erneuerbaren Energien in Baden-Württemberg aus-bauen wollen. Ich glaube, die Realität spricht eine an-dere Sprache.

Deshalb ist es jetzt an der Zeit, dass wir endlich fürdie Industrie, für die Wirtschaft, aber auch für die Bürge-rinnen und Bürger in Baden-Württemberg und inDeutschland diese Sicherheit schaffen. WirtschaftlicheVernunft, soziale Balance und Nachhaltigkeit gehörenzusammen. Baden-Württemberg als starkes Industrie-land wird seiner Verantwortung gerecht werden. Werdenauch Sie Ihrer Verantwortung gerecht.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Für die FDP-Fraktion erhält nun der Kollege Michael

Kauch das Wort.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Michael Kauch (FDP):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn das,

was Herr Schmid hier gerade vorgetragen hat, von derKompetenz der neuen Wirtschaftspolitik in Baden-Württemberg zeugen soll, dann ist mir um das indus-trielle Kernland Deutschlands angst und bange.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu-rufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN: Oh! – Ulrich Kelber [SPD]: Nach-treten als Verlierer!)

Nicht Steuersenkungen werden auf Pump finanziert,sondern die Ausgaben des Staates, die des Bundes undauch diejenigen des Landes Baden-Württemberg. Nichtdie Beglückung von Philipp Rösler ist der Grund fürSteuersenkungen, sondern es sind die Interessen der hartarbeitenden Normalverdiener, denen die Lohnerhöhun-gen vom Staat weggenommen werden. Das ist der Grundfür die Steuersenkungen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir kehren auch nicht zu dem rot-grünen Atomdealmit den Konzernen zurück. Sie haben den Deal überReststrommengen gemacht. Dadurch konnten die Kon-zerne das Ausstiegsdatum immer weiter nach hintenschieben. Wir legen ein neues Konzept vor. In diesemKonzept gibt es klare Enddaten. Die Bürgerinnen undBürger sowie die Unternehmen können sich darauf ver-lassen: Es gibt einen klaren Fahrplan. Das gab es beiRot-Grün nicht.

(Rolf Hempelmann [SPD]: Ihr Fahrplan wech-selt alle halbe Jahre!)

Deshalb tun Sie nicht so, als ob Sie immer schon allesgewusst hätten, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Herr Kollege Kauch, gestatten Sie eine Zwischenbe-

merkung? – Nein.

Michael Kauch (FDP):Frau Künast hat die Frage der demokratischen De-

batte angesprochen. Ich sage Ihnen ganz deutlich: DieFDP hat es sich nicht leicht gemacht, hierbei einenneuen Kurs einzuschlagen. Wir haben einen Parteitageinberufen. Auf diesem Parteitag wurde kontrovers dis-kutiert. Am Schluss sind wir gemeinsam zu einem Er-

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Michael Kauch

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gebnis gekommen. Das ist die demokratische Legitima-tion dafür, was wir heute hier im Deutschen Bundestagbeschließen werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir wollen uns vor allem damit beschäftigen, was dieZukunft dieses Landes ist, während die Opposition hierdie Geschichte bis in die 50er-Jahre hinein bemüht hat.Deswegen haben wir hier ein neues Erneuerbare-Ener-gien-Gesetz vorgelegt. Dieses neue Erneuerbare-Ener-gien-Gesetz hat zum einen das Ziel, den Ausbau der er-neuerbaren Energien zu beschleunigen, und zum anderen,mehr Marktwirtschaft in dieses System zu bringen. Wirwerden mit diesem Gesetz die Produzenten von Öko-strom dazu bringen, sich stärker an den Bedürfnissen ih-rer Kunden zu orientieren; denn unser Ziel ist nicht dieBeglückung von Unternehmen. Vielmehr wollen wir,dass Verbraucherinnen und Verbraucher für das Geld, dassie für ihren Strom zahlen, so viel Ökostrom wie möglichbekommen, und zwar dann, wenn sie ihn brauchen, undnicht nur dann, wenn die Erzeuger ihn ins Netz speisenwollen.

(Beifall bei der FDP)

Deshalb haben wir die Instrumente zur Direktver-marktung von Ökostrom verbessert. Wir haben dieMarkt- und Netzintegration gestärkt. Dazu haben ins-besondere die Koalitionsfraktionen das Instrument dessogenannten Grünstromprivilegs, also der Direktver-marktung über Ökostromhändler, gegenüber dem Regie-rungsentwurf verbessert. Wir haben es geschafft, dassauch wieder kleinere Händler eine Chance haben, diesesInstrument wirtschaftlich zu nutzen, und wir haben dieMarktprämie für stetige erneuerbare Energien erhöht.Wir haben jetzt auch bei Bestandsanlagen für Biomassedafür gesorgt, dass sie eine Prämie bekommen, wenn siesich flexibel an den Bedürfnissen des Marktes ausrich-ten.

Dies zeigt ganz klar: Wir wollen dahin, dass die er-neuerbaren Energien die Hauptfunktion im Energiesys-tem übernehmen können. Die rot-grüne Politik bestandimmer nur darin, ein paar Anlagen zu bauen; aber wiediese Anlagen in die Energieversorgung integriert wer-den, war nie ihr Thema. Aber das ist unser Thema.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La-chen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Herr Schmid das Gesetz offensichtlich nichtrichtig gelesen hat, über das er hier spricht, dann tut es mirleid. Aber ich glaube, es ist weniger ein Informa-tionsdefizit als vielmehr der Versuch der baden-württem-bergischen Landesregierung, irgendwie darum herumzu-kommen, den Plänen der Bundesregierung zuzustimmen.Sie suchen das Haar in der Suppe, und mag es auch nochso klein sein.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wenn Sie das Gesetz, das wir heute als Koalition ein-bringen, und die Änderungsanträge der Koalitionsfrak-tionen mit dem vergleichen, was Ihr Ministerpräsidentam Donnerstag im Kanzleramt vereinbart hat, dann stel-

len Sie fest: Das Ergebnis, das die Koalitionsfraktionenerreicht haben, ist eine höhere Vergütung für die nächs-ten drei Jahre für die Onshorewindkraft als die, die HerrKretschmann im Kanzleramt zugestanden hat.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir erhöhen zwar im Vergleich zu diesem Ergebnisdie Degression um 0,5 Prozent, was einen Betrag von0,045 Cent pro Jahr bedeutet; ich sage dies, um Ihnendie Größenordnung darzustellen. Dafür erhöhen wir denSystemdienstleistungsbonus im Verhältnis zu der Verein-barung mit Herrn Kretschmann in der letzten Woche um0,21 Cent, also um das Fünffache der Summe, die wirbei der Degression darauflegen. Das machen wir des-halb, weil wir nicht wollen, dass man mit dem Bau vonWindkraftanlagen wartet. Wir wollen, dass sie jetzt ge-baut werden; in den nächsten drei Jahren brauchen wirden Aufwuchs. Deshalb verbessern wir die Bedingungenfür die nächsten drei Jahre. Das ist für die Windkraft anLand sachgerecht, gerade in Bayern und Baden-Württemberg. Es ist unerträglich, zu sehen, wie Sie,meine Damen und Herren, und insbesondere Sie, HerrSchmid, Ihr parteipolitisches Süppchen kochen und denBürgern hier Halbwahrheiten erzählen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir haben in der Tat auch den industriellen Mittel-stand bei der Umlage für die erneuerbaren Energien ent-lastet.

Präsident Dr. Norbert Lammert:Der muss allerdings jetzt mit dieser knappen Erwäh-

nung zufrieden sein.

Michael Kauch (FDP):Das tun wir nicht deswegen, weil wir den Unterneh-

men etwas Gutes tun wollen, sondern wir tun das wegender Arbeitsplätze in diesem Lande. Gleichzeitig habenwir aber den weiter gehenden Wünschen der Industrienicht entsprochen; denn eine Entlastung der Unterneh-men bedeutet für andere eine Erhöhung der Umlage. Dashat diese Koalition berücksichtigt. Wir haben den Mittel-stand entlastet, aber die Großindustriewünsche ebennicht erfüllt. Das ist sachgerecht.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Ich erteile das Wort für zwei Kurzinterventionen, zu-

nächst dem Kollegen Fell und dann der KolleginMenzner. Bitte schön.

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Kollege Kauch, Ihre Aussage, es sei unerträg-

lich, zu sehen, wie parteipolitische Süppchen gekochtwürden, fällt voll auf Sie zurück.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Wenn Sie sich an das Rednerpult des Deutschen Bun-destages stellen und sinngemäß behaupten, unter Rot-Grün seien die erneuerbaren Energien nicht eingeführt

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13389

Hans-Josef Fell

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bzw. nicht genügend unterstützt worden, dann frage ichSie, warum in der Welt außerhalb Deutschlands staunendzur Kenntnis genommen wird, dass Deutschland dieTechnologieführerschaft in den erneuerbaren Energienbesitzt und seit zehn Jahren eine Industrie aufgebaut hat,die inzwischen 370 000 Arbeitsplätze hat? Unter Ihrer,der damaligen schwarz-gelben Regierung Kohl waren esnur 30 000 Arbeitsplätze. Dies ist eine Erfolgsge-schichte, die Sie nicht wegreden können. Sie kochen Ihrparteipolitisches Süppchen und wollen nicht wahrhaben,was wirklich ist.

Es ist auch nicht so, dass Ihre Partei längst Ihren – viel-leicht persönlichen – Aussagen gefolgt ist. Wie wollenSie in der Öffentlichkeit klarmachen, dass der Fraktions-vorsitzende der Freien Demokraten im nordrhein-west-fälischen Landtag, Herr Papke, bezüglich Windenergie-anlagen nur von Industriemonstern spricht und bei jederBürgerinitiative gegen Windenergie auftritt. Wie wollenSie begründen, dass die Nachholbedarfe in den süd-lichen Bundesländern erst mit Ihrer Regierungsbeteili-gung notwendig werden? Sie tragen doch die Verantwor-tung für die Blockade der Windenergie in derVergangenheit? Wie wollen Sie eigentlich jetzt dieMarktintegration, von der Sie so viel gesprochen haben,begründen, wenn selbst der BDEW, der Bundesverbandder Energie- und Wasserwirtschaft, die Verschlechterun-gen im Zusammenhang mit dem sogenannten Grün-stromprivileg, die Sie jetzt im Erneuerbare-Energien-Ge-setz vornehmen, mit den Worten „Damit ist es tot“kommentiert? Damit machen Sie dem entscheidendenInstrument der Marktintegration den Garaus, und Siebringen eben nicht die von Ihnen als Zielvorstellung be-zeichnete Marktintegration voran.

Es ist schlicht nicht wahr, was Sie sagen. Ich bitte Sie,das hier in der Öffentlichkeit zuzugeben. Wir haben vonIhnen keinen Einstieg in erneuerbare Energien zu erwar-ten. Wir erwarten allerhöchstens einen beschleunigtenAusbau. Genau den nehmen Sie aber nicht in Angriff.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Frau Kollegin Menzner.

Dorothee Menzner (DIE LINKE):Danke, Herr Präsident. – Kollege Kauch, in der Be-

gründung der 13. Novelle des Atomgesetzes finden wirrelativ wenig. Wir haben in den letzten Wochen mit-einander vernommen, dass die vier Stromkonzerne über-legen und teilweise schon konkret angekündigt haben,auf Entschädigungen zu klagen, und Sie legen an dieserStelle nicht nach. Die Begründung im Gesetzentwurf,wieso Laufzeiten begrenzt werden, ist sehr dürftig, ob-wohl diese Begrenzung natürlich einen Eingriff in dasEigentums- und Verfügungsrecht dieser Konzerne dar-stellt. Ich möchte Sie an eine Entscheidung zum Bundes-berggesetz von 1991 erinnern. Da hat das Bundesverfas-sungsgericht entschieden – das möchte ich zitieren –:

Die Gründe des öffentlichen Interesses, die für ei-nen solchen Eingriff sprechen, müssen so schwer-

wiegend sein, daß sie Vorrang haben vor dem Ver-trauen des Bürgers auf den Fortbestand seinesRechts, das durch die Bestandsgarantie des Art. 14Abs. 1 Satz 1 GG gesichert wird.

Ich frage Sie, wieso die Koalition gerade vor demHintergrund der Ankündigungen dieser Konzerne nichtdarauf hingewirkt hat, dass die 13. Novelle des ATG ver-fassungs- und entschädigungssicher wird.

(Beifall bei der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Zur Erwiderung Herr Kollege Kauch.

Michael Kauch (FDP):Frau Menzner, ich danke Ihnen für die ausgesprochen

sachliche Intervention zu dem Thema, das Sie auchschon im Umweltausschuss angesprochen haben.

Ich sage ausdrücklich: Wir teilen das Ziel, dass dieVerkürzung der Laufzeiten der Kernkraftwerke keinemilliardenschweren Entschädigungszahlungen an dieKonzerne nach sich zieht.

Vielleicht könnten Sie Ihrem Fraktionsvorsitzendeneine gewisse Nachhilfe geben. Er hat uns gerade vorge-worfen, dass wir in der Begründung auf die Amortisa-tionsfristen von Kernkraftwerken eingehen. Das ist ge-nau die Begründung, die es an dieser Stelle braucht, FrauMenzner. Es ist nämlich so, dass wir nicht in die Eigen-tumsrechte der Unternehmen eingreifen, sondern durchdie festen Abschaltdaten in Kombination mit den Über-tragungsmöglichkeiten innerhalb des Zeitraums bis zurAbschaltung aus unserer Sicht eine verfassungsfeste Lö-sung gefunden haben. Wir teilen das Ziel. Wir teilennicht Ihre Skepsis. Auf jeden Fall teilen wir nicht die po-lemische Kritik Ihres Fraktionsvorsitzenden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dann zu den Äußerungen von Herrn Fell. Herr Fell,ich habe Ihnen nicht vorgeworfen, dass das EEG in dervon Rot-Grün beschlossenen Fassung den Anlagenbaunicht angereizt hat. Insofern war es effektiv. Man kanndarüber streiten, ob es effizient war; aber es war effektiv.Wir sind nur jetzt in der Situation, dass der Anteil der er-neuerbaren Energien im Netz schon deutlich über16 Prozent liegt. Wir wollen spätestens 2020 auf einenAnteil von 35 Prozent kommen. Wir wollen bis 2050 ei-nen Anteil der erneuerbaren Energien von 80 Prozent.

Wenn es so ist, dass die erneuerbaren Energien denHauptanteil der Energieversorgung übernehmen müssen,dann muss man sich heute andere Fragen stellen, als Siesich damals stellen mussten, als sozusagen das Rad ansLaufen gebracht wurde.

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Eben! – Rolf Hempelmann[SPD]: Sie haben die falschen Antworten!)

Jetzt geht es um folgende Fragen: Wie bekommen wirdie erneuerbaren Energien in den Markt? Wie bekom-men wir sie ins Netz? Wie beenden wir die Dauersub-

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Michael Kauch

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ventionierung und damit eine schleichende Verstaatli-chung des Energiemarkts über staatlich festgesetztePreise? All das sind Aufgaben, denen wir uns jetzt stel-len müssen. Darauf geben wir mit den von uns vorge-schlagenen Änderungen zum EEG die Antworten.

Ich weise im Übrigen auf Folgendes hin: Die erneuer-baren Energien hängen nicht nur von der Vergütung ab.Sie hängen auch davon ab, ob beispielsweise die Länderund Kommunen ausreichend Flächen bereitstellen undob der Netzausbau beschleunigt wird. Deshalb machenwir als Koalition die Erdverkabelung jetzt zum Regel-fall. Bis zu einer Kostenhöhe von fast dem Dreifacheneiner Freileitung ist die Leitung als Erdkabel auszufüh-ren.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was erzählt der?)

Damit werden Bürgerproteste deutlich abgebaut.

Wir sorgen als Koalition gleichzeitig dafür, dass dieErdverkabelung nicht vorgenommen wird, wenn natur-schutzfachliche Gründe dagegenstehen. Das war vonden Ländern nicht gefordert worden. Das haben die Ko-alitionsfraktionen eingeführt, weil naturschutzfachlichdie Erdkabel eben nicht immer besser sind als Freileitun-gen. Das gehört zur Wahrheit dazu.

Auch die Leistungsbegrenzung beim Repowering, dieunter dem früheren Umweltminister Gabriel ins Gesetzgeschrieben worden ist, hebt diese Koalition auf; Stich-wort „Verringerung von Höhenbegrenzungen“. Sie soll-ten uns nicht an Worten Einzelner messen, sondern anden Taten der Mehrheit unserer Fraktion und unsererPartei. Die steht ganz klar zu dem Kurs, den wir hierheute beschließen werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Frak-

tion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kauch, Ihre Antwort zeigt: Sie sind die Getriebe-nen. Genau deshalb muss dieser Atomausstieg anders alsder im Jahr 2000 unumkehrbar werden. Wir brauchen ei-nen unumkehrbaren Ausstieg – und das nicht erst in dreiLegislaturperioden, sondern wesentlich eher.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Atomausstieg, das ist das eine; zukunftsfähigeEnergieversorgung zu organisieren, das ist das andere.Für die Linke ist ganz klar: Die Energiewende muss ei-nen Anteil der regenerativen Energien von 100 Prozentzum Ziel haben, und sie muss sozial gestaltet werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn ich mir die Gesetzentwürfe anschaue, kommeich zu dem Schluss: Da droht schon eine gewisse Ener-

giearmut für einkommensschwache Haushalte. Darumeinige Worte zur Novelle des Gesetzes über den Energie-und Klimafonds. Der Fonds soll Verlässlichkeit bei derEnergiewende garantieren. Da geht es um soziale Ab-sicherung, um regenerative Energien, um den Ausbau.

Ich frage mich: Ist das so? Ab 2013 gibt es nur nocheine Säule, nämlich die Versteigerungserlöse aus demEmissionshandel. Das heißt, wenn die Preise für CO2-Zertifikate sinken, ist weniger Geld in dem Fonds. Dasist eine Gefahr, auf die ich hinweisen möchte.

Alternativ hätte man die Kernbrennstoffsteuer erhö-hen können. Ich denke aber, die Koalition wollte es sichnicht weiter mit den AKW-Betreibern verscherzen.Schade! Wir brauchen mehr Geld in diesem Fonds. Dennwir alle wissen: Die Energiewende kostet viel Geld.

Was enthält dieser Fonds? Forschung für Elektromo-bilität. Die Sachverständigen haben gesagt, sie gehörenicht hinein. Elektromobilität wird die Probleme des In-dividualverkehrs nicht lösen – das wissen wir alle –, undwenn sie mit Atomkraftstrom betrieben wird, dann so-wieso nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Eine der größten Sünden sind die Zuschüsse für ener-gieintensive Unternehmen in Höhe von 500 MillionenEuro. Das ist der vierte Mechanismus zur Subventionie-rung der energieintensiven Unternehmen. Die Zuschüssesind gedacht als Ausgleich für emissionshandelsbedingteStrompreiserhöhungen.

Um eines klarzustellen, damit Sie uns das nicht wie-der vorwerfen: Natürlich sind wir für eine angemesseneUnterstützung der Unternehmen, wenn ein relevanterTeil der Produkte im internationalen Wettbewerb steht.Schließlich gibt es jenseits der EU vielfach keine ver-gleichbare Umweltgesetzgebung. Doch man muss be-rücksichtigen, dass Firmen bereits seit Jahren entlastetwerden:

Erstens. Der Spitzenausgleich und andere Nachlässebei der Stromsteuer bringen den Unternehmen 4,2 Mil-liarden Euro jährlich.

Zweitens die Ausgleichsregelungen im EEG. Und dasist der Hammer: Während die Bürgerinnen und Bürgerüber die EEG-Umlage die Energiewende finanzierenmüssen, wird bei der Industrie Geld damit verdient; denndie erneuerbaren Energien führen an der Börse zu strom-preissenkenden Effekten in Höhe von 0,6 Cent pro Kilo-wattstunde. Das heißt, es gibt einen Einspeisevorrang fürerneuerbare Energien, wodurch der jeweils teuersteStrom aus fossilen Rohstoffen überflüssig wird. DieEEG-Umlage für große energieintensive Unternehmenaber wird auf 0,05 Cent pro Kilowattstunde begrenzt.Das heißt, das Ganze ist eine Gelddruckmaschine; daswird auch von der Bundesregierung zugegeben.

Drittens die kostenlose Vergabe der CO2-Zertifikatean die Industrie im Rahmen des Emissionshandels ab2013. Hier hat sich die Lobby schamlos durchgesetzt.Deutlich mehr Unternehmen als die Zahl derjenigen, dietatsächlich mit energieintensiven Produkten im interna-tionalen Wettbewerb stehen, profitieren davon.

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Eva Bulling-Schröter

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Viertens – ich habe es schon genannt – die zusätzlicheKompensation von Strompreiserhöhungen für die Indus-trie in Höhe von 500 Millionen Euro.

Und noch etwas: Die Bundesregierung hat letztenMonat bei der EU-Kommission Zuschüsse von über1 Milliarde Euro angemeldet; das haben wir zufällig er-fahren. Wir fragen uns: Wer bezuschusst eigentlich dieBürgerinnen und Bürger mit kleinem Einkommen?

(Beifall bei der LINKEN)

Sollen die alles allein tragen? Im Bereich der energeti-schen Gebäudesanierung gibt es Steuererleichterungenund Förderungen. Das ist ja gut – aber vor allem für dieMenschen, die ohnehin nicht arm sind und Steuern zah-len.

Fazit: Das Gesetzespaket führt zu einer extremen so-zialen Schieflage. Das halten wir für ungerecht. Wirwollen, dass der sozialökologische Umbau von der brei-ten Bevölkerung akzeptiert wird. Dabei geht es nicht nurum Ökologie, sondern auch um soziale Aspekte. Dasmuss gewährleistet sein. Sonst bekommen wir die Ak-zeptanz nicht hin, die wir dringend brauchen für100 Prozent regenerative Energien.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Bärbel Höhn für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für

uns und für mich ist heute ein wichtiger Tag. Die unsin-nigen Laufzeitverlängerungen vom letzten Herbst wer-den heute zurückgenommen. Das ist gut; denn wir wol-len den Ausstieg aus der Atomkraft.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb habe ich mich gefreut, dass ein Redner der Ko-alition, Herr Kruse, aus meiner Sicht eine gute Rede ge-halten hat, weil sie nachdenklich war.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Josef Göppel [CDU/CSU])

Ich habe noch die großen Worte im Ohr, die vor ei-nem halben Jahr gefallen sind: Es war von einem „Jahr-hundertkonzept“ die Rede; die Kanzlerin sprach von ei-ner „Revolution“, die bis zum Jahr 2050 trage; HerrWesterwelle hat die „epochale Bedeutung“ hervorgeho-ben. Sie haben sich mit diesen großen Worten überboten.Wer angesichts dieser großen Worte heute hier noch ver-sucht, die Opposition mit frischen und nassforschen Re-den anzugreifen, wie es Herr Röttgen und Herr Röslerhier getan haben, der muss noch viel lernen, wenn er indie Energiewende einsteigen will.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Was hat Herr Röttgen, der es offensichtlich nichtmehr nötig hat, hier noch zu sitzen, im letzten Herbst ge-

sagt? Die Grünen seien „energiepolitische Blindgänger“.Ich kann nur sagen: Willkommen im Club, HerrRöttgen! Wir wollen raus aus der Atomkraft, wir wolltenes im letzten Herbst. Das ist nicht besserwisserisch. Wirwollten das schon im Herbst, weil wir wissen, dass dieNutzung der Atomkraft falsch ist, und wir nicht Fuku-shima brauchen, um das zu lernen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Kollegin Höhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage von

einer Kollegin aus der Linksfraktion?

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Bitte.

Dorothee Menzner (DIE LINKE):Frau Kollegin Höhn, ich möchte Sie fragen, ob ein Zi-

tat, was sich heute in der Rheinischen Post findet und Ih-nen zugeschrieben wird, richtig ist. Hier das Zitat:

Wenn wir 2013 mitregieren sollten, werden dieGrünen an dem Zeitraum festhalten, dass bis 2022der letzte Meiler abgeschaltet werden soll. Dasheißt, wir werden den vorzeitigen Ausstieg 2017auch nicht mehr als Zielsetzung im nächsten Wahl-kampf haben.

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Wir sagen: Wir wollen raus aus der Atomkraft. An-

ders als Sie von den Linken haben wir ein Konzept, wiewir aus der Atomkraft herauskommen wollen.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das haben wir auch!)

Wir sind nicht diejenigen, die immer nur Forderungenerheben und nicht deutlich machen, wie es geht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir wollen mit der Mehrheit der Menschen in diesemLand und der Mehrheit der Parteien raus aus der Atom-kraft. Es ist gut für die Sache, wenn man nicht nur lautschreit, sondern auch ein Konzept hat, wie man es um-setzen kann; das haben wir.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zu-rufe von der LINKEN: Haben wir doch!)

Die Koalition hat uns vorgeworfen, wir würden par-teitaktisch agieren, das sei Klein-Klein. Herr Rösler, ichhabe mitbekommen, wie der Vizekanzler sozusagen zumVizekanzler der Kaltreserve wurde; denn man brauchtedie Kaltreserve – die unsinnige Idee, ein Atomkraftwerkin der Kaltreserve zu halten –, um die FDP zu retten.Dazu muss ich sagen: Das ist parteitaktisch motiviert,das ist Klein-Klein. Da hätte ich von Ihnen etwas ande-res erwartet, nämlich dass Sie dann vollständig ausstei-gen und nicht immer noch an der Kaltreserve festhalten.Das wäre die richtige Politik gewesen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

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Bärbel Höhn

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Herr Rösler, ich habe gar kein Problem damit, dassSie als Wirtschaftsminister neu im Amt sind. Aber viel-leicht muss man aufpassen, dass man da nicht großeWorte spuckt. Wenn Sie sagen, dass die Energiewendeerst jetzt angepackt werde, dann muss ich sagen: ZurEnergiewende gehört auch die Energieeffizienz. Sie wa-ren letzte Woche in Brüssel. Da ging es um die Energie-effizienz. Genauso schlecht wie Ihr Vorgänger Brüderleversuchen Sie alles zu tun, um die Beschlüsse zur Ener-gieeffizienz in Brüssel zu blockieren. Hören Sie auf,diese Beschlüsse zu blockieren!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das schafft Arbeitsplätze. Es wäre Ihre Aufgabe alsWirtschaftsminister, die 250 000 Arbeitsplätze zu schaf-fen, die in diesem Bereich möglich sind.

Dasselbe gilt für die erneuerbaren Energien. Sie strei-ten sich über die Windkraft auf dem Land. Herr Kauchhat es richtig auf den Punkt gebracht – ansonsten war dieRede furchtbar –: Sie streiten sich bei der Windkraft aufdem Land um 0,05 Cent pro Kilowattstunde. Jeder weiß:Wer wirklich raus aus der Atomkraft will, muss rein indie erneuerbaren Energien und insbesondere die Wind-kraft auf dem Land fördern; denn sie hat Potenzial undist kostengünstig. Da wollen Länder einsteigen: Nord-rhein-Westfalen – das Land hat fünf Jahre Blockade derFDP hinter sich –, Baden-Württemberg und Bayern. Werwegen 0,05 Cent pro Kilowattstunde fightet, der hat dieBedeutung der Energiewende noch nicht verstanden.Wir müssen das Potenzial der Windkraft auf dem Landbesser nutzen. Wir müssen endlich die Blockade bre-chen, die die schwarz-gelbe Koalition in den Ländernverursacht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Zum Atomausstieg gehört auch die Frage der Endla-gerung. Ich fand es interessant, dass MinisterpräsidentMcAllister in seiner gestrigen Regierungserklärung einevollkommen neue Debatte angestoßen hat. Er sagte, inGorleben solle der Atommüll oberirdisch gelagert wer-den und er wolle die Senkung der Radioaktivität, sprichdas Transmutationsverfahren. Das hat übrigens auch dieBundesforschungsministerin vor. Jeder, der sich etwasauskennt, weiß: Transmutation heißt, wieder eineenorme Atomwirtschaft aufzubauen, die mit enormenRisiken verbunden ist. Das heißt: Wiederaufarbeitungs-anlage. Das heißt: Atomwirtschaft. Wer aus der Atom-kraft raus will, muss wirklich raus aus der Atomkraftund darf keine Riesenprojekte im Bereich der Atomwirt-schaft aufbauen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die Kanzlerin hat die Energiewende hier vorgegeben.Dazu wurde sie durch die Katastrophe in Fukushima ge-zwungen. Wir werden darauf achten, dass da nicht nurEnergiewende draufsteht, sondern auch Energiewendedrin ist. Ich sehe ganz viele Abgeordnete der Koalition,die diese Energiewende überhaupt noch nicht verinner-licht haben und momentan bei jedem Punkt und Komma

dafür fighten, dass diese Energiewende nicht kommt.Das ist ein schwerer Fehler. Wer aussteigt aus der Atom-kraft, muss einsteigen in die erneuerbaren Energien unddie Energieeffizienz erhöhen. Das werden wir tun, da-rauf werden wir achten, und dabei werden wir Sie trei-ben. Wir haben noch viel Arbeit zu erledigen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Georg Nüßlein für die CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich

stelle fest: Dies ist weniger eine historische als eine His-torikerdebatte. Ich persönlich hätte mir gewünscht, dasswir uns stärker dem Ausblick als dem Rückblick wid-men.

(Rolf Hempelmann [SPD]: Ihr blickt nicht so gern zurück!)

Jetzt bin aber auch ich gezwungen, zu reagieren und zu-rückzublicken.

Ich möchte erst einmal festhalten, dass die Kernener-gie früher unseren Wohlstand aufgebaut und die Indus-trialisierung gesichert hat, insbesondere von Süd-deutschland. Das muss man an dieser Stelle einleitendpositiv bemerken dürfen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber man hat das Risiko ignoriert!)

Zweitens. Nachdem hier heute Morgen schon allenMöglichen gedankt wurde – mit viel Pathos von FrauKünast zum Beispiel –, möchte ich mich bei den vielenMitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Kernkraftwer-ken bedanken, die täglich unsere Sicherheit sicherstel-len. Sie sind in beruflicher Hinsicht am stärksten vondem betroffen, was wir heute hier beschließen. VielenDank den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in denKernkraftwerken.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Lassen Sie mich rückblickend etwas zu unserem Be-schluss vom letzten Herbst sagen: Der Opposition ist esdamals gelungen, durch eine Medienkampagne zu sug-gerieren, dass es bei diesem Energiekonzept nur um dieLaufzeitverlängerung ging.

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die Medien sind schuld!)

Sie wissen sehr genau, dass das nicht der Fall war. Durchdie Laufzeitverlängerungen wollten wir ein Mittel zumZweck schaffen. Wir wollten Zeit und Geld für den Um-stieg generieren.

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Dr. Georg Nüßlein

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(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, ja! – UlrichKelber [SPD]: Nur, das Geld haben Sie denFalschen zugesteckt!)

– Sie wissen doch, dass wir diese Zeit brauchen, weil wirmit dem EEG damals zwar Kapazitäten geschaffen ha-ben,

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Alter Redebaustein!)

dass wir aber keine Versorgungssicherung hinbekommenhaben. Sie wissen, dass das die eigentliche Herausforde-rung ist. Sie wissen, dass wir Zeit brauchen, weil wir imBereich von Forschung und Entwicklung noch viel tunmüssen. Sie haben zum Beispiel die Photovoltaik zu frühauf den Markt gebracht. Deshalb müssen wir jetzt überdie finanziellen Konsequenzen dieses falschen Ent-schlusses diskutieren.

(Ulrich Kelber [SPD]: Deswegen nehmen Siedie Laufzeitverlängerung zurück? Weil wirmehr Zeit brauchen?)

Sie wissen alle, dass das, was wir heute hier entschei-den, Geld kosten wird – das muss man so klar anspre-chen –, und Sie wissen, Frau Bulling-Schröter, dass esauch um Verteilungsfragen geht. Es geht um die Frage:Wer zahlt was? Dass Industrie und Wirtschaft, sofernkeine Potenziale zur Effizienzsteigerung vorhanden sind,von der EEG-Umlage entlastet werden müssen, ist einzentraler Bestandteil dessen, was wir heute hier be-schließen.

Nach Fukushima und nach der Revidierung unseresletztjährigen Beschlusses haben wir weniger Zeit undweniger Geld zur Verfügung. Daher stehen wir vor eineranspruchsvollen Aufgabe. Ich bin der festen Überzeu-gung, dass der Ausstieg der leichtere Teil dieser Aufgabeist. Ich glaube aber trotzdem, dass es entscheidend ist,dass wir hier einen Konsens zustande bringen. Ich be-danke mich ausdrücklich bei den Grünen, dass sie jetztkein Haar in der Suppe gesucht und auch keines hinein-geschmuggelt haben.

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ein paar Haare sind schon drin!)

Die Zustimmung der Grünen ist natürlich nur konse-quent; denn der heutige Beschluss – das hat auch IhreVorsitzende, Frau Roth, bei der Bundesdelegiertenkonfe-renz festgestellt – stellt eine Verbesserung gegenüberdem Beschluss von Rot-Grün dar.

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Ist ja vielleicht auch zehn Jahrespäter!)

Das, was wir hier heute im Rahmen des Atomaus-stiegs beschließen, bringt Planungssicherheit für alle Be-teiligten, für die, die in die Alternativen investieren wol-len, aber auch für die Versorger. Ich meine, dass das, waswir hier heute beschließen, aufgrund dieses breiten Kon-senses nicht ins Grundgesetz aufgenommen werdenmuss. In unserem Grundgesetz steht nicht einmal, wel-ches Wirtschaftssystem die Bundesrepublik Deutschlandverfolgt.

(Zuruf von der LINKEN: Aha!)

Ich weiß, dass die Linke ein Problem damit hätte, dieimmens erfolgreiche soziale Marktwirtschaft ins Grund-gesetz zu schreiben. Daher ist es absolut unsinnig, ein-zelne technologische Entscheidungen dieses Hauses insGrundgesetz zu übernehmen. Das ist absolut falsch undein Schritt, den wir sicher nicht gehen wollen.

Ich hoffe im Übrigen, dass der Konsens gerichtsfestist. Auch ich habe an der einen oder anderen Stelle mitBlick auf die Themen Gleichbehandlung und Eigen-tumsschutz meine Zweifel; das gebe ich offen zu. FrauKünast, Sie als Juristin wissen, dass man das so oder sosehen kann und dass es an dieser Stelle vor allem daraufankommt, an die Versorger zu appellieren. Sie solltenaus meiner Sicht ganz genau überlegen, ob es angesichtsdieses politischen, vor allem aber auch gesellschaftli-chen Konsenses Sinn macht, den Rechtsweg zu be-schreiten.

Ich sage aber auch – ich habe mir das jetzt in der De-batte lange genug angehört –, dass sich der Konsens ausmeiner Sicht nicht mit Besserwisserei verträgt. Die Grü-nen treten jetzt besserwisserisch auf und sagen, sie hät-ten das schon immer gewusst, die unvorstellbaren Risi-ken der Kernenergie seien lange bekannt gewesen.

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na und? Ist doch so!)

Für mich ist dies eine der letzten Gelegenheiten – dasgebe ich gerne zu –, mein ceterum censeo zu sagen undIhnen noch einmal die Fragen zu stellen, die Sie noch niebeantwortet haben: Wenn das alles so ist, warum sindSie dann im Jahr 2000 nicht sofort ausgestiegen? Warumhaben Sie stattdessen ein hohes internationales Sicher-heitsniveau attestiert?

(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Aus dem gleichen Grund wie ihr: Profite!)

Jenseits dieser Fragen, die Sie wahrscheinlich nie beant-worten werden, freue ich mich, dass dieses ideologischeKampfthema heute beendet wird. Ich weiß, dass sich beiden Grünen noch der Phantomschmerz einstellen wird.

(Zuruf von der SPD)

Ich erlebe momentan in etlichen Veranstaltungen, dasssie geneigt sind, die alten Debatten noch einmal zu füh-ren. Ich gebe für mich offen zu: Auch ich habe manch-mal das Bedürfnis, da noch einmal draufzuhauen.

Es stellt sich auch die Frage, was die AKW-Folklorein Zukunft machen wird, wenn sie nicht mehr sitzend,singend, tanzend oder sonst irgendwie demonstrierendürfen.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Machen Sie sich keine Sorgen, die finden etwas!)

Ich glaube, dass wir uns nicht der Vergangenheit wid-men sollten, sondern ernsthaft der Frage, wie wir jetztbeim Ausbau der erneuerbaren Energien weitermachen.Wir müssen in beiden Reihen viel um Akzeptanz wer-ben. Die Themen Vermaisung, Verbauung der Flüsse,Verschandelung mit Leitungen usw. spielen immer noch

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Dr. Georg Nüßlein

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eine Rolle, und zwar nicht nur auf der rechten Seite, son-dern ganz genauso auf der linken Seite dieses Hauses.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Ich

glaube, dass wir jetzt auch bei dem Thema Endlagerungeinen Konsens brauchen. Für mich steht klipp und klarfest, dass das eine Aufgabe der Generation ist, die dieKernenergie genutzt hat.

Vielen herzlichen Dank.(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-

neten der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Hubertus Heil für die SPD-Frak-

tion.(Beifall bei der SPD)

Hubertus Heil (Peine) (SPD):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

wissen und spüren, dass Glaubwürdigkeit in Bezug aufdemokratische Politik eine knappe Ressource ist. In die-sem Land ist das Ansehen demokratischer Politik nichtgerade ausgeprägt. Umso mehr muss ich feststellen, dassdie Art und Weise, wie heute hier von schwarz-gelberSeite argumentiert wird, nicht gerade mithilft, die Glaub-würdigkeit demokratischer Politik insgesamt zu stärken.Oder, um es anders zu sagen: Herr Bundeswirtschafts-minister und auch Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie sichjetzt mit Herrn Seehofer hinstellen und die Ökohippiesmimen, dann glaubt Ihnen das – um es klar zu sagen –keine Sau in Deutschland.

(Beifall bei der SPD – Patrick Döring [FDP]: Säue sind nicht die Zielgruppe!)

Ich sage das, Herr Bundeswirtschaftsminister, deshalbganz im Ernst, weil wir jetzt mit einem Mythos, den Siehier zu stricken versuchen, sofort aufräumen können. Siehaben behauptet, Rot-Grün hätte vor zehn Jahren zwarden Ausstieg auf den Weg gebracht, aber nicht den Ein-stieg in erneuerbare Energien. Ich frage Sie als Nieder-sachse, die wir beide sind, Herr Kollege Rösler: Sinddenn all die Windräder, die in Niedersachsen stehen, ausPappmaschee? Es ist reale Wirtschaft bzw. reale Wert-schöpfung, die da stattfindet. Sie produzieren auchStrom, Herr Rösler. Sie haben die Energiewende nichterfunden, wir haben sie vor zehn Jahren eingeleitet. Dasist der Unterschied.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg.Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN])

Ich sage Ihnen noch etwas zu Niedersachsen. Wirbeide kommen aus Niedersachsen. Unsere Heimat hatnach wie vor etwas Gutes: eine industrielle Wertschöp-fungskette von der Grundstoffindustrie bis hin zu High-techschmieden. Aber wir alle aus unserer Generation ha-ben erlebt, dass die Wirtschaft bzw. die Industrie einem

Strukturwandel unterlag und dass Arbeitsplätze – bei-spielsweise im Südosten Niedersachsens in der Stahlin-dustrie – verloren gingen.

Es war die rot-grüne, SPD-geführte Bundesregierungunter Bundeskanzler Gerhard Schröder, die durch dasErneuerbare-Energien-Gesetz mitgeholfen hat, dass wirzum ersten Mal, bedingt durch die Förderung der erneu-erbaren Energien, einen Aufwuchs an industriellen Ar-beitsplätzen – beim Maschinenbau, in der Stahlindustrie,im Handwerk und beim Schiffbau – in unserer Heimaterlebten. Das können Sie nicht ignorieren. Das glaubt Ih-nen auch kein Mensch, Herr Rösler.

(Beifall bei der SPD)

Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei ei-nigen bedanken, die nicht mehr im Deutschen Bundestagsind. Einer davon lebt auch nicht mehr. Ich erinnere anHermann Scheer, aber auch an den früheren KollegenDietmar Schütz und den aktuellen Kollegen RolfHempelmann. Sie haben aus unserer Sicht damals imDeutschen Bundestag mitgeholfen, das Erneuerbare-Energien-Gesetz zu einer Erfolgsstory zu machen.

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Da gab es noch ein paar Grüne!)

– Euch lobe ich sowieso den ganzen Tag. Seid nicht sonervös.

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Man kann aber auch mal die Na-men nennen!)

– Wir haben das gemeinsam gemacht. Ich kann RenateKünast nur sagen: Wenn sie einmal das Wort „Rot-Grün“ sagen würde, wäre ich ganz happy. Denn es warRot-Grün. Wir können gemeinsam stolz darauf sein.

(Zuruf von der SPD: Sehr wahr!)

Es war aber auch das rot-grüne Bündnis, das damals vor10 Jahren einen gesellschaftlichen Großkonflikt, der un-ser Land 30, 40 Jahre lang polarisiert und gespalten hat,befriedet hat. Es waren Sie, die das damals bekämpft undmit Häme überzogen haben. Wenn ich mir einzelne Text-bausteine aus der gerade von Herrn Nüßlein gehaltenenRede noch einmal ins Gedächtnis rufe – er sprach von„AKW-Folklore“; damit meinte er die Bürgerinnen undBürger, die sich gegen die Atomkraft gewehrt haben –,kann ich nur sagen: Sie haben nichts gelernt, und das,was Sie hier machen, ist wenig glaubwürdig.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Sie sich jetzt in Sachen Atomausstieg mit zehnJahren Verzögerung an den rot-grünen Kurs anpassen, istdas nichts, was wir ablehnen oder kritisieren würden.Vorhin wurde von Nils Schmid schon aus der Bibel zi-tiert. Es ging da um „reuige Sünder“ und „Gerechte“. Siemüssen aber eines zur Kenntnis nehmen: Das, was Sieim Herbst letzten Jahres produziert haben, wirkt fort. Siehaben einen Konflikt aufgerissen, aber Sie haben vor al-len Dingen zu Rechts- und Planungsunsicherheiten bei-getragen. Das Ergebnis war, dass wir einen Stopp bzw.einen Stau und einen Attentismus bei den Investitionenerlebt haben. Das gilt beispielsweise für die milliarden-

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Hubertus Heil (Peine)

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schweren Investitionen, die die Stadtwerke geplant hat-ten. Die wurden durch Ihre Laufzeitverlängerung ersteinmal auf Eis gelegt. All das wirkt leider Gottes fort.

Zu den Rechtsunsicherheiten. Der rot-grüne Aus-stiegsbeschluss bzw. der Konsens mit der Energiewirt-schaft war rechtssicher und unbeklagt. Das diesbezügli-che Risiko schätzen wir beim Atomgesetz als nichtbesonders hoch ein. Wir wollen es auch nicht herbeire-den, weil wir glauben, dass es heilbar ist. Beispielsweisein Bezug auf Art. 3 Grundgesetz muss es eine plausibleErklärung dafür geben, warum Gleiches ungleich behan-delt werden kann. Die gibt es. Sie haben sie auf unsereNachfrage hin in den Ausschüssen nachgeliefert. Das er-kennen wir an. Aber es gibt ein Restrisiko, das Sie imZweifelsfall auch politisch zu verantworten haben. Daswill ich an dieser Stelle klar zu Protokoll geben.

Mir ist wichtig, dass die erfolgreiche Energiewende inDeutschland, die im Herbst letzten Jahres unterbrochenwurde, jetzt konsequent fortgesetzt werden kann. Aberich muss sagen: In Ihren vorliegenden Gesetzentwürfen,abgesehen vom Atomgesetz, ist eine Fülle von Vorschlä-gen enthalten, die aus meiner Sicht nicht angetan ist, dieErreichung des Ziels einer bezahlbaren, einer sauberenund einer nachhaltigen Energieversorgung dauerhaft zusichern.

Im Einzelnen. Wir werden erstens dem Atomgesetzaus voller Überzeugung zustimmen, weil es ein Zurückzum rot-grünen Ausstiegsbeschluss ist.

(Beifall bei der SPD)

Wir werden zweitens Ihren Gesetzentwurf zum Er-neuerbare-Energien-Gesetz ablehnen müssen – ich binmir noch nicht sicher, wie das im Bundesrat vor sichgeht; ich hoffe, dass noch die Chance besteht, den Ver-mittlungsausschuss anzurufen –, weil wir erleben wer-den, dass er eine Verschlechterung darstellt und denAusbau erneuerbarer Energien, vor allen Dingen der in-ländischen Windkraft, behindert.

Wir werden drittens klarmachen – das tun wir auch inunserem Antrag –, dass das Energiewirtschaftsgesetz ver-besserungswürdig ist. Was meine ich damit? Der Teil, derlediglich die Umsetzung einer EU-Richtlinie beinhaltet,ist vollkommen unstrittig; dem kann man ohne Weitereszustimmen. Aber ich will ganz deutlich sagen, dass IhreVorschläge weder Ansätze zur Kommunalisierung noch,Herr Bundesumweltminister und Herr Bundeswirt-schaftsminister, ausreichende Regelungen im Hinblickauf die Bedenken energieintensiver Unternehmen enthal-ten. In den Verhandlungen hat sich auf Druck der Ländereine ganze Menge zum Positiven bewegt. Aber ichglaube, wir müssen weiterhin aufpassen, dass die ener-gieintensiven Unternehmen in Deutschland, die im inter-nationalen Wettbewerb stehen und eine Steigerung derKosten befürchten, nicht unter die Räder kommen. Hiergeht es uns nicht in erster Linie um die Konzerne, son-dern um die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer indiesen energieintensiven Unternehmen. Wir wissen: Wirbrauchen auch die energieintensive Wirtschaft, damit dieEnergiewende gelingt, weil sie Teil der Wertschöpfungim Rahmen des Ausbaus erneuerbarer Energien ist, vonder chemischen Industrie bis zum Stahlbau.

Wir werden deutlich machen, dass das, was Sie beider energetischen Gebäudesanierung vorhaben, nichtausreichend ist. Sie erreichen damit noch nicht einmaldas Niveau, das die Große Koalition in diesem Bereicherreicht hat. Sie haben die Mittel im letzten Jahr gekürzt.Jetzt erhöhen Sie sie ein wenig. Aber das reicht nichtaus. Sie haben vor allen Dingen keine Antworten auf dieFragen der Mieter in Deutschland, die sich Sorgen ma-chen, gegeben. Das müssen Sie sich deutlich ins Stamm-buch schreiben lassen.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dorothee Menzner [DIE LINKE])

Der heutige Tag ist ein besonderer Tag. Er ist ein gu-ter Tag für Deutschland, weil endgültig, ein für alle Mal,mit der Nutzung der Atomkraft in diesem Land Schlussgemacht wird. Aber das bedeutet nicht das Ende vonEnergiepolitik. Wir müssen die Energiepolitik fortset-zen. 2013 muss das, was Sie jetzt unzureichend auf denWeg gebracht haben, von einer anderen Mehrheit weiter-entwickelt werden. Das ist nicht einfach, weil uns jetztJahre verloren gehen. Aber ich sage an dieser Stelle: Wirwerden diesen Weg gehen, weil Deutschland im Bereichder erneuerbaren Energien Ausrüster der Welt sein kann,weil Deutschland Vorbild bei der Energieeffizienz seinkann, weil das Vorbild der größten europäischen Volks-wirtschaft in Europa und für Europa wirken wird undweil andere Länder, wenn wir die Energiewende erfolg-reich fortsetzen, unserem Beispiel folgen werden; da binich mir sicher.

Ich will zum Schluss sagen: Das, was vor zehn Jahrenvon den damals Verantwortlichen, von BundeskanzlerGerhard Schröder, von Frank-Walter Steinmeier und vonJürgen Trittin, verhandelt und auf den Weg gebrachtwurde, haben Sie kritisiert. Wenn Sie Ihre Glaubwürdig-keit wiederherstellen wollen, Herr Rösler – ich nehmeIhnen ab, dass Sie jemand sind, der sich persönlich da-rum bemühen will –, dann wäre es an der Zeit, denjeni-gen, die damals die richtigen Entscheidungen getroffenhaben – die Sie im Herbst letzten Jahres rückgängig ge-macht haben und die Sie jetzt unterstützen –, mit Res-pekt zu begegnen und ihnen Anerkennung zu zollen. Daswürde Ihre Glaubwürdigkeit wiederherstellen. Sie wür-den sich keinen Zacken aus der Krone brechen, wenn Siedie Entscheidungen von damals als richtig anerkennenwürden. Herr Nüßlein, ich sage das nicht, um Vergan-genheitsbewältigung zu betreiben, sondern weil das imHinblick auf den Konsens, den wir für die künftige Ener-giewirtschaftspolitik in Deutschland, der größten Volks-wirtschaft Europas, brauchen, wichtig wäre, um einesaubere, sichere und nachhaltige Energieversorgung si-cherzustellen.

Die SPD-Bundestagsfraktion hat einen klaren Kurs.Wenn Sie sich diesem Kurs jetzt in Teilen anschließen,werden wir uns nicht beschweren. Allerdings müssenwir die Energiewende gestalten.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Hermann Otto Solms für die FDP-

Fraktion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

möchte eine Vorbemerkung machen. Gerade kommt überden Ticker die Meldung, dass die Zahl der Arbeitslosenin Deutschland in diesem Monat wiederum gesunken ist,und zwar um etwa 70 000, und dass wir jetzt bei einerArbeitslosenquote von weniger als 7 Prozent, nämlichbei 6,9 Prozent, angekommen sind.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das ist die beste Zahl seit 1991.

Die von den Forschungsinstituten veröffentlichtenlaufend erhöhten Wachstumszahlen zeigen, dass sich diedeutsche Wirtschaft in einer sehr stabilen und robustenSituation befindet. Deshalb können wir uns den zugege-ben riskanten Weg dieser Energiewende auch leisten.Wir müssen dabei aber natürlich die Probleme angehen.Wir dürfen nicht – so wie es Rot-Grün seinerzeit ge-macht hat – nur den Atomausstieg beschließen und überdie Konsequenzen, die das Erreichen einer vernünftigenEnergieversorgung nach sich zieht, hinweggehen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es ist allmählich müßig, sich gegenseitig vorzuhalten,wer was wann früher gemacht hat. Das ist absolut lä-cherlich. Natürlich hat Rot-Grün mit dem EEG einen gu-ten Aufschlag gemacht. Aber das Gesetz hatte einenVorläufer, nämlich das Stromeinspeisungsgesetz. Daswurde unter dem liberalen Wirtschaftsminister HelmutHaussmann im Jahre 1990 im Bundestag verabschiedet.Mit diesem Gesetz wurde erstmals die Einspeisung be-vorzugt. Es wurde dann mit dem EEG fortgesetzt. Daswar eine konsequente Maßnahme. Ehre, wem Ehre ge-bührt. Man muss aber auch auf die Lücken hinweisen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Jetzt passiert Folgendes: Jetzt überholt die Koalitionwieder Rot-Grün. Deswegen sind Sie gezwungen, beimAtomausstieg mitzumachen. Ich bedaure allerdings sehr,dass Sie nicht bereit sind, die Konsequenzen im Hinblickauf die alternativen Energien zu ziehen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP – SylviaKotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Weil die nicht ausreichen! – Abg. HubertusHeil [Peine] meldet sich zu einer Zwischen-frage)

Herr Heil, weil Sie mir eine Frage stellen wollen,möchte ich Ihnen sagen: Ich habe von Ihrer Seite keinWort zum Netzausbaubeschleunigungsgesetz gehört. Je-der in der Wirtschaft, in der Wissenschaft und in derPolitik weiß, dass es ohne ein solches Gesetz nicht gehenwird, da wir den Zeitplan sonst nicht einhalten können.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Dazu hat Frau Künast doch schon etwas ge-sagt! Haben Sie nicht zugehört?)

– Ich spreche zu Herrn Heil, Frau Höhn. Er hat dazunämlich nichts gesagt. – Wir werden Ihnen die Gelegen-heit geben, in einer namentlichen Abstimmung zu zei-gen, wie Sie sich dazu positionieren.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Heil?

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):Ja.

Hubertus Heil (Peine) (SPD):Herr Kollege Solms, ich werde Ihnen eine Zwischen-

frage stellen und sie mit Erlaubnis des amtierenden Prä-sidenten so einkleiden, dass ich Ihre Frage gleich mit be-antworte. Das ist ein heikler parlamentarischer Vorgang.

Wir sind ganz klar für den Netzausbau in Deutsch-land. Wir wissen, dass er für die Systemintegration dererneuerbaren Energien unabdingbar ist. Die Frage, diewir uns stellen, ist aber, ob Ihr NABEG, Ihr Netzausbau-beschleunigungsgesetz, das Ziel erreicht. Daran habenwir Zweifel. Sie sehen nämlich nichts vor, um die Ak-zeptanz des Netzausbaus nachhaltig zu stärken. Die Län-der werden das, was Sie vorhaben, im Übrigen nicht mit-tragen.

(Patrick Döring [FDP]: So ein Quatsch!)

Zu meiner Frage. Herr Solms, ich habe ein Zitat mit-gebracht. Es stammt von Ihrem Kollegen Michael Fuchs,der wie andere aus der Koalition heute erstaunlicher-weise nicht zu diesem Thema redet. Das wäre wahr-scheinlich auch ein wenig schwierig. Herr Fuchs sagteam 7. März 2010 für die Koalition in der FAZ:

Volkswirtschaftlich bedeutet es einen enormenSchaden, gut funktionierende Kernkraftwerke abzu-schalten,

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch keine Frage!)

die weder durch Vogelschredderanlagen, alsoWindkraft, noch durch Subventionsgräber, also So-larzellen, ersetzbar sind.

Sie tun jetzt so, als sei Schwarz-Gelb der größte Be-fürworter der erneuerbaren Energien. Herr Solms, ichfrage Sie deshalb allen Ernstes: Wie kommen dann sol-che Zitate zustande? Das ist doch eigentlich die Ideolo-gie, der Sie nachgehangen sind. Sie mussten sich nachFukushima anpassen. Sie sollten sich dazu einmal be-kennen.

(Beifall bei der SPD)

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Dr. Hermann Otto Solms (FDP):Ich will die Aussagen von Herrn Fuchs nicht kom-

mentieren. Ihre Frage müssten Sie ihm stellen.

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Er redet ja lei-der nicht!)

Es ist doch angesichts einer solch radikalen Veränderungvöllig selbstverständlich, dass es verschiedene Meinun-gen gibt. Das ist doch auch in Ihrer Fraktion so.

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein! – Lachen bei der FDP und der CDU/CSU)

Es gibt auch unterschiedliche Auffassungen in Bezugauf die Details. Natürlich gibt es die auch bei uns. Ichsage für die FDP doch auch, dass wir uns schwergetanhaben, diesen Weg mitzugehen. Denn wir haben dieSorge, dass es auf dem Weg Einbrüche bei der Versor-gungssicherheit geben wird. Außerdem sorgen wir uns,dass die Bezahlbarkeit nicht gewährleistet werden kannund es dadurch zu einem Nachteil für den Wirtschafts-standort Deutschland kommt. Es ist die besondere Ver-antwortung des Wirtschaftsministers Philipp Rösler, da-rauf zu achten, dass dies nicht passieren wird. Das warenunsere Einwände bei der Diskussion innerhalb der Ko-alition. Im Ergebnis sind diese Sorgen berücksichtigtworden.

Natürlich ist heute die Diskussion nicht zu Ende. Wirwerden die Vorgänge jedes Jahr prüfen. Es wird ein Mo-nitoring durch den Umweltminister und durch den Wirt-schaftsminister geben. Dann werden wir die Ergebnisseim Bundestag debattieren und möglicherweise Ände-rungsvorschläge beraten und verabschieden müssen. Dasist doch selbstverständlich.

Ich bin auf Ihr Abstimmungsverhalten bei der an-schließenden Abstimmung über das NABEG gespannt.Es ist völlig unzweifelhaft, dass der Netzausbau be-schleunigt werden muss. Wenn die Bundesländer Pro-bleme damit haben, dann sollen sie im Bundesrat da-rüber beraten. Jetzt ist es Sache der gesetzgebendenKörperschaft des Deutschen Bundestages, der die wirk-liche Legitimation dafür hat – der Bundesrat hat sie nurabgeleitet –, die Beschlüsse zu fassen. Danach könnensich die Bundesländer damit befassen.

Ich will betonen: Das ist ein sehr mutiger Schritt. Mandarf sich diesbezüglich keinen Illusionen hingeben. Mandarf nicht nur an die eigenen Träume glauben, sondernmuss auch zur Kenntnis nehmen, dass das Ganze mit er-heblichen Risiken verbunden ist. Deswegen ist der For-derung von Philipp Rösler Rechnung getragen worden,indem wir erforderlichenfalls ein Atomkraftwerk für dienächsten zwei Winter in Kaltreserve bereithalten. Eswäre gut, wenn wir sie nicht bräuchten, aber es kannsein, dass wir sie brauchen.

Eines ist klar: Wir können es uns als IndustriestandortDeutschland nicht leisten, dass die Stromversorgung zu-sammenbricht.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Peter Götz [CDU/CSU])

Der Ausfall der Stromversorgung an einem Tag würdeExperten zufolge einen geschätzten Schaden von6 Milliarden Euro zur Folge haben. Stellen Sie sich vor,was das für sensible Bereiche von Unternehmen undVerwaltungen bedeutet, in denen es beispielsweise hoheRechnerkapazitäten gibt. Auch in Krankenhäusernkönnte ein Stromausfall gesundheitliche Folgen für diePatienten haben. Das dürfen wir nicht riskieren. Deswe-gen treten wir dafür ein, dass die Versorgungssicherheitabsolute Priorität hat. Der Wirtschaftsminister trägt da-für Sorge, dass die notwendigen Entscheidungen herbei-geführt werden, auch wenn es Kontroversen gibt undmanche dagegen stimmen.

Lassen Sie mich ein paar Worte zum Anlass sagen. Esist im demokratischen Sinne völlig selbstverständlich,dass, wenn aufgrund eines Unglücks wie in Fukushimadie Sorgen in der Bevölkerung so stark wachsen, dasscirca 80 Prozent der Menschen den Ausstieg aus derAtomwirtschaft wollen, die demokratischen Parteien da-rauf Rücksicht nehmen müssen und dem Willen derBevölkerung folgen. Aber sie müssen es auf eine verant-wortungsvolle Weise machen. Die Mehrheit der Deut-schen, die den Ausstieg aus der Atomkraft wünscht, willgleichzeitig, dass die Energieversorgung ohne Gefahr ei-nes Blackouts und zu bezahlbaren Preisen erhaltenbleibt. Das ist kein Widerspruch in sich, sondern es istdie Aufgabe verantwortungsvoller Politik, die Entschei-dungen so zu treffen, dass wir beides miteinander ver-binden können.

Ich bin der absoluten Überzeugung: Wenn uns das ge-lingt, dann wird es einen richtigen Schub für die deut-sche Wirtschaft geben, und dann werden wir, so wiePhilipp Rösler das vorhin gesagt hat, im europäischenwie im weltweiten Wettbewerb einen großen Vorsprungerzielen. Allerdings kommen zunächst harte Jahre aufuns zu, in denen die notwendigen Voraussetzungen dafürgeschaffen werden müssen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Peter Götz für die CDU/CSU-Frak-

tion.

Peter Götz (CDU/CSU):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lassen Sie mich nach dieser von der Opposition primärrückwärts geführten Atomdebatte zur Sachlichkeit zu-rückkommen

(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)

und auf einige Gesetze eingehen, die heute zur Abstim-mung stehen.

Um zu erreichen, dass die Energiewende schneller alszunächst geplant eintritt, brauchen wir – das ist unstrit-tig – auf vielen Gebieten gesetzliche Änderungen. Dazugehört unter anderem der gesamte Baubereich. Bereitsim Koalitionsvertrag ist festgelegt, dass wir die klima-

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Peter Götz

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gerechte Entwicklung der Städte und Gemeinden stärkenwollen. Das ist mit den im Baugesetzbuch vorgesehenenklimapolitischen Anpassungen gut gelungen. Wir gebenden Gemeinden einen zusätzlichen Gestaltungsrahmenund schaffen im Bau- und Planungsrecht mehr Rechts-sicherheit für die Erzeugung erneuerbarer Energien.

Mit dem Instrument des besonderen Städtebaurechtsmuss allerdings sehr behutsam umgegangen werden.Deshalb haben wir einen Regierungsvorschlag zu die-sem Bereich nicht übernommen. Der Vorschlag bleibtaber auf der Agenda, und wir wollen ihn nochmals sorg-fältig überprüfen und auch weiter diskutieren, wenn wirüber den zweiten Teil des Baugesetzbuches reden.

Mit dem neuen Förderprogramm „Energetische Stadt-sanierung“ wollen wir die Städte und Gemeinden unter-stützen, einem klimagerechten Stadtumbau besser Rech-nung zu tragen. Dreh- und Angelpunkt für die Erreichungder Klimaschutzziele und für die Einsparung von Energieist jedoch der gesamte Gebäudebereich. 40 Prozent der inDeutschland verbrauchten Endenergie und etwa ein Drit-tel der CO2-Emissionen entfallen allein auf diesen Sektor.Dort liegen mit großem Abstand die größten Einsparpo-tenziale für Energie. Um diese zu erschließen, müssen wirengagiert vorgehen.

Wir setzen dabei nicht auf Zwang, sondern auf An-reize und Verbraucherinformationen. Wir wollen dieMenschen überzeugen, viel für die Energieeffizienz zutun. Andere hier im Haus wollen sie dazu nötigen. Dasist ein feiner, für den gesellschaftlichen Konsens aberwichtiger Unterschied.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Ab dem kommenden Jahr werden wir die Mittel imCO2-Gebäudesanierungsprogramm auf jährlich 1,5 Mil-liarden Euro erhöhen.

(Ulrich Kelber [SPD]: Nachdem Sie sie erst zusammengestrichen haben!)

Darin sind auch 150 Millionen Euro für direkte Zu-schüsse enthalten. Durch steuerliche Anreize wollen wirweitere Eigentümergruppen für die energetische Sanie-rung ihrer Gebäude gewinnen. Dabei dürfen wir wederdie Hauseigentümer noch die Mieter überfordern; wirdürfen sie aber auch nicht „überfördern“. Das ist Unions-politik.

Durch die drei Angebote – zinsgünstige Kredite derKfW aus dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm oderdirekte Zuschüsse der KfW oder eine verbesserte steuer-liche Abschreibung – bringen wir die energetische Sa-nierung von Wohngebäuden voran wie nie zuvor. Sostark wurde die energetische Sanierung in Deutschlandnoch nie gefördert.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Lassen Sie mich noch einige wenige grundsätzlicheBemerkungen aus kommunaler Sicht machen. Ohne dieStädte und Gemeinden wird die Energiewende nicht ge-lingen. Die Kommunen spielen auf dem Weg zu mehr

Energieeffizienz und mehr Klimaschutz eine Schlüssel-rolle. Bereits heute haben sich viele Kommunen dem Kli-maschutz verschrieben. So hat die ParlamentarischeStaatssekretärin Katherina Reiche in der Region Beeskowin Brandenburg erst vor wenigen Wochen das tausendstekommunale Klimaschutzprojekt der Nationalen Klima-schutzinitiative ausgezeichnet.

Die Kommunen haben darüber hinaus – das gilt auchfür den Bund und die Länder – bei der energetischen Sa-nierung ihres eigenen Gebäudebestandes eine große Ver-antwortung, der sie gerecht werden müssen. Auch inanderen Bereichen haben die Kommunen eine Schlüssel-funktion.

(Zuruf von der LINKEN: Aber kein Geld!)

So werden erneuerbare Energien vor allem im ländlichenRaum erzeugt. Vorhandene Stromtrassen müssen ertüch-tigt und neue gebaut werden. Infra- und Speicherstruktursind unbestritten dringend notwendig. Dafür brauchenwir die Städte, Gemeinden und Landkreise als Partner.

Für uns ist es wichtig, dass die Menschen vor Ort unddie Entscheider in den Gemeinderäten und Kreistagenbei allen Vorhaben sehr frühzeitig eingebunden werden.Hinzu kommt: Städte und Gemeinden übernehmen mitihren Stadtwerken bei einer dezentralen Energieerzeu-gung aus erneuerbaren Energien wichtige Aufgaben, aufdie wir in Zukunft verstärkt angewiesen sein werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch diese weni-gen Bemerkungen wird deutlich: Unsere höchst ambitio-nierten und anspruchsvollen Ziele bedürfen großer An-strengungen vieler. Dazu gehören auch die Kommunen.Die Energiewende in Deutschland wird nur mit denStädten, Gemeinden und Landkreisen gelingen.

Wenn wir durch ein lernendes System die Energie-erzeugung umbauen und gleichzeitig die Klimaschutz-ziele erreichen wollen, dann müssen wir die Kommunenals wichtige Begleiter rechtzeitig beteiligen. Sie könnenviel zum Erfolg beitragen, sie wollen aber zu Recht auchmitgestalten, wenn es um ihre Belange geht; denn siestehen ebenso in der Verantwortung gegenüber ihrenBürgern wie wir.

Ich bin fest davon überzeugt: Mit Optimismus undZuversicht werden wir die großen Herausforderungen,die vor uns liegen, verantwortungsvoll meistern.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Patrick Döring für die FDP-Frak-

tion.

Patrick Döring (FDP):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

will nahtlos an das anschließen, was der Kollege Götzund der Kollege Solms erwähnt haben. In der Tat habenwir in dieser Debatte neben den zweifellos wichtigenund schwierigen Debatten über die Entwicklung desAtomgesetzes und des Erneuerbare-Energien-Gesetzes

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Patrick Döring

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weitere Komponenten vorgelegt und Antworten auf dasgegeben, was die Menschen genauso bewegt wie dieFragen nach dem genauen Ende der Nutzung der Kern-energie, Antworten, die der rot-grüne Kompromiss niegegeben hat.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Deshalb musste er verbessert werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Widerstände zum Netzausbau, die wir überallspüren, sind genau der Grund dafür, dass Sie sich gewei-gert haben, darüber nachzudenken, wie man Netzeschneller ausbauen kann.

(Rolf Hempelmann [SPD]: Lächerlich!)

Wir wollten und wollen weiterhin mehr intensive Bür-gerbeteiligung. Wir schaffen mit diesem Gesetz gemein-sam mit den Ländern bundeseinheitliche Netzplanung.Wir schaffen mit diesem Gesetz gemeinsam mit derBundesnetzagentur klare und transparente bundesein-heitliche Entscheidungsregeln, wann, wo und nach wel-chen Maßgaben eine 380-kV-Leitung gebaut wird.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Ingrid Nestle von den Grünen?

Patrick Döring (FDP):Danke, nein. – Es wird geregelt, nach welchen Maß-

stäben eine Erdverkabelung im 110- und 220-kV-Be-reich sinnvoll ist. Diese Antworten, die wir brauchen,waren Sie nie bereit zu geben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es wurde hier immer wieder über Offshoreanlagengesprochen. Die schönsten Programme zur Offshore-windenergie nützen gar nichts, wenn es in Niedersach-sen und in Schleswig-Holstein einen organisierten Bür-gerprotest gegen einen Netzausbau gibt und der Bundgesetzgeberisch keine Maßgaben und keine Vorschlägemacht, wie Bürgerbeteiligung und Planungsbeschleuni-gung zusammengebracht werden können. Es ist das Ver-dienst des Bundeswirtschaftsministers, dass dies jetztmit dem NABEG gelingt.

(Beifall bei der FDP)

Ich will ausdrücklich sagen: Die Bundesländer, undzwar alle 16, egal wie sie geführt sind, haben in der Be-ratung zum NABEG anerkannt, dass wir weitere Verän-derungen im materiellen Recht brauchen, um zu einerPlanungsbeschleunigung zu kommen. Ich sage mit allemErnst: Wir werden auf diesem Weg der Energieversor-gung nur vorankommen, wenn wir uns auch bei be-stimmten Absurditäten in der Raumordnung und derPlanfeststellung neu aufstellen.

Es ist für die Betroffenen nachgerade nicht versteh-bar, dass man zwar ein Naturschutzgebiet unterhalbeiner bestehenden 380-kV-Leitung ausweisen kann,

aber über einem bestehenden Naturschutzgebiet keine380-kV-Leitung errichten darf. Das macht keinen Sinn.Das ist nicht konsistent. Es ist vor allen Dingen eine Ver-hinderung der Integration erneuerbarer Energien in un-sere Elektrizitätsversorgung.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Lassen Sie mich auch zum Baurecht das Nötigesagen. Mit der Erleichterung des Repowering von Wind-energieanlagen an Land, mit der verbesserten baurechtli-chen Anerkennung der Errichtung von Photovoltaikanla-gen, mit der Klimaschutzklausel in dem Gesetz zurStärkung der klimagerechten Stadtentwicklung und mitden nötigen neuen Regeln zur erleichterten Einsetzungvon KWK-Anlagen schaffen wir im Baurecht die nöti-gen Voraussetzungen, in der Stadt, im Ort, an den Ge-bäuden und im Bestand den Einsatz der Erneuerbaren zuverbessern.

Diese nötigen Maßnahmen in der Novelle zum Bau-recht, die wir heute vornehmen, wurden in den letztenJahren von den heute nicht mitmachenden Fraktionennicht einmal vorgeschlagen.

(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist nicht wahr! Sie haben das alsFDP immer blockiert!)

Sie werden sicherlich dagegen stimmen. Stattdessen ha-ben die Grünen in ihrem Änderungsantrag zu diesemGesetzentwurf den schönen bau- und städteplanerischenInstrumentenkasten Ihrer Vorstellungen vorgetragen undwollen tatsächlich über die städtische Bauleitplanungund darüber hinaus die Besitzer von Gebäudebeständenin den Stadtteilen zu energetischen Sanierungen zwin-gen. Das ist eben der Unterschied zwischen Ihrer undunserer Politik: Wir wollen die Energiewende mit denBürgern gestalten, nicht gegen die Immobilienbesitzerin-nen und -besitzer in Deutschland.

(Beifall bei der FDP)

Es ist bemerkenswert, dass es auch nach Rot-Grünnicht dazu gekommen ist, die Privilegierung der Errich-tung von kerntechnischen Anlagen im Außenbereich ausdem Baugesetzbuch zu streichen. Bis zum heutigen Tageist die Errichtung von Kernenergieanlagen im Außenbe-reich nach § 35 des Baugesetzbuches privilegiert. Wirsind es, die das in logischer Konsequenz unserer Ent-scheidungen aus dem Baugesetzbuch herausnehmen unddeutlich sagen: Wenn wir aus der Kernenergie ausstei-gen, dann müssen wir auch die Privilegierung aus demBaurecht nehmen. Darauf sind Sie noch nie gekommen,liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Wir schaffen außerdem vereinfachte und verbessertesteuerliche Absetzungsmöglichkeiten für diejenigen, diein ihrem Immobilienbestand die energetische Sanierungvorantreiben. Mit der 10-prozentigen Sonderabschrei-bung sichern wir zusätzliche Konjunktur in Handwerkund Baugewerbe und schaffen mit diesem zusätzlichenInstrument den Anreiz, schnell und ohne unnötige Belas-

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Patrick Döring

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tung der KfW-Förderprogramme, die ebenfalls notwen-dig sind, weitere Investitionen in diesem Bereich für dieImmobilienbesitzerinnen und -besitzer auszulösen. Dennwir wollen schneller und intensiver sanieren als in derVergangenheit.

Sie haben zweifellos das KfW-Gebäudesanierungs-programm seinerzeit erfunden, aber es wäre nach IhrenVorstellungen in diesem Jahr ausgelaufen.

(Lachen bei der SPD)

Wir sorgen dafür, dass es auf hohem Niveau verstetigtund fortgesetzt wird. Das ist die Rechtslage, und es istdas, was diese Koalition verantwortet.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Zu einer Kurzintervention erhält das Wort Ingrid

Nestle.

Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Vielen Dank. – Herr Döring, Sie haben gesagt, wir

würden uns nicht trauen, über den Netzausbau zu reden;deshalb würde unserem Konzept etwas fehlen. Ist Ihnenbewusst, dass wir schon vor Ihrer Partei ein Konzeptnicht gegen, sondern für den Netzausbau vorgelegt ha-ben?

Ist Ihnen bewusst, dass zum Beispiel in meiner Hei-matregion die Energieleitung Breklum–Flensburg seitJahren fertig sein könnte, wenn sie, wie von den Grünengefordert, als Erdkabel geplant worden wäre? Dann wäresie Ende 2007 fertig geworden. Sie ist aber bis heutenicht fertig. Wir verlieren Millionen über Millionen anKilowattstunden Strom und viel Geld, weil der Windnicht mehr abgeführt werden kann. Das liegt nicht daran,dass wir bei den Erdkabeln blockiert haben, sondern Sie.

Wenn es Ihnen so wichtig ist, dass der Ausbau derEnergienetze jetzt vorangeht und die Stromleitungen ge-baut werden, und wenn Ihnen die Bürgerbeteiligung sowichtig ist, dann frage ich Sie, warum Ihr FDP-geführtesWirtschaftsministerium auf die Frage, was mehr Bürger-beteiligung bedeutet, geantwortet hat: Wir machen eineInfokampagne; wir werden besser informieren.

Ist das Ihre Form der Bürgerbeteiligung, besser zu in-formieren? Warum haben Sie nicht unsere Vorschläge imEntwurf des Netzausbaubeschleunigungsgesetzes be-rücksichtigt, auch neue Formen der Bürgerbeteiligungaufzunehmen und mit den Bürgern gemeinsam die Netzezu planen?

Ich war oft in den verschiedensten Teilen Deutsch-lands unterwegs und habe vor Ort um Akzeptanz für denNetzausbau geworben. Haben auch Sie um Akzeptanzfür den Netzausbau geworben?

Ein letzter Punkt: Sie haben gesagt, dass Sie es nichtgut finden, wenn die Leitungen über Häuser hinweg ge-baut werden. Warum haben Sie dann keine Abstands-

regelung mit aufgenommen? Sie hätten zum Beispielvorsehen können, dass Leitungen, die weniger als300 Meter von einer Ortschaft entfernt verlaufen, unterdie Erde verlegt werden müssen. Warum haben Sie die-sen Schutz der Bürger nicht mit aufgenommen? Damitkönnten Sie den Netzausbau entscheidend weiter be-schleunigen. Das ist schon lange unsere grüne Position:Wir sind für den Netzausbau, und zwar für einen men-schenfreundlichen Netzausbau.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Kollege Döring, bitte.

Patrick Döring (FDP):Frau Kollegin Nestle, vielleicht wollen Sie es bewusst

missverstehen. Es macht doch keinen Sinn, in Deutsch-land eine Abstandsregelung ins Gesetz zu schreiben, so-lange wir im materiellen Recht keine Klarheit haben,wie wir zum Beispiel die Naturschutzbelange Europasmit den Herausforderungen unseres Netzausbaus zusam-menbringen. Indem man so viele Abstandsregelungenund andere Hürden aufbaut, dass man weder bei derWohnbebauung noch in Naturschutzgebieten eine Lei-tung verlegen kann, kann man einem Land alle Gestal-tungsmöglichkeiten nehmen. Damit erreicht man leidernicht das, was wir erreichen wollen, nämlich Beschleu-nigung.

Wenn Ihre Antwort auf die Beschleunigung lautet,überall dort, wo dies gewünscht ist, Erdverkabelung vor-zunehmen, dann weise ich darauf hin, dass das, was wirjetzt mit dem Energiewirtschaftsgesetz lösen, indem wirdie Umlage der erhöhten Kosten für Erdverkabelung bei110- und 220-kV-Leitungen im EnWG vorsehen, not-wendig ist, um das Vorhaben überhaupt durchzusetzen.

Sie kennen doch selbst die technischen Probleme beider Erdverkabelung von 380-kV-Leitungen und insbe-sondere die Kostenherausforderung. Wenn Ihre Antwortauf die Energiewende ist, dass die Netzentgelte um dasFünf- bis Zehnfache steigen, dann kann ich nur sagen:Nicht mit uns, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Ein weiterer Punkt. Die Bürgerbeteiligung ist imNABEG verankert. Aber Sie wissen doch genauso gutwie ich, dass der Bundesinnenminister ein Mediations-gesetz und ein Planungsvereinfachungsgesetz in Vorbe-reitung hat. Diese Gesetze fassen das zusammen, wasmit den Ländern zusätzlich vereinbart wird. Wir habenvorgeschlagen, bereits im Rahmen des Raumordnungs-verfahrens die Träger öffentlicher Belange sowie dieBürgerinnen und Bürger über die Trassenführung, dieZiele und Pläne zu informieren und ihnen Mitsprache-möglichkeiten zu geben. Das ist schon realisiert undwird durch das Mediationsgesetz rechtlich abgesichert.Dahin entwickelt sich unser Netzausbaubeschleuni-gungsgesetz, also nicht in Ihre simple Richtung nachdem Motto „Wir tun alles unter die Erde, und die Kostensind uns egal“. So einfach darf man es sich nicht ma-chen.

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(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Thomas Bareiß für die Fraktion der

CDU/CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Thomas Bareiß (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine

Herren! Ich muss gestehen, dass ich angesichts der inden letzten Wochen emotional geführten Debatte überden beschleunigten Ausstieg aus der Kernenergie sehrskeptisch war. Ich habe das mehrfach gesagt, auch hierim Parlament. Aber bei allem Für und Wider sehe ich indem, was jetzt vorliegt, die große Chance – das ist derGrund, warum ich heute zustimme –, nach einer sehrlangen Debatte endlich einen wirklichen Konsens in un-serer Gesellschaft hinzubekommen. Herr Heil, FrauHöhn und Herr Gabriel, Sie haben vorhin darauf hinge-wiesen, dass Rot-Grün bereits vor zehn Jahren einenKonsens hinbekommen hat. Wenn Sie damals tatsächlicheinen Konsens hinbekommen haben sollten, dann nurden über den Ausstieg. Es gab aber in den letzten zehnJahren keinen Konsens in unserer Gesellschaft über denEinstieg:

(Ulrich Kelber [SPD]: Weil Sie gegen das Er-neuerbare-Energien-Gesetz waren! – BärbelHöhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: WeilSie blockiert haben!)

Wo und wie steigen wir ein? Was müssen wir tun? – Siehaben keinen Konsens über den Bau von Leitungen undPumpspeicherkraftwerken sowie über eine effiziente Ge-staltung des EEG erzielt.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil Sie die Dagegen-Partei waren!)

Deshalb finde ich es mehr als schade, dass Sie den gro-ßen Schritt, den wir nun machen, nicht mitgehen und denEinstieg nicht unterstützen. Das wird uns in den Debat-ten der nächsten Jahre nichts nutzen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Es geht in den nächsten Jahren – das ist ein wichtigerPunkt, der bislang bei all dem strategischen Geplänkelein Stück weit zu kurz gekommen ist – um enorm viel.Wir stehen vor einer enormen Herausforderung. Diesemöchte ich kurz beschreiben. Wir werden in den nächs-ten zehn Jahren den Anteil der erneuerbaren Energienverdoppeln. Wir müssen unsere Ausbaurate in dennächsten zehn Jahren verdoppeln.

(Ulrich Kelber [SPD]: Die Ausbaurate verdoppeln?)

Wir müssen noch schneller vorangehen als bisher.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Herr Kollege, gestatten Sie gleich zwei Zwischenfra-

gen? Ja oder Nein?

Thomas Bareiß (CDU/CSU):Nein. – Wir müssen in den nächsten zehn Jahren nicht

nur den Anteil der erneuerbaren Energien, sondern auchdie Energieeffizienz verdoppeln. Dazu legen wir ein ent-sprechendes Konzept vor. Wir werden aber auch – manhat den Eindruck, dass das gar keine Rolle mehr spielt –die Klimaschutzziele im Auge behalten. Das Ziel, dieCO2-Emissionen um 40 Prozent zu reduzieren, stehtnach wie vor auf der Agenda. Dieses Ziel haben Sie sichnie gesteckt. Wir werden an diesem Ziel festhalten, egalwas andere Länder in Europa oder anderswo auf derWelt machen. Wir sind in diesem Bereich Vorbild. Esgibt keine andere Industrienation auf der Welt, die soambitionierte Zielsetzungen hat wie Deutschland.

Wir steigen zudem aus der Kernenergie aus, wodurchwir 25 Prozent unserer Stromerzeugung in den nächstenzehn Jahren verlieren werden. Der Ausstieg aus derKernenergie ist kein Selbstzweck. Wir steigen aus derKernenergie aus, weil wir wissen, dass der Energiehun-ger auf der Welt in den nächsten 20 Jahren um 50 Pro-zent steigen wird. Deutschland muss und soll derTechnologieführer auf der Welt sein, der diesen Energie-hunger nachhaltig, wirtschaftlich und ressourcenscho-nend stillt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Ulrich Kelber [SPD]: Ist Ihnen schon aufgefal-len, dass wir in den letzten zehn Jahren bereitsTechnologieführer geworden sind?)

Das ist fester Bestandteil unserer Wachstums- und Wohl-standsstrategie für die nächsten zwei, drei Jahrzehnte.Das ist das große Projekt, um das es heute geht. Dasmüssen wir gemeinsam gestalten.

In den Ausschussdebatten und Anhörungen in dieserWoche ging es meistens ganz konkret um die Sache. DieGrünen behaupten nun, wir förderten die Windenergieoffshore zu stark und vernachlässigten die Windenergieonshore und förderten nur die Großen und nicht die Klei-nen. Das sind alte Spielchen. Das alles bringt dochnichts. Wir brauchen doch alle: Wir brauchen sowohlOffshore als auch Onshore, wir brauchen Biomasse, so-wohl die kleinen als auch die großen Unternehmen, wirbrauchen Photovoltaik. Wir brauchen alle Ressourcen,die wir in Deutschland nur heben können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Wir brauchen ebenfalls die Wasserkraft. All diese Pro-jekte verhindern Sie vor Ort immer wieder mit solchenScheindebatten, wie ich sie gerade beschrieben habe.Das halte ich nicht für den richtigen Weg.

Wir müssen auch auf die Akzeptanz achten. Hierzumöchte ich Herrn Gabriel direkt ansprechen, weil erheute die Kosten noch einmal in besonderer Weise her-vorgehoben hat. Ich mache mir Sorgen um die Akzep-tanz, gerade vor dem Hintergrund der Kosten, und zwar

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Thomas Bareiß

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meine ich nicht nur die Industrie. Sie haben wir in die-sem Gesetz in vielen Bereichen entlastet. Vielmehr ma-che ich mir Sorgen um den normalen Verbraucher, umdie Familien, die diese ganze Veranstaltung letztendlichebenfalls bezahlen werden.

Wenn Sie hier sagen: „Wir müssen die Kosten ein-dämmen“, dann möchte ich Sie daran erinnern, dass Sievor drei, vier Jahren ein EEG gebastelt haben, das aufTeufel komm raus eine Technologie fördert, die Solar-energie, was dazu geführt hat, dass wir jetzt 7 MilliardenEuro jährlich für die Solarenergie ausgeben. Die Hälftedes gesamten EEG-Topfes geht in die Solarbranche; da-bei wird nur 2,3 Prozent des Stromes tatsächlich von die-ser Branche erzeugt.

Ein Großteil des Geldes, das wir für diese Brancheausgeben, fließt direkt nach Asien und in andere Länder– diese Länder kaufen natürlich auch Maschinen beiuns –; meines Erachtens ist dieses Geld daher sehr inef-fizient angelegt. Deshalb müssen wir auch dort umsteu-ern, was wir getan haben. Die christlich-liberale Koali-tion hat in den letzten zwölf Monaten die Mittel für dieSolarenergieförderung um 33 Prozent reduziert. Dies hatmit dazu beigetragen, dass die Kostensituation besserdargestellt werden kann und somit die Akzeptanz beiden Bürgern wieder in stärkerem Maße gegeben ist undfür die Zukunft gesichert werden kann.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Wir müssen aber auch offen sagen, dass wir die er-neuerbaren Energien in den nächsten Jahren stärker inden Markt bringen müssen. Wenn wir einen Anteil von35 Prozent erneuerbarer Energien wollen, dann brauchenwir mehr Markt- und Systemintegration. Auch die Er-zeuger von erneuerbaren Energien werden Verantwor-tung in unserem Strom- und Energiekonzept überneh-men müssen. Das wird wehtun und Diskussionenauslösen. Wir sind der Überzeugung, dass wir mit denInstrumenten Marktprämie, Grünstromprivileg und an-deren, die wir im EnWG und im EEG implementiert ha-ben, den Weg zu mehr Markt, zu mehr Wettbewerb ge-hen. Auch das ist ein wichtiger Baustein in unseremEnergiekonzept für die Zukunft.

Trotz allem, auch mit Marktelementen und der Um-steuerung beim EEG, müssen wir darauf hinweisen, dassdas Ganze, wie schon gesagt, mehr kosten wird. Das Pro-jekt, das wir jetzt vorhaben, wird Arbeitsplätze in einemganz wichtigen Sektor, einem Zukunftssektor, schaffen.Wir müssen aber darauf achten, dass wir in anderen Sek-toren keine Arbeitsplätze vernichten. Deshalb haben wirin der Gesetzgebung einen großen Schwerpunkt daraufgelegt, dass die energieintensiven Industrien auch weiter-hin – sogar mehr als bisher – geschont werden. Wir habeneinen Schwerpunkt gerade auf die kleinen und mittelstän-dischen Unternehmen gelegt und diejenigen mit einemVerbrauch zwischen 1 Gigawattstunde und 10 Gigawatt-stunden noch einmal in besonderer Weise entlastet. Dasträgt dazu bei, dass der Industriestandort Deutschlandauch hinsichtlich der Grundstoff- und Rohstoffsektorenwettbewerbsfähig und zukunftssicher gestaltet werdenkann.

Meine Damen und Herren, das Projekt der Ener-giewende – auf der einen Seite Ausstieg aus der Kern-energie, auf der anderen Seite Einstieg in die neuenTechnologien – müssen wir gemeinsam angehen. Wiegesagt, ich finde es schade, dass Sie nur die Hälfte desWeges mitgehen. Ich fordere Sie noch einmal auf: GehenSie gemeinsam mit!

(Ulrich Kelber [SPD]: Wir gehen da nicht zu-rück!)

Denn wir machen die Energiewende richtig, aus einemGuss.

(Ulrich Kelber [SPD]: Wir warten weiter vorne auf Sie!)

In diesem Sinne: Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Maria Flachsbarth für die CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den großenGedanken und grundsätzlichen Erwägungen dieser De-batte erlaube ich mir, Sie auf den letzten Metern nocheinmal zurück in die Mühen der Ebene und der gesetzge-berischen Details mitzunehmen, die wir auf die Novelledes Erneuerbare-Energien-Gesetzes verwendet haben.Diese Arbeit war grundlegend wichtig dafür, dass alldas, was wir heute debattiert haben, in die Realität um-gesetzt werden kann.

Das EEG ist ein bewährtes Gesetz, das jetzt aber er-wachsen werden muss. Wir brauchen es, um das Ziel zuerreichen, innerhalb der nächsten Jahre den Anteil derErneuerbaren auf bis zu 35 Prozent des Strombedarfs zuverdoppeln. Dazu haben wir auf der einen Seite die be-währten Instrumente erhalten: den Einspeisevorrang unddie für 20 Jahre gesicherte Vergütung. Auf der anderenSeite müssen wir sehen, dass die Erneuerbaren jetztwirklich ein vollwertiger Marktteilnehmer werden, dasssie sich als Wettbewerber einfügen, dass sie nachfrage-orientierter werden. All dies ist bisher überhaupt nichtder Fall. Deshalb haben wir das EEG qualitativ weiter-entwickelt: mit der Einführung der Marktprämie, mit derÖffnung der Flexibilitätsprämie auch für Bestandsanla-gen und mit dem Grünstromprivileg. Wir haben dasGrünstromprivileg über die Novelle von vor einem hal-ben Jahr hinaus weiterentwickelt und einen bestimmtenAnteil von fluktuierendem Strom eingeführt, damit wirder großen Herausforderung gerecht werden können,dass fluktuierender Strom seinen Markt erobert.

Ganz wichtig war uns – das haben schon viele Redneraus der Koalition vor mir gesagt –, dass wir den Indus-triestandort Deutschland nicht überfordern, insbesonderenicht die energieintensiven Betriebe, auch nicht die klei-nen und mittelständischen energieintensiven Betriebe. Es

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Dr. Maria Flachsbarth

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ist richtig, dass wir da Erleichterungen geschaffen haben.Aber wir müssen natürlich vorsichtig sein, damit wir die-jenigen Verbraucherinnen und Verbraucher, die ebennicht privilegiert sind, nicht mit diesem Instrument über-fordern. Wir müssen wissen, dass die Privilegierungeninsgesamt ein Kostenvolumen von 2 Milliarden Euroausmachen und dass die Umlage für Erneuerbare deshalbnicht mehr 3 Cent pro Kilowattstunde, sondern 3,5 Centpro Kilowattstunde beträgt. Es ist ein richtiges Instru-ment, das aber sparsam und vorsichtig anzuwenden ist.

Wenn wir darauf schauen, wie denn nun die Instru-mente bezüglich der Förderung der einzelnen erneuerba-ren Energien im Detail neu justiert worden sind, so wer-den wir sehen: Es ist ohne Zweifel die Windenergie, dieweiterhin der große Lastesel für den Ausbau der Erneu-erbaren bleibt. Auf der einen Seite ist es Wind offshore,das heißt die großen Windparks im Meer, die viel Zu-wachs in der Leistung, letztendlich aber auch viele Voll-laststunden versprechen. Das Ganze ist und bleibt einetechnologische Herausforderung erster Güte, was dieGründung und die Materialanforderungen in aggressiverSeeluft und rauem Klima angeht. Deswegen ist nebendem besonderen KfW-Förderprogramm von 5 Milliar-den Euro und der Erleichterung des Netzanschlussesauch an der Vergütung etwas gemacht worden: Im Rah-men des Stauchungsmodells wird die Anfangsvergütungerhöht, die Degression verschoben und der Sprinterbo-nus in die Grundvergütung integriert, sodass wir wirk-lich einen Anreiz bieten können, in diese moderne, neueTechnologie zu investieren. Es erfordert einen großenKapitalbedarf. Doch wir sind sicher, dass sich auch Zu-sammenschlüsse, Konsortien von Stadtwerken, nochmehr als bislang in dieser Technologie engagieren wer-den.

Aber wir haben auch im Bereich Onshore abweichendvom Regierungsentwurf etwas getan, und zwar durch dieFortführung des Systemdienstleistungsbonus bis zum31. Dezember 2014 und durch wirkliche Erleichterungenim Bereich des Repowerings; es wurden nämlich die Al-tersgrenzen der Anlagen und die Leistungserhöhungs-obergrenze gestrichen. In Richtung des baden-württem-bergischen Wirtschaftsministers kann ich nur sagen: DieBaden-Württemberger sollen ja alles außer Hochdeutschkönnen; aber ich würde es auch einmal mit Rechnen pro-bieren.

Auch in Bezug auf die Biomasse haben wir versucht,einen Ausgleich zu finden. Biomasse ist eine regelbareErneuerbare, steht aber nicht unbegrenzt zur Verfügung.Wir haben Flächenkonkurrenzen, wir haben möglicher-weise strukturelle Verwerfungen durch zu große Markt-macht beim Einkauf von Substraten, durch Konkurrenzengegenüber der Viehwirtschaft, wir haben Akzeptanzpro-bleme bezüglich Vermaisung und unzureichender Effi-zienz. Wir mussten den Boni-Dschungel lichten. Auchdie problematische Kopplung von Gülle und NaWaRo-Bonus musste abgeschafft werden. All das ist im Rahmenunserer Novelle erfolgt.

Wir haben nur noch zwei Rohstoffklassen. Wir habendegressive Elemente im Bereich der Grundvergütungund der Rohstoffklasse I in Bezug auf die Größen unse-

rer Anlagen. Wir geben Anreize zum Einspeisen vonBiomethan. Wir helfen, sowohl bei kleinen als auch beigrößeren Anlagen Gülle zu verwenden. Wir erreichenmehr Effizienz durch vorgeschriebene Wärmenutzungvon 60 Prozent, durch die Deckelung beim Einsatz vonMais und dadurch, dass für Biogasanlagen ab 750 Kilo-watt ab 2014 die Pflicht zur Nutzung der Marktprämieeingeführt wird. Auch die Nutzung von Bioabfällen– dort gibt es keine Konkurrenzen hinsichtlich der Nut-zung – haben wir maßgeblich gefördert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, alles in allem: Einausgewogenes Konzept. Das EEG hat sich wieder als einlernendes System erwiesen. Es ist fit für die nächsteEtappe. Wir sind einen guten Schritt weiter auf dem Wegins regenerative Zeitalter. An die Opposition gerichtet:Das EEG ist und war ein Parlamentsgesetz. Geben Siedeshalb Ihrem Herzen einen Stoß, und stimmen Sie die-sem unserem guten Gesetz zu.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kol-

legen Olav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion dasWort.

Olav Gutting (CDU/CSU):Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich

will hier sagen: Ich bin stolz auf diese Koalition;

(Lachen des Abg. Rolf Hempelmann [SPD])

denn wir haben es in einem Kraftakt und in einem brei-ten Konsens geschafft, den andauernden Konflikt um dieKernenergie in diesem Land zu befrieden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – RolfHempelmann [SPD]: Ihr wart doch diejenigen,die den Konflikt geschürt haben!)

Heute beschließen wir nicht nur den Ausstieg aus derKernenergie – das könnte ja jeder –, sondern auch denEinstieg in die Energiewende, den Einstieg in das Zeital-ter der erneuerbaren Energien. Im Gegensatz zu früherenVersuchen auf diesem Feld haben wir es geschafft, dabeiÖkologie und Ökonomie zu verbinden; wir spielen Öko-logie und Ökonomie nicht wie in der Vergangenheit ge-geneinander aus.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Die Koalition hat dafür gesorgt, dass es jetzt eine Ba-lance zwischen den für die Energiewende notwendigenInvestitionsanreizen auf der einen Seite und der Erzeu-gung des notwendigen Innovationsdrucks zur Steigerungder Effizienz auf der anderen Seite gibt. Wir müssenjetzt dafür sorgen, dass es zum Beispiel bei der Einspei-severgütung bei einem für Unternehmen und Investorenverlässlichen, planbaren Kurs bleibt. Planbarkeit istnämlich die Voraussetzung dafür, dass Kapitalmarkt undtechnische Entwicklungen miteinander verknüpft wer-den können. Diese Planbarkeit, zum Beispiel bei der

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Olav Gutting

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Photovoltaik, gewährleistet die Transformation einervon der Vorgängerregierung teilweise überfördertenBranche in eine unabhängige, hochprofitable Form derEnergieerzeugung, die ein Exportschlager für unsere In-dustrie werden kann.

Neben der Förderung der erneuerbaren Energien set-zen wir zusätzliche Impulse. Wir haben uns zum Ziel ge-setzt, die Treibhausgasemissionen in Deutschland biszum Jahr 2020 um 40 Prozent und bis zum Jahr 2050 ummindestens 80 Prozent zu senken. Das ist ein ambitio-niertes Ziel, bei dem wir gerade beim Gebäudebestandein ganz erhebliches Potenzial an Einsparungen erken-nen. Wir haben uns deshalb entschlossen, bei energeti-schen Sanierungsmaßnahmen an Gebäuden neben denbereits vorhandenen KfW-Programmen eine steuerlicheFörderung zu etablieren. Dabei ist klarzustellen, dass essich hierbei um eine zusätzliche Förderung zu den be-reits bestehenden Programmen der KfW-Bankengruppehandelt. Gefördert werden, begrenzt auf die nächstenzehn Jahre, Sanierungen beginnend ab dem 5. Juni die-ses Jahres, also rückwirkend. Die Befristung bis zumEnde des Jahres 2021 halten wir für wichtig; denn wirwollen nicht wieder eine endlose Steuersubvention, son-dern wir wollen bewusst einen zielgerichteten zusätzli-chen Impuls zur Energieeinsparung setzen.

Diese Förderung ist auch deswegen zielgerichtet, weilsie auf das Ergebnis der durchgeführten Sanierungsmaß-nahmen abzielt. Die Vorgabe ist nämlich, dass nach derSanierung der KfW-Effizienzhaus-85-Standard erreichtwerden muss. Dieser Standard ist hoch. Es ist also einambitioniertes Ziel. Aber wenn wir die Energieeinspa-rungen erreichen wollen, die wir uns vorgenommen ha-ben, dann müssen wir dieses hohe Ziel setzen. Diesesteuerliche Förderung gibt es nur beim großen Paket.

Für die Einzelmaßnahmen, die auch immer wiederdiskutiert wurden, bleibt es bei den KfW-Förderpro-grammen. Festzuhalten ist dabei, dass wir die KfW-Mit-tel für energetische Sanierungen gerade noch einmal er-höht haben, nämlich auf insgesamt 1,5 Milliarden Euro,sodass wir jetzt zusammen mit der steuerlichen Förde-rung bei der energetischen Sanierung ein Gesamtpaketvon über 3 Milliarden Euro haben.

Dieses ansehnliche Paket wird seine Wirkung entfal-ten,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

auch und gerade beim Handwerk und in der Bauindus-trie. Durch die Hebelwirkung – das wissen wir – wirddas 16-Fache an Investitionen ausgelöst. Die Branchevor Ort darf eine spürbare Auftragsbelebung erwarten –mit allen Konsequenzen: Es wird zusätzliche Arbeits-plätze geben, zusätzliche Steuereinnahmen und – dassage ich gerade in Richtung der Kommunen – zusätz-liche Gewerbesteuereinnahmen.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass wir mit demheute zu beschließenden Gesetzespaket einen weiterenkonsequenten Schritt hin zur Energiewende gehen. Wirmachen den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land

mit diesen Maßnahmen zusätzlich zum KfW-Programmein weiteres attraktives Angebot. Wir haben nunmehreinen breit gefächerten Instrumentenkasten, und mit die-sem Instrumentenkasten werden wir unserem anspruchs-vollen Ziel einer nachhaltigen Verringerung der Treib-hausgasemissionen und eines zügigen Umstiegs in dasZeitalter der erneuerbaren Energien ein ganzes Stück nä-her kommen. Deswegen: Stimmen Sie zu!

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Ich schließe die Aussprache.

Bevor wir mit den Abstimmungen beginnen, weiseich darauf hin, dass wir neben einer Vielzahl von einfa-chen Abstimmungen auch insgesamt vier namentlicheAbstimmungen durchführen werden.

Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den vonden Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachtenEntwurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung desAtomgesetzes. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit empfiehlt unter Buchstabe a sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6361, denGesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU und FDPauf Drucksache 17/6070 anzunehmen. Ich bitte diejeni-gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit denStimmen der vier Fraktionen CDU/CSU, FDP, SPD undGrüne gegen die Stimmen der Linken angenommen.

Vor unserer ersten namentlichen Abstimmung will ichdarauf hinweisen, dass es zahlreiche – wirklich zahlrei-che – schriftliche Erklärungen nach § 31 unserer Ge-schäftsordnung gibt.1)

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Dazu ist namentliche Abstim-mung vorgesehen. Ich bitte die Schriftführerinnen undSchriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. –Sind alle Plätze besetzt? – Das ist der Fall. Dann eröffneich die erste namentliche Abstimmung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die obligate Frage:Ist noch jemand im Saale, der seine Stimme nicht abge-geben hat? – Dann müssen wir noch einen Moment war-ten.

Ich glaube, jetzt haben alle ihre Stimme abgegeben.Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift-führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zubeginnen. Das Ergebnis dieser Abstimmung wird Ihnenspäter bekannt gegeben.2)

Bevor wir zu den einfachen Abstimmungen kommen,hat Kollegin Kathrin Vogler Gelegenheit zu einer münd-lichen Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung.

1) Anlagen 2 bis 122) Ergebnis Seite 13412 D

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13405

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platzzu nehmen. Bis zur nächsten namentlichen Abstimmungdauert es noch eine Weile, weil wir ungefähr 20 einfacheAbstimmungen absolvieren müssen. – Bitte schön, Kol-legin Vogler.

(Unruhe)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie nocheinmal bitten, Platz zu nehmen. Es gibt jetzt eine münd-liche Erklärung, und dann gibt es eine ganze Reihe ein-facher Abstimmungen, für die eine gewisse Übersicht imHause notwendig ist.

(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Herr Kauder! Herr Brüderle!)

Darf ich die Bitte noch einmal namentlich an die Regie-rungsbank richten?

(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Frau Merkel!)

Ich bitte Sie herzlich, Platz zu nehmen – KollegeBurgbacher, Kollege Otto –, damit wir fortfahren kön-nen.

Kathrin Vogler (DIE LINKE):Vielen Dank, Herr Präsident! – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Mir ist es wichtig, ganz kurz Ihre Auf-merksamkeit zu beanspruchen. Ich möchte Ihnen sagen,dass ich gegen dieses Gesetz gestimmt habe, weil derWeiterbetrieb der Atomkraftwerke bis 2022 konkret be-deutet, dass durch meinen Wahlkreis Steinfurt weiterhingefährliche Atomtransporte fahren: zum AKW in Lin-gen, zur Urananreicherungsanlage in Gronau und zumZwischenlager in Ahaus, und dies länger als notwendig.

In den Wochen nach dem Reaktorunglück von Fuku-shima haben in meinem Heimatort Emsdetten Montagfür Montag 300 oder mehr Menschen für ein schnellst-mögliches Abschalten der Atomkraftwerke demon-striert. Sie haben mich dazu aufgefordert, dafür zu sor-gen, dass das Wirklichkeit wird. Wenn wir hier heute dasverabschieden, was Sie vorgelegt haben, reicht das mirund auch diesen Menschen nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Urananreicherungsanlagen in Gronau und im be-nachbarten niederländischen Almelo werden sogar nochausgebaut. Die Menschen in Ahaus befürchten völlig zuRecht, dass das dortige Zwischenlager schleichend zumEndlager gemacht wird. Die AKW in Deutschland wer-den nach dem, was hier heute beschlossen wird, noch25 000 Tonnen strahlenden Atommüll produzieren. Ichkann nicht verantworten, dem zuzustimmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Deshalb stimme ich dem Dreizehnten Gesetz zur Än-derung des Atomgesetzes nicht zu. Ich werde am Sonn-tag beim 300. Sonntagsspaziergang in Gronau mit vielenAtomkraftgegnerinnen und -gegnern an der Urananrei-cherungsanlage für eine schnellstmögliche Abschaltungder Atomkraftwerke demonstrieren.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-

schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenauf Drucksache 17/6368. Wer stimmt für diesen Ent-schließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmender beiden Regierungsfraktionen gegen die Stimmen derFraktion Die Grünen bei Enthaltung von SPD und Lin-ken abgelehnt.

Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-sicherheit empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/6361, den Gesetzentwurfder Bundesregierung zur Änderung des Atomgesetzesauf Drucksache 17/6246 für erledigt zu erklären. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist einstimmig angenommen.

Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionder SPD für eine beschleunigte Stilllegung von Atom-kraftwerken. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit empfiehlt unter Buchstabe c sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6361, denGesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache17/5179 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der beidenKoalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD undGrünen bei Enthaltung der Linken abgelehnt. Damit ent-fällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera-tung.

Wir kommen zur Abstimmung über Gesetzentwurf derFraktion Die Linke zur Änderung des Atomgesetzes –Keine Übertragbarkeit von Reststrommengen. DerAusschuss für Umwelt empfiehlt unter Buchstabe d sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6361, denGesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache17/5472 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hau-ses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abge-lehnt. Damit entfällt auch bei diesem Gesetzentwurf dieweitere Beratung.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderungdes Atomgesetzes und zur Wiederherstellung des Atom-konsenses. Der zuständige Ausschuss empfiehlt unterBuchstabe e seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/6361, den Gesetzentwurf der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5035 abzulehnen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmenvon CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen derGrünen und bei Enthaltung der SPD abgelehnt. Damitentfällt die weitere Beratung dieses Gesetzentwurfs.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderungdes Atomgesetzes – Abschalten der acht unsichersten

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13406 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

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Atomkraftwerke. Der zuständige Ausschuss empfiehltunter Buchstabe f seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/6361, den Gesetzentwurf der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5180 abzu-lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-gegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist inzweiter Beratung mit den Stimmen der beiden Regie-rungsfraktionen gegen die Stimmen von Grünen undLinken bei Stimmenthaltung der SPD abgelehnt. Auchhier entfällt die weitere Beratung.

Abstimmung über den Gesetzentwurf der FraktionBündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Atomgeset-zes – Beendigung der Nutzung von Atomkraftwerkenzur kommerziellen Energieerzeugung in Deutschland.Der zuständige Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe gseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6361,den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenauf Drucksache 17/5931 abzulehnen. Ich bitte diejeni-gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der beiden Ko-alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Grünen beiStimmenthaltung von SPD und Linken abgelehnt. Auchhier entfällt die weitere Beratung.

Wir setzen die Abstimmungen zu den Beschlussemp-fehlungen des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit auf Drucksache 17/6361 fort. UnterBuchstabe h empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung desAntrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5478mit dem Titel „Sofortige Stilllegung der sieben ältestenAtomkraftwerke und des Atomkraftwerks Krümmel“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak-tionen gegen die Stimmen der Linken und der Grünenbei Stimmenthaltung der SPD angenommen.

Unter Buchstabe i empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke aufDrucksache 17/6092 mit dem Titel „Atomausstieg bis2014 – Für eine erneuerbare und demokratische Energie-versorgung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen der beidenKoalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmender Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unterBuchstabe j seiner Beschlussempfehlung die Ablehnungdes Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 17/6109 mit dem Titel „Versorgungssicher-heit transparent machen – Keine Experimente mit ato-marer ‚Kaltreserve‘“. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der bei-den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppo-sitionsfraktionen angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den von denFraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachtenGesetzentwurf zur Neuregelung des Rechtsrahmens fürdie Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren

Energien. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 17/6363, den Ge-setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDPauf Drucksache 17/6071 in der Ausschussfassung anzu-nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit denStimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvorangenommen.

Abstimmung über den Entschließungsantrag derFraktion Die Linke auf Drucksache 17/6369. Werstimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantragist gegen die Stimmen der Linken mit den Stimmen derübrigen vier Fraktionen abgelehnt.

Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-sicherheit empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/6363, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung zur Neuregelung desRechtsrahmens für die Förderung der Stromerzeugungaus erneuerbaren Energien auf Drucksache 17/6247 fürerledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp-fehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit auf Drucksache 17/6363 fort. DerAusschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Be-schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-tion der SPD auf Drucksache 17/5182 mit dem Titel„Energiewende jetzt“. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der bei-den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPDund Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.

Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 17/5202 mit dem Titel „Atomzeital-ter beenden – Energiewende jetzt“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmenvon SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken ange-nommen.

Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitauf Drucksache 17/4953. Der Ausschuss empfiehlt unterBuchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnungdes Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache17/778 mit dem Titel „10 Jahre EEG – Auf dem bestenWeg zu einer ökologischen und sozialen Energiewende“.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13407

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

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Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen der beiden Regierungsfrak-tionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktio-nen angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 17/799 mit dem Titel „ErneuerbareEnergie ausbauen statt Atomkraft verlängern“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen ge-gen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung von SPDund Linken angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den von denFraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachtenEntwurf eines Gesetzes zur Neuregelung energiewirt-schaftlicher Vorschriften. Der Ausschuss für Wirtschaftund Technologie empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/6365, den Ge-setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDPauf Drucksache 17/6072 in der Ausschussfassung anzu-nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit denStimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der Linken und Grünen bei Stimmenthaltungder SPD angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie in derzweiten Beratung angenommen.

Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/6365, den Gesetzentwurf der Bundes-regierung zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicherVorschriften auf Drucksache 17/6248 für erledigt zu er-klären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist einstimmig angenommen.

Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp-fehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologieauf Drucksache 17/6365 fort. Der Ausschuss empfiehltunter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Druck-sache 17/5181 mit dem Titel „Auf dem Weg zu einemnachhaltigen, effizienten, bezahlbaren und sicherenEnergiesystem“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Ko-alitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD undGrünen bei Enthaltung der Linken angenommen.

Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Druck-sache 17/5481 mit dem Titel „Programm für eine nach-haltige, bezahlbare und sichere Energieversorgung“. Wer

stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen, derLinken und der Grünen gegen die Stimmen der SPD an-genommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unterBuchstabe e seiner Beschlussempfehlung die Ableh-nung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 17/5760 mit dem Titel „Schutzschirm für Strom-kunden – Bezahlbare Energiepreise gewährleisten“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist gegen die Stimmen der Linken mit den Stimmen derübrigen Fraktionen angenommen.

Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzesüber Maßnahmen zur Beschleunigung des NetzausbausElektrizitätsnetze. Der Ausschuss für Wirtschaft undTechnologie empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/6366, den Ge-setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDPauf Drucksache 17/6073 in der Ausschussfassung anzu-nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit denStimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen von SPD und Linken bei Enthaltung der Grü-nen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Über diesen Gesetzentwurfstimmen wir nun namentlich ab. Ich bitte die Schriftfüh-rerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze ein-zunehmen. – Ist alles für die Abstimmung vorbereitet? –Dann eröffne ich die zweite namentliche Abstimmung.

Die obligate Frage: Haben alle anwesenden Kollegenan der namentlichen Abstimmung teilgenommen? – Dasist offensichtlich der Fall. Dann schließe ich die Abstim-mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis auch die-ser namentlichen Abstimmung wird Ihnen später be-kannt gegeben.1)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, wiederPlatz zu nehmen, damit wir die Abstimmungen fortset-zen können.

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa-che 17/6370. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerEntschließungsantrag ist mit den Stimmen der beidenKoalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmender Linken bei Enthaltung der Grünen abgelehnt.

Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/6366, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netz-

1) Ergebnis Seite 13415 B

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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

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ausbaus Elektrizitätsnetze auf Drucksache 17/6249 fürerledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antragder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Mo-dernisierung der Stromnetze – Bürgernah, zügig, für er-neuerbare Energien“. Der Ausschuss empfiehlt unterBuchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 17/6366, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/5762 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen undder SPD gegen die Stimmen von Linken und Grünen an-genommen.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaftund Technologie zu dem Antrag der Fraktion der SPDmit dem Titel „Die Energieeffizienz verbessern – Aufdem europäischen Sondergipfel zur Energiepolitik am4. Februar 2011 verbindliche Maßnahmen vereinbaren“.Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 17/4785, den Antrag der Fraktion derSPD auf Drucksache 17/4528 abzulehnen. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istmit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegendie Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenom-men.

Abstimmung über die von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP sowie von der Bundesregierung einge-brachten Entwürfe eines Gesetzes zur steuerlichen Förde-rung von energetischen Sanierungsmaßnahmen an Wohn-gebäuden. Der Finanzausschuss empfiehlt in seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 17/6358, die ge-nannten Gesetzentwürfe der Fraktionen der CDU/CSUund der FDP auf Drucksache 17/6074 sowie der Bundes-regierung auf Drucksache 17/6251 zusammenzuführenund in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte die-jenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassungzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damitin zweiter Beratung mit den Stimmen der beiden Koali-tionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Linkenbei Enthaltung der Grünen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wiein der zweiten Abstimmung angenommen.

Abstimmung über die von der Bundesregierung sowievon den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP einge-brachten Entwürfe eines Gesetzes zur Änderung des Ge-setzes zur Errichtung eines Sondervermögens „Energie-und Klimafonds“. Der Haushaltsausschuss empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6356,die genannten Gesetzentwürfe der Bundesregierung auf

Drucksache 17/6252 (neu) sowie der Fraktionen derCDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/6075 zusam-menzuführen und in der Ausschussfassung anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionengegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen ange-nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvorangenommen.

Abstimmung über die von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP sowie von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwürfe eines Gesetzes zur Stärkung derklimagerechten Entwicklung in den Städten und Ge-meinden. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtent-wicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/6357, die genannten Gesetzentwürfe derFraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache17/6076 sowie der Bundesregierung auf Drucksache17/6253 zusammenzuführen und in der Ausschussfas-sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, umdas Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratungmit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen, derSPD und der Linken bei Ablehnung der Grünen ange-nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit mit den Stimmen der beiden Koalitions-fraktionen, der SPD und der Linken gegen die Stimmender Grünen angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über die von den Frak-tionen der CDU/CSU und der FDP sowie von der Bun-desregierung eingebrachten Entwürfe eines Ersten Ge-setzes zur Änderung schifffahrtsrechtlicher Vorschriften.Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 17/6364, die genannten Gesetzentwürfe der Fraktio-nen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/6077sowie der Bundesregierung auf Drucksache 17/6254 zu-sammenzuführen und in der Ausschussfassung anzuneh-men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-men der beiden Koalitionsfraktionen, der SPD und derGrünen bei Enthaltung der Linken angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13409

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

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Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wiezuvor angenommen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu demAntrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ti-tel „Ungebundene EU-Mittel aus dem Konjunkturpaket(EEPR) unverzüglich für mehr Energieeffizienz und er-neuerbare Energien nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5225,den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 17/4017 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men von CDU/CSU, FDP und SPD gegen die Stimmender Grünen und Linken angenommen.

Abstimmung über den Gesetzentwurf der FraktionDie Linke zur Änderung des Grundgesetzes – Gesetz zurgrundgesetzlichen Verankerung des Ausstiegs aus derAtomenergie. Der Innenausschuss empfiehlt in seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 17/6349, den Ge-setzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache17/5474 abzulehnen. Wir stimmen nun über diesen Ge-setzentwurf namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerin-nen und Schriftführer, ihre Plätze einzunehmen. – Wirkönnen mit der Abstimmung beginnen. Ich eröffne diedritte namentliche Abstimmung.

Haben sich alle Mitglieder des Hauses an der Abstim-mung beteiligt? – Das ist offensichtlich der Fall. Dannschließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführe-rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-nen. Auch dieses Ergebnis wird später bekannt gege-ben1).

Wir kommen zur nächsten Abstimmung, und zwarüber den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache17/6292 mit dem Titel „Die Energiewende zukunftsfähiggestalten“. Wir stimmen über diesen Antrag namentlichab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführerwiederum, ihre Plätze einzunehmen. – Da sie sie garnicht verlassen haben, sind wir bereit für die vierte undletzte namentliche Abstimmung, die hiermit eröffnet ist.

Haben alle anwesenden Mitglieder des Hauses ihreStimme abgegeben? – Das ist offensichtlich der Fall.Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift-führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zubeginnen. Das Ergebnis auch dieser Abstimmung wirdspäter bekannt gegeben2).

Zusatzpunkt 4. Interfraktionell wird Überweisung desGesetzentwurfs auf Drucksache 17/6302 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nichtder Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Damit sind der Tagesordnungspunkt 4 und dieZusatzpunkte 3 und 4 absolviert.

1) Ergebnis Seite 13418 A2) Ergebnis Seite 13420 B

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten SahraWagenknecht, Dr. Axel Troost, Dr. Barbara Höll,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE

Verursacher der Krise zur Kasse bitten – NeueBankenabgabe einführen

– Drucksache 17/6303 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ichhöre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile SahraWagenknecht für die Fraktion Die Linke das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)

Sahra Wagenknecht (DIE LINKE):Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

„Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen“:Das war für Walter Eucken, den bekannten Ökonomenund Vater der sozialen Marktwirtschaft, eine der Grund-lagen einer funktionierenden Wirtschaftsordnung. Die-ses Prinzip wird heute komplett ignoriert. Die heutigenFinanzmärkte sind ein Feld organisierter Haftungsfrei-heit und kollektiver Verantwortungslosigkeit. Das istauch das Ergebnis der Politik Ihrer Regierung und derPolitik der Vorgängerregierungen.

Um über 300 Milliarden Euro ist die deutsche Staats-verschuldung allein infolge der Bankenrettung angestie-gen. 300 Milliarden Euro: Das ist im Vergleich so vielwie fast ein ganzer Bundeshaushalt. Und überhaupt: DieStaatsverschuldung in Deutschland ist seltsamerweisenoch nie in so kurzer Zeit derart angestiegen wie in denletzten Jahren, also just in der Zeit, in der dieses Landvon Politikern regiert wurde, die in ihren Sonntagsredengern von Schuldenbremsen und von Konsolidierung re-den. Offenbar fällt Ihnen der öffentliche Schuldenstandaber immer nur dann ein, wenn es um Ausgaben für Bil-dung oder um die Lebensgrundlage von Hartz-IV-Bezie-hern geht.

(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Im-mer die gleiche Platte!)

Für die Banken haben Sie dagegen eine Freibier-anlage installiert, die Sie mit immer neuen Milliardenauffüllen, damit sich die Herren Ackermann und Conach Belieben bedienen können; denn auch die als Euro-Rettung getarnten Milliardenpakete sind im Kern janichts anderes als eine neue Runde der Bankenrettung.

Natürlich kann man dieses zynische Spiel immer wei-terspielen. Theoretisch kann man es so lange weiterspie-len, bis Deutschland genauso pleite ist wie Griechen-land. Besser und eine wirkliche Bremse für dieeskalierende Staatsverschuldung wäre es aber vielleicht,sich das Geld von dort zurückzuholen, wo es hingeflos-

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13410 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Sahra Wagenknecht

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sen ist, nämlich von den Verantwortlichen für dieFinanzmarktkrise, von denen, die von den Rettungs-milliarden profitiert haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Eine ordentliche Bankenabgabe wäre ein wichtiger He-bel dafür. Die Einführung einer Millionärsteuer wäre einanderer wichtiger Hebel.

Die Bankenabgabe, die die Bundesregierung vorge-schlagen hat, ist aber, ich bitte Sie, doch nichts anderesals eine Farce und Wählertäuschung. Angeblich sollenso 70 Milliarden Euro zusammenkommen, damit dieSteuerzahler beim nächsten Crash geschont werden kön-nen. 70 Milliarden Euro! Dabei haben Sie die jährlichenEinnahmen noch nie höher als mit 1,2 Milliarden Euroangesetzt. Zurzeit sieht es eher so aus, als würde es etwadie Hälfte sein. Selbst wenn 1 Milliarde Euro herein-kommen würde, wäre dies viel zu wenig.

Es gab einmal einen deutschen Staat, der viel Spottdadurch auf sich gezogen hat, dass er Fünfjahrespläneaufgestellt hat. Ich muss sagen: Hier ist die Bundesregie-rung wirklich weiter. Sie stellt jetzt offensichtlich Sieb-zigjahrespläne auf; denn wenn man mit der Banken-abgabe 1 Milliarde Euro pro Jahr hereinholt, dann heißtdas: In genau 70 Jahren hat man die 70 Milliarden Euro,mit denen man dann für die nächste Finanzkrise gewapp-net sein will.

(Beifall bei der LINKEN)

Das heißt, nach den Planungen der Bundesregierung darfdie nächste Finanzkrise in frühestens 70 Jahren stattfin-den.

Da fragt man sich schon, ob man Ihnen zu so viel Zu-kunftsoptimismus gratulieren soll oder ob man Sie nichtbesser für einen derartigen Realitätsverlust von Herzenbedauern muss.

(Beifall bei der LINKEN)

Es spricht zumindest wirklich verdammt wenig dafür,dass sich die Realität an Ihre Pläne halten wird.

Der nächste Crash hat längst begonnen. Das liegtauch daran, dass die letzte Finanzkrise im Grunde niewirklich aufgearbeitet wurde. Es läuft doch alles weiter,als hätte es diese Krise überhaupt nie gegeben. Es laufenweiter die gleichen absurden Geschäftsstrategien. Eslaufen weiter die gleichen halsbrecherischen Hebelfinan-zierungen. Es laufen weiter die gleichen giftigen Finanz-produkte.

Allein die Deutsche Bank hat von den internationalenRettungspaketen in der Größenordnung von gut 20 Mil-liarden Euro profitiert. Die Deutsche Bank hat von die-sen über 20 Milliarden Euro keinen Cent zurückgezahlt.

(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Pfui!)

Natürlich ist es dann für die Deutsche Bank umso leich-ter, jetzt wieder üppige Dividenden auszuschütten undihre Manager mit Boni zu verwöhnen, während inDeutschland Krankenhäuser chronisch unterfinanziertsind und bei Niedrigverdienern aus angeblichen Spar-zwängen der Heizkostenzuschuss gestrichen wurde. Sie

finden das offenbar völlig normal. Ich muss sagen: Ichfinde das skandalös und unerträglich.

(Beifall bei der LINKEN – Björn Sänger[FDP]: Unerträglich ist das, was Sie geradevon sich geben!)

Sehen Sie sich doch bitte einmal das Geschäftsmodellder privaten Großbanken an. Wenn die Aufgabe einerBank darin besteht, Ersparnisse in volkswirtschaftlicheInvestitionen zu lenken, dann ist die Deutsche Banklängst keine Bank mehr, sondern sie ist eher eine gigan-tische Wettbude, die ihre sagenhaften Gewinne zum gro-ßen Teil damit macht, auf nahezu alles, was die Welt sobietet, Lebensmittel, Rohstoffe, Staatsanleihen, waghal-sige Wetten zu verkaufen oder selber einzugehen.

Dabei haben von der Deutschen Bank konstruierteGiftpapiere bekanntlich schon in der letzten Finanzkriseeine üble Rolle gespielt, denn die Deutsche Bank war ei-ner der ganz großen Player in diesem Geschäft, amerika-nische Hypothekenkredite zu verbriefen. Da man relativgenau wusste, dass diese Hypothekenkredite irgendwannfaul werden, hat man gleich noch die Wette gegen dieseHypothekenkredite mitverkauft und sich daran eine gol-dene Nase verdient. Diese Geschäftspraktiken habenstattgefunden. Sie haben sich am Ende darin niederge-schlagen, dass der deutsche Steuerzahler die IKB, dieLandesbanken, die WestLB und andere, retten musste,weil dieser Finanzmüll nämlich genau dort angekommenist.

Gestern hat sich in den USA die Bank of America zurZahlung von 8,5 Milliarden Dollar Schadensersatz ver-pflichten müssen, weil sie Schrottpapiere im Volumenvon 16,5 Milliarden Dollar verkauft hat, weil sie also ge-nau das Gleiche gemacht hat, was die Deutsche Bank innoch ganz anderer Größenordnung getan hat. Ich fragedie Bundesregierung: Wann werden Sie endlich dieDeutsche Bank dazu zwingen, Schadensersatz für die zigMilliarden an Finanzmüll zu zahlen, der bei der IKB undbei den Landesbanken und damit letztlich beim Steuer-zahler abgeladen wurden? Machen Sie doch einmal et-was in dieser Frage, wenn Sie die Staatsverschuldungwirklich bremsen wollen.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Volker Wissing[FDP]: Wir leben in einem Rechtsstaat, FrauKollegin!)

– Das ist für Sie ein Rechtsstaat, dass die Banken abzo-cken, dass sie abstruse Geschäftsmodelle machen unddass der Steuerzahler dann die Verluste trägt. Ich musssagen, ich habe vom Rechtsstaat eine andere Vorstel-lung.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Daniel Volk[FDP]: Das merkt man! – Dr. Volker Wissing[FDP]: Das kommt deutlich zum Ausdruck!)

Deswegen frage ich Sie auch: Wie lange noch wollenSie das Geld der Steuerzahler in diesem schwarzen Lochverbrennen, statt die Ackermänner und Co endlich daranzu hindern, finanzielle Massenvernichtungswaffen zubasteln, die uns allen irgendwann um die Ohren fliegenwerden? Sie wissen doch genauso gut wie wir, dass uns

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13411

Sahra Wagenknecht

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das um die Ohren fliegen wird. Dass sich die Staats-schuldenkrise so zuspitzt, hat auch etwas mit diesen Kre-ditausfallversicherungen zu tun, die nicht zuletzt dieDeutsche Bank kreiert, verkauft, mit denen sie handeltund sich so eine goldene Nase verdient.

(Beifall bei der LINKEN)

Deswegen fordert die Linke: Legen Sie die Finanz-mafia endlich an die Kette, statt sich von ihr in immerneuen Runden am Nasenring durch die Manege ziehenzu lassen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU

Kollege Klaus-Peter Flosbach. Bitte schön, KollegeFlosbach.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU):Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Hier gibt es einen Vorschlag der Linken,die Verursacher der Finanzkrise zur Verantwortung zuziehen. Wenn wir uns diesen Antrag ansehen, so sehenwir mehr als deutlich, dass dies ein sehr untauglicher,durchsichtiger und sehr plumper Versuch ist, im Grundedas private Bankensystem und sogar das öffentlich-rechtliche Bankensystem in Deutschland zu zerschlagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie haben gar nicht über die Verursacher der Finanz-krise gesprochen. Sie haben alle Ihre Pauschalurteile, dieSie regelmäßig hier vortragen, wiederholt und uns Ihreideologischen sozialistischen Ergebnisse vorgestellt, wieman die Banken im Grunde zerschlagen kann.

Wenn Sie sich mit den Ursachen der Finanzkrise be-schäftigt hätten, dann müssten Sie heute die Frage stel-len, wer die Verursacher der Finanzkrise waren. Warenes die USA selbst, die niedrige Zinsen in den Markt ge-geben haben? Waren es die Banken in den USA, dieKredite an Personen vergeben haben, die nicht kredit-fähig waren? Waren es diejenigen, die diese Kredite mitder sogenannten Verbriefung gebündelt und beispiels-weise nach Deutschland verkauft haben? Waren es dieBanken in Deutschland, die sie gekauft haben, wie dieIKB, die Hypo Real Estate und andere Banken oder dieLandesbanken, die kein eigenes Risikomanagementmehr wahrnahmen und diese Papiere einfach übernom-men haben? Waren es die Ratingagenturen, die einenStempel aufgedrückt haben? Waren es die Aufsichtssys-teme, die nicht funktioniert haben, oder waren es wirk-lich auch politische Rahmenbedingungen?

All das müssen wir selbstverständlich fragen. Aber soeinfach, wie Sie es dargestellt haben, ist die Welt nuneinmal nicht. Sie müssen die Zusammenhänge beachten.Dann kämen Sie nicht auf solche Ideen wie die, das Ban-kensystem zu zerschlagen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Sie haben als Lösung vorgeschlagen, dass die Bankenin Deutschland, und zwar die privaten Banken und auchbeispielsweise die Landesbanken, neben der normalenBesteuerung eine zusätzliche Bankenabgabe in Höhevon 0,15 bis 0,30 Prozent der Bilanzsumme zahlen sol-len. Ich weiß nicht, ob Sie sich schon einmal mit einerBilanzsumme einer deutschen Bank beschäftigt haben.Sie haben sicherlich die der Deutschen Bank im Blickgehabt. Denn Ihr Vorschlag zielt genau darauf ab, bei derDeutschen Bank über die übliche Besteuerung hinausden gesamten Gewinn zu kassieren. 100 Prozent Ver-steuerung: Das ist Ihr Vorschlag. Er gilt aber nicht nurfür die Deutsche Bank, sondern auch für die Commerz-bank, die Landesbanken und alle privaten Banken. Dasist der Ansatz, den wir betrachten müssen. Hier wird imGrunde versucht, 100 Prozent der Gewinne der Bankenabzugreifen.

Sie haben auch von sozialer Marktwirtschaft gespro-chen und Walter Eucken erwähnt. Jede Gesellschaftbraucht ein funktionierendes Bankensystem. Wer ist ei-gentlich der größte Mittelstandsfinanzierer in Deutsch-land? Wer begleitet unsere deutschen Unternehmen insAusland, um am Weltmarkt aktiv zu sein? Wie kommt esdazu, dass wir 40 Prozent unseres Wachstums dem Ex-port verdanken? Die große Zahl an qualifizierten Arbeits-plätzen in Deutschland hängt von einer funktionierendenWirtschaft und einem funktionierenden Bankensystemab.

(Zuruf von der LINKEN: Na ja!)

– Das ist so. Die Linken haben noch nie mit der Wirt-schaft umgehen können. Sie wissen immer noch nicht,dass erfolgreiche Sozialpolitik nur dann machbar ist,wenn wir auch ein starkes Wirtschaftssystem haben, umentsprechende Erträge zu erwirtschaften.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie müssen Ihren Horizont erweitern. Er wird immernoch von einer Mauer begrenzt. Die Deutschen in Ostund West haben in 20 Jahren Deutschland wieder nachvorne gebracht. Was Sie vorschlagen, ist aber weit vonder Wirklichkeit entfernt.

Wir haben in den letzten Jahren erfolgreiche Politikgemacht, um die Finanzmärkte zu stabilisieren. FrauWagenknecht, Sie haben von den Auswirkungen derKrise gesprochen. Sie müssen mit den richtigen Zahlenund mit den Zahlen operieren, die auch für die Bevölke-rung wichtig sind.

Ich möchte aus der Zwischenbilanz der Bundesanstaltfür Finanzmarktstabilisierung vom 28. Januar 2011 zitie-ren. Die Bundesanstalt ist für uns das entscheidendeGremium in Deutschland. Sie hat die Finanzkrise bewer-tet:

Im internationalen Vergleich ist der Aufwand für dieBankenstabilisierung in Deutschland moderat … InDeutschland gelang die Stabilisierung, anders in an-deren Staaten, ohne einen Bank-Run, ohne eine

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13412 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Klaus-Peter Flosbach

(A) (C)

(D)(B)

Überlastung des Staates und ohne soziale Verwer-fungen.

(Lachen bei der LINKEN)

Auch Zusammenbrüche von Kreditinstituten konn-ten vermieden werden. Nach dem Rezessionsjahr2009 erholte sich die deutsche Wirtschaft in beein-druckender Schnelligkeit.

Das sollten Sie in dieser Zwischenbilanz vom 28. Januarnachlesen.

Sie haben von der Staatsverschuldung gesprochen.Wie ist denn die Erhöhung der Staatsverschuldung ent-standen? In der Tat bürgen wir als Staat immer noch fürüber 200 Milliarden Euro an ausgesonderten Papierenoder auch Krediten, die in den Bad Banks der Hypo RealEstate oder der Westdeutschen Landesbank lagern.

Aber in jedem Monat werden diese Papiere Zug umZug verkauft. Dadurch wird sich unsere Verschuldungreduzieren. Der Verschuldung in Höhe von 200 Milliar-den Euro stehen – so hoffen wir jedenfalls – Vermögens-werte in gleicher Höhe gegenüber, die dazu führen, dassunsere Verschuldung Zug um Zug abgebaut wird. Dasdürfen Sie nicht verheimlichen.

(Abg. Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen-frage)

– Herr Schick, wenn ich zum Ende gekommen bin, kön-nen Sie eine Kurzintervention machen. Dann werde ichIhnen erwidern.

Entscheidend ist, dass die Verschuldung Zug um Zugabgebaut wird. Das ist einer unserer Erfolge. Dadurchhaben wir unsere Wirtschaft stabilisiert.

Wir haben aber auch auf die Krise reagiert, und zwarin zwei großen Bereichen, nämlich durch Regulierungund eine Bankenabgabe, die ich gleich noch darlegenmöchte. Das Wichtigste ist, dass wir die Banken durchhöhere Eigenkapital- und Liquiditätsanforderungen sta-bilisiert haben. Hier geht es darum, Verluste aufzufangenund vor allen Dingen die Widerstandsfähigkeit der Ban-ken zu stärken. So kann sich die Krise nicht auf gleicheWeise wiederholen.

Wir haben die europäische Aufsicht im Banken-, Ver-sicherungs- und Wertpapierbereich gestärkt, aber auchim Ausschuss für Systemrisiken oder im Finanzstabili-tätsrat, der gemeinsam mit dem Internationalen Wäh-rungsfonds als globales Frühwarnsystem funktioniert.Das sind wichtige Maßnahmen, die es bisher nicht gab.Wir haben zudem die Vergütungssysteme in Banken undVersicherungen verändert und sie auf Nachhaltigkeitausgerichtet. Wir haben die Eigenbeteiligung bei Ver-briefungen erweitert und federführend das Verbot unge-deckter Leerverkäufe nicht nur in Deutschland, sondernauch in Europa durchgesetzt.

Es sind sicherlich noch einige Dinge zu regeln – dashat gestern der Finanzmarktkongress der Unionsfraktiongezeigt –, wenn es um Schattenbanken, Ratingagenturen

und Derivate geht. Aber das Entscheidende ist: Wir ha-ben mit den oben beschriebenen Maßnahmen die Märktedeutlich stabilisiert. Wir sind auch bei der BankenabgabeVorreiter. Alle Europäer schauen auf Deutschland, umherauszufinden, wie wir die Bankenabgabe gestaltet ha-ben. Die meisten europäischen Länder wollen unser Sys-tem übernehmen. Auch die Europäische Kommissionprüft eine entsprechende Gesetzesvorlage.

Was ist unter einer Bankenabgabe zu verstehen? DieBanken müssen entsprechend der Höhe ihrer Risiken inden Bilanzen Beiträge an einen Restrukturierungsfondszahlen. Hier geht es nicht um die Kosten der bisherigenKrise, sondern darum, in Zukunft Krisen anders abzuwi-ckeln. In Zukunft werden wir Geld haben, um systemre-levante Banken abzuwickeln oder über Brückenbankenzu restrukturieren. Das sorgt für Stabilität und schontden Geldbeutel des Steuerzahlers. Das ist das Entschei-dende für uns in Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die G 20 haben in Pittsburgh eine faire und nachhal-tige Beteiligung des Finanzsektors verlangt. Ich sehe dasgenauso. Herr Schäuble hat auf der gestrigen Tagungdeutlich gemacht: Wir brauchen eine gerechte Lasten-verteilung, wenn wir die Legitimität nicht verlieren wol-len.

Wir können nicht verlangen, dass alle Regeln globalsind. Wir müssen unter Umständen Regeln auch nur inEuropa oder in der Euro-Zone durchsetzen. Ich bin sehrfroh, dass sich auch das Europäische Parlament für dieEinführung einer Finanzmarktsteuer ausgesprochen hat.Herr Barroso hat deutlich gemacht, dass er es für richtighält, eine solche Steuer in Europa gemeinsam einzufüh-ren. Wer die Länder um uns herum und die großenMärkte USA, Japan oder Russland betrachtet, sieht, dassdort keine Finanzmarktsteuer existiert. Aber nahezu alleLänder der G 20 – dazu gehören auch die Schweiz, Sin-gapur und Hongkong – haben bereits eine Finanzmarkt-steuer eingeführt. Wir wissen sicherlich, dass wir mit ei-ner Finanzmarktsteuer die Krise nicht verhindert hätten,weil sie ganz anders entstanden ist. Frau Wagenknecht,lesen Sie das einfach einmal nach! Aber eine solcheSteuer ist wichtig für eine gerechte Lastenverteilung undsorgt für einen finanziellen Beitrag der Finanzbranche.

Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Eduard Oswald:Bevor ich dem nächsten Redner in unserer Debatte das

Wort erteile, darf ich Ihnen die von den Schriftführerin-nen und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der viernamentlichen Abstimmungen bekannt geben. Zum Er-gebnis der ersten namentlichen Abstimmung über denvon den Fraktionen von CDU/CSU und FDP eingebrach-ten Entwurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderungdes Atomgesetzes: abgegebene Stimmen 600. Mit Ja ha-ben gestimmt 513, mit Nein haben gestimmt 79, Enthal-tungen 8. Der Gesetzentwurf ist angenommen.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13413

Vizepräsident Eduard Oswald

(A) (C)

(D)(B)

Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 600;davon

ja: 513nein: 79enthalten: 8

Ja

CDU/CSU

Ilse AignerPeter AltmaierPeter AumerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck

(Reutlingen)Manfred Behrens (Börde)Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen

(Bönstrup)Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer (Göttingen)Dirk Fischer (Hamburg)Axel E. Fischer (Karlsruhe-

Land)Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachDr. Hans-Peter Friedrich

(Hof)Michael FrieserErich G. FritzDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang Götzer

Ute GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichJürgen HerrmannAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung (Konstanz)Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard KasterSiegfried Kauder (Villingen-

Schwenningen)Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers

(Heidelberg)Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der Leyen

Ingbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer (Altötting)Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller (Erlangen)Dr. Philipp MurmannBernd Neumann (Bremen)Michaela NollDr. Georg NüßleinEduard OswaldHenning OtteRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche (Potsdam)Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht (Weiden)Anita Schäfer (Saalstadt)Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt (Fürth)Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön (St. Wendel)Bernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerArmin Schuster (Weil am

Rhein)Detlef SeifJohannes SelleReinhold Sendker

Dr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl (Heilbronn)Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlVolkmar Vogel (Kleinsaara)Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg (Hamburg)Peter Weiß (Emmendingen)Sabine Weiss (Wesel I)Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-

BeckerDagmar WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli Zylajew

SPD

Ingrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerUwe BeckmeyerLothar Binding (Heidelberg)Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann

(Hildesheim)Edelgard BulmahnUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneMartin DörmannElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot Erler

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13414 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Vizepräsident Eduard Oswald

(A) (C)

(D)(B)

Petra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagSigmar GabrielMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf (Rosenheim)Kerstin GrieseMichael GroschekMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann

(Wackernheim)Hubertus Heil (Peine)Rolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz (Essen)Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe (Leipzig)Fritz Rudolf KörperAnette KrammeNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange (Backnang)Dr. Karl LauterbachBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel (Berlin)Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha Raabe

Mechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth (Esslingen)Michael Roth (Heringen)Marlene Rupprecht

(Tuchenbach)Anton SchaafAxel Schäfer (Bochum)Bernd ScheelenMarianne Schieder

(Schwandorf)Werner Schieder (Weiden)Ulla Schmidt (Aachen)Silvia Schmidt (Eisleben)Carsten Schneider (Erfurt)Ottmar SchreinerSwen Schulz (Spandau)Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützWaltraud Wolff

(Wolmirstedt)Uta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte Zypries

FDP

Jens AckermannChristine Aschenberg-

DugnusDaniel Bahr (Münster)Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannDr. Bijan Djir-Sarai

Patrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickePaul K. FriedhoffDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther (Plauen)Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffDr. Werner HoyerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth (Kyffhäuser)Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-

SchnarrenbergerLars LindemannChristian LindnerDr. Martin Lindner (Berlin)Michael Link (Heilbronn)Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller (Aachen)Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann

(Lausitz)Dirk NiebelHans-Joachim Otto

(Frankfurt)Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-

DamerauDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten Staffeldt

Stephan ThomaeFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel

(Lüdenscheid)Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff (Rems-Murr)

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kerstin AndreaeVolker Beck (Köln)Cornelia BehmBirgitt BenderViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz (Herborn)Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeFritz KuhnStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth (Quedlinburg)Tobias LindnerNicole MaischAgnes MalczakJerzy MontagKerstin Müller (Köln)Beate Müller-GemmekeIngrid NestleDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth (Augsburg)Krista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergChristine ScheelDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtDorothea SteinerDr. Harald Terpe

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13415

Vizepräsident Eduard Oswald

(A) (C)

(B)

Markus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerWolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip Winkler

Nein

CDU/CSU

Gitta ConnemannDr. Rolf KoschorrekFranz ObermeierDr. Michael PaulArnold Vaatz

SPD

Marco BülowFrank Hofmann (Volkach)

FDP

Frank SchäfflerDr. Rainer Stinner

DIE LINKE

Jan van Aken

Agnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausDr. Diether DehmHeidrun DittrichWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenHarald KochJan KorteJutta Krellmann

Katrin KunertSabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerDorothee MenznerCornelia MöhringKornelia MöllerNiema MovassatWolfgang NeškovićPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer (Köln)Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten Tackmann

Frank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerJohanna VoßSahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerJörn WunderlichSabine Zimmermann

Enthalten

CDU/CSU

Manfred KolbeDieter Stier

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Memet KilicMonika LazarDr. Hermann OttTill SeilerDr. Wolfgang Strengmann-

KuhnHans-Christian Ströbele

(D)

Zweite namentliche Abstimmung, Entwurf eines Ge-setzes über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netz-ausbaus Elektrizitätsnetze, Drucksache 17/6073, Frak-tionen CDU/CSU und FDP: abgegebene Stimmen 601.

Mit Ja haben gestimmt 316, mit Nein haben gestimmt214, Enthaltungen 71. Damit ist der Gesetzentwurf ange-nommen.

Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 601;davon

ja: 316nein: 214enthalten: 71

Ja

CDU/CSU

Ilse AignerPeter AltmaierPeter AumerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck

(Reutlingen)Manfred Behrens (Börde)Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria Böhmer

Wolfgang Börnsen (Bönstrup)

Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer (Göttingen)Dirk Fischer (Hamburg)Axel E. Fischer (Karlsruhe-

Land)Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachDr. Hans-Peter Friedrich

(Hof)Michael Frieser

Erich G. FritzDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-Esser

Frank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichJürgen HerrmannAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung (Konstanz)Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard KasterSiegfried Kauder (Villingen-

Schwenningen)Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich Kiesewetter

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13416 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Vizepräsident Eduard Oswald

(A) (C)

(D)(B)

Eckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers

(Heidelberg)Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer (Altötting)Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller (Erlangen)Dr. Philipp MurmannBernd Neumann (Bremen)Michaela NollDr. Georg NüßleinEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche (Potsdam)Lothar RiebsamenJosef Rief

Klaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht (Weiden)Anita Schäfer (Saalstadt)Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt (Fürth)Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön (St. Wendel)Bernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerArmin Schuster (Weil am

Rhein)Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl (Heilbronn)Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel (Kleinsaara)Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg (Hamburg)Peter Weiß (Emmendingen)Sabine Weiss (Wesel I)Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-

BeckerDagmar WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli Zylajew

FDP

Jens AckermannChristine Aschenberg-

DugnusDaniel Bahr (Münster)Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannDr. Bijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickePaul K. FriedhoffDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther (Plauen)Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffDr. Werner HoyerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth (Kyffhäuser)Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-

SchnarrenbergerLars LindemannChristian LindnerDr. Martin Lindner (Berlin)Michael Link (Heilbronn)Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller (Aachen)Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann

(Lausitz)Dirk NiebelHans-Joachim Otto

(Frankfurt)

Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-

DamerauDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerChristoph SchnurrMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtStephan ThomaeFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel

(Lüdenscheid)Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff (Rems-Murr)

Nein

CDU/CSU

Gitta ConnemannFranz Obermeier

SPD

Ingrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerUwe BeckmeyerLothar Binding (Heidelberg)Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann

(Hildesheim)Edelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneMartin DörmannElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele Fograscher

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13417

Vizepräsident Eduard Oswald

(A) (C)

(D)(B)

Dr. Edgar FrankeDagmar FreitagSigmar GabrielMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf (Rosenheim)Kerstin GrieseMichael GroschekMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann

(Wackernheim)Hubertus Heil (Peine)Rolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz (Essen)Frank Hofmann (Volkach)Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe (Leipzig)Fritz Rudolf KörperAnette KrammeNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange (Backnang)Dr. Karl LauterbachBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel (Berlin)Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola Reimann

Sönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth (Esslingen)Michael Roth (Heringen)Marlene Rupprecht

(Tuchenbach)Anton SchaafAxel Schäfer (Bochum)Bernd ScheelenMarianne Schieder

(Schwandorf)Werner Schieder (Weiden)Ulla Schmidt (Aachen)Silvia Schmidt (Eisleben)Carsten Schneider (Erfurt)Ottmar SchreinerSwen Schulz (Spandau)Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützWaltraud Wolff

(Wolmirstedt)Uta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte Zypries

FDP

Dr. Rainer Stinner

DIE LINKE

Jan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausDr. Diether DehmHeidrun DittrichWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole Gohlke

Diana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerDorothee MenznerCornelia MöhringKornelia MöllerNiema MovassatWolfgang NeškovićPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer (Köln)Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerJohanna VoßSahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerJörn WunderlichSabine Zimmermann

Enthalten

CDU/CSU

Manfred Kolbe

SPD

Hans-Ulrich KlosePeer Steinbrück

FDP

Frank Schäffler

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kerstin AndreaeVolker Beck (Köln)Cornelia BehmBirgitt BenderViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz (Herborn)Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeFritz KuhnStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth (Quedlinburg)Monika LazarTobias LindnerNicole MaischAgnes MalczakJerzy MontagKerstin Müller (Köln)Beate Müller-GemmekeIngrid NestleDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann OttLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth (Augsburg)Krista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergChristine ScheelDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtTill SeilerDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-

KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerWolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip Winkler

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13418 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Vizepräsident Eduard Oswald

(A) (C)

(B)

Dritte namentliche Abstimmung, Entwurf eines Ge-setzes zur Änderung des Grundgesetzes – Gesetz zurgrundgesetzlichen Verankerung des Ausstiegs aus derAtomenergie –, Fraktion Die Linke: abgegebene Stim-

men 599. Mit Ja haben gestimmt 71, mit Nein haben ge-stimmt 461, Enthaltungen 67. Der Gesetzentwurf ist inzweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach der Ge-schäftsordnung die weitere Beratung.

(D)

Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 599;davon

ja: 71nein: 461enthalten: 67

Ja

DIE LINKE

Jan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausDr. Diether DehmHeidrun DittrichWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerDorothee MenznerCornelia MöhringKornelia MöllerNiema MovassatWolfgang NeškovićPetra PauJens PetermannRichard Pitterle

Yvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer (Köln)Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerJohanna VoßSahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerJörn WunderlichSabine Zimmermann

Nein

CDU/CSU

Ilse AignerPeter AltmaierPeter AumerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck

(Reutlingen)Manfred Behrens (Börde)Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen

(Bönstrup)Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander Dobrindt

Thomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer (Göttingen)Dirk Fischer (Hamburg)Axel E. Fischer (Karlsruhe-

Land)Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachDr. Hans-Peter Friedrich

(Hof)Michael FrieserErich G. FritzDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichJürgen HerrmannAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung (Konstanz)Dr. Egon Jüttner

Bartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard KasterVolker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers

(Heidelberg)Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer (Altötting)Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller (Erlangen)Dr. Philipp MurmannBernd Neumann (Bremen)Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz Obermeier

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13419

Vizepräsident Eduard Oswald

(A) (C)

(D)(B)

Eduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche (Potsdam)Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht (Weiden)Anita Schäfer (Saalstadt)Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt (Fürth)Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön (St. Wendel)Bernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerArmin Schuster (Weil am

Rhein)Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl (Heilbronn)Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel (Kleinsaara)Stefanie VogelsangAndrea Astrid Voßhoff

Dr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg (Hamburg)Peter Weiß (Emmendingen)Sabine Weiss (Wesel I)Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-

BeckerDagmar WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli Zylajew

SPD

Ingrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerUwe BeckmeyerLothar Binding (Heidelberg)Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann

(Hildesheim)Edelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneMartin DörmannElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagSigmar GabrielMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf (Rosenheim)Kerstin GrieseMichael GroschekMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus Hagemann

Michael Hartmann (Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)Rolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz (Essen)Frank Hofmann (Volkach)Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe (Leipzig)Fritz Rudolf KörperAnette KrammeNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange (Backnang)Dr. Karl LauterbachBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel (Berlin)Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth (Esslingen)Michael Roth (Heringen)Marlene Rupprecht

(Tuchenbach)Anton SchaafAxel Schäfer (Bochum)Bernd ScheelenMarianne Schieder

(Schwandorf)Werner Schieder (Weiden)Ulla Schmidt (Aachen)Silvia Schmidt (Eisleben)

Carsten Schneider (Erfurt)Ottmar SchreinerSwen Schulz (Spandau)Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützWaltraud Wolff

(Wolmirstedt)Uta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte Zypries

FDP

Jens AckermannChristine Aschenberg-

DugnusDaniel Bahr (Münster)Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannDr. Bijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickePaul K. FriedhoffDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther (Plauen)Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffDr. Werner HoyerHeiner Kamp

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13420 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Vizepräsident Eduard Oswald

(A) (C)

(B)

Michael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberPatrick Kurth (Kyffhäuser)Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-

SchnarrenbergerLars LindemannChristian LindnerDr. Martin Lindner (Berlin)Michael Link (Heilbronn)Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller (Aachen)Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann

(Lausitz)Dirk NiebelHans-Joachim Otto

(Frankfurt)Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-

Damerau

Dr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel

(Lüdenscheid)Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff (Rems-Murr)

Enthalten

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kerstin AndreaeVolker Beck (Köln)

Cornelia BehmBirgitt BenderViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz (Herborn)Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeFritz KuhnStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth (Quedlinburg)Monika LazarTobias Lindner

Nicole MaischAgnes MalczakJerzy MontagKerstin Müller (Köln)Beate Müller-GemmekeIngrid NestleDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann OttLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth (Augsburg)Krista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergChristine ScheelDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtTill SeilerDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-

KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerWolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip Winkler

(D)

Vierte namentliche Abstimmung, Antrag der Fraktionder Sozialdemokraten, „Die Energiewende zukunftsfä-hig gestalten“: abgegebene Stimmen 596. Mit Ja haben

gestimmt 140, mit Nein haben gestimmt 320, Enthaltun-gen 136. Der Antrag ist abgelehnt.

Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 595;davon

ja: 139nein: 320enthalten: 136

Ja

SPD

Ingrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerUwe BeckmeyerLothar Binding (Heidelberg)Gerd BollmannKlaus Brandner

Willi BraseBernhard Brinkmann

(Hildesheim)Edelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneMartin DörmannElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagSigmar GabrielMichael GerdesMartin Gerster

Iris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf (Rosenheim)Kerstin GrieseMichael GroschekMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann

(Wackernheim)Hubertus Heil (Peine)Rolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz (Essen)Frank Hofmann (Volkach)Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver Kaczmarek

Johannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe (Leipzig)Fritz Rudolf KörperAnette KrammeNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerChristine LambrechtChristian Lange (Backnang)Dr. Karl LauterbachBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel (Berlin)Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz Müntefering

Page 77: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17117.pdf · 2020. 6. 12. · Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 III

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13421

Vizepräsident Eduard Oswald

(A) (C)

(D)(B)

Dr. Rolf MützenichAndrea NahlesThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth (Esslingen)Michael Roth (Heringen)Marlene Rupprecht

(Tuchenbach)Anton SchaafAxel Schäfer (Bochum)Bernd ScheelenMarianne Schieder

(Schwandorf)Werner Schieder (Weiden)Ulla Schmidt (Aachen)Silvia Schmidt (Eisleben)Carsten Schneider (Erfurt)Ottmar SchreinerSwen Schulz (Spandau)Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützWaltraud Wolff

(Wolmirstedt)Uta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte Zypries

Nein

CDU/CSU

Ilse AignerPeter AltmaierPeter AumerDorothee BärThomas Bareiß

Norbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck

(Reutlingen)Manfred Behrens (Börde)Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen

(Bönstrup)Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer (Göttingen)Dirk Fischer (Hamburg)Axel E. Fischer (Karlsruhe-

Land)Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachDr. Hans-Peter Friedrich

(Hof)Michael FrieserErich G. FritzDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-Esser

Frank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichJürgen HerrmannAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung (Konstanz)Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard KasterVolker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers

(Heidelberg)Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer (Altötting)Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias Middelberg

Philipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller (Erlangen)Dr. Philipp MurmannBernd Neumann (Bremen)Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche (Potsdam)Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht (Weiden)Anita Schäfer (Saalstadt)Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt (Fürth)Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön (St. Wendel)Bernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerArmin Schuster (Weil am

Rhein)Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin Strenz

Page 78: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17117.pdf · 2020. 6. 12. · Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 III

13422 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Vizepräsident Eduard Oswald

(A) (C)

(D)(B)

Thomas Strobl (Heilbronn)Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel (Kleinsaara)Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg (Hamburg)Peter Weiß (Emmendingen)Sabine Weiss (Wesel I)Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-

BeckerDagmar WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli Zylajew

FDP

Jens AckermannChristine Aschenberg-

DugnusDaniel Bahr (Münster)Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannDr. Bijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickePaul K. FriedhoffDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther (Plauen)Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffDr. Werner HoyerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal Kober

Dr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth (Kyffhäuser)Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-

SchnarrenbergerLars LindemannChristian LindnerDr. Martin Lindner (Berlin)Michael Link (Heilbronn)Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller (Aachen)Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann

(Lausitz)Dirk NiebelHans-Joachim Otto

(Frankfurt)Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-

DamerauDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel

(Lüdenscheid)Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff (Rems-Murr)

Enthalten

DIE LINKE

Jan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun Bluhm

Christine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausDr. Diether DehmHeidrun DittrichWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerDorothee MenznerCornelia MöhringKornelia MöllerNiema MovassatWolfgang NeškovićPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer (Köln)Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerJohanna VoßSahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerJörn WunderlichSabine Zimmermann

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kerstin AndreaeVolker Beck (Köln)

Cornelia BehmBirgitt BenderViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz (Herborn)Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeFritz KuhnStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth (Quedlinburg)Monika LazarTobias LindnerNicole MaischAgnes MalczakJerzy MontagKerstin Müller (Köln)Beate Müller-GemmekeIngrid NestleDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann OttLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth (Augsburg)Krista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergChristine ScheelDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtTill SeilerDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-

KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerWolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip Winkler

Page 79: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17117.pdf · 2020. 6. 12. · Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 III

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13423

Vizepräsident Eduard Oswald

(A) (C)

(D)(B)

– So weit die Bekanntgabe der Ergebnisse der vier na-mentlichen Abstimmungen.

Wir fahren in unserer Debatte fort. Für die sozialde-mokratische Fraktion spricht unser Kollege ManfredZöllmer.

(Beifall bei der SPD)

– Bitte schön, Kollege Zöllmer.

Manfred Zöllmer (SPD):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Forderung, die Verursacher der Krise zur Kasse zu bit-ten, hatte während der Finanzmarktkrise bei allen hierim Bundestag vertretenen Parteien Hochkonjunktur. Seitden Ereignissen von 2007 haben wir hier im Bundestagvielfach über die Aufarbeitung der Finanzkrise disku-tiert. Eine Vielzahl von Gesetzen wurde beschlossen, inDeutschland und ebenso in Europa und in den USA.Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen, aber dieseDebatte gibt eine gute Möglichkeit, ein paar Aspekte nä-her zu beleuchten, zum Beispiel eine Antwort auf fol-gende Frage zu geben: Ist es gelungen, in Deutschlanddie Verursacher der Krise für die Kosten der Krise zurKasse zu bitten? Die Antwort ist einfach; sie lautet Nein.

(Beifall bei der SPD)

Das Versprechen der Kanzlerin, dies zu tun, hat sichals Falschaussage erwiesen. Nun kann man fragen: Wa-rum soll man jemandem glauben, der permanent seineMeinung wechselt und heute dies und morgen das ver-kündet, wie wir es eben erlebt haben? Aus „Die Verursa-cher sollen für die Krise zahlen“ – so wörtlich FrauMerkel – wurde „Die Verursacher sollen für möglichezukünftige Finanzmarktkrisen zahlen“. Dann ging es umdie Bankenabgabe; sie sollte dies leisten. Doch wir ha-ben sie immer noch nicht, und in der ursprünglich vonder Bundesregierung intendierten Form ist es noch nichteinmal eine Versicherungslösung.

Das, was die Bundesregierung bisher vorgelegt hat,ist ein Armutszeugnis.

(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Quatsch!)

Wie lange sollen wir eigentlich noch warten, bis zumin-dest eine Minimalbeteiligung des Bankensektors an zu-künftigen Krisen wirklich auf den Weg gebracht wird?

(Beifall bei der SPD)

Verstecken Sie sich doch nicht hinter dem Bundesrat!Wer alle Änderungsanträge von Sozialdemokraten undBündnis 90/Die Grünen im Ausschuss zu diesem Themaablehnt – es handelt sich um Änderungsanträge, die da-für sorgen sollten, dass die Banken substanziell, alsowirklich Geld in den Rettungsfonds einzahlen –, der darfsich nicht beschweren, wenn der Bundesrat nun tätigwird, um wenigstens die größten Ungerechtigkeiten derVerordnung zu beseitigen.

Der Bundesrat hat mit 16 : 0 Stimmen solche Kom-promissvorschläge auf der Basis der genannten Ände-rungsanträge gemacht. Wir fordern deshalb die Bundes-regierung auf, alle Versuche, die Großbanken zu

schonen, endlich aufzugeben und dafür zu sorgen, dassdie Bankenabgabe Realität wird.

(Beifall bei der SPD)

Wir wissen, dass die Summe, die da in jedem Jahr zu-sammenkommt, nur dann ausreichen wird, wenn dienächste Finanzmarktkrise erst in 100 Jahren kommt.

(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Nächste Woche! Weiß doch jeder!)

– Okay, dann nehmen wir das entsprechend zu Protokoll.

(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Da istwas in Planung! – Nicolette Kressl [SPD]:Höchst kompetent!)

– Ja, es war ein sehr kompetenter Zwischenruf; das kannich nur bestätigen.

Nachdem die Beratungen im Finanzausschuss und imBundestag beendet sind und der ganze Vorgang beimBundesrat liegt, entdecken nun die Linken dieses Themaund fordern, wie wir eben gehört haben, eine neue Ban-kenabgabe einzuführen. Ich kann mich im Übrigen nichtan Änderungsanträge der Fraktion Die Linke im Finanz-ausschuss erinnern. Dort haben sie die Bankenabgabenur abgelehnt. Nun kann man ja sagen, besser zu spät alsnie; aber im Bundesrat haben alle Länder den Kompro-missvorschlägen zur Bankenabgabe zugestimmt, auchdie Länder mit Regierungsbeteiligung der Linken.

(Beifall bei der SPD)

Nun kann man fragen: Was soll dieser Antrag? Wol-len Sie von dieser Zustimmung ablenken, wollen Sie vonder Antisemitismusdebatte ablenken, haben Sie auf derfraktionsinternen Resterampe für Anträge noch einmalnachgeschaut und etwas gefunden, was Sie schon einmalbeiseite gelegt haben, was aber für diese Zwecke immernoch geht?

(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: DieSchallplatte von Frau Wagenknecht ist immerdie gleiche!)

– Ja, das weiß ich. – Liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Linken, seriöse Politik geht nun wirklich anders.

Es gibt ein Instrument, das eine Beteiligung des Fi-nanzsektors insgesamt, nicht nur der Banken, an denKosten der Krisen sicherstellte. Das ist die Finanztrans-aktionsteuer, die Sie auch in Ihrem Antrag fordern. Wersich anschaut, wie die Bundesregierung bisher mit die-sem Thema umgegangen ist, der kommt ins Staunen. Esging nach dem Motto: Rin in die Kartoffeln, raus ausdenselben. In der Regierung ging das dann so, dass sichder Finanzminister gegen den Wirtschaftsminister posi-tionierte und Teile der CDU gegen die FDP agierten;dann wurde es in die Haushaltsplanung übernommenund anschließend wieder aus der Haushaltsplanung her-ausgeschmissen. Vor kurzem hatten wir noch eine De-batte im Bundestag zu diesem Thema. Dies alles istwirklich der Beleg dafür, dass wir es hier nicht mit einerseriösen Regierung, sondern mit einer Chaostruppe zutun haben.

(Beifall bei der SPD)

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13424 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Manfred Zöllmer

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Es gab und gibt viel Widerstand. Aber es ist Bewe-gung in diesem Thema. Dieses Thema ist ein sehr gutesBeispiel für die Aussage, dass Politik das hartnäckigeBohren dicker Bretter ist; das ist wirklich ein ganz di-ckes Brett. Viele Bürgerinnen und Bürger, viele Abge-ordnete auf unterschiedlichen Ebenen, viele zivilgesell-schaftliche Gruppen arbeiten an diesem Thema undfordern die tatsächliche Einführung einer Finanztransak-tionsteuer. Dieser Druck zeigt Wirkung. Wir haben ebengehört, dass es Bewegung in Europa gibt. Wir hoffen,dass diese Bewegung auch in die richtige Richtung geht;dann werden wir es nachdrücklich unterstützen.

Auf der anderen Seite sehen wir, dass die Versuche,die Finanztransaktionsteuer zu diskreditieren, in sich zu-sammenbrechen. Die Riester-Renten-Lüge, also die Be-hauptung, mit dieser Steuer würden die kleinen Riester-Sparer getroffen, ist in sich zusammengefallen. Danngibt es immer die Warnung vor der Abwanderung der Fi-nanzmärkte nach Asien. Herr Kollege Flosbach hat eseben schon angesprochen: In Singapur und in Hongkonggibt es eine Stamp Tax, in Hongkong ist sie sogar so aus-gestaltet, dass sie der Finanztransaktionsteuer sehr nahekommt. Bei den Gesprächen, die wir als Finanzaus-schussmitglieder dort geführt haben, ist deutlich gewor-den, dass der Chef der Börse die Wirkung der Finanz-transaktionsteuer ausdrücklich begrüßt hat. Er hatgesagt, sie habe ein dämpfende Wirkung auf die Finanz-märkte, auch gebe es keine Probleme mit dem High Fre-quency Trading.

Wir fordern deshalb, dass sich die Bundesregierungund die Koalitionsfraktionen ohne Wenn und Aber fürdie Implementierung der Finanztransaktionsteuer einset-zen. Dann hätten wir wirklich eine Beteiligung der Ver-ursacher an den Kosten der Krise. Unsere Unterstützungin dieser Frage haben Sie.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Eduard Oswald:Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP unser

Kollege Dr. Volker Wissing.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dr. Volker Wissing (FDP):Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-

legen! Die Frankfurter Allgemeine Zeitung wirbt be-kanntlich mit dem Slogan: „Dahinter steckt immer einkluger Kopf“. In der fünften Zeile Ihres Antrages zitie-ren Sie die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Trotzdemsteckt hinter Ihrem Antrag kein kluger Kopf.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie fordern, dass wir die Verursacher der Krise zur Ver-antwortung ziehen. Das tun wir auch. Es laufen vor denGerichten in aller Welt zahllose Verfahren mit dem Ziel,Verantwortlichkeiten zu klären und Schuldfragen zu be-antworten. Wo Schuld festzustellen ist, werden die Ver-antwortlichen auch verurteilt. Das hat in Ihrem Antragkeine Berücksichtigung gefunden, weil Sie sich mit der

Gewaltenteilung schwertun. Sie tun sich auch mit demRechtsstaat schwer. Das haben Sie, Frau Wagenknecht,anschaulich demonstriert: Sie haben hier die Meinungvertreten, dass man, wenn eine Bank riskante Papiere aneine andere Bank verkauft und sich bei der Bank, die siegekauft hat, ein Risiko ereignet, den Verkäufer staatlichbestrafen müsse; das war Ihre Vorstellung.

(Sahra Wagenknecht [DIE LINKE]: Das pas-siert gerade in den USA!)

Das ist in einer mitteleuropäischen Rechtskultur nichtmöglich. Wir haben gewachsene rechtsstaatliche Struk-turen. Damit mögen Sie wenig Erfahrung haben. Viel-leicht haben Sie auch wenig Verständnis dafür. Vielleichthaben Sie auch keine Zuneigung zu unserem Rechts-staat. Ich sage Ihnen: Wir haben diesen Rechtsstaat, undwir werden ihn gegen all Ihre Angriffe verteidigen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Im Interesseder Banken verteidigen!)

Schuldfragen zu klären, ist nicht Aufgabe des Deut-schen Bundestages, sondern der Justiz. Das wollen wirin Deutschland so belassen, und deswegen bekämpfenwir Ihre Politik.

(Harald Koch [DIE LINKE]: Aber der Bun-destag beschließt die Gesetze!)

Schuld lässt sich auch nicht beliebig kollektivieren, son-dern sie muss im Einzelfall nachgewiesen werden. WennSie schreiben, dass weitere milliardenschwere Risikender Banken auf die Bürgerinnen und Bürger abgewälztworden sind, dann sollten Sie in der Lage sein, das kon-kret zu benennen, oder Sie sollten schweigen. Das isteben der Unterschied zwischen Ideologie und Sachpoli-tik. Die eine Seite will polemisieren, die andere will Lö-sungen erarbeiten.

(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Sie pole-misieren lieber!)

Ihr Antrag polemisiert.

Sie kritisieren den Gewinn der Deutschen Bank undführen ihn als Beleg für einen Verstoß gegen die Anwen-dung des Verursacherprinzips bei der Bewältigung derFinanzkrise an. Was für ein Unsinn! Wenn Sie das Verur-sacherprinzip einfordern, dann müssen Sie konkret sa-gen, was die Deutsche Bank verursacht hat. Ein hoherGewinn einer Bank ist noch kein Verstoß gegen die ge-setzlichen Regeln. Ihren Umkehrschluss, dass die Kri-senbewältigung der Bundesregierung falsch sei, weil dieDeutsche Bank Geld verdiene, halte ich für sehr gewagt.Ich glaube, es ist eine Zumutung, wenn man sich so et-was hier im Hohen Hause anhören muss.

Es ist in Deutschland so, dass wegen der Finanz-marktkrise höhere Lasten zu tragen sind; aber das istnicht die Schuld der privaten Banken, sondern dafürträgt der öffentliche Bankensektor die Verantwortung.Dass Sie das immer wieder ignorieren, weil es in IhreIdeologie nicht hineinpasst, macht Ihre Anträge leidernicht klüger.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13425

Dr. Volker Wissing

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Es ist bedenklich, dass Sie bis zum Abwinken aufdem Verursacherprinzip herumreiten. Wenn Sie diesesPrinzip auf die Deutsche Bank anwenden wollen, dannmüssen Sie zuerst einmal sagen, was diese Bank verur-sacht hat. Wenn Sie nicht nachweisen können, dass dieseBank etwas verursacht hat, dann müssen Sie sie von denBankenabgaben konsequenterweise ausnehmen. Daswollen Sie vielleicht; wir wollen das nicht.

Wir sind gemeinsam mit der Bundesregierung einenanderen Weg gegangen. Wir stellen keine wie auch im-mer geartete Schuldfrage in den Vordergrund, und wirmachen die Zahlung der Bankenabgabe nicht von einerVerantwortung für die Krise abhängig, sondern wir wol-len, dass sich der gesamte Bankensektor an künftigenBankenrestrukturierungen beteiligt; denn nach unsererAuffassung ist es nicht die Aufgabe des Steuerzahlers,Bankenrestrukturierungen zu finanzieren. Festzustellenist eine gefahrgeneigte Tätigkeit der Finanzbranche, unddeswegen soll die Finanzbranche auch künftige Restruk-turierungen finanzieren und einen entsprechenden Fondsspeisen.

(Björn Sänger [FDP]: Das ist auch richtig so!)

Dafür sorgen wir, und das ist auch vernünftig. Deswegenunterstützen wir diesen Weg der Bundesregierung aus-drücklich.

Vizepräsident Eduard Oswald:Kollege Dr. Wissing, gestatten Sie eine Zwischen-

frage unserer Kollegin Sahra Wagenknecht?

Dr. Volker Wissing (FDP):Ja, bitte.

Vizepräsident Eduard Oswald:Bitte schön, Frau Kollegin Wagenknecht.

Sahra Wagenknecht (DIE LINKE):Sie haben gerade so eifrig den Rechtsstaat verteidigt.

Ich frage Sie einfach einmal etwas zu einer konkretenPraxis der Deutschen Bank; Sie wollten ja Beispiele hö-ren. Es gibt das sehr interessante und lesenswerte Buchdes amerikanischen Finanzjournalisten Michael Lewis.Er schildert darin unter anderem ein Treffen von einemführenden Investmentbanker der Deutschen Bank miteiner Gruppe von Hedgefonds-Managern. Bei diesemTreffen hat der deutsche Banker die Hedgefonds-Mana-ger überzeugt, gegen die von der Deutschen Bank selbstkonstruierten Papiere zu wetten. Dabei fragte einer derHedgefonds-Manager den Investmentbanker der Deut-schen Bank relativ ungläubig: Wer ist denn eigentlichder Idiot auf der anderen Seite? Wer ist eigentlich so ver-rückt und kauft den Finanzmüll, den Sie dort konstruierthaben? Darauf sagte dieser Banker der Deutschen Bankrelativ kurz und kühl: Düsseldorf, stupid Germans. –Düsseldorf, dumme Deutsche.

Finden Sie solche Geschäftspraktiken rechtsstaatlich?Finden Sie, dass das einfach so laufen gelassen werdenkann? Wir alle wissen: In Düsseldorf saß die IKB, sitztdie WestLB. Das waren die Käufer. Die Lasten trägt der

Steuerzahler. Ist es Ihr Rechtsstaatsverständnis, dass wiralle jetzt diese Last mittragen und bezahlen, während dieDeutsche Bank – mit ähnlichen Praktiken übrigens –wieder fleißig Geld scheffelt?

Dr. Volker Wissing (FDP):Ich habe mir schon gedacht, dass Sie in Ihrer Frage

die Dinge genauso durcheinanderbringen wie vorher inIhrem Redebeitrag. Deshalb wiederhole ich, was ich vor-hin gesagt habe: Es ist nicht Aufgabe des DeutschenBundestages, festzustellen, ob eine Bank gegen beste-hende Gesetze verstoßen hat;

(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Er kann Ge-setze ändern!)

das ist Sache der Justiz. Das haben Sie offenbar immernoch nicht verstanden; aber es ist so.

Dann haben Sie angesprochen, dass die DeutscheBank gesagt haben soll, dass die Landesbanken, also öf-fentliche Banken – das sind die Banken, die Sie für klü-ger halten –, so dumm gewesen seien, Papiere zu kaufen,die private Banken nicht haben wollten. Daraus ziehenSie merkwürdigerweise den Rückschluss, dass man inDeutschland mehr von diesen öffentlichen Bankenschaffen sollte, bis man nur noch öffentliche Banken hat.Bei Ihnen geht einfach alles durcheinander. Sie versu-chen, die Realität in Ihre Ideologie zu pressen, bringenuns idiotische Anträge, die alles andere als logisch sind,

(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Keine Ant-wort!)

und haben außer irgendwelchen Parolen gegen Bankenkeine einzige Lösung für die Bewältigung der Finanz-marktkrise zu bieten. Weil Sie keine schlüssigen Kon-zepte haben und weil das alles jeglicher Logik entbehrt,schaffen Sie es auch nicht, Ihre Vorstellungen mit einemmodernen Rechtsstaat in Einklang zu bringen. Deswe-gen sage ich Ihnen: Sie sind auf dem Holzweg. Wenndas eine Antwort auf Ihre Frage ist, dann habe ich sie Ih-nen gern gegeben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir können weiterhin feststellen, dass Ihre These, mansolle die Deutsche Bank verstaatlichen, nun wirklich allesandere als eine gute Idee ist. Es war die ungute Verqui-ckung von staatlicher Sicherheit mit einer höheren Risi-kobereitschaft und mangelnder Professionalität des öf-fentlichen Bankensektors – das haben Sie mit Ihrer Fragegerade noch einmal angesprochen –, die dazu geführt hat,dass Landesbanken massiv in die Krise gerutscht sind.Deswegen hat der deutsche Steuerzahler heute ein Pro-blem. Daraus kann man nicht den Rückschluss ziehen– ich sage es Ihnen noch einmal –, dass man mehr Bankenverstaatlichen müsse; denn dann würden Sie das Risikofür den Steuerzahler noch weiter erhöhen. Ich weiß nicht,ob die Linke das irgendwann versteht: Es ist der öffentli-che, nicht der private Bankensektor, der dem deutschenSteuerzahler die Probleme bereitet.

(Sahra Wagenknecht [DIE LINKE]: Die Hypo Real Estate war schon immer staatlich!)

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Dr. Volker Wissing

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Sagen Sie doch bitte nicht immer wieder: Der Weg istdie Bankenverstaatlichung. – Ich weiß nicht, welcheLehren die Linke aus der Finanzmarktkrise gezogen hat;mehr Staatsbanken benötigt Deutschland jedenfallsnicht.

(Beifall des Abg. Björn Sänger [FDP])

Sie sollten sich einmal die Mühe machen, Ihre Politikzu Ende zu denken. Ich finde auch das, was Sie über denBeschluss der französischen Nationalversammlung zur Fi-nanztransaktionsteuer schreiben, nicht besonders logisch.Sie heben den Beschluss des französischen Parlamentshervor und sagen: Weil Frankreich eine Finanztransak-tionsteuer vorschlägt, muss man sie jetzt flächendeckendeinführen. – Sie sollten der Entscheidung des französi-schen Parlaments einmal die Entscheidungen all der an-deren Parlamente gegenüberstellen, die nämlich keineBeschlüsse hinsichtlich der Finanztransaktionsteuer ge-fasst haben. Wenn Sie das tun, dann ergibt sich weltweitein eindeutiges Meinungsbild.

Wir haben die Diskussion auf der Ebene der G 20 undauf anderen Ebenen immer wieder geführt. Es ist im Üb-rigen, Herr Kollege Zöllmer, ein Märchen – das erzählenSie hier immer wieder, aber es bleibt ein Märchen –,dass sich die Bundesregierung international nicht füreine Finanztransaktionsteuer einsetzt. Das Gegenteil istrichtig.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie tun es nicht!)

Die Bundesregierung, insbesondere der Bundesfinanz-minister, setzt sich auf europäischer Ebene für eineFinanztransaktionsteuer ein. Wir als Koalitionsfraktio-nen haben dem Bundesfinanzminister dafür auch grünesLicht gegeben. Aber wir haben eines immer klar gesagt:Wir wollen keine Finanztransaktionsteuer, die denFinanzplatz Deutschland schwächt und andere Finanz-plätze stärkt.

Wir machen im Deutschen Bundestag keine Finanz-politik für den Finanzstandort Großbritannien, sondernwir machen Finanzpolitik für unseren Standort. WennGroßbritannien nicht bereit ist, in Europa gemeinsameine Finanztransaktionsteuer einzuführen, dann haltenwir es aus deutschem Interesse nicht für vertretbar, einesolche Steuer hier einzuführen. Sie können dieses Mär-chen bei der nächsten Debatte wieder erzählen und sa-gen, in Deutschland werde das alles blockiert; dadurchwird es immer noch nicht wahr.

(Nicolette Kressl [SPD]: Wer ist „wir“?)

– „Wir“, das ist die Koalition, Frau Kollegin Kressl.

(Nicolette Kressl [SPD]: Da hat man etwas an-deres gehört!)

Wenn Sie die Beschlüsse, die wir hier gemeinsam ge-fasst haben, nachgelesen hätten, dann wüssten Sie, dassdem so ist.

Wir haben eine klare Haltung in dieser Frage. DieFDP jedenfalls macht eine Finanztransaktionsteuer ohneUK nicht mit, weil wir nicht bereit sind, unsere Finanz-standorte zu opfern und andere zu fördern. Wir machen

im Deutschen Bundestag immer noch Politik fürs deut-sche Volk.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Eduard Oswald:Nächster Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die

Grünen ist unser Kollege Dr. Gerhard Schick. Bitteschön, Kollege Dr. Schick.

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Diese Debatte zeigt sehr gut, welche Einschätzungen esbezüglich der Finanzkrise gibt. Da hören wir als Erstesvon Herrn Flosbach, dass in Deutschland eigentlich allesganz toll gelaufen ist. Dabei werden die Lasten für dieBürgerinnen und Bürger völlig verharmlost.

Die Fakten zeigen da leider etwas anderes. Der FiscalMonitor des Internationalen Währungsfonds vom April2011 zeigt auf, dass Deutschland nach Irland und nochvor den USA das Land ist, welches – im Verhältnis zurGrößenordnung der Wirtschaftsleistung und auch in ab-soluten Größen – am stärksten von dieser Finanzkrisebetroffen ist. Ich finde, es geht einfach nicht, das zu ver-harmlosen und so zu tun, als gebe es hier keine Last.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]:Das ist falsch, was Sie sagen! Sie nennen keinekonkreten Zahlen!)

– Die Zahlen: Für Deutschland 10,7 Prozent des Brutto-inlandsprodukts, so sagt der IWF, und in den USA sindes 3,4 Prozent. Die genauen Zahlen für die anderen Län-der können wir im Ausschuss im Detail gerne durchge-hen.

Weiterhin geht es nicht an, die durch die Finanzkriseoffengelegten Geschäftspraktiken von Großbanken, diebis zu Betrug, Untreue und anderen strafrechtlich rele-vanten Delikten reichen, zu übersehen.

(Joachim Poß [SPD]: Darüber wurde nicht ge-sprochen!)

Da kann man doch nicht sagen, das sei nur ein Justizpro-blem. Vielmehr braucht eine soziale Marktwirtschaft im-mer auch ein ethisches Fundament.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Wenn sich die Politik einer Bewertung dessen enthält,was auf den Märkten passiert, dann können wir als Ge-setzgeber doch einpacken.

In den USA ist es nicht so, dass nur die Justiz daraufeingehen würde. Es gibt auch einen Bericht des US-Senats, der die Rolle der Großbanken sehr genau be-trachtet. Ich finde, auch in Deutschland sollte man ent-sprechend reagieren und untersuchen, was wir zu einerVerbesserung unseres Finanzsystems beitragen können.

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Dr. Gerhard Schick

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Die CDU/CSU-Fraktion hat gestern eine Jubelrunde inForm einer Finanzmarktkonferenz veranstaltet.

(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sehr gute Veranstaltung! Sie waren sogar eingeladen!)

Ich halte es für notwendiger, kritisch an die Sache heran-zugehen, anstatt sie zu verharmlosen.

Ganz konkret: Weil wir davon ausgehen müssen, dasses gerade in Deutschland aufgrund der Finanzkrise sehrhohe Kosten gibt, muss die Frage beantwortet werden:Wer trägt die Kosten dieser Krise? Ich kenne aus der Ko-alition keine Antwort auf diese Frage. Deswegen be-fürchten wir – gemeinsam mit vielen Menschen in die-sem Lande –, dass das wieder am unteren Ende derEinkommensskala in Deutschland passiert, und zwar so,wie Sie schon die Kosten für die Wiedervereinigungfinanziert haben, nämlich über höhere Staatsverschul-dung und durch steigende Sozialversicherungsabgaben.

(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Und stei-gende Steuern!)

Das würde die kleinen Leute treffen. Deshalb soll es dasnicht geben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

Es gibt einen Vorschlag, wer die Kosten dieser Krisetragen soll. Er kommt von der Linkspartei. Leider müs-sen wir sagen: Dieser Vorschlag funktioniert nicht. Esgeht verfassungsrechtlich nicht, den Haushalt mit einerSonderabgabe aufzufüllen. In einem Gutachten des Wis-senschaftlichen Dienstes vom März 2010 steht, dass dieAbgabe nicht dem allgemeinen Haushalt zur Gesamt-deckung zur Verfügung stehen kann. Das gilt genausofür die Verluste des Haushalts bei vergangenen Unter-stützungsleistungen. In der juristischen Literatur wirddas Thema auf diese Weise bewertet. Der Vorschlag derLinken wird also nicht funktionieren. Deshalb solltenwir uns mit den Vorschlägen beschäftigen, die funktio-nieren. Ich kann mich der Kritik des Kollegen Zöllmernur anschließen: Bei den Beratungen zur Bankenabgabehätte die Linkspartei Änderungsvorschläge einbringenkönnen, um das Ganze anders auszugestalten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wie lautet unsere Antwort auf die Frage, wie die Kos-ten der Krise bewältigt werden können? Sie lautet: Ver-mögensabgabe. Wir sagen: Die Kosten dieser Finanz-krise sollen mit einer einmaligen Abgabe auf großeVermögen – netto über 1 Million Euro pro Person – ab-getragen werden. Denn die Schuldenlast ist zu hoch undgefährdet die Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesens.Wir wollen nicht, dass die kleinen Leute, die am wenigs-ten von dem Boom vor der Finanzkrise profitiert haben,diese Last tragen sollen. Wir geben eine ehrliche Ant-wort auf die Frage, wer die Kosten dieser Krise tragensoll. Geben auch Sie endlich diese Antwort!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der zweite Teil des Antrags, über den wir heute dis-kutieren, bezieht sich auf die Finanztransaktionsteuer.Die Entwicklung bei diesem Thema ist spannend: Seltenhaben Initiativen aus der Bevölkerung, aus der Zivilge-sellschaft so schnell den Weg in die Parlamente und dieGesetzgebung gefunden. Es ist teilweise atemberaubend,wie die schlechten Argumente gegen die Steuer nachund nach wegkippen. Zuletzt ist auf der Reise einer De-legation des Finanzausschusses nach China deutlich ge-worden: Man kann nicht einfach sagen, dass diese Steueraufgrund des Wettbewerbs mit den asiatischen Börsen-plätzen für uns gefährlich sein könnte. Nein, dort gibt esbereits Steuern, die dem ähneln, was wir hier vorschla-gen.

Jetzt ist eine neue Situation eingetreten: Die EU-Kommission hat im Rahmen der Planungen für dienächsten Jahre vorgeschlagen, zur Finanzierung des eu-ropäischen Haushaltes eine solche Steuer zu realisieren.Jetzt kommt es darauf an, wie sich die Bundesregierungund der Deutsche Bundestag zu diesem Vorschlag ver-halten. Wer für eine Finanztransaktionsteuer ist, mussjetzt die Europäische Kommission unterstützen und da-für sorgen, dass dieser Vorschlag ein Erfolg wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dann geht es eben nicht mehr, darauf zu verweisen,dass London vielleicht nicht mitmacht; es ist ein Vor-schlag der Europäischen Kommission für die gesamteEuropäische Union. Deswegen wollen wir von Bundes-außenminister Westerwelle keine Absage zu diesem Vor-schlag mehr hören; wir wollen hier auch nicht hören,man sei irgendwie doch für eine Finanztransaktionsteuer.Es braucht jetzt ein klares Ja aus Deutschland zu diesemVorschlag der Europäischen Kommission.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Daneben müssen wir die Frage stellen: Was ist jetzt fürdie Finanzmärkte das Wichtigste? Da wurde vom Kolle-gen Flosbach lange darüber diskutiert, wer alles schuldgewesen sein könnte. Da wird häufig Nebel verbreitet, in-dem gesagt wird, alles sei superkomplex. Ich finde, es istnotwendig, dass wir uns der Prioritäten bewusst sind undschauen, was die wichtigsten Aspekte sind, die wir ange-hen müssen, um unsere Banken stabiler zu machen, damiteine solche Krise nicht mehr eintritt. Es gibt viele Punkte;aber ein wichtiger Punkt ist – das zeigt auch die Wissen-schaft immer deutlicher –: Wir müssen unsere Bankenmit mehr Eigenkapital ausstatten,

(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Genau das machen wir!)

und zwar nicht nur risikogewichtet. Vielmehr brauchenwir eine Schuldenbremse für Banken.

Man muss sich das einmal vorstellen: Bevor eineBank einem Unternehmen Geld leiht, will sie eine ent-sprechende Eigenkapitalquote sehen; sie will, dass die-ses Unternehmen stabil wirtschaftet. Wenn es aber umdie Bank selber geht, meint man, man könne auch weni-ger als 3,3 Prozent eigenes Kapital haben, um seineGeschäfte zu finanzieren. Ich halte es für keine seriöse

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Dr. Gerhard Schick

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Geschäftspolitik, wenn Banken eine so geringe Eigenka-pitalquote aufweisen. Ich glaube, wir müssen hier ver-stärkt einen Schwerpunkt setzen: Unsere Banken müssengut mit Eigenkapital ausgestattet sein.

Ich fordere die Bundesregierung auf, an dieser Stelleendlich von der Bremse zu gehen und sich in Brüsselnicht für eine Verwässerung, sondern für eine Verschär-fung der Bankenregulierung einzusetzen und das zen-trale Instrument einer Schuldenbremse für Banken end-lich aktiv voranzutreiben, damit eine solche Krise nichtnoch einmal eintritt. Tun Sie etwas in diese Richtung!

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Kollege Dr. Schick. – Nächster Redner

für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege HansMichelbach. Bitte schön, Kollege Michelbach.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Nach der Finanzmarktkrise im Herbst 2008haben wir alle Anstrengungen unternommen, um unsereFinanzmärkte besser und sicherer zu gestalten. Deutsch-land hat diese globale Krise schneller und erfolgreicherüberwunden als erwartet. Wir erhalten für unsere Krisen-bewältigung international hohe Anerkennung und Zu-stimmung. Das ist ein Fakt.

In diesem Sinne war gestern ein guter Tag für dieFinanzmärkte, einerseits, weil das griechische ParlamentVerantwortung gezeigt und das Sparpaket beschlossenhat, andererseits, weil unsere Fraktion alle für den Fi-nanzmarkt wesentlich Verantwortlichen in unserem Saalversammeln konnte, um dort über die Schwerpunkte derFinanzmarktregulierung zu debattieren. Das war ein gu-ter Tag für unsere Finanzmärkte.

Ich bin sehr dankbar dafür, dass die Vorstände unserergroßen systemischen Banken auf dieser Veranstaltungerstmals deutlich erklärt haben, dass sie bereit sind, hin-sichtlich der Staatsanleihen Verantwortung zu überneh-men, und eine Gläubigerbeteiligung in Aussicht gestellthaben. Es ist wichtig, dass Verantwortung übernommenwird; denn das Wichtigste ist, dass neues Vertrauen ge-schaffen wird.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Es muss klar sein, dass sich diese Koalition bei derKrisenbewältigung von niemandem übertreffen lässt,schon gar nicht von der Opposition. Der wirtschaftlicheAufschwung ist gelungen. Natürlich braucht man für ei-nen wirtschaftlichen Aufschwung und die Schaffungneuer Arbeitsplätze private Banken, die bereit sind, Risi-ken zu übernehmen. Dies ist die Grundlage unserer so-zialen Marktwirtschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne-ten der FDP)

Dieser wirtschaftliche Aufschwung ist unser Auf-schwung. Ich weiß, dass dies der Opposition nicht ge-fällt. Deshalb stellen Sie wöchentlich neue Schaufenster-anträge, die viel Populismus enthalten und in denen Sieden Teufel an die Wand malen und Verunsicherung ver-breiten. Sie erfinden neue Abkassiermodelle und propa-gieren – das hat heute insbesondere Frau Wagenknechtgetan – Ihre Feindbilder. Wir brauchen aber keine Feind-bilder. Wir brauchen zusätzliche Investitionen und neueArbeitsplätze. Wir haben uns vorgenommen: über1 Million weniger Arbeitslose in Deutschland. Das ist,was letzten Endes zählt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Wir wollen den Finanzmarkt solider und widerstands-fähiger machen und alle Produkte und Marktteilnehmerstrikt regulieren. Das muss das Hauptziel sein. Wir ver-harmlosen nichts. Wir setzen vielmehr ethische Maß-stäbe. Bei der Finanzmarktregulierung haben wir es na-türlich – das muss man sehen – mit einer wichtigen undauch schwierigen Abwägung zu tun. Es geht um erfolg-versprechende Regeln zwischen Staat und Markt. DieseAufgabe gehen wir sehr verantwortungsbewusst an. Esgeht aber auch um Wohlstand und Zukunftschancen. Dasgehört zusammen; das kann man in einer freien sozialenMarktwirtschaft nicht voneinander trennen.

Von den Grünen wird mit der Vermögensabgabe einAbkassiermodell als Patentrezept in den Raum gestellt.Man muss sich doch einmal fragen, ob das internationalKonsens ist. Es ist doch völlig falsch, sich auf nationalerEbene ständig neue Steuern einfallen zu lassen, die inter-national umgangen werden können. Letzten Endes ha-ben Sie dann nur Ihre Feindbilder propagiert. Das istdoch der Punkt. Das dient der Allgemeinheit nicht. Dasbringt keine neuen Investitionen und schafft keine neuenArbeitsplätze. Deswegen sage ich: Lassen Sie dieseSpielchen. Lassen Sie diese Abkassiermodelle auf natio-naler Ebene.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Schlimm ist, dass die Opposition die deutschen Ban-ken dafür geißelt, dass sie wieder Gewinne erwirtschaf-ten. Diese Gewinne sollen, so die Opposition, möglichstschnell wegbesteuert werden. Das ist Ihre Philosophie.Das ist aber nicht unsere Philosophie, weil es hinsicht-lich Investitionen und Arbeitsplätzen absolut kontrapro-duktiv ist. Das dient unserer Wirtschaft und dem Stand-ort Deutschland nicht. Das würde der Gesundung desFinanzmarktes und der Umsetzung einer höheren Eigen-kapitalquote, die Basel III vorsieht, entgegenstehen. Dasist der Punkt: Wir müssen den Banken gönnen, dass sieGewinne erwirtschaften. Dann können sie eine hohe Si-cherheit durch eine angemessene Eigenkapitalquote ge-währleisten.

Die zentrale Lehre aus der Finanzmarktkrise musssein, dass wir vor allem eine stärkere und effizientereRegulierung der Finanzmärkte brauchen. Wir brauchenklare Restrukturierungsverfahren in Europa, mehrRechte der BaFin, eine klare Finanzaufsicht in der EU

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Dr. h. c. Hans Michelbach

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sowie Transparenz und Sicherheit. In diesem Zusam-menhang muss natürlich auch neues Vertrauen entste-hen. Es zerstört sicher die gesellschaftliche Akzeptanzunserer Marktwirtschaft, wenn die Gewinne privatisiertwerden und die Verluste auf Dauer der Steuerzahler tra-gen soll. Aber dem haben wir einen Riegel vorgescho-ben.

Bei unseren Entscheidungen geht es nicht um kosme-tische Reparaturen, sondern wir haben ganz konkreteMaßnahmen getroffen. Das Restrukturierungsgesetz, dieEigenkapitalunterlegung im Rahmen von Basel III, dieRegelungen zu den Leerverkäufen und die Regelungzum Rating – all das sind wesentliche Schritte in dierichtige Richtung. Wir müssen deutlich machen, dasswir bei der Bankenabgabe eine gute Abwägung getrof-fen haben. Wir haben sie hier im Deutschen Bundestagbeschlossen. In der nächsten Woche werden wir zusam-men mit dem Bundesrat eine Lösung finden, damit sieauch dort beschlossen wird. Dann haben wir auch aufdiesem Gebiet einen wesentlichen Schritt getan.

Ich glaube, wir müssen uns auch mit der möglichenEinführung einer Finanztransaktionsteuer offensiv aus-einandersetzen. Zuerst muss man sich aber fragen, wel-che Lenkungswirkung solch eine Steuer haben kann.Ohne zu wissen, wie sich diese neue Steuer auswirkenwürde, kann man sie nicht verantwortungsbewusst be-schließen. Wir dürfen zum Schluss nicht die Situationhaben, dass nur der Bankkunde oder der Verbraucher aufnationaler Ebene sie zahlt. Das muss international abge-stimmt sein; hier muss eine internationale Lösung gefun-den werden. Denn es kann nicht so sein, dass der Bank-kunde vor Ort, der nicht die Möglichkeit hat,internationale Bankgeschäfte zu tätigen, am Ende derDumme ist.

Es ist ganz wichtig, dass wir dem Kommissar, der imFinanzausschuss war, Glauben schenken. Er hat deutlichgesagt: Es ist unverantwortlich, eine Bewertung vorzu-nehmen, wenn keine unvoreingenommene Prüfung hin-sichtlich einer positiven Lenkungsfunktion durch dieEU-Kommission vorliegt. Warten wir ab, bis es konkreteErgebnisse gibt.

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Sie haben es doch gehört! InShanghai und Hongkong wird das realisiert!)

Dann können wir eine klare Entscheidung treffen. Esgeht um sachliche Bewertungen, um Lenkungswirkun-gen,

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ja, das machen wir doch!)

um eine seriöse Entscheidung und um verantwortlichePolitik.

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Sie müssen auch einmal Ja sa-gen!)

Es geht aber nicht um ideologische Feindbilder und Ent-schließungen, die Sie immer wieder mit diesen Abkas-siermodellen hier vortragen.

Ich glaube, die Bürgerinnen und Bürger haben ver-standen, dass wir die Dinge gut abwägen und vernünftigvoranbringen. Es geht darum, auch den wirtschaftlichenErfolg, den Erfolg für unseren Wirtschaftsstandort, denErfolg für die Arbeitsplätze, den Erfolg für die Investi-tionen in Verbindung mit der privaten Finanzwirtschaftsicherzustellen. Das gelingt immer besser. Darauf kön-nen wir gemeinsam stolz sein.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Herr Kollege. – Jetzt spricht für die

Fraktion der Sozialdemokraten unser KollegeDr. Carsten Sieling. Bitte schön, Kollege Sieling.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Carsten Sieling (SPD):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das

ist heute wieder eine ganz „große“ Debatte über Banken-regulierung, Konsequenzen aus der Finanzmarktkriseusw. Ab und zu wird man von Bürgerinnen und Bürgerndarauf angesprochen, dass der Deutsche Bundestagmanchmal wie ein Raumschiff wirkt. Leider bestätigenDebatten wie diese das deutlich. Ich muss das auch inRichtung der Koalition sagen.

Sie haben gestern angefangen, das Raumschiff mitCaptain Kirk, Mr. Spock und allen möglichen anderen zubesetzen. Mit Ihrer großartig inszenierten Konferenz ha-ben Sie versucht, das alles, was Sie bisher nicht geleistethaben, als Erfolg darzustellen. Das war schon gestern lä-cherlich. Man lädt einen Herrn Ackermann ein. Von demlässt man sich ein bisschen kritisieren, um seine eigenenMaßnahmen gut darstellen zu können. So macht mandas. Die Debatte heute zeigt, dass Sie völlig abgehobensind. Sie haben bisher nichts richtig Wirksames auf denWeg gebracht. Die Verursacher werden nicht herangezo-gen.

(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Dann sa-gen Sie mal konkret, wie Sie die Verursacherheranziehen wollen! Konkret werden! NichtGemeinplätze!)

Dabei haben wir doch die Gefahren der Krise nochlange, lange nicht abgewehrt. Das ist eine Tatsache. Da-rum entgleist diese Debatte hier und heute auch.

(Beifall bei der SPD – Dr. h. c. HansMichelbach [CDU/CSU]: Sagen Sie mal, wasSie machen wollen!)

– Ich sage es Ihnen auch konkret. Sie reden hier schönund machen woanders die Dinge schlecht. Darf ich Ih-nen ein ganz aktuelles Beispiel nennen? In schwierigenBeratungen – immerhin unter tätiger Mithilfe der Bun-desregierung – wurde erreicht, eine Lösung für dieWestLB zu finden. Was machen die Vertreter von FDPund CDU heute im Landtag von Nordrhein-Westfalen?Sie stimmen dagegen.

(Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Und die Linke!)

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Dr. Carsten Sieling

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– Wenn Sie sich in dieser Frage mit der Linken in einBoot setzen, ist das eher Ihr als unser Problem.

(Beifall bei der SPD – Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Das gehört zur Wahrheit! Ihre Koali-tion!)

Ich finde es unverantwortlich, was Sie an dieser Stellemachen.

(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Jetzt be-schimpfen Sie Ihren Koalitionspartner!)

– Die Aufregung in Ihren Reihen spricht Bände. Dazumuss ich gar nichts mehr sagen.

(Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Wir sind für Neuwahlen!)

Sie sind in der Verantwortung, jetzt zu zeigen, wie Siedas vom Eis bekommen wollen.

(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Nein,Sie lösen das Problem WestLB in Nordrhein-Westfalen nicht, obwohl Sie dort regieren,Herr Sieling! Das sind doch die Fakten!)

Genauso verhält es sich mit Ihrer sogenannten Ban-kenabgabe. Herr Michelbach bläst hier einen Ballon auf,indem er sagt, es gebe Leute, die den Banken ihre Ge-winne neiden. Nein, nein, ganz und gar nicht. Nur ist esso: Die Gewinne der Banken von heute sind die Folgeder Bankenrettung von 2008, die im Übrigen unter derRegie von Peer Steinbrück stattfand. Darum machen dieBanken heute wieder Gewinne. Wir sagen: Auch siemüssen wirksam zur Finanzierung der Lasten herange-zogen werden. Das darf nicht weiter dem Steuerzahleraufgebürdet werden. Auch darum geht es an dieserStelle.

(Beifall bei der SPD – Klaus-Peter Flosbach[CDU/CSU]: Werden Sie doch mal konkret,Herr Kollege!)

– Ich bin konkret, Herr Kollege. Ich bin deshalb konkret,weil die Bankenabgabe, die Sie vorschlagen, in keinerWeise diesem Ziel entspricht. Sie entspricht nicht Ihremselbstgesetzten Ziel; denn Sie sagen, das sei eine Versi-cherungslösung für die Zukunft. Wahrscheinlich gilt sie– das wissen Sie auch – im Hinblick auf das Jahr 2098.Sie brauchen für diesen Fonds 70 Milliarden Euro. Indiesem Jahr werden Sie, wenn Sie es überhaupt noch aufdie Reihe bekommen, vielleicht 600 Millionen Euro er-reichen. Ihr selbst gesetztes Ziel erreichen Sie nicht.Das, was Sie an dieser Stelle vorschlagen, ist keine Be-teiligung des Finanzsektors an den Lasten der Krise.

(Dr. Daniel Volk [FDP]: Was schlagen Sie denn vor?)

– Wir haben Gott sei Dank über den Bundesrat zumin-dest einige Initiativen zur Verbesserung angeregt. DieseInitiativen haben wir als sozialdemokratische Fraktion– das gilt auch für die anderen Oppositionsfraktionen;die Grünen gehen auf jeden Fall in die gleiche Richtung– auch in den Deutschen Bundestag eingebracht. Das ha-ben wir getan, um die geplante Bankenabgabe wenigs-tens ein wenig wirksamer zu machen und zu verhindern,

dass sie angesichts der unzureichenden Heranziehungder Gewinne eine Großbankenverschonungsregelungwird.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb haben wir einen Satz von 25 Prozent vorge-schlagen.

(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Wirschlagen 15 vor, Sie schlagen 20 vor! Das istsuper!)

Der Bundesrat bzw. die Finanzminister haben sich zu-mindest schon auf 18 Prozent hochbewegt. Das ist einSchritt in die richtige Richtung.

Wir haben Vorschläge gemacht. Auch diese haben dieFinanzminister im Bundesrat einstimmig beschlossen.Dabei ging es darum, im Bereich der Sparkassen undGenossenschaftsbanken eine Entlastung zu erreichen.Derivate und anderes sollten stärker herangezogen wer-den. Das ist – besonders weil die FDP da Gott sei Danknicht viel mitzureden hat, in Hessen aber schon – einProblem insbesondere der CDU. Denn HerrFahrenschon von der CSU und Carsten Kühl, der Fi-nanzminister von Rheinland-Pfalz, haben diesen Kom-promiss ausgehandelt.

Ihre Leute im Bundesrat haben da wieder blockiert.Das führte dazu, dass selbst diese lächerlich kleine Ban-kenabgabe bislang nicht eingeführt werden konnte. Siemüssen sich bewegen, meine Damen und Herren. Wirhelfen Ihnen selbst bei dieser kleinen Nummer.

(Beifall bei der SPD)

Erstens machen Sie also bei der WestLB das kaputt,was Sie vorher aufgebaut haben. Zweitens machen Sieaus der Bankenabgabe nichts Ordentliches. Drittens las-sen Sie – wir haben dazu gerade schon den Chefblockie-rer Wissing von der FDP gehört – auch bei der Finanz-transaktionsteuer alle im Regen stehen. Merken Sieeigentlich nicht, dass Sie in dieser Frage in Europa dieletzten Mohikaner sind?

(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das stimmt doch überhaupt nicht!)

– Natürlich sind Sie die letzten Mohikaner. – HerrWissing hat die Bundesregierung bzw. Herrn Schäublescheinheilig gelobt. Gleichzeitig hat man aber gesagt:Wir stimmen nicht zu. – Vor einigen Tagen haben wirüber einen Antrag zur Einführung einer Finanztransak-tionsteuer diskutiert. Sie, Herr Michelbach, haben ihn ei-nen Schaufensterantrag genannt. Ihre Leute im französi-schen Parlament, die UMP, haben dem Inhalt diesesAntrags mittlerweile zugestimmt. Die Fraktion vonHerrn Sarkozy unterstützt dieses Anliegen, weil sieweiß, dass dies keine Schaufensterangelegenheit ist.

(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Da geht es aber um die internationale Ebene!)

Wie weit sind wir bis jetzt? Selbst Berlusconi in Ita-lien – mit dem Sie sehr viel zu tun haben, wir überhauptnichts – spricht sich inzwischen für eine Finanztransak-tionsteuer aus.

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Dr. Carsten Sieling

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(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Auf internationaler Ebene!)

Barroso und die EU-Kommission sind schon genanntworden.

(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Aber international!)

Der Zug fährt, und alle marschieren voran. Aber CDUund CSU lassen sich von der FDP am Nasenring durchden Deutschen Bundestag ziehen und bekommen esnicht hin, dieses wirklich wirkungsvolle Mittel auf denWeg zu bringen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Zum Schluss möchte ich die nachfolgenden Rednerbitten, nicht wieder das Märchen zu erzählen, wir seiender Auffassung, dass man damit alle Finanzkrisen dieserWelt, so auch die letzte, hätte verhindern können. Natür-lich nicht!

(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Welch eine Erkenntnis!)

Das sagt niemand. Die Finanztransaktionsteuer ist einElement, das dazu beitragen kann, dass die Blase an denMärkten ein bisschen schrumpft. Außerdem kann sie da-für sorgen, dass Geld, das wir dringend benötigen, umSteuergelder zu schonen, in die öffentlichen Haushaltefließt und dass die Schuldigen an der Finanzierung derFolgen dieser Krise beteiligt werden. Darum geht es.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Frak-

tion der FDP unser Kollege Björn Sänger. Bitte schön,Kollege Björn Sänger.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Björn Sänger (FDP):Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Der vorliegende Antrag zeigt eines ganz deutlich:dass es sehr schwierig ist, aus einem guten Tee mit ei-nem zweiten Aufguss noch ein schmackhaftes Getränkzu machen.

(Harald Koch [DIE LINKE]: Probieren Sie es mal!)

Bei schlechtem Tee und mehrfachem Aufguss wird esschier unerträglich. Nichts anderes ist Ihr Antrag. Erwurde aus – gefühlt – mindestens fünf Anträgen, die unsbisher von den Linken zu diesem Thema und ähnlichenThemen vorgelegt wurden, schnell zusammengeschus-tert. Dies zeigt eines ganz deutlich: dass Copy and Pastenichts bringt, wenn man von der Sache nichts versteht.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Achtung! Ichkomme gleich nach Ihnen dran! – Sahra

Wagenknecht [DIE LINKE]: Das sagen ausge-rechnet Sie!)

– Ich weiß, Herr Kollege Troost, Sie kommen nach mir.Dann können Sie darauf eingehen. Ich freue mich schondarauf.

Frau Kollegin Wagenknecht, die Tatsache, dass Siedie drei Seiten Ihres Antrags in einen Zusammenhangmit der sozialen Marktwirtschaft gestellt haben, zeigtauch ganz deutlich, dass Sie von der sozialen Marktwirt-schaft nichts verstehen.

(Sahra Wagenknecht [DIE LINKE]: Oh! Und aus-gerechnet Sie verstehen etwas davon, ja?)

Wie denn auch? Soziale Marktwirtschaft gedeiht in ei-nem Klima der gesellschaftlichen Freiheit. Von Freiheithaben Sie und Ihre Partei nun wirklich keine Ahnung.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das ist in etwa so, als würde der Papst im kommendenSeptember, wenn er von diesem Pult zu uns sprechenwird, eine Grundsatzrede über das Kinderkriegen halten.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP –Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Wie bitte? Dasist ja ein absurder Vergleich! Das sieht meinekatholische Tochter ganz anders!)

Sie möchten die Verursacher der Krise zur Rechen-schaft ziehen. Dabei beschäftigen Sie sich mit der Deut-schen Bank. Das ist legitim. Auch ich bin kein ausgewie-sener Freund der Deutschen Bank. Aber ich stelle fest,dass die Deutsche Bank während der gesamten Krisekeine Staatshilfe in Anspruch genommen hat. Ich stelleallerdings auch fest, dass es sicherlich fragwürdige Prak-tiken, die juristisch aufgearbeitet werden, gegeben hatund gibt.

Ich sage Ihnen: Es gehören immer zwei dazu. Es ge-hört jemand dazu, der jemand anderen über den Tischziehen und ein unsauberes Geschäft abschließen will.Aber es gehören auch Leute dazu, die sich über denTisch ziehen lassen. Damit sind wir bei den Landesban-ken und den Sparkassen, die laut Ihrem Antrag mit derKrise nichts zu tun haben. Die Landesbanken gehörenaber mehrheitlich den Sparkassen, und die Sparkassen-vorstände sitzen in den jeweiligen Verwaltungs- undAufsichtsräten; auch dies gehört zur sozialen Marktwirt-schaft.

Wenn man in einem Aufsichtsgremium sitzt, kannman sich auf zweierlei Weise verhalten: Man kann dastun, was man tun soll, nämlich die Aufsicht führen, oderman kann sich bei Schnittchen Anekdoten über dieKommunalpolitiker, die im Aufsichtsgremium der eige-nen Sparkasse sitzen, erzählen. Möglicherweise ist ander einen oder anderen Stelle die Priorität ein bisschenverschoben worden. Deswegen sind die Landesbankenauch in die jetzige Situation geraten.

Sie schimpfen des Weiteren auf die Großbanken; auchdas ist nichts Neues. Lehman und die IKB waren aberkeine wirklich großen Banken. Sie möchten mithilfe ei-ner neuen Bankenabgabe, der dann durch zukünftigeAnträge eine Bankenabgabe 2.0 bzw. eine Bankenab-

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Björn Sänger

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gabe reloaded folgen werden, eine Prävention für künf-tige Krisen schaffen. Ich weiß nicht, wie das, was Siejetzt planen – mit der Frage der Verfassungsrechtlichkeitwill ich mich schon gar nicht beschäftigen –, funktionie-ren soll. Sie wollen eine Abgabe auf die Bilanzsumme,und zwar unabhängig davon, ob das Institut Gewinnmacht oder nicht. Das kann man machen. Es ist abernicht sinnvoll, wenn man zukünftigen Krisen vorbeugenwill. Ein verantwortlicher Bankmanager muss den Ge-winn verwenden, um Eigenkapital aufzubauen. Eine ver-nünftige Eigenkapitalbasis ist der richtige Ansatz. EineSubstanzbesteuerung – nichts anderes wäre das – führtmit Sicherheit dazu, dass die Banken nicht gut für einenächste Krise gerüstet sind. Deshalb ist die Bankenab-gabe in der Form, wie sie die schwarz-gelbe Bundesre-gierung bzw. die schwarz-gelbe Koalition beschlossenhat, der richtige Ansatz. Denn es wird ein Fonds ge-schaffen, der im Bedarfsfall bei der Restrukturierunghilft.

Es hilft nichts, die Gewinnerzielungsabsicht der Bran-che zu geißeln. Wer soll denn den IndustriestandortDeutschland finanzieren, wenn wir keine großen Bankenund keine Privatbanken mehr haben? Bei allem Respektvor der Leistungsfähigkeit unserer Sparkassen und Ge-nossenschaftsbanken: Diese Banken allein werden diesegroße Aufgabe in unserem Land nicht schultern können.Dafür sind die zu bewegenden Volumina schlichtwegviel zu groß. Diesen Bankensektor zu zerschlagen, be-deutet, die Axt an die Industriearbeitsplätze zu legen, dieuns gut durch die Krise geführt haben. Das werden wirIhnen als Regierungskoalition nicht durchgehen lassen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich fasse zusammen: Was Sie hier vorhaben, ist nichtsanderes als ein Karnevalsumzug durch den Wald, insbe-sondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass das Ka-pital bzw. die Banken relativ scheue Rehe sind. Sie ha-ben schlichtweg – das hat sich sehr deutlich gezeigt –eine vollkommen andere Vorstellung davon, wie dieWirtschaftsordnung in diesem Land gestaltet werdensollte. Ihre Vorstellung von einer Bankenabgabe ist, un-sere Banken ans Ausland abzugeben. Das wollen wirausdrücklich nicht. Deswegen werden wir dem vorlie-genden Antrag nicht zustimmen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Harald Koch [DIE LINKE]: Wir reden vonRaubtierkapitalismus!)

Vizepräsident Eduard Oswald:Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Frak-

tion Die Linke unser Kollege Dr. Axel Troost.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Axel Troost (DIE LINKE):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Kollegin Wagenknecht hat darauf hingewiesen,dass die Staatsverschuldung durch die Bankenkrise, sta-tistisch gesehen, um 300 Milliarden Euro angestiegenist. Daraufhin wurde gesagt: Ja, das ist, statistisch gese-

hen, richtig. In dieser Summe sind aber auch viele Bürg-schaften enthalten. – Herr Kollege Schick hat gesagt,dass die Bankenabgabe nicht rückwirkend, sondern nachvorne ausgerichtet werden muss.

Reden wir doch einmal konkret nach vorne ausgerich-tet darüber, was jetzt passiert. Reden wir doch einmalüber die ehemalige private Hypo Real Estate. Das warein privates Unternehmen, das unter großem Druck ver-staatlicht werden musste. An dieser Bank hängt bzw.schlummert eine Bad Bank in einer Größenordnung von173 Milliarden Euro.

(Zuruf von der LINKEN: Peanuts!)

Das betrifft die Zukunft, wohlgemerkt. Seien wir einmaloptimistisch – ich bin von Natur aus Optimist – und ge-hen davon aus, dass noch 90 Prozent der faulen undschwierigen Papiere – sonst wäre es keine Bad Bank –realisiert werden können. Es bleiben also nur 10 Prozentübrig. 10 Prozent sind 17,3 Milliarden Euro. DieseSumme wird anschließend in vollem Umfang als Staats-verschuldung auf den Bund zukommen. Das ist eineGrößenordnung, mit der man die Kinderversorgungsein-richtungen in der gesamten Bundesrepublik auf einemhohen Niveau finanzieren könnte. Das gilt sowohl fürInvestitionen als auch für die Betreuung.

Da stellt sich in der Tat die Frage: Wer soll das bezah-len? Fließt das stillschweigend Jahr für Jahr in 2-, 3-oder 5-Milliarden-Schritten in den öffentlichen Haushalthinein, oder wollen wir die Verursacher der Krise heran-ziehen?

Ich war gestern auf dem Kongress der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, den ich übrigens besser fand, alsmanche hier behauptet haben. Herr Ackermann hat inder Tat darauf hingewiesen, dass die Deutsche Bank,wenn es sehr schlecht läuft, im Rahmen der jetzt geplan-ten Bankenabgabe mit bis zu 800 Millionen Euro betrof-fen wäre. Er hat darauf hingewiesen, dass das vor Steu-ern 1,5 Milliarden Euro wären. Bei einer solchenSumme bekommt man erst einmal einen Schreck. Wennman aber weiß, dass die Deutsche Bank in diesem Jahreinen Gewinn von 10 Milliarden Euro vor Steuern ma-chen will, dann stellt man fest: Das sind gerade einmal15 Prozent.

(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Dahaben sie schon 3 Milliarden Körperschaft-steuer bezahlt!)

– Nein, wohlgemerkt, aus den 800 Millionen Euro wer-den 1,5 Milliarden Euro vor Steuern.

Ich bin nicht nur Optimist, sondern auch kompromiss-bereit und schlage vor: Stellen wir doch durch eine an-dere Form einer Bankenabgabe sicher, dass die DeutscheBank Jahr für Jahr mindestens 3 Milliarden Euro in ei-nen Fonds einbezahlt. Vor Steuern sind das rund5 Milliarden Euro. Das sind dann 50 Prozent ihres Ge-winns, 50 Prozent sozusagen für die Allgemeinheit, da-mit die Kosten, die durch die Bankenkrise verursachtwurden, abgedeckt werden können, und 50 Prozent, dieman dann, neben der Körperschaftsteuer, an die Aktio-näre ausschütten kann.

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Dr. Axel Troost

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(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie zahlen doch Körperschaftsteuer!)

Das ist die politische Frage, um die es letztlich geht.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. h. c. HansMichelbach [CDU/CSU]: 100 Prozent Besteu-erung!)

Es geht nicht um eine, wie Herr Kollege Wissing ge-sagt hat, juristische Verurteilung. Das Juristische wirdunter anderem in den USA geprüft. Vielmehr geht es da-rum, politisch und ökonomisch die Verantwortung derBanken für diese Krise und die dadurch entstandenenKosten deutlich zu machen. Die Deutsche Bank gehörtnun einmal zu denen, die von der gesamten Deregulie-rung der letzten Jahrzehnte mit Abstand am meisten – essind Dutzende Milliarden – profitiert hat. Deswegen sindwir der Meinung, dass hier Veränderungen stattfindenmüssen. Mit einer anderen Form einer Bankenabgabekönnte endlich realisiert werden, dass die privaten Ban-ken – und in erheblichem Maße die Deutsche Bank – indie Finanzierung eingebunden werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Lassen Sie mich zum Schluss auf die Finanztransak-tionsteuer eingehen. In der Tat ist zwischen gestern undheute einiges passiert, sowohl was Italien – man will an-geblich sofort, noch für 2012 wirksam, eine Börsenum-satzsteuer oder eine Finanztransaktionsteuer einführen –als auch was den Vorschlag von Barroso angeht. Ichfinde, wir müssen dieses Thema verfolgen und von die-ser Stelle aus unterstützen.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist

der Kollege Dr. Frank Steffel.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Frank Steffel (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber HerrSänger, auch wenn ich Ihren Vergleich zwischen demPapst und dem Kinderkriegen und Frau Wagenknechtund der Marktwirtschaft nicht ganz verstanden habe, istmeine Präferenz klar: Mir ist lieber, der Papst sagt etwaszum Kinderkriegen als Frau Wagenknecht zur Markt-wirtschaft.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Ich interpretiere das einmal in diese Richtung.

Der Kollege Zöllmer von der SPD hat sich sehr zu-treffend zum Thema „Motive der Linken für diesen An-trag“ geäußert. Insofern muss ich das nicht noch einmalwiederholen. Zur Sache selbst haben meine KollegenFlosbach und Michelbach viel Richtiges und auch dasNotwendige gesagt.

Weil die Debatte immer etwas verkürzt geführt wirdund daher in die falsche Richtung läuft, möchte ich ausSicht von CDU/CSU klar sagen: Wir setzen uns für eineBankenabgabe ein. Wir sind sehr zuversichtlich, dasswir in der nächsten Woche im Bundesrat eine Bankenab-gabe beschließen werden. Aber es gibt offensichtlich ei-nen Grunddissens. Wir wollen eine Bankenabgabe alsSchutzschirm für die Zukunft und nicht als primäreStrafe für Geschehnisse in der Vergangenheit, deren Ur-sprung wir ohnehin nicht verlässlich zuordnen können.Dazu ist in der Debatte eine Menge gesagt worden.

Uns geht es bei der Bankenabgabe nicht um Abkas-sieren oder gar um eine Verstaatlichung der großen Ban-ken – auch das wurde schon beantragt –, sondern unsgeht es darum, in der Zukunft Risiken von den deutschenBanken und vom deutschen Steuerzahler fernzuhalten.Das muss das wesentliche Motiv sein; denn in einemsind wir uns doch einig: Was wir in den letzten zwei,drei Jahren auf dieser Welt, in Europa und in Deutsch-land erlebt haben, darf und soll sich nicht wiederholen.Die Politik muss aus den Geschehnissen der Vergangen-heit alle notwendigen Konsequenzen ziehen: zumSchutze der Bankkunden, zum Schutze der Bankanteils-eigner, nämlich vieler Millionen Kleinaktionäre, zumSchutze des deutschen Mittelstandes, zum Schutze derBundesrepublik Deutschland, des Steuerzahlers und al-ler, die dazu gehören, und nicht zum Schutze der Ban-ken, wie immer behauptet wird.

Die Banken erfüllen in einer sozialen Marktwirtschafteine wesentliche, existenzielle Funktion. Das kann dochniemand ernsthaft bestreiten. Deswegen ist natürlich derEindruck verheerend, der hier von Ihnen erweckt wird,wonach es in diesem Prozess in den letzten Jahren dazugekommen ist, dass die Banken gar nichts bezahlen,während die kleinen Leute die Zeche begleichen.

Dieser Eindruck ist übrigens aus zwei Gründen ver-heerend: Zum einen – das werden Sie verstehen – ärgertmich das politisch. Es nutzt Ihnen natürlich, wenn Sieden Eindruck erwecken: Die Großen lässt man laufen,und die Kleinen hängt man. Dieser Eindruck hilft Ihnennatürlich politisch, während er allen anderen Fraktionenin diesem Parlament schadet. Zum anderen ärgert michdas aber auch gesellschaftspolitisch; denn es ist verhee-rend, wenn die Menschen in Deutschland das Gefühl ha-ben, hier könnten irgendwelche Menschen in den Kon-zernen machen, was sie wollen, während sich die Politiküberhaupt nicht darum kümmert.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Aber das ist jadas Problem! – Sahra Wagenknecht [DIELINKE]: Dann tun Sie doch was dagegen!)

Deswegen will ich Ihre Frage, wer die Zeche bezahlt,klar beantworten. Zur Wahrheit gehört: Die Zeche dieserFinanzkrise zahlen alle Menschen in Deutschland. Dasist übrigens genauso wie bei der Atompolitik. Den Preisfür den Ausstieg aus der Atomenergie zahlen auch alleMenschen in Deutschland. So wie wir es in unserer so-zialen Marktwirtschaft immer halten, tragen die starkenSchultern wesentlich mehr als die schwächeren. Darauflegen wir als eine – ich sage jetzt nicht: als die letzte –

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Dr. Frank Steffel

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verbliebene Volkspartei in diesem Parlament auch aus-drücklich großen Wert.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Liebe Frau Paus, ich kann Ihnen dazu zwei Zahlennennen:

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre ja mal was!)

5 Prozent der deutschen Steuerzahler zahlen 42 Prozentdes Lohn- und Einkommensteueraufkommens. 50 Pro-zent der deutschen Steuerzahler zahlen 95 Prozent. Dieunteren 50 Prozent der Einkommen all derer, die fleißigarbeiten, sind von Steuern so gut wie überhaupt nicht be-troffen. Sozialer geht es nicht.

(Beifall des Abg. Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU] – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Weilsie fast kein Einkommen haben! – Lisa Paus[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie denkenaber bitte an die Abgabenlast!)

Deswegen ist es auch richtig, dass dem Eindruck wider-sprochen wird, die Kleinen zahlten die Zeche. Nein, inDeutschland tragen starke Schultern mehr als schwache.Das ist auch richtig, und das braucht diese sozialeMarktwirtschaft auch.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will Ihnen im Übrigen noch einen Hinweis geben:Ich kann es schon gar nicht mehr wiederholen, weil esimmer wieder gesagt wird, aber Sie erwecken den Ein-druck, als ob die Finanzmärkte der Welt in Deutschlandzu regeln wären. Lieber Herr Troost, Sie haben viel zuviel Ahnung von diesem Thema, um nicht zu wissen,dass es unter den Top-100-Banken dieser Erde nur nocheine deutsche Bank gibt. 99 von 100 Banken, die aufdieser Erde wirklich eine große Rolle spielen, haben ih-ren Sitz überhaupt nicht in Deutschland. Wir führen alsoPhantomdiskussionen, wenn wir glauben, mit dieser De-batte könnten wir das Monster Finanzmarkt zähmen.Das werden wir damit nicht zähmen können.

Wir unterstützen Bundesfinanzminister Schäuble unddie Bundeskanzlerin ausdrücklich bei ihrem Bestreben,auf internationaler Ebene im Rahmen der G 20 oder aufeuropäischer Ebene die Finanztransaktionsteuer einzu-führen. Ich will es noch einmal sehr klar sagen – wir ha-ben das vor drei Wochen hier diskutiert –: Wir sind da-für, auf internationaler Ebene diejenigen für die Kostender Krise aufkommen zu lassen, die zumindest einegroße Mitverantwortung tragen. Kollege Flosbach hatdarauf hingewiesen: Es gibt nun wirklich sehr viele Fa-cetten und damit auch sehr viele Verantwortliche, durchdie diese katastrophale Situation in den letzten Jahrenverursacht wurde.

Ich will noch ein Wort zur Deregulierung sagen. Wirmüssen heute gemeinsam attestieren, dass in den letzten20 Jahren Deregulierung im Vordergrund der Politikstand. Wir alle glaubten, wir täten unseren Bürgern, derGesellschaft, dem deutschen Mittelstand, den deutschenBanken, den deutschen Konzernen und der europäischen

Wirtschaft insgesamt einen Gefallen, wenn wir in einenDeregulierungswettlauf mit Amerika, mit Asien insge-samt, mit Russland, Indien und vielen anderen eintretenwürden. Wir müssen heute gemeinsam attestieren: Die-ser Weg war falsch.

Es ist an der Zeit, mehr über Regulierung als Primatder Politik zu reden und auf internationaler Ebene insbe-sondere im Finanzbereich den Pegel zwischen Deregu-lierung und Regulierung möglichst wieder ein Stückchenmehr in Richtung Regulierung, staatliche Aufsicht, zuschieben.

(Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])

Das war im Übrigen – Herr Troost, ich bin Ihnen sehrdankbar für Ihren Hinweis – eine der wesentlichen Er-kenntnisse – ich möchte fast von unisono sprechen –gestern auf der, wie ich fand, außerordentlich interessan-ten Veranstaltung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Werner Simmling [FDP])

Wenn es eine Gesellschaftsordnung gibt, die in derLage ist, das zu tun, dann ist dies unsere soziale Markt-wirtschaft. Sie hat sich als anpassungsfähig und lernfä-hig erwiesen, und zwar im Gegensatz zu Staatsdoktri-nen, ob Kommunismus, Neoliberalismus, Sozialismus,wie immer sie auch heißen. Eine Erkenntnis der Krise istzumindest für mich: Die Zeit der Ideologien ist vorbei.Das mag mancher bedauern; bei Ihnen, Frau Wagenknecht,habe ich diesen Eindruck.

Die Menschen erwarten von uns zu Recht, dass wirdas richtige Maß zwischen Allmacht des Staates undAllmacht des Marktes finden. Ich sage für die CDU/CSU: Wir wollen beides nicht.

(Otto Fricke [FDP]: Das ist ja schön!)

Im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft muss man invielen Einzelbereichen abwägen: Wo ist die Allmachtdes Staates möglicherweise schädlich, und wo ist dieAllmacht des Marktes alles andere als hilfreich? Die so-ziale Marktwirtschaft setzt auf einen starken Staat, abertrotzdem auf Freiheit, um Wohlstand zu schaffen. Sieverbindet soziale Sicherheit mit Freiheit. Deswegen wol-len wir einen starken Staat als Hüter unserer Ordnung.

Wir haben in dieser Legislaturperiode – ich habe daseinmal nachsehen lassen – das 46. Mal hier im Deut-schen Bundestag über eine Bankenabgabe und die Fi-nanztransaktionsteuer gesprochen. Das ging zumeist aufIhre Anträge zurück, im Finanzausschuss unzähligeMale. Auch heute habe ich den Eindruck: Wir haben unszwar alle bemüht, aber etwas richtig Neues, mit Verlaub,liebe Kolleginnen und Kollegen, hat zu diesem Themakeiner mehr zu sagen. Es gilt der alte Satz – deswegenschöpfe ich meine Redezeit auch nicht aus –: Es ist allesgesagt, nur nicht von jedem.

Ich wünsche einen schönen Nachmittag.

(Beifall bei der CDU/CSU)

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Vizepräsident Eduard Oswald:Kollege Dr. Steffel, jetzt geben wir aber schon noch

der Frau Kollegin Nicolette Kressl das Wort. – Bitteschön, Frau Kollegin.

(Beifall bei der SPD)

Nicolette Kressl (SPD):Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich gehe davon aus,

dass Herr Steffel seine restliche Redezeit nicht mir über-tragen hat.

(Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Steht mir,glaube ich, nicht zu! – Otto Fricke [FDP]: Erist ein Gentleman!)

– Dann kann man ja vielleicht darüber verhandeln.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Debatte heute kann schon ein Anlass sein,eine Analyse darüber zu machen, inwieweit die Banken-abgabe, wie sie von der Bundesregierung vorgeschlagenworden ist, tatsächlich die richtige Antwort auf die Fra-gen ist, die die Finanzmarktkrise uns aufgegeben hat.

Ich rekapituliere, dass die Bundeskanzlerin von dieserStelle aus zum Thema Bankenabgabe gesagt hat – sie hatdies noch nicht widerrufen –, die Bankenabgabe sorgedafür, dass die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler inZukunft nicht mehr durch die Kosten einer solchen Krisebelastet werden. Hier müssen wir konstatieren: Das warnicht richtig, und das ist nicht richtig. Ich finde, es wäreZeit, diese Aussage zu widerrufen, weil sie einfach nichtden Tatsachen und der Wahrheit entspricht.

(Beifall bei der SPD)

Wir wissen inzwischen alle, dass die Einzahlungen inden Fonds viel zu niedrig sind, um eine in näherer undmittlerer Zukunft ähnliche Krise, wie wir sie hatten, al-lein durch die Mittel aus dem Fonds auszugleichen. Esgeht nicht um so zynische Bemerkungen in der Art: Daskommt nächste Woche. Vielmehr wissen wir aus derHistorie, dass die Phasen, in denen Krisen entstehen, inder letzten Zeit durchaus kürzer geworden sind

(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wollen Sie jetzt die nächste Krise herbeireden?)

und dass wir uns darauf einstellen müssen, dass es indiesem Bereich deutlich volatiler wird und wir uns nichtdarauf ausruhen können nach dem Motto: Wir sorgenmit einem kleinen Topf dafür, dass in 70 Jahren genü-gend Geld vorhanden ist. – Ich finde, das ist nicht mehrdie richtige Aussage, mit der wir Finanzmarktpolitik fürdie Zukunft machen können.

(Beifall bei der SPD)

Die zweite Analyse, die sich daraus ergibt, ist – auchdas muss deutlich gesagt werden –, dass durch die ge-plante Bankenabgabe keiner der Finanzmarktakteure anden durch die Krise entstandenen Kosten beteiligt wird.Ich finde, das darf hier auch niemand behaupten. DasGeld, das in diesen Fonds eingezahlt werden soll, ist fürdie Zukunft viel zu wenig, auch wenn ich es im Zusam-menhang mit den entstandenen Kosten müßig finde,

über 1 Milliarde Euro mehr oder weniger zu diskutieren,wie das vorhin von der Koalition versucht wurde. Wirwissen: Die Krise hat unsere Wirtschaft belastet. Sie hatunseren Etat belastet. Wir müssen uns daher überlegen:Wie beteiligen wir die Finanzmarktakteure an den ent-standenen Kosten?

Wir sind der Überzeugung, dass es ein guter Weg ist,eine Finanzmarkttransaktionsteuer einzuführen.

Es wäre gut, wenn sich die Koalition bei der Unter-stützung der Finanztransaktionsteuer nicht immer wiederselbst dementieren würde, was wir auch heute wieder er-leben konnten. Ich will das an einem Punkt deutlich ma-chen. Herr Wissing hat vorhin deutlich gesagt: Die Fi-nanzmarkttransaktionsteuer gibt es für uns – deshalbhabe ich nachgefragt, wer mit „uns“ gemeint ist – nurdann, wenn sich Großbritannien beteiligt.

Gott sei Dank kann man so etwas inzwischen schnellgoogeln, und ich darf Ihnen ein Zitat des Bundesfinanz-ministers vom 23. Juni vorlesen. Herr Schäuble hat ge-sagt: „Die niedrigste Regelungsebene wäre die Euro-Zone.“ Das bedeutet, Herr Wissing und der Finanzminis-ter treten auch heute noch mit unterschiedlichen Aussa-gen zur Finanzmarkttransaktionsteuer auf. Sie behauptenaber tatsächlich, Sie würden in Europa mit einer Stimmeauftreten. Das ist völlig absurd und hiermit widerlegt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN – Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]:Herr Wissing ist doch gar nicht in der Regie-rung!)

– Könnten Sie das noch einmal wiederholen, HerrSteffel?

(Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Das verhan-delt doch die Bundesregierung!)

Der entscheidende Punkt ist – ich will an dieser Stelleetwas stärker ins Detail gehen –, dass in der Frage derRestrukturierungsverordnung zur Bankenabgabe einsehr ungewöhnlicher Vorgang stattfindet. Es gab eine16 : 0-Entscheidung der Länder für die Verschärfung derVerordnung in diesem Bereich, um die deutschen Ban-ken dazu zu bringen, sich stärker zu beteiligen, als bishervorgesehen war.

Was passiert? Es wird, wenn ich mich nicht täusche,mit dem Land Hessen über Bande gespielt – man denkenur an die Regierungsbeteiligung –, und es bewegt sichnichts. Ich finde, es ist ein unerträglicher Vorgang, dassbei dem, was ohnehin schlecht genug ist und was wirnicht für ausreichend halten, jetzt noch so lange gezocktwird, nur um die privaten Großbanken zu schonen. Daskann nicht der richtige Weg sein.

Ich fordere alle auf, endlich dafür zu sorgen, dass zu-mindest die verbesserte Fassung so schnell wie möglichdurch die Länder auf den Weg gebracht werden kann.

(Beifall bei der SPD – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Immer noch unzureichend!)

– Das habe ich gesagt. Es ist immer noch unzureichend,aber besser als nichts. Im Übrigen, Herr Troost, schließe

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13436 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Nicolette Kressl

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ich mich allen Fraktionen an. Es wäre besser gewesen,Sie hätten statt eines eigenen Antrags Änderungsanträgevorgelegt.

Bei der Rede von Frau Wagenknecht fand ich es be-sonders waghalsig, dass sie ernsthaft behauptet hat, mitdiesem Antrag würde es gelingen, die bestehenden Defi-zite in der Finanzmarktstruktur zu verändern. Entschul-digung, das ist absurd. Sie sollten Ihre eigenen Anträgelesen.

(Beifall bei der SPD)

Darin geht es um die Höhe der Bankenabgabe, mit einerdeutlichen Abschöpfung verbunden, und um eine Fi-nanztransaktionsteuer. Wenn Sie ernsthaft behaupten,damit seien die Probleme gelöst, die Sie beschrieben ha-ben und die wir zumindest zum Teil ebenfalls sehen,dann muss ich sagen: Ein bisschen mehr Niveau wäre imParlament angebracht.

(Beifall bei der SPD – Sahra Wagenknecht[DIE LINKE]: Da haben Sie aber nicht zuge-hört!)

– Doch, ich habe genau zugehört.

(Zuruf von der LINKEN: Das hat sie aber nicht gesagt!)

Ich will noch auf zwei einzelne Punkte in diesem An-trag eingehen und darauf hinweisen, dass bei der Ban-kenabgabe auch bestimmte verfassungsrechtliche Vorga-ben zu beachten sind. Das müssen wir bei Sonder-abgaben in Deutschland immer im Blick behalten. Des-halb fand ich es, ehrlich gesagt, ein bisschen populis-tisch, dass Sie in Ihrem Antrag die Sparkassen undVolksbanken von der Abgabe ausnehmen wollen. Mankann eine risikoorientierte Bewertung vorziehen, um sieweniger zu belasten, statt sie einfach auszunehmen.

Man sollte auch nicht vergessen, dass es zwar richtigist, dass die allermeisten Sparkassen und Volksbankennicht die Verantwortung tragen, dass aber auch sie vonden Stabilisierungsmaßnahmen profitiert haben. Auchdas gehört zur Wahrheit. Man sollte damit sehr ernsthaftumgehen.

Gestatten Sie mir noch eine kurze Anmerkung zumThema Abgabe. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben,die wir bei der Bankenabgabe berücksichtigen müssen,gelten im Übrigen auch bei der Vermögensabgabe, HerrSchick. Insofern glaube ich: Je weiter wir uns von derFinanzmarktkrise entfernen, umso genauer muss mandie verfassungsrechtlichen Möglichkeiten beachten. Wirsollten gemeinsam darüber reden, ob eine gruppenorien-tierte Vermögensabgabe wirklich ein besserer Weg wäreals eine entsprechende Vermögensbesteuerung.

Ich fasse zusammen: Die Bankenabgabe ist nicht dierichtige Lösung. Sie reicht nicht aus. Wir glauben, dassder Antrag der Linken nicht die richtigen Antwortengibt.

Ich fordere alle gemeinsam auf, beim Thema Finanz-markttransaktionsteuer in Europa gemeinsam voranzu-gehen. Damit können wir mehr durchsetzen als mit derDebatte, die wir heute führen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Eduard Oswald:Letzte Rednerin in dieser Debatte ist für die Fraktion

der CDU/CSU unsere Kollegin Bettina Kudla.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Bettina Kudla (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Eine wirklich strukturierte Politik ist – ichdenke, das hat die Debatte gezeigt – in dem Antrag derLinken nicht erkennbar. Sie bringen zwei Dinge durch-einander: Beiträge zur Risikovorsorge für die Zukunftund zusätzliche Beiträge zum Steueraufkommen und da-mit zum Ausgleich der Kosten der Krise. Es ist absolutrichtig, mit der von der Bundesregierung in diesem Jahreingeführten Bankenabgabe auf eine Risikovorsorge zusetzen. Der langfristig – ich betone: langfristig – ange-peilte Betrag von bis zu 70 Milliarden Euro wird zukünf-tig einen stabilen Beitrag zur Bewältigung von Krisensi-tuationen leisten. Die Zuführung zum Restrukturierungs-fonds erfolgt sukzessive. Einerseits muss Risikoge-sichtspunkten Rechnung getragen werden; andererseitsdarf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Unterneh-men nicht eingeschränkt werden. Heutzutage wird vielvon nachhaltiger Politik gesprochen. Die Bankenabgabeist eine langfristige und damit den Finanzmarkt nachhal-tig stabilisierende Weichenstellung.

Nun zur Finanzmarkttransaktionsteuer. Hier habendie Vorredner bereits die möglichen Facetten ausführlichbeleuchtet. Die Bundesregierung hat sich klar zur Ein-führung einer Finanzmarkttransaktionsteuer bekannt undhat auf internationaler Ebene intensiv um diese Steuergeworben. Ich zitiere die Zeitung Die Welt vom gestri-gen Tage:

Die EU-Kommission will bis Donnerstag die Ein-führung einer europaweiten Finanztransaktions-steuer beschließen … Der Vorschlag greift Forde-rungen aus Deutschland, Frankreich und Österreichauf. Die jeweiligen Regierungen hatten im vergan-genen Jahr eine Steuer auf sämtliche Finanztransak-tionen gefordert.

Dass ebendiese Forderungen keine hohlen Phrasen ge-wesen sind, können Sie in zahlreichen Pressestatementsvon Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel nachlesen.Vielleicht täte Ihnen das einmal gut.

Am Beschluss der Europäischen Kommission ist zubegrüßen, dass eine Finanzmarkttransaktionsteuer einge-führt werden soll. Eine neue Steuer in Form einer EU-Steuer ist jedoch abzulehnen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die nationalen Staaten müssen die Möglichkeit haben,eine Finanzmarkttransaktionsteuer selbst zu erheben undinnerhalb der nationalen Haushalte zu vereinnahmen.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen sich jetzt schon einig werden!)

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Bettina Kudla

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Die Einführung einer EU-Steuer – der EU-Haushalt fi-nanziert sich nun einmal aus den nationalen Eigenmit-teln – würde bedeuten, dass die Eigenmittelobergrenzeüberschritten wird,

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Das stimmt doch nicht! – Dr. Gerhard Schick[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist dochQuatsch!)

also der Betrag, der den Beitrag der EU-Länder zum EU-Haushalt auf 1,04 Prozent des Bruttonationaleinkom-mens deckelt. Es würde jeglichen Konsolidierungsbe-mühungen der nationalen Haushalte widersprechen, fallsder Beitrag zum EU-Haushalt erhöht würde. Schließlichhaben wir zurzeit keine Krise des Euro. Wir haben einProblem der zu hohen Verschuldung der nationalen Staa-ten.

Eine pauschale Verurteilung von Finanzinstituten leh-nen wir ab. Die Banken haben nun einmal eine zentraleRolle – das wurde bereits mehrfach betont – bei der Kre-ditvergabe. Die Möglichkeit, einen Kredit in Anspruchzu nehmen, ist für den mittelständischen Unternehmergenauso wichtig wie für den Privatmann. Wir wollengute Rahmenbedingungen für eine soziale Marktwirt-schaft. Unternehmen brauchen die Chance, Gewinne zumachen; denn dies schafft Arbeitsplätze und sichert dieEinnahmen des Staates. Ich bin sehr froh, dass großeBankinstitute wie die Deutsche Bank und die Commerz-bank nach den schwierigen Jahren der Finanzkrise wei-terhin bzw. wieder Gewinne machen; denn über dieseGewinne zahlt zum Beispiel die Commerzbank dieStaatshilfen wieder zurück.

Unternehmen dürfen nicht durch eine verantwor-tungslose Politik zur Abwanderung ins Ausland veran-lasst werden. Gerade im Zeitalter der Globalisierung istes für Unternehmen und ganz besonders für Finanzinsti-tute sehr einfach, ihren Sitz und ihre Geschäftstätigkeitins Ausland zu verlegen. Damit wäre niemandem gehol-fen, im Gegenteil: Die Volkswirtschaft würde ge-schwächt.

Die Finanzmarktpolitik muss ausgewogen sein. Die-ser Ausgewogenheit kommt man in großen Schritten nä-her, wenn man folgende drei Themen betrachtet: Eigen-kapitalbildung durch Basel III, Bildung eines Restruk-turierungsfonds durch die Bankenabgabe und Einfüh-rung einer Finanzmarkttransaktionsteuer. Ich bin derMeinung, dass eigentlich eine klare Strukturierung die-ser drei Maßnahmen vorliegt.

Das Wichtigste ist, dass die Unternehmen erst einmalselbst Vorsorge betreiben. Durch Basel III sollen sieselbst Reserven bilden, damit etwaige Verluste nichtgleich existenzgefährdend werden. Durch die Bankenab-gabe wird ein Krisenfonds eingerichtet, der für die Fällegedacht ist, in denen Banken trotz des erhöhten Eigenka-pitals in eine Existenzkrise geraten. Ich halte es für ganzentscheidend, dass man dieses Thema jetzt erst einmalangegangen ist, auch wenn das Volumen des Banken-fonds noch nicht befriedigend ist. Aber wichtig ist dieEntscheidung, dass man ihn einrichtet und dass die Un-ternehmen in diesen Topf einzahlen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Die Finanzkrise hat viele Ursachen. Unter anderemhaben Sie in Ihrem Antrag auf die Probleme der Landes-banken hingewiesen.

(Michael Schlecht [DIE LINKE]: Welche Ur-sachen sehen Sie?)

Diese Probleme sind nicht einfach durch irgendwelcheanonymen Banken oder anonymen Verursacher entstan-den.

(Weitere Zurufe von der LINKEN)

Diese Probleme sind durch eine verfehlte Geschäftspoli-tik entstanden.

(Michael Schlecht [DIE LINKE]: Ja!)

Gerade die Landesbanken haben es versäumt, sich mitdem Thema „Sinnvolles Geschäftsmodell“ auseinander-zusetzen. Hinzu kam Verantwortungslosigkeit, gepaartmit Missmanagement, und Gremien wie Vorstand undAufsichtsrat sowie Eigentümer waren an all diesem be-teiligt.

Umso wichtiger ist es, dass die Politik ihr Augenmerkdarauf richtet, dass aus der jüngeren Generation gut aus-gebildete Unternehmer und Vorstände nachwachsen. Wirbrauchen einen entsprechenden Nachwuchs in Füh-rungspositionen. Gleich zu Beginn der Legislaturperiodehat die Bundesregierung dazu ein Stipendienprogrammmit dem Ziel aufgelegt, Hochbegabte unter der Bedin-gung zu fördern, dass sie sich gleichzeitig gesellschaft-lich engagieren. Ich betone das deswegen, da wir dieFolgen der Finanzkrise nicht allein durch ein gesetzli-ches Regelwerk des Finanzmarktes lösen können, son-dern nur durch eine Politik, die einerseits gute Ausbil-dung und Verantwortungsbereitschaft fördert undandererseits Unternehmern wie Arbeitnehmern entspre-chende Chancen bietet.

Lassen Sie mich zusammenfassen: Der Antrag derFraktion Die Linke geht an der Realität vorbei. Die Bun-desregierung ist auf dem richtigen Weg. Auf dem Gebietder Regulierung der Finanzmärkte tut sich eine ganzeMenge. Lassen Sie uns daran weiter gemeinsam arbei-ten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Frau Kudla. – Nun schließe ich die Aus-

sprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/6303 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 41 a bis 41 h sowiedie Zusatzpunkte 5 a und 5 b auf:

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Vizepräsident Eduard Oswald

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41 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-zung der Europäischen Dienstleistungsrichtli-nie im Gesetz zum Schutz der Teilnehmer amFernunterricht (Fernunterrichtsschutzgesetz)

– Drucksache 17/6208 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro-tokoll vom 27. Oktober 2010 zur Änderungdes Abkommens vom 11. August 1971 zwi-schen der Bundesrepublik Deutschland undder Schweizerischen Eidgenossenschaft zurVermeidung der Doppelbesteuerung auf demGebiet der Steuern vom Einkommen und vomVermögen

– Drucksache 17/6257 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 30. März 2011 zwischen derBundesrepublik Deutschland und Irland zurVermeidung der Doppelbesteuerung und zurVerhinderung der Steuerverkürzung auf demGebiet der Steuern vom Einkommen und vomVermögen

– Drucksache 17/6258 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Rechtsausschuss

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 18. Februar 2011 zwischen derBundesrepublik Deutschland und der Repu-blik Zypern zur Vermeidung der Doppelbe-steuerung und zur Verhinderung der Steuer-verkürzung auf dem Gebiet der Steuern vomEinkommen und vom Vermögen

– Drucksache 17/6259 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Rechtsausschuss

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Energiebetriebene-Produkte-Geset-zes

– Drucksache 17/6278 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten TabeaRößner, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck

(Köln), weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Pressefreiheit europaweit umsetzen – Medienals wichtigen Grundpfeiler der Demokratiestärken

– Drucksache 17/6126 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

g) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zugang zu medizinischem Cannabis für allebetroffenen Patientinnen und Patienten er-möglichen

– Drucksache 17/6127 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales

h) Beratung des Antrags der Abgeordneten AgnesKrumwiede, Monika Lazar, Krista Sager, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Grundlagen für Gleichstellung im Kulturbe-trieb schaffen

– Drucksache 17/6130 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

ZP 5 a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Wilhelm Priesmeier, Heinz-Joachim Barchmann,Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD

Gemeinsame Europäische Agrarpolitik nach2013 – Konzept zum „Greening“ der Direkt-zahlungen vorlegen

– Drucksache 17/6299 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f)Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Wolfgang Wieland, JerzyMontag, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Verantwortlichkeit der Bundesregierung fürden Umgang des Bundesnachrichtendienstesmit den Fällen Klaus Barbie und Adolf Eich-mann

– Drucksache 17/4586 –

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13439

Vizepräsident Eduard Oswald

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Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)Auswärtiger AusschussAusschuss für Kultur und Medien

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/4586 – dasbetrifft den Zusatzpunkt 5 b – soll federführend beim In-nenausschuss beraten werden. Sie sind damit einverstan-den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen sobeschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 42 a bis 42 j auf.Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zudenen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 42 a:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zudem Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch,Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN

Bericht zum Risikomanagement bei Lebens-mittelkrisen vorlegen

– Drucksachen 17/6107, 17/6337 –

Berichterstattung:Abgeordnete Mechthild HeilKerstin TackDr. Christel Happach-KasanKarin BinderNicole Maisch

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/6337, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6107 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Dassind die Fraktionen der Sozialdemokraten und Bünd-nis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Die Linksfraktion.Die Beschlussempfehlung ist angenommen.

Die Tagesordnungspunkte 42 b bis 42 j betreffen dieBeschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 42 b:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 278 zu Petitionen

– Drucksache 17/6110 –

Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen diesesHauses. – Gegenprobe! – Niemand. Enthaltungen? –Niemand. Die Sammelübersicht 278 ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 42 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 279 zu Petitionen

– Drucksache 17/6111 –

Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen. Werstimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Niemand.Die Sammelübersicht 279 ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 42 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 280 zu Petitionen

– Drucksache 17/6112 –

Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-nen und die sozialdemokratische Fraktion. Wer stimmtdagegen? – Die Linksfraktion. Enthaltungen? – FraktionBündnis 90/Die Grünen. Die Sammelübersicht 280 istmit dem von mir erwähnten Stimmverhalten angenom-men.

Tagesordnungspunkt 42 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 281 zu Petitionen

– Drucksache 17/6113 –

Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen. Werstimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Niemand.Somit ist die Sammelübersicht 281 einstimmig ange-nommen.

Tagesordnungspunkt 42 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 282 zu Petitionen

– Drucksache 17/6114 –

Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-nen, die Sozialdemokraten und die Linksfraktion. Werstimmt dagegen? – Das ist die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen. Enthaltungen? – Niemand. Somit ist mit demvon mir erwähnten Stimmverhalten die Sammelüber-sicht 282 angenommen.

Tagesordnungspunkt 42 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 283 zu Petitionen

– Drucksache 17/6115 –

Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-nen, die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen.Wer stimmt dagegen? – Die Linksfraktion. Enthaltun-gen? – Niemand. Somit ist die Sammelübersicht 283 mitdem Stimmverhalten, wie ich es erwähnt habe, ange-nommen.

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13440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Vizepräsident Eduard Oswald

(A) (C)

(D)(B)

Tagesordnungspunkt 42 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 284 zu Petitionen

– Drucksache 17/6116 –

Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-nen und die Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? – So-zialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltun-gen? – Niemand. Somit ist die Sammelübersicht 284angenommen.

Tagesordnungspunkt 42 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 285 zu Petitionen

– Drucksache 17/6117 –

Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-nen. Wer stimmt dagegen? – Sozialdemokraten undBündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Die Linksfrak-tion. Die Sammelübersicht 285 ist somit angenommen.

Tagesordnungspunkt 42 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 286 zu Petitionen

– Drucksache 17/6118 –

Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-nen. Wer stimmt dagegen? – Das sind die drei Opposi-tionsfraktionen. Stimmenthaltungen? – Keine. Somit istdie Sammelübersicht 286 mit dem Stimmverhalten, dasich erwähnt habe, angenommen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:

Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionender CDU/CSU und FDP:

Stuttgart 21 – Ergebnis des Stresstests respek-tieren – Keine Blockadepolitik

Ich eröffne die Aussprache.

Erster Redner in der Aktuellen Stunde ist unser Kol-lege Dr. Stefan Kaufmann für die Fraktion der CDU/CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU):Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kolle-

gen! Wir haben in dieser Legislaturperiode bereits vier-mal über das Bahnprojekt Stuttgart 21 debattiert. Die ak-tuelle Entwicklung macht es nötig, dass wir uns heute indieser Aktuellen Stunde mit dem sogenannten Stresstestfür dieses Infrastrukturprojekt und vor allem dem nichtakzeptablen Verhalten der Grünen in diesem Zusammen-hang befassen müssen.

Nur zur Erinnerung: Im Herbst letzten Jahres wurdeim Rahmen einer Schlichtung zwischen Projektbefür-wortern und Projektgegnern unter anderem ein Stresstest

vereinbart. Dabei handelt es sich um eine Simulation deszukünftigen Zugverkehrsaufkommens in der baden-württembergischen Landeshauptstadt. Dieser Test sollklären, ob der geplante Tiefbahnhof tatsächlich bis zu30 Prozent mehr Zugverkehr bewältigen kann als derjetzt bestehende Kopfbahnhof zu Spitzenzeiten. Die Pro-jektträger haben sich verpflichtet, die Infrastruktur ent-sprechend nachzubessern, falls sich dies im Zuge desStresstests als notwendig erweisen sollte.

Das Ergebnis des Stresstests wird von einem unab-hängigen und renommierten Verkehrsberatungsinstitut inder Schweiz geprüft, am 11. Juli den fünf Projektpart-nern zur Verfügung gestellt und hernach am 14. Juli derÖffentlichkeit präsentiert. Genau so und nicht anderswurde das Vorgehen in der von Heiner Geißler moderier-ten Schlichtung von allen Seiten, Gegnern und Befür-wortern von Stuttgart 21, anerkannt.

(Michael Schlecht [DIE LINKE]: Nein! Das stimmt nicht!)

Mit am Tisch saßen damals die heutigen Mitglieder derbaden-württembergischen Regierung Winfried Hermannund Winfried Kretschmann. Auch sie haben diesem Ver-fahren damals zugestimmt.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Im vergangenen Landtagswahlkampf haben die Grü-nen den Mund sehr voll genommen und den Bürgerinnenund Bürgern gerade in Stuttgart durchaus mit Erfolgweisgemacht, dass sie bei einer Regierungsübernahmedas Projekt stoppen würden.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Da-ran werden sie noch ersticken!)

Jetzt müssen die neuen Regierungsparteien seriöser-weise ihren Wählerinnen und Wählern erklären, dass wirin Deutschland in einem Rechtsstaat leben, in dem Ge-setze und geschlossene Verträge unabhängig von Minis-tersesseln Bestand haben; denn nach allem, was manweiß, wurde der Stresstest bestanden.

(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Von wegen!)

Offiziell ist dies nicht, weil die Bahn der Prüfung der Er-gebnisse durch das Schweizer Institut zu Recht nichtvorgreifen wollte.

Unterdessen ist der Verkehrsminister Hermann außerRand und Band geraten. Er wirft der Bahn Foulspiel vor,weil aus Bahnkreisen das Ergebnis des Stresstests durch-gesickert sei und er selbst bis auf ein paar Präsentations-folien rein gar nichts über diesen Stresstest wisse. DerFrankfurter Rundschau gab er aber schon vergangenenDonnerstag zu verstehen, dass die Bahn den Stresstestwohl irgendwie bestanden habe. Da frage ich michschon, von welcher Seite aus irgendetwas durchgesickertist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: DerHermann ist undicht!)

Bis vergangene Woche hatte man den Eindruck: Derneue baden-württembergische Verkehrsminister ist noch

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13441

Dr. Stefan Kaufmann

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nicht aus seiner Oppositionsrolle herausgekommen undbraucht etwas länger, um zu begreifen, was es heißt, Re-gierungsverantwortung zu übernehmen. Das wurde zumBeispiel deutlich, als er die Zuständigkeit für die Reali-sierung von Stuttgart 21 einem anderen Ressort übertra-gen wollte. Wer, wenn nicht der Verkehrsminister, sollsich denn bitte um dieses Infrastrukturprojekt kümmern?Offensichtlich verheddert sich Winfried Hermann immermehr in seinem Bemühen, es der Partei und den Stutt-gart-21-Gegnern recht zu machen, und scheut dabei auchvor der Unwahrheit nicht zurück.

Auf dem Stuttgarter Marktplatz hat er bei einer Bür-gerversammlung die Öffentlichkeit – ich muss es in die-ser Deutlichkeit sagen – hinters Licht geführt, und zwarBefürworter und Gegner gleichermaßen. Er sagte: DieInformationen zum Stresstest für den neuen unterirdi-schen Bahnhof muss die Bahn frühzeitig herausrücken.Es ist ein Ärgernis, dass die Bahn ihre Ergebnisse erstdrei Tage vor dem 14. Juli mitteilen und einen Tag spätermit der Vergabe von Bauleistungen beginnen will. So hatdie Landesregierung nicht wirklich Zeit, zu prüfen undzu diskutieren. – Ende des Zitats. Auf ausdrücklicheNachfrage von Versammlungsteilnehmern hin wieder-holte er seine angebliche Unkenntnis der Stresstest-ergebnisse.

Richtig ist aber: Verkehrsminister Hermann hatte zudiesem Zeitpunkt bereits seit Tagen Kenntnis über denStand und die Ergebnisse des Stresstests. Es gibt ausrei-chend Belege dafür, dass der Minister in die von derBahn durchgeführte Computersimulation für den geplan-ten Tiefbahnhof stets eingeweiht gewesen ist. Es wurdensogar noch Forderungen der Grünen in die Simulationeingearbeitet. Bei der Präsentation des 31-seitigen Ab-schlussberichts zum Test im sogenannten Lenkungskreisam 16. Juni war ein hochrangiger Vertreter des Verkehrs-ministeriums persönlich zugegen. Winfried Hermannsagt also in der Öffentlichkeit bewusst die Unwahrheitund wirft mediale Nebelkerzen, um zu verbergen, dass erkaum noch rationale Argumente gegen eine zügige Fort-führung dieses bedeutenden Infrastrukturprojekts hat.Dies entspricht so gar nicht dem Anspruch, mit dem dieneue Landesregierung angetreten ist. „Neue Transparenzund Offenheit“ scheint nur dann zu gelten, wenn es dergrünen Ideologie entspricht. Schade, dass Ministerpräsi-dent Kretschmann seinem zwischenzeitlich beim Koali-tionspartner SPD und in der Öffentlichkeit in Ungnadegefallenen Minister am Dienstag auch noch treuherzigden Rücken gestärkt hat.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Na ja!)

Deutlichere Worte wären hier angebracht gewesen – imÜbrigen auch zur Gewalteskalation bei der sogenanntenMontagsdemo vergangene Woche durch die sogenanntenParkschützer.

Mittlerweile werden selbst innerhalb der grün-rotenKoalition erhebliche Zweifel nicht nur am Verhalten desMinisters, sondern auch an seiner Eignung laut. DieseZweifel konnte Minister Hermann gestern im Landtagtrotz Zurückruderns nicht ausräumen. Deshalb solltesich Winfried Hermann ernsthaft überlegen, selbst die

notwendigen Konsequenzen zu ziehen, zumindest aberzur Wahrheit zurückzukehren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Es kann jedenfalls nicht sein, dass eine Minderheit dieZukunft des Landes Baden-Württemberg blockiert, undes darf nicht sein, dass Süddeutschland vom europäi-schen Schnellbahnnetz abgehängt wird. Deshalb fordernwir die Landesregierung in Stuttgart auf: Halten Sierechtsverbindliche Verträge und den Schlichterspruchein! Akzeptieren Sie das Ergebnis des Stresstests ohneweitere Bedingungen! Verteidigen Sie Stuttgart 21 undden Rechtsstaat gegen gewalttätige Aktionen von Teilender Projektgegner! Setzen Sie sich dafür ein, dass Stutt-gart 21 und die Neubaustrecke gebaut werden und si-chern Sie damit die Zukunft unseres Landes! Helfen Siemit, dass der Bau in einer Atmosphäre des gegenseitigenRespekts und Vertrauens erfolgen kann.

Vizepräsident Eduard Oswald:Kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU):Stuttgart 21 ist ein Infrastrukturprojekt von nationaler

Bedeutung und darf nicht grüner Parteitaktik oder linkerTechnologiefeindlichkeit zum Opfer fallen.

Danke sehr.(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi-derspruch bei der SPD – Dr. Anton Hofreiter[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch!)

Vizepräsident Eduard Oswald:Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist der

Kollege Uwe Beckmeyer für die Fraktion der Sozialde-mokraten. Bitte schön, Kollege Uwe Beckmeyer.

(Beifall bei der SPD)

Uwe Beckmeyer (SPD):Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ich denke, das Thema bedarf zumindest in diesemHause als Erstes einer gewissen Entemotionalisierung;

(Lachen des Abg. Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP] – Zuruf von der FDP: Jetzt auf einmal!)

das hat es verdient. Was wir eben gehört haben, war,glaube ich, nicht in diesem Sinne.

Was uns hier vorliegt, ist der Antrag auf eine AktuelleStunde – ich zitiere –: „Stuttgart 21 – Ergebnis desStresstests respektieren – Keine Blockadepolitik“.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ge-nau!)

Sie haben eben den Eindruck erweckt, als sei der Stress-test erfolgt, habe schon einen Stempel, sei schon in derWelt.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: DerHermann hat das in die Welt gesetzt! Nicht indie Welt, in die Frankfurter Rundschau hat eres gesetzt!)

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Uwe Beckmeyer

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Weil ich seriös arbeite, habe ich vor zwei Tagen HerrnDr. Grube eine Mail geschickt, in der ich ihm geschrie-ben habe, dass Sie eine Aktuelle Stunde mit diesem Titelbeantragt hätten und dass ich als Sprecher der Arbeits-gruppe Verkehr der sozialdemokratischen Bundestags-fraktion wünschte, dass mir zur Vorbereitung dieser Ak-tuellen Stunde die Ergebnisse, vielleicht auch dievorläufigen Ergebnisse, des Stresstests übermittelt wür-den.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das war sehr naiv!)

Ich bekam die Antwort nicht von Herrn Dr. Grube,sondern von dem dafür zuständigen KonzernvorstandTechnik, Herrn Dr. Kefer.

(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Sehr an-genehmer Mann!)

– Ja. – Darin heißt es: Bezug nehmend auf unser heuti-ges Telefonat. Wir haben unsere Ausarbeitung zum obi-gen Thema plangemäß am 21. Juni in elektronischerForm an SMA – das sind die Schweizer – zur Begutach-tung überspielt. Die Fachdokumentation wird dazu inPapierform am 30. Juni – das ist heute – an das Land Ba-den-Württemberg übergeben. Die SMA-Begutachtungwird bis zum 11. Juli fertiggestellt und im Anschluss al-len Beteiligten zur Verfügung gestellt. Die öffentlicheDiskussion der Ergebnisse des Stresstests und der Zerti-fizierung durch die SMA erfolgt in einer gemeinsamenSitzung am 14. Juli. – Das ist die Sitzung mit HerrnGeißler, dem eingesetzten Mediator, Vermittler, wieauch immer.

In Ihrer Rede heute haben Sie erklärt, es sei schon al-les mehr oder weniger im grünen Bereich, alles fertig.Die Bahn selbst ist vorsichtig genug, dies noch nicht zuerklären, weil die SMA noch ihren Stempel darunterset-zen muss. Sie muss noch erklären, dass das Ganze plau-sibel ist. Diese Plausibilitätserklärung des verabredeten,von allen im Grunde akzeptierten und damit auch vonWinfried Hermann akzeptierten Gutachters, diese Zerti-fizierung, wie auch immer das heißen mag, muss gege-ben werden.

Erst dann liegt ein akzeptierter Stresstest vor. Dannerst wird der Vermittler, Herr Geißler, feststellen können,in welchen Bereichen der Stresstest im Hinblick auf un-sere Vorgaben – mit allem, was in den letzten Tagen inder Presse stand: 30 Prozent Zuwachs, Zugänglichkeitfür Familien und Behinderte usw. –, Bestand hat und in-wieweit eine Realisierung möglich ist.

Kommen wir nun zu einem weiteren wichtigen Punkt;und darüber haben nicht wir zu entscheiden, sondern derDB-Vorstand: Kann der DB-Vorstand die vorgegebenenBaumaßnahmen mit dem vorhandenen Geld – 4,5 Mil-liarden Euro, inklusive der restlichen 420 MillionenEuro der Risikomarge – durchführen? Diese Entschei-dung hat der Bahnvorstand zu treffen.

Herr Präsident, das Licht leuchtet hier immer nochauf. Das leuchtet schon die ganze Zeit. Haben Sie dieUhr noch einmal zurückgestellt, oder was ist los?

Vizepräsident Eduard Oswald:Es ist das Wesen der Aktuellen Stunde, Herr Kollege

Beckmeyer, dass man immer fünf Minuten Redezeit hat.

Uwe Beckmeyer (SPD):Ja, gut, aber das leuchtet schon die ganze Zeit.

Vizepräsident Eduard Oswald:Nein, nein. Fünf Minuten sind untrüglich fünf Minu-

ten. Wenn man aber ganz unsicher ist, kann man auchnoch dort oben auf die Uhr im Saal schauen. Wir habenextra wegen Ihnen diese Uhr dort installieren lassen,Herr Kollege.

(Heiterkeit)

Uwe Beckmeyer (SPD):Diese jetzt verbrauchte Zeit wird mir hoffentlich noch

zugestanden.

(Heiterkeit)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Wir sind bei der Übergabe immer sehr genau.

Uwe Beckmeyer (SPD):Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Ent-

scheidung, über die ich gerade gesprochen habe, wirddie Bahn treffen müssen. Sie wird sie auch treffen, undzwar im Sinne ihres eigenen Verständnisses von Wirt-schaftlichkeit. Insofern gilt: Wenn Heiner Geißler sagt,der Ausgang des Stresstestes sei offen, so ist ihm beizu-pflichten.

Aber – und da widerspreche ich dem einen oder ande-ren in Stuttgart – diesem Stresstest liegt eine Verabre-dung zugrunde, und zwar darüber, wie er durchgeführtund bewertet wird. Das geschieht nämlich zunächstdurch die Bahn, dann durch die SMA, und schließlich er-folgt die Bewertung durch den Sachverständigenkreisum Herrn Geißler. Das ist – so denke ich – der richtigeWeg. Darum habe ich im Hinblick auf die ganze Aufre-gung der letzten Tage die Bitte: Tragen wir nicht dazubei, dass sich das fortsetzt.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Herr Kollege.

Uwe Beckmeyer (SPD):Ich rate zu Gelassenheit und dazu, dass dem Gremium

um Heiner Geißler am 14. Juli der Raum gegeben wird,die Ergebnisse der Öffentlichkeit vorzustellen. Am Endedes Tages werden alle die, die sagen: „Dieser Stresstestwar erfolgreich“, zufrieden sein.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Herr Kollege!

Uwe Beckmeyer (SPD):Dann hat er aber auch ein entsprechendes Testat be-

kommen.

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Auch das Einpacken verlängert nicht die Redezeit.

Uwe Beckmeyer (SPD):Dann hat er auch alles, was wir nötigerweise brau-

chen.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, ich bedanke mich fürdie Zeit, die Sie mir gewährt haben.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Habe ich doch gar nicht; würde ich auch niemals.

Hartfrid Wolff hat das Wort für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was

Grüne und SPD in Stuttgart inszenieren, ist schlichtVolksverdummung. Das beweist auch die Rede des Kol-legen eben. Die SPD hat sich vor der Landtagswahl klarzu Stuttgart 21 bekannt. Jetzt lässt sie den grünen Koali-tionspartner Angriffe gegen die Bahn und gegen S 21führen – und schweigt. Sie berät, aber sie schweigt.

Auch zu den gewaltsamen Übergriffen von fanatisier-ten S-21-Gegnern hat sie wenig gesagt. Die SPD musssich aber durchsetzen und der Bahn zu ihrem Recht ver-helfen. Von ihr erwarten wir ein klares Bekenntnis zuStuttgart 21 und zu entschlossenem Handeln.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Die SPD ist aber offensichtlich auch von ihremSelbstwertgefühl her in der Landesregierung nur Junior-partner. Sie wirkt wie der Bettvorleger des grünenMinisterpräsidenten und nicht wie eine aktive Partei, diedie Interessen ihrer Wählerinnen und Wähler wahrneh-men möchte.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Selbstverzwergung der SPD!)

Der Wechsel zu einer grün-geführten Regierung hatoffenbar nicht – wie der eine oder andere gehofft hat –zu einer Befriedung der Situation in Stuttgart geführt. ImGegenteil: Das Chaos in der Landesregierung hat in denletzten Tagen massiv zugenommen. Offenbar wird Zau-berlehrling Kretschmann die Geister, die er im Wahl-kampf rief, nicht wieder los. Zum Erreichen der Machtwar dem Zauberlehrling die machtpolitische Instrumen-talisierung dieses Themas gut; zum verantwortungsvol-len Umgang mit der Macht reicht das aber nicht aus.

Wenn Demonstranten Sachbeschädigungen oder An-griffe auf Polizisten begehen, ist das nicht nur rechtswid-rig;

(Uwe Beckmeyer [SPD]: Die Rede hätten Sievor einem halben Jahr halten sollen, als es an-dersherum war! Unglaublich!)

es ist auch nicht vom Demonstrationsrecht des Grundge-setzes gedeckt. Es stellt auch im Hinblick auf das vertre-tene Ziel ein Armutszeugnis dar: Offensichtlich geht esden Leuten im Wesentlichen um Krawalle und nichtmehr um Sachargumente. Die Landesregierung unterKretschmann muss endlich die Rechtslage akzeptieren,dies auch in den eigenen Stellungnahmen deutlichmachen und deeskalierend wirken. Das KabinettKretschmann wirkt aber nicht deeskalierend.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Richtig!)

Wir fordern die Landesregierung von Baden-Württemberg ebenso wie die Grünen und die SPD imBund auf, sich nicht nur deutlich von den gewalttätigenAuseinandersetzungen vom 21. Juni zu distanzieren,sondern sich auch klar zum Rechtsstaat zu bekennen.Das schließt das Bekenntnis zu geschlossenen Verträgenund rechtsverbindlichen Entscheidungen mit ein.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – UweBeckmeyer [SPD]: Wer stellt das denn in-frage?)

Die Gegner des Projekts argumentieren, das ProjektStuttgart 21 sei illegitim. Was ist das für eine Selbstherr-lichkeit einer in absoluten Kategorien denkenden Mei-nungsclique mit einer vermeintlich übergeordneten Mo-ral!

(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wo haben Sie das abgeschrieben?)

Eine von den Grünen geförderte Empörungskultur er-setzt keinen nachhaltigen politischen und demokrati-schen Prozess.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP – UweBeckmeyer [SPD]: Lösen Sie sich mal von Ih-rem Text und reden Sie frei!)

Es birgt eine Gefahr für unsere Demokratie, wenn wirgemeinsame Regeln und Gesetze der Laune eines Au-genblicks unterwerfen.

(Lachen des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Die FDP setzt sich seit Jahren dafür ein, dass dasQuorum für Volksentscheide in Baden-Württembergdeutlich gesenkt wird. Dahinter steht auch eine liberaleGrundüberzeugung. Es kann aber nicht darum gehen,eine aktuelle Stimmung auszunutzen und deshalb imParforceritt die Landesverfassung zu ändern. Wenn dannaber noch ein Volksentscheid nur dazu dienen soll, dievon den Grünen selbst geschaffene Regierungskrise zubeenden, zeugt das eindeutig von Hilflosigkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Martin Burkert [SPD]: Das sind Reflexe einerWahlniederlage!)

Meine Damen und Herren, der Umgang des Verkehrs-ministers mit dem Projektpartner Bahn ist schlicht un-verschämt. Obwohl sein Ministerium im gemeinsamenLenkungskreis mit am Tisch sitzt, gibt sich HerrHermann unwissend; er behauptet, widerspricht, be-

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Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

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hauptet, widerspricht. Ich frage mich: Was ist das für einPersönlichkeitsprofil? Der Stuttgarter Verkehrsministerist eben nicht nur der Minister für die Stuttgart-21-Geg-ner, sondern für alle Bürgerinnen und Bürger in Baden-Württemberg; sie schätzen Ehrlichkeit, Rechtsstaatlich-keit und Demokratie. Verkehrsminister Hermann hatvielleicht ein Parteibuch, aber sonst nichts, was ihn fürsein politisches Führungsamt qualifiziert.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – UweBeckmeyer [SPD]: Er kann sich nicht einmalwehren! Sie greifen hier eine Person an, dienicht Mitglied dieses Parlaments ist!)

Stuttgart 21 stärkt den Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg, schafft neuen Wohnraum und Arbeits-plätze.

(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Sagen Sie mal was Inhaltliches!)

Anders als mit den Grünen und ihren allergischenReaktionen auf Großvorhaben aller Art ist die Umset-zung wichtiger Infrastrukturprojekte mit uns weiterhinmöglich;

(Zuruf von der FDP: Genau!)

wir bleiben bei unserer klaren Linie. Die FDP steht imBund wie in Baden-Württemberg zu Stuttgart 21; siesteht zu Rechtsstaatlichkeit, Offenheit und für eine Zu-kunft für Baden-Württemberg.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Heike Hänsel [DIE LINKE]: Sie setzen Mil-liarden in den Sand!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Michael Schlecht hat das Wort für die Fraktion Die

Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Michael Schlecht (DIE LINKE):Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Zu den Merkwürdigkeiten der Überschrift dieser Aktuel-len Stunde hat der Kollege Beckmeyer schon alles ge-sagt; das erspart mir ein bisschen Redezeit.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Uns auch!)

Man muss eines sehr deutlich sagen: Der sogenannteStresstest, um den es hier geht, war von Anfang an eineFarce.

(Beifall bei der LINKEN)

Bei der sogenannten Schlichtung wurde Ende Novemberletzten Jahres vereinbart, dass der Stresstest transparentund unter Beteiligung der Gegner von Stuttgart 21durchgeführt wird. Vereinbart war, dass die Inputvariab-len und die Rechenmethoden gemeinsam entwickelt undabgestimmt werden. Nichts davon ist eingehalten wor-den. Von daher ist alles, was unter der Überschrift„Stresstest“ läuft, von vornherein eine Farce und imGrunde nichts wert. Das ist der erste Skandal, den mandeutlich benennen muss.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Jetzt hat die Bahn im stillen Kämmerlein alleine vorsich hin gerechnet, genauer: Sie hat manipuliert. Sie hatso lange gerechnet – das kann man den Gerüchten in derPresse entnehmen –, bis etwas herauskam, das ihr in denKram passte.

(Oliver Luksic [FDP]: Woher wissen Sie das denn?)

Das ist schlichtweg eine Manipulation.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Halten Sie sich an dieFakten, nicht an Gerüchte! Sie reden von Ge-rüchten, kennen aber das Ergebnis nicht! Dasist unseriös!)

– Sie haben eine Aktuelle Stunde zu Gerüchten bean-tragt.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Und Sie bewerten sie!)

Dazu muss man sich doch irgendwie verhalten.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

Dass die Bahn die Ergebnisse ihres Manipulations-tests – so muss man ihn im Grunde genommen nennen –zwei Wochen vor der vereinbarten Veröffentlichung andie Presse weitergegeben hat, ist schlichtweg eine Un-verschämtheit. Dahinter steckt Folgendes: Der Rambo-Kurs der Bahn soll legitimiert werden, damit schnellweitergebaut werden kann. Das Entscheidende ist – dasist der eigentliche Skandal –, dass die Regierung hier inBerlin der eigentliche Motor des Rambo-Kurses derBahn in Stuttgart ist. Dieses Projekt soll mit Gewaltschnell durchgezogen werden.

(Beifall bei der LINKEN)

In den Ergebnissen dieses Manipulationstests wirdstolz darauf verwiesen, dass die Vorgabe einer 30-prozen-tigen Leistungssteigerung erfüllt wird – zumindest liestman das in den Zeitungen –, und das, ohne jemals geprüftzu haben, ob mit dem jetzigen Bahnhof eine 30-prozen-tige oder noch höhere Leistungssteigerung möglichwäre. Nach unseren Berechnungen, nach unseren Ein-schätzungen, nach dem, was uns das Bündnis sagt, istdas in jedem Fall möglich. Insofern ist die Erfüllung derBedingungen dieses sogenannten Stresstests von vorn-herein fraglich.

Hinzu kommt, dass ein moderner Taktfahrplan mitStuttgart 21 nicht möglich ist. Es gibt mittlerweile Aus-sagen des angenehmen Herrn Kefer, denen man entneh-men muss, dass er dem zustimmt. Das sind die wirkli-chen Skandale, die sich schon jetzt abzeichnen.

Hinzu kommt, dass dieser Stresstest anders geplantwar. Der Stresstest war – im Gegensatz zu dem, was hiererzählt wird – als Grundlage für die weitere Diskussiongedacht. Hinzu kommt, dass neben dem erfolgreichenStresstest die von Herrn Geißler formulierten fünf oder

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Michael Schlecht

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sechs weiteren Konditionen erfüllt sein müssen, damitman aus Geißlers Sicht überhaupt über den Weiterbauvon Stuttgart 21 nachdenken kann.

(Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Falsch!)

All diese Punkte sind nach dem, was man bisher hört,nicht abgearbeitet. Daher kann man nicht sagen, dass mitder Präsentation der Ergebnisse dieses Manipulationstes-tes irgendein Tor aufgestoßen oder eine Entscheidungfür Stuttgart 21 getroffen wird.

(Beifall bei der LINKEN)

Selbst wenn diese Tests alle positiv verlaufen würden:Die Menschen in Stuttgart haben einen viel umfassende-ren Blick. Viele Menschen in Stuttgart lehnen Stutt-gart 21 nicht deshalb ab, weil der Bahnsteig einen zustarken Winkel und vieles andere mehr hat, sondern weiles selbst in der reichen Schwabenmetropole viele sozialeMissstände gibt. Die Kinderarmut ist zu hoch, Kitaplätzefehlen usw.

(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Alles CDU-gemacht!)

All das passt nicht damit zusammen, dass bei diesemWahnsinnsprojekt Milliarden und Abermilliarden ver-pulvert werden. Das ist eine ganz entscheidende Motiva-tion für viele Menschen in Stuttgart, gegen dieses Pro-jekt zu sein. Diese Motivation, gegen das Projektanzutreten, wird bestehen bleiben. Ich finde, deswegensollten diese Menschen unterstützt werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Zum Schluss: Man muss schon einmal fragen, washinter dieser Rambo-Methode der Bahn und der Bundes-regierung steckt. Worum es im Kern geht, ist vollkom-men klar:

(Otto Fricke [FDP]: Jetzt kommt die große Verschwörungstheorie!)

Das Projekt Stuttgart 21 ist kein Eisenbahnprojekt. ImKern ist das ein Immobilienprojekt.

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

Mit der Querlegung des Bahnhofs werden Grundstückefrei. Es ist vollkommen klar, dass Union und FDP, leideraber auch die SPD, im Zweifelsfall für Immobilienspe-kulanten viel mehr Verständnis haben als für die Men-schen in einer Stadt.

(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Jetztwird es aber sehr dünn! – Ulrich Lange [CDU/CSU]: Der Sozialismus nimmt seinen Lauf!)

Das Projekt ist noch nicht durch. Es kann noch zu Fallgebracht werden, wenn die Stuttgarterinnen und Stutt-garter mit vielfältigen Protesten dagegen antreten undsich dagegen auflehnen, wie das im letzten Sommer undHerbst der Fall war.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Kollege Schlecht.

Michael Schlecht (DIE LINKE):Ich bin gleich fertig. – Wir haben es in unserer Hand.

Wir haben die Chance, dieses Projekt zu Fall zu bringen.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Für Bündnis 90/Die Grünen spricht Dr. Anton

Hofreiter.

(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Die bay-rische Vertretung für Baden-Württemberg!)

Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Es entbehrt nicht eines gewissen Amüse-ments, wenn sich ein Vertreter dieser Regierungskoali-tion über eine Landesregierung aufregt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Laut Beobachtungen aller politisch Interessierten undübereinstimmender Kommentare in allen Zeitungen istdie momentane schwarz-gelbe Bundesregierung mit Ab-stand die schlechteste Bundesregierung, die dieses Landje hatte. Daher wären etwas mehr Bescheidenheit undDemut angemessen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN – Hartfrid Wolff [Rems-Murr][FDP]: Zum Thema kommen! – Otto Fricke[FDP]: Das hilft jetzt unheimlich! – ThomasStrobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Zur Sachekommen!)

Es gab allerdings Zeiten, in denen die CDU/CSUdurchaus in der Lage war, Regierungen vernünftig zuführen. Aus diesen Zeiten stammt ein ehrenwerter Politi-ker namens Heiner Geißler. Auf die massiven Anwürfegegen den Verkehrsminister in Baden-Württemberg,Herrn Hermann,

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Zu Recht!)

möchte ich Ihnen mit einem Zitat dieses seriösen Kolle-gen von Ihnen, der aus Zeiten stammt, als Sie noch zuvernünftiger Politik in der Lage waren, antworten. Aufdie Frage, ob er Herrn Hermann für einen guten oderschlechten Minister hält, antwortet Herr Geißler, CDU-Politiker:

Er ist vor allem ein Überzeugungstäter und mir lie-ber als alle angepassten Politik-Yuppies.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

Herr Hermann ist Herrn Geißler also lieber als alle ange-passten Politik-Yuppies.

(Otto Fricke [FDP]: So wie Sie!)

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Dr. Anton Hofreiter

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Jeder kann jetzt selber entscheiden, wer zu dieser Kate-gorie gehört. Mir würde der eine oder andere einfallen.

(Otto Fricke [FDP]: Wer ist denn hier Politik-Yuppie?)

Vollkommen amüsant ist, dass ausgerechnet am heuti-gen Tag betont wird, dass einmal getroffene Entschei-dungen nicht revidiert werden können.

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derSPD und der LINKEN – Birgitt Bender[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das merkendie nicht einmal!)

Das entbehrt nicht unfreiwilliger Komik.

(Otto Fricke [FDP]: Jetzt reden wir über Atom,über die Regierung! Können wir nicht auchnoch über Hartz IV reden?)

Was haben wir heute hier im Bundestag gemacht?Wir haben mit großer Einigkeit den Ausstieg aus derAtomenergie beschlossen. Für uns war dies eine konse-quente Fortsetzung unserer Politik, für Sie eine180-Grad-Wende.

(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Was hatdas mit Stuttgart 21 zu tun? – Otto Fricke[FDP]: Können wir einmal zum Thema kom-men?)

Die Vertreter dieser Koalition, die heute bei einem ganzentscheidenden Thema, der Energieversorgung für dasbedeutendste Industrieland Europas, diese 180-Grad-Wende ihrer Politik und ihre komplette Kapitulation un-terschrieben haben, sagen: Bei einem Bahnhof – derBahnhof ist, glaube ich, nicht ganz so bedeutend wiedas, was wir hier heute beschlossen haben –

(Otto Fricke [FDP]: Aha! Ein Bahnhof istnicht so bedeutend! Okay! – Hartfrid Wolff[Rems-Murr] [FDP]: Können wir das festhal-ten: Er ist nicht bedeutend?)

darf eine neu gewählte Regierung, ein neu gewähltesParlament keine anderen Entscheidungen treffen. Ent-schuldigen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, das istlächerlich!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

Geben Sie es ruhig ehrlich zu; denn an dem heutigen Taghaben Sie sich komplett der Lächerlichkeit preisgege-ben.

Jetzt schauen wir uns das Ganze an; man kann sichhier eigentlich nur wiederholen. Herr Beckmeyer hatwunderbar vorgelesen, wie der Stresstest vonstatten gehtund wann die Ergebnisse veröffentlich werden sollen.Sie haben heute eine Aktuelle Stunde dazu beantragt.Wie wäre es, einfach auf die Ergebnisse des Stresstestszu warten und sich heute nicht groß darüber aufzuregen?

Dass die Bahn falsch spielt, das kennen wir zu Ge-nüge. Wer in der letzten Legislaturperiode im Verkehrs-

ausschuss war, weiß – das wird jeder zugeben, wenn erehrlich ist –, wie wir alle gemeinsam, auch die damali-gen Vertreter der Regierungsfraktionen, mehr oder weni-ger gegen die Privatisierung der Bahn – dieses Vorhabenist schiefgegangen – gekämpft haben.

(Otto Fricke [FDP]: Ist das jetzt Ihre Meinung als Vorsitzender des Verkehrsausschusses?)

– In der letzten Legislaturperiode war Herr Lippold Aus-schussvorsitzender, und auch er war auf unsere Seite.

(Otto Fricke [FDP]: Aber Sie sind der Mei-nung, ja?)

Aufgrund dieser Erfahrung wissen wir, dass die Bahn,wenn ihr etwas wichtig ist, durchaus nicht immer ganzseriös spielt.

(Otto Fricke [FDP]: Also die Bahn lügt?)

Ihnen von der FDP empfehle ich, Ihren ehemaligenverkehrspolitischen Sprecher Horst Friedrich zu fragen.Sie von der CDU/CSU sollten einmal bei NorbertKönigshofen nachfragen. Beide können Ihnen erzählen,dass die Bahn in für sie entscheidenden Fragen nicht im-mer hundertprozentig seriös spielt. Also sollte man sichüberhaupt nicht darüber aufregen, dass eine Landesre-gierung Zweifel an den Zahlen der Bahn hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der LINKEN – OliverLuksic [FDP]: Ausgerechnet die Grünen het-zen gegen die Bahn!)

Fassen wir zusammen: Sie wollen uns hier erzählen,dass in einer Demokratie gefallene Entscheidungen nichtrevidiert werden können; das ist am heutigen Tag völligunglaubwürdig. Sie wollen uns hier erzählen, dass dieBahn immer alle Zahlen seriös präsentiert.

(Otto Fricke [FDP]: Also Bilanzfälschung? –Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Was istdas für ein Vorwurf?)

Das ist völlig unglaubwürdig; das glauben Ihre eigenenVertreter nicht. Entspannen Sie sich, seien Sie gelassen,und wir schauen, wie das Ganze weitergeht.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Steffen Bilger hat das Wort für die CDU/CSU-Frak-

tion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Steffen Bilger (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Kollege Hofreiter, ich weiß nicht, ob dieAussagen über die Bahn, die Sie gerade getroffen haben,für den Vorsitzenden des Verkehrsausschusses des Deut-schen Bundestages angemessen sind.

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Steffen Bilger

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(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Sind sieeben nicht!)

Die Süddeutsche Zeitung schrieb Montag: Stresstestbestanden, Stuttgart 21 kann wohl mehr, als die Gegnerdachten. Und weiter. Von Baden-Württembergs Verkehrs-minister Hermann kann man das noch nicht sagen. –Dem ist wenig hinzuzufügen. Ob der Stresstest tatsäch-lich bestanden wurde, wird die Untersuchung derSchweizer Firma SMA zeigen. Da diese aber in die auf-wendigen Simulationen der DB AG eingebunden war,gehe ich davon aus, dass von den Schweizern tatsächlichdas Okay kommen wird: Stresstest bestanden.

Wie wir mittlerweile wissen, ist das voraussichtlicheErgebnis auch der grün-roten Landesregierung schonlange bekannt. Sie wurde stets auf dem Laufenden ge-halten. Das geschah teilweise in mehrstündigen Sitzun-gen, an denen auch der Verkehrsminister oder seineengsten Mitarbeiter teilgenommen haben.

Für Winfried Hermann hätte ich einige Ideen, wie erin seiner neuen Aufgabe an Kontur gewinnen könnte:Wie wäre es beispielsweise mit einem sachlichen Um-gang mit Stuttgart 21? Wie wäre es mit einem unideolo-gischen Blick auf dieses demokratisch legitimierte Groß-projekt? Wie wäre es mit einem verantwortungsvollenVerhalten, das einem Mitglied der Exekutive angemes-sen ist?

(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Machen Sie es doch auch einmal!)

Und wie wäre es vor allem mit mehr durchdachten Äu-ßerungen? Denn dieses ständige „Ich dementiere“ wirdjedenfalls nicht lange gut gehen.

Verantwortung übernehmen ist jetzt angesagt – undnicht, den Verschwörungstheoretikern unter den S-21-Gegnern ständig neue Nahrung zu geben. Dass er sichgestern im baden-württembergischen Landtag noch nichteinmal dazu durchringen konnte, klar zu sagen, dass erdas Ergebnis des Stresstests akzeptieren werde – wie esalle Parteien in der Schlichtung vereinbart hatten –, istbezeichnend. Deshalb frage ich: Ist das der neue Politik-stil der Grünen, sobald man an der Macht ist?

Winfried Hermann hat über die Bahn gesagt: „Bahnspielt foul“. Aber wenn hier einer foul spielt, dann jawohl Winfried Hermann selbst. Mit allen Tricks – teil-weise auch entgegen den Vereinbarungen in der Schlich-tung – versucht er, von seinem Infrastrukturverhinde-rungsministerium aus Stuttgart 21 zu verteuern, damit esüber die vertraglich maximal vorgesehenen 4,5 Milliar-den Euro kommt.

So weit wir es aber nun überblicken, werden wederein neuntes oder zehntes Gleis notwendig sein nochsonst sehr teure Nachbesserungen. Im Gegenteil: Nachjetzigem Stand wird es 40 Millionen Euro kosten, dieVerbesserungsvorschläge umzusetzen. Übrigens sind dastatsächlich sinnvolle Neuerungen, die wir der Schlich-tung durch Heiner Geißler zu verdanken haben. Die vonden Projektgegnern – bis hin zu MinisterpräsidentKretschmann – prophezeiten und herbeigesehnten Un-

summen im hohen dreistelligen Millionenbereich habensich klar als das entpuppt, was sie sind: falsche Prophe-zeiungen. Der Kostenrahmen wird durch die mit demStresstest verbundenen Verbesserungen nicht im Ansatzgesprengt.

(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Was Sie alles wissen!)

Noch einmal zu Hermann und dem Foulspiel: DieGrünen werden die Geister nicht mehr los, die sie geru-fen haben. Vor der Landtagswahl haben sie den Protestauf die Straße geholt, um das demokratisch legitimierteProjekt Stuttgart 21 zu verhindern.

(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Da war aber jemand anders der Zauber-lehrling!)

Jetzt sind sie an der Macht, und der Protest ist immernoch da. Mit falschen Versprechungen wurden Wählergelockt.

(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ihre ehemaligen Wähler!)

– Ich sage zu Ihnen von der Linken nur: 2,8 Prozent beider Landtagswahl – mit dem Spruch: „Wählt uns, undwir verhindern Stuttgart 21.“ – Aber die klare Mehrheitder Wähler hat Parteien gewählt, die für Stuttgart 21sind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Fast 70 Prozent haben CDU, SPD und FDP gewählt.Und jetzt? Letzte Woche wurden neun Polizisten ver-letzt, und es entstand Sachschaden in Millionenhöhe.

(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ja, in Millionen-höhe! Wer es glaubt, wird selig!)

Dazu, dass sich Winfried Hermann darüber aufregt,dass von der Bahn das Stresstestergebnis durchgesickertist, kann ich nur sagen: Wer im Glashaus sitzt, solltenicht mit Steinen werfen. Wie wir jetzt wissen – daswurde schon gesagt –, hat er selbst sich zuerst der Pressegegenüber zum Stresstest geäußert. Erst danach sicker-ten auch von der Bahn Erkenntnisse zum Stresstestdurch.

Dass aber der baden-württembergische Verkehrsmi-nister dann auch noch der Bahn, die Baurecht hat, eineMitschuld an den Ausschreitungen der vergangenen Wo-che – nach dem Motto „Ihr hättet ja nicht weiterbauenmüssen“ – gegeben hat, ist schlichtweg völlig daneben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: EinSkandal ist das!)

Meine Damen und Herren, angemessen wäre nichtnur eine klare Distanzierung von der Gewalt gewesen,sondern auch eine Distanzierung von denen, die dieseGewalt geschürt und sie anschließend sogar noch alsfriedliche Feierabendstimmung verharmlost haben. Weraber bei den selbst ernannten Parkschützern, die für dieEskalation mitverantwortlich waren – die die Gewalt erstleugneten und dann der Polizei die Schuld gaben, wie

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Steffen Bilger

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vor einigen Wochen geschehen –, als neuer Minister ei-nen Antrittsbesuch am Bauzaun macht, der diskreditiertsich selbst. Diese Unterwerfungsgeste von WinfriedHermann war völlig unangebracht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was bleibt den Grünen jetzt noch? Vielleicht einekleine Resthoffnung auf die Volksabstimmung zuStuttgart 21, die im Herbst stattfinden soll? Wie manhört, macht sich nun plötzlich auch die neue Landesre-gierung Sorgen, ob ein Volksentscheid in dieser Frageüberhaupt verfassungsgemäß ist. Wie auch immer: An-gesichts der stetig wachsenden Zustimmung für Stutt-gart 21 freue ich mich auf die Volksabstimmung, wennsie denn stattfindet. Besonders freue ich mich auf dieZusammenarbeit mit der SPD bei dieser Volksabstim-mung, gemeinsam für Stuttgart 21.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Herr Kollege.

Steffen Bilger (CDU/CSU):Die Grünen in Bund und Land und konkret Minister-

präsident Kretschmann fordere ich auf: Stellen Sie sichder Realität! Sie müssen endlich Ihrer Verantwortung inder Landesregierung nachkommen. Die Menschen inBaden-Württemberg verdienen es.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Ute Kumpf hat das Wort für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Ute Kumpf (SPD):Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Damen und Herren

auf den Rängen! Wir sind nicht im Landtag von Baden-Württemberg, wir sind in Berlin.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Oh ja!Das hätte wahrscheinlich keiner gemerkt,wenn Sie es nicht gesagt hätten!)

Es geht auch nur um einen Bahnhof. Es geht nicht umLeben und Tod. Wie Sie feststellen, beschäftigt das Pro-jekt Stuttgart 21 aber auch uns in Berlin. Vor allem inRichtung von CDU/CSU und FDP muss ich sagen: Mirist nicht ganz erklärlich, warum Sie dieses Thema aufdie Tagesordnung gesetzt haben.

(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: KeineSorge! Das erklärt Ihnen Herr Strobl gleichnoch mal!)

Sind das Nachwehen, weil Sie die Wahl in Baden-Württemberg verloren haben? Warum wird hier über je-manden gerichtet, und warum wird hier jemand verur-teilt, der nicht präsent ist?

(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Ach was!Die SPD redet doch nur darum herum! –

Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: MeinenSie die Deutsche Bahn oder wen?)

Oder wollen Sie vielleicht alte Geschichten aufrollen?

Fakt ist doch, dass Ihr Vertreter, Herr Heiner Geißler,einen Schlichterspruch gesprochen hat. Dieser Schlich-terspruch wurde sowohl von den Gegnern als auch vonden Befürwortern getragen. In diesem Schlichterspruchwurde ein Verfahren ausgehandelt. Es wurde festgelegt,wie der Stresstest bzw. Faktencheck durchgeführt wird,wie er zeitlich ablaufen wird, wann was überreicht wirdund welche Fakten einfließen werden; manche Faktenwurden vom Verkehrsministerium Baden-Württembergnachgereicht. Der Zeitplan stand. Auch Sie haben in Ge-sprächen mit Herrn Grube erfahren, dass das Datum14. Juli eingehalten werden muss. Weil sonst alles neuhätte ausgeschrieben werden müssen, stand der 14. Julials Schlichtungstag fest. Warum also diese AktuelleStunde? Klären Sie das doch bitte im Landtag von Ba-den-Württemberg, aber nicht im Deutschen Bundestag.Der Deutsche Bundestag hat sich mit diesem Thema ei-gentlich gar nicht mehr zu befassen; das ist das Erste.

(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Zur Sa-che! Nicht ablenken! – Ulrich Lange [CDU/CSU]: Interessant! Das ist wohl der Unter-schied zwischen Opposition und Regierung! –Weitere Zurufe: Was? Sonst waren Sie dochimmer diejenigen, die hier über dieses Themadiskutieren wollten! – Das ist doch unmög-lich!)

– Nein. Hier ist schlichtweg der falsche Ort.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Ihnen, Kollege Hofreiter, muss ich sagen: Es ist we-nig hilfreich, wenn einem die Argumente ausgehen, einBahn-Bashing zu inszenieren und die Bahn als unseriösdarzustellen. Auch das hilft uns nicht weiter.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Vielleicht – Sie sind ja neuer Vorsitzender des Verkehrs-ausschusses – hat Ihr Verhalten auch damit zu tun, dassmanche Grüne, wenn sie in Führungspositionen kom-men, Schwierigkeiten haben, Verantwortung zu überneh-men.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]:Ganz genau! Siehe Verkehrsminister Hermann!Siehe Herr Hofreiter! Es wird langsam schlimm!)

Vielleicht gilt das nur für männliche Grüne; das weiß ichnicht. Ich lasse die Frauen aber einmal außen vor. Siemüssen sich der Verantwortung stellen und so agieren,wie es sich für einen Ausschussvorsitzenden gehört. Dasgilt natürlich auch für einen Minister.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das war jetzt richtig gut!)

Man darf nicht in Rollenkonflikte geraten.

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Ute Kumpf

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(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Das Gleiche gilt für den Kollegen Schlecht; ichglaube, er war schon lange nicht mehr in Stuttgart. Ichfinde es übrigens sehr schön, dass sich so viele Nicht-Stuttgarter Gedanken über Stuttgart machen und uns im-mer wieder furchtbar gute Ratschläge geben.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)

Die Leute in Stuttgart wollen endlich Klarheit, egal inwelche Richtung. Sie wollen ein Ergebnis. Sie wollen,dass durch den Schlichterspruch eine Entscheidung ge-fällt wird.

Wahrscheinlich werden auch Sie in den letzten Wo-chen Besuch von Schulklassen aus Ihren Wahlkreisenbekommen haben. Die Schulklassen aus meinem Wahl-kreis Stuttgart haben die Faxen inzwischen dicke.

(Otto Fricke [FDP]: Ja!)

Sie wollen nicht mehr demonstrieren. Sie haben auch dieBelastungen dicke, die durch die Demonstrationen ent-standen sind.

(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Na also! Fertig bauen!)

Die Jugend will also Klarheit, egal wie das Verfahrenausgeht. Auch die Stadt ist am Rand der Erschöpfung.

(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Dannwirken Sie mal auf die Grünen in Stuttgartein!)

Es demonstrieren auch Leute von außerhalb. Es sinddoch nicht nur die Einheimischen, die in Stuttgart vordem Bahnhof stehen. Es sind auch Menschen aus ande-ren Regionen, aus ganz Baden-Württemberg und ausganz Deutschland. Die Stuttgarter machen bei den De-monstrationen also nicht die Mehrheit aus. Bleiben Siebei den Fakten.

Sie sollten zur Kenntnis nehmen – das tut mir persön-lich sehr leid –, dass wir bei den Wahlen die Mehrheitnicht erreicht haben. Die CDU kommt in Baden-Württemberg noch immer auf 39 Prozent. Wir haben miteiner hauchdünnen Mehrheit die grün-rote Regierungstellen können.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ja, ja! Das hättet ihr euch gut überlegen sollen!)

Wir müssen bei den Fakten bleiben, wenn es um Demo-kratie geht. Sie als Bundestagsabgeordnete müssen ak-zeptieren, dass die Linke in Stuttgart nicht die Mehrheithat. Sie hat auch in Baden-Württemberg oder hier imDeutschen Bundestag nicht die Mehrheit.

(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Gott sei Dank!)

Am 14. Juli 2011 werden uns die Ergebnisse des Fak-tenchecks vorliegen. Herr Geißler hat uns und den Ver-antwortlichen im Schlichterspruch Folgendes aufgetra-gen: Es muss um ein neuntes und zehntes Gleis erweitertwerden. Der zweigleisige Ausbau zum Flughafen muss

erfolgen. Die Wendlinger Kurve muss kreuzungsfrei an-gebunden werden. Die Ferngleise von Zuffenhausenmüssen angeschlossen werden. Alle Strecken von Stutt-gart 21 müssen zusätzlich mit konventioneller Technikausgestattet werden. Die Deutsche Bahn muss sich ver-pflichten, für den Bahnknoten Stuttgart eine Simulationdurchzuführen. Der Bahnhof muss behindertengerechtsein. Maßnahmen für den Katastrophenalarm müssenvorgesehen werden. All dies wird am 14. Juli 2011 aufden Tisch kommen. Herr Geißler hat sich bereit erklärt,den Faktencheck durchzuführen. Lassen Sie uns das Er-gebnis abwarten.

Wenn zwischen den beiden Koalitionspartnern Dis-sens besteht – das wissen Sie; Sie haben den Koalitions-vertrag gelesen –, dann wird es einen Volksentscheid ge-ben. Der Volksentscheid wird für den Fall, dass ernotwendig wird, bereits vom Justizministerium vorbe-reit. Vielleicht brauchen wir ihn aber gar nicht. Dennvielleicht kommt es aufgrund des Ergebnisses des Gut-achtens dazu, dass Stuttgart 21 gebaut werden kann. Wirwaren immer im Dissens; das wissen Sie. Warten Siealso den 14. Juli 2011 ab. Ich glaube, an diesem Datumhat in Frankreich irgendetwas Revolutionäres stattgefun-den. Vielleicht werden auch wir eine Revolution starten.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD – Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Da bin ich mal gespannt!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Werner Simmling hat jetzt das Wort für die FDP-

Fraktion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Werner Simmling (FDP):Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Sehr verehrte Damen und Herren! Die Verantwor-tung, die Grün-Rot in Sachen Stuttgart 21 zu überneh-men hat, lastet schwer. Man hat den Eindruck, dass siesogar zu schwer auf ihren Schultern lastet. Das Chaos,das im Moment dort herrscht, liebe Frau Kumpf, ist derGrund, weshalb wir das Thema Stuttgart 21 hier heutezum x-ten Mal debattieren.

Das Regieren hat sich die grün-rote Landesregierungin Baden-Württemberg sicher nicht so vorgestellt.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Bereits unmittelbar vor seiner Vereidigung kündigteWinfried Hermann an – ich darf das einmal wiederholen –,dass er den Bau nicht mehr betreuen und die Verantwor-tung an ein anderes Ministerium abgeben würde, wennes bei dem geplanten Volksentscheid eine Mehrheit fürden neuen Bahnhof gibt.

(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Peinlich! Aber auf dem Posten sitzen bleiben!)

Bei dieser Haltung kann man doch nur mit dem Kopfschütteln. Das geht nicht. Das zeigt einmal mehr, wel-ches Demokratieverständnis und welches Verantwor-

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Werner Simmling

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tungsbewusstsein die Grünen und in diesem Fall insbe-sondere Winfried Hermann an den Tag legen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die euphorische Erwartungshaltung, die Bündnis 90/Die Grünen vor der Wahl in Bezug auf eine Verhinde-rung von Stuttgart 21 bei ihrer Klientel geschürt hat,scheint nun in eine tiefe Enttäuschung und Resignationumzuschlagen. Um dies zu verhindern, versucht diegrün-rote Landesregierung nun alles, um Stuttgart 21 zutorpedieren. Man versucht, den Stresstest, dem EndeNovember 2010 alle Beteiligten – ich wiederhole: alleBeteiligten – in der Schlichtung mit Heiner Geißler zu-gestimmt haben, zu diskreditieren, und zwar noch bevordie Ergebnisse offiziell vorgestellt wurden.

Minister Hermann, der noch nie einen Hehl aus seinerAbneigung gegen Stuttgart 21 machte, beklagt sich inder Öffentlichkeit darüber, dass er bzw. die Landesregie-rung angeblich keinerlei Informationen über den Standder Untersuchungen habe. Wie kann das denn sein? DerMinister ist doch Mitglied im Lenkungskreis Stutt-gart 21. Er war informiert. So aber macht man Stim-mung. So sorgt man für böses Blut. Die Folge warenschwere Ausschreitungen bei den Demonstrationen dervergangenen Tage mit acht leichtverletzten und einemschwerverletzten Polizisten. Das ist ein übler Beweis fürdie verantwortungslose Politik der neuen Regierung.Anstatt zu deeskalieren, wird eine Blockadepolitik vor-bereitet, und die Bürger werden weiter verunsichert. Ichappelliere an dieser Stelle an die baden-württembergi-sche Landesregierung und fordere sie auf, ihrer Verant-wortung endlich gerecht zu werden und die Spielregeln,die alle Beteiligten – Bund, Land, die Stadt Stuttgart, dieRegion Stuttgart, der Flughafen Stuttgart und die Bahn –gemeinsam aufgestellt haben, auch einzuhalten und sichan unsere rechtsstaatlichen Grundsätze zu halten.

Wie muss es jetzt weitergehen? Jetzt müssen schnells-tens die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, denpolitischen und gesellschaftlichen Konflikt um Stutt-gart 21 zu lösen, das heißt Rückgewinnung von Ver-trauen und Glaubwürdigkeit. Es gilt jetzt, das offizielleErgebnis des Stresstests abzuwarten, welches nach derÜberprüfung durch die Züricher SMA am 14. Juli vorge-legt wird. Auch das ist ein Teil aus der Vereinbarungvom November 2010, dem alle Beteiligten zugestimmthaben.

Um es klar zu sagen, Herr Beckmeyer: Es war HerrHermann, der aus dem Nähkästchen plauderte und damitein Informationschaos anrichtete. Wenn der geplanteBahnhof die vorausgesetzten 30 Prozent mehr Verkehrabfertigen kann, dann wird Grün-Rot bauen müssen. Ichsage Ihnen: Die Mehrheit der Stuttgarter wird sich sehrdarauf freuen; denn es ist eine große städtebaulicheChance für Stuttgart, um alte Bausünden wiedergutzu-machen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Ulrich Lange hat das Wort für die CDU/CSU-Frak-

tion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ulrich Lange (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Ja, es droht den Grünen in Baden-Württemberg einErgebnis, das nicht ins parteipolitische Kalkül passt. Lie-ber Toni Hofreiter, ich habe bisher Ihre Reden als Fach-politiker zum Thema Bahn inhaltlich durchaus immerwieder geschätzt. Aber das, was Sie hier an inhaltsloserPolemik und Unverschämtheit gegenüber der DeutschenBahn und ihren Mitarbeitern, die diesen Test nach bes-tem Wissen und Gewissen nach fachlichen Regelndurchgeführt haben,

(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Woher wissen Sie das?)

vorgebracht haben, geht einfach zu weit. Wie wollen Sie,lieber Toni Hofreiter, bei der nächsten Ausschusssitzung,die Sie leiten, so viel Vertrauen aufbauen, dass wir mitder Deutschen Bahn im Ausschuss weiterhin vernünftigzusammenarbeiten können? Ich fand Ihre Rede gelindegesagt einen Skandal,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

und Sie täten gut daran, sich bei der DB AG, bei denMitarbeitern und beim Vorstand, dafür zu entschuldigen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich will auf die Fakten selbst nicht mehr eingehen. Ichstelle aber fest: Ihr Verkehrsminister war eingebunden.Ihr Verkehrsminister könnte hier sein, wenn er wollte.Liebe Kollegin Kumpf, insofern stimmt Ihr Einwandnicht: Er könnte hier auf der Bundesratsbank sitzen, sowie heute Vormittag Ihr Finanzminister, aber Sie habenAngst, Ihren Verkehrsminister hierher zu bringen, weiler sich dann äußern müsste.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Das will er aber nicht; denn das hätte unter Umständendie nächste Blamage und das übernächste Dementi zurFolge. So kann man keine glaubwürdige Politik gestal-ten; dabei legen Sie doch immer so viel Wert darauf.

(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das sind doch alberne Gerüchte! Dasist doch Kinderkram!)

Seien Sie mir nicht böse, aber wenn WinfriedHermann einen Stresstest als Minister hätte machenmüssen, dann hätte er ihn nicht bestanden; denn er de-mentiert permanent und behauptet, er wisse etwas nichtoder er kenne das alles nicht. Ich fragen Sie ganz offen:Was hat er die ersten Tage und Wochen in seinem Minis-terium gemacht? Das war doch sein Thema! Lieber ToniHofreiter, sagen Sie Winfried Hermann: Wir glaubenihm nicht!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

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Ulrich Lange

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Auch die Äußerungen im Rahmen der Randale – wirerinnern uns an die letzten Bilder, als es Randale gab –wirkten alles andere als deeskalierend. Ich habe die De-monstranten gehört. Das Ganze wurde dann auch nochals Freudenfest bezeichnet. Ich frage mich schon, ob wirangesichts von Schneisen der Verwüstung und verletztenPolizisten „Freudenfeste“ feiern können. Meine Damenund Herren der SPD, hier sind auch Sie gefordert – auchSie tragen Regierungsverantwortung in Stuttgart, wennauch nur als Juniorpartner –, auf Ihren Koalitionspartnereinzuwirken. Tun Sie das endlich,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-wie des Abg. Oliver Luksic [FDP])

damit Ihr Wunsch, Stuttgart 21 realisieren zu können,Wirklichkeit werden kann.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Kollege Schlecht, Ihre Rede war eine Rede im Sinneeines besten Krawallbürgers.

(Michael Schlecht [DIE LINKE]: Ui!)

Sie enthielt leider nur Unterstellungen und war ohne jedeSubstanz.

Die Süddeutsche Zeitung – Kollege Steffen Bilger hatsie schon zitiert –, die bisher kein großer Freund vonStuttgart 21 war, hat vor kurzem schön geschrieben:„Den Grünen gehen die Hürden aus“. Ja, den Grünen ge-hen die Hürden aus, und aus purer Panik und Verzweif-lung zweifelt man jetzt das Baurecht an. Das kann jawohl nicht sein.

Lieber Kollege Beckmeyer, statt hier hinsichtlich ir-gendeines Stresstests herumzueiern, der vielleicht vor-liegt oder auch nicht vorliegt, sollten Sie lieber IhremFraktionsvorsitzenden der SPD in Stuttgart folgen unddie Grünen auffordern, das Baurecht der Bahn zu akzep-tieren. Machen Sie es so wie Ihr Parteikollege, der Ko-alitionspartner in Stuttgart, und eiern Sie nicht rum. Daswar wirklich peinlich.

Wir freuen uns über einen zukunftsorientierten undtechnisch hervorragend geplanten Tiefbahnhof.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Herr Kollege.

Ulrich Lange (CDU/CSU):Ich bin mir sicher: Zusammen mit unserem Verkehrs-

minister und der DB werden wir die Eröffnung vonStuttgart 21 als Freudenfest feiern – für Stuttgart, fürseine Bürger und für alle Bahnreisenden.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Garantiert nicht!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Martin Burkert spricht für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Martin Burkert (SPD):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr verehrte Damen und Herren! Egal wie man zuStuttgart 21 steht, eines ist für alle, denke ich, klar: Wirwollen in Deutschland ein effizientes und modernesSchienennetz. Die Eisenbahn ist das umweltfreund-lichste und effektivste Verkehrsmittel, das wir inDeutschland haben. Darin sind sich hier alle einig, zu-mindest diejenigen, die eine ökologisch und ökonomischsinnvolle Verkehrspolitik machen.

Der Grund, warum wir uns heute hier versammelt ha-ben, ist der noch nicht vorgelegte Stresstest. In der Tatwird viel davon abhängen, wie dieser Stresstest ausfallenwird. Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen der rech-ten Seite dieses Hauses, ich habe viel Verständnis für Ih-ren Schockzustand, in dem Sie sich nach der Wahl in Ba-den-Württemberg anscheinend noch befinden, aberwarum man heute eine Aktuelle Stunde durchführt, ob-wohl das Ergebnis dieses Tests erst am 14. Juli 2011 prä-sentiert wird, kann ich nicht ganz nachvollziehen. Nor-malerweise greift man in ein laufendes Verfahren nichtein, aber das hängt wohl wirklich noch mit der Wahl inBaden-Württemberg zusammen.

Nach der ganzen Diskussion um Stuttgart 21 stehtfest: Wir brauchen in der Tat eine öffentliche Darstel-lung, um diese dann ausführlich und in einer breiten Öf-fentlichkeit erörtern zu können. Deswegen wird am11. Juli 2011 den Projektpartnern das Ergebnis vorge-legt, und am 14. Juli 2011 wird Heiner Geißler das Er-gebnis dann auch öffentlich erörtern. All das wurde fest-gelegt.

Ich plädiere eindringlich dafür, das Ergebnis in Ruhezu diskutieren und nicht wieder vorschnell Schlüsse zuziehen, wie das heute schon wieder der Fall war. Das giltfür alle Beteiligten: Bahn, Bundesregierung, Landesre-gierung, Kommune und auch Stuttgart-21-Kritiker.

Eines darf nicht mehr passieren – das muss man derVorgängerregierung vorwerfen –, nämlich dass man dieBevölkerung am Schluss wieder vor vollendete Tatsa-chen stellt. Herr Minister Ramsauer, in einer Sache binich mit Ihnen einig: Sie sagten gestern im Handelsblatt:Besonnenheit ist das oberste Gebot. In der Tat gilt esjetzt, in dieser Frage Besonnenheit zu bewahren.

Grundsätzlich ist festzuhalten, dass Großprojekte ei-nen arbeitsmarkt- und verkehrspolitischen Sinn ergebenmüssen. Ein Projekt wie Stuttgart 21 – das wissen Sieaus den Medien – verschlingt immense Investitionsmit-tel von Bund, Ländern und Kommunen und damit natür-lich unsere Steuergelder. Klar muss für uns auch sein,dass der demokratische Prozess eingehalten werdenmuss. Entscheidungen müssen transparent getroffenwerden. Wenn ein offizielles Ergebnis vorliegt und auf-grund der Faktenlage eine Entscheidung getroffen wird,dann muss diese umgesetzt werden. Wir müssen zurSachlichkeit zurückkehren. Das betrifft alle Beteiligten.

Auch der neue Ministerpräsident ist aufgerufen, zudeeskalieren. Keiner von uns will mehr Straßenschlach-ten sehen. Diffamierungen und pauschale Anschuldigun-gen über mangelnde Fachkompetenz sind ebenso fehl

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Martin Burkert

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am Platz wie Beschimpfungen und Verunglimpfungen.Gerade in diesem Zusammenhang möchte ich diejenigenerwähnen, die am Stuttgarter Hauptbahnhof ihrer Arbeitnachgehen, und auch diejenigen, die auf der Baustelleam Bahnhof arbeiten. Egal welche Lösung am Schlusszum Tragen kommt: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterder Deutschen Bahn AG oder einer der Baufirmen dür-fen auf keinen Fall Opfer von Angriffen und Beschimp-fungen werden. Das haben wir leider alles gesehen. Esdarf keine Bilder mehr geben, auf denen Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer ihre Arbeitsstelle – das mussman sich in Deutschland einmal vorstellen – nur nochunter Polizeischutz erreichen können.

Aus meiner Sicht müssen wir sofort zur Sachlichkeitzurückkehren und dann ab dem 14. Juli die Ergebnisse inaller Ruhe bewerten. Unterschiedliche Aspekte wird esgeben. Ich bin davon überzeugt, Heiner Geißler wird siein seine Überlegungen einbeziehen. Das ist eine seinergroßen Lebensaufgaben, die er mit Bravour meistert.

Eine Frage ist auch: Was wäre denn bei einem Bau-stopp? Lieber Toni Hofreiter, liebe Fraktion der Grünen,wie sähen denn die Auswirkungen auf das SystemSchiene aus? Was würde denn mit der Realisierung dertranseuropäischen Netzkorridore passieren? Was würdeein Baustopp für die Deutsche Bahn AG bedeuten, wasfür die Region? Frau Kumpf ist darauf eingegangen. Wiewürden Alternativen aussehen? Welche Kosten würdenbei einem Baustopp entstehen? Dazu habe ich von Ihnenheute keinen Ton gehört.

Es gilt: Für Sachlichkeit und Transparenz müssen dieSignale auf Hp 1 gestellt sein. Für alle Nichteisenbahner:Hp 1 bedeutet, das Signal auf Grün zu stellen. Nach15 Jahren Planung und Diskussion gilt jetzt: Volle Fahrtfür die beste Lösung dieses Projekts. Ich prophezeie, eswird wohl gebaut.

Herr Minister, eine Frage bleibt zum Schluss noch of-fen: Welche Lehren ziehen wir denn für die zukünftigenInfrastrukturprojekte in Deutschland aus Stuttgart 21?

(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Nie wieder Grün wählen!)

Hier, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, sind alleaufgerufen, Lösungen zu suchen und umzusetzen. Ichkann Ihnen sagen: Die SPD-Bundestagsfraktion arbeitetdaran.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Karin Maag hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Karin Maag (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Ich habe jetzt gelernt, dass dieser Stresstest zu ei-nem Stressfaktor für die Landesregierung in Baden-Württemberg geworden ist. Dass wir das Ganze hier im

Bundestag diskutieren, Frau Kumpf, hat natürlich einentieferen Sinn: Wir sind in diesem Projekt nämlich Ver-tragspartner. Mir ist es nicht egal, wenn die Landesregie-rung alles versucht, um das Projekt zu torpedieren. Des-wegen ist es gut und richtig, dass wir hier darüber reden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das stimmt so nicht!)

Herr Kollege Hofreiter, was Sie über ein Bundes-unternehmen, die Deutsche Bahn AG, gesagt haben, wareinem Vorsitzenden des Ausschusses nicht angemessen.

(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Die Deutsche Bahn AG ist Ver-tragspartner!)

Ich fände es angebracht, dass Sie sich hier oder direktbei der Bahn dafür entschuldigen.

(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Lesen Sie einfach das Protokoll!)

Ich will aber jetzt kurz auf die Schlichtung zurückbli-cken, die mir wichtig ist. Die Schlichtung zu Stuttgart 21war ein Erfolg. Gräben, die sich durch Stuttgart gezogenhaben, sind wieder zugeschüttet worden. Darauf hatauch die Kollegin Kumpf hingewiesen. Die Argumentewerden wieder als Argumente wahrgenommen.

Wir haben ein Modell geschaffen, Herr Kollege, dasvorbildhaft dafür stehen kann, wie künftig Großprojektevernünftig und in einem guten Rahmen der Bevölkerungvermittelt werden können. Egal, auf welcher Seite wir inStuttgart stehen: Dieses Handeln im Geiste der Schlich-tung dürfen die Bürger von uns Politikern aller Parteienund selbstverständlich auch von der Bahn als Bundes-unternehmen erwarten.

Jetzt komme ich zu dem ehemaligen Kollegen imBundestag und jetzigen grünen Verkehrsminister, HerrnHermann. Er trägt derzeit viel dazu bei, dass diese Annä-herung und das Einvernehmen wieder torpediert wird.

Das Notwendige zum Stresstest haben wir mehrfachgehört. Die Landesregierung ist selbstverständlich Mit-glied im Lenkungskreis, und die Deutsche Bahn hat denLenkungskreis regelmäßig über die Arbeiten informiert.Selbstverständlich werden die Ergebnisse erst am14. Juli veröffentlicht.

Weil es ein Bundesprojekt ist – der Stresstest gehörtzu Stuttgart 21 –, will ich jetzt noch einmal das Verhal-ten und sehr einseitige Amtsverständnis des Ministersbeleuchten. Jeder Minister leistet einen Amtseid. Erschwört unter anderem, dass er die Rechte wahren undseine Pflichten gewissenhaft erfüllen wird. Zu diesenPflichten gehören Aufrichtigkeit und Wahrheit. SeinePflichten erfüllt ein Minister sicherlich nicht gewissen-haft, wenn er, ob autorisiert oder nicht, einem Journalis-ten der Frankfurter Rundschau Auskunft erteilt und an-schließend offensichtlich wider besseres Wissen erklärt,der Landesregierung liegen noch keine Materialien zumStresstest vor.

Wenn der Ministerpräsident die Diskrepanz nun mehroder weniger gequält so erklärt, dass dem Land keine

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Karin Maag

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Originalunterlagen, sondern nur Zwischenberichte vor-liegen, dann ist das sicherlich richtig. Aber ob das etwasan der Sache ändert, wage ich zu bezweifeln. Dass erdoch informiert war, hat der Minister nun auch verklau-suliert, um es so auszudrücken, eingeräumt.

Der Vorgang verdeutlicht aber vor allem, dass derMinister bestenfalls noch nicht im Amt angekommen istund offensichtlich in seiner Rolle in der Opposition imBundestag, also im Dagegensein, verharrt, ohne sichüber die Verantwortung, die er mittlerweile zu tragenhat, auch nur ansatzweise Gedanken zu machen.Schlimmstenfalls will er das gar nicht. Schlimmstenfallswill er – so verstehe ich die Äußerungen – mit der Machtdes Amtes, aber ohne die Verantwortung des Amtes zuübernehmen, das Bahnhofsprojekt verhindern. Zu dieserLinie passt, dass er bereits kurz nach den Koalitionsver-handlungen gesagt hat, wenn Stuttgart 21 gebaut werde,dann fühle er sich als Minister nicht mehr zuständig.

Er hat eines nicht erkannt. Es geht darum, dass er dasRecht wahren muss. Bahn, Bund und die grün-rote Lan-desregierung in Baden-Württemberg sind jetzt Partner.Es geht um Vertragstreue. Es geht darum, wie man mitVertragspartnern umgeht. Man muss einen Vertragspart-ner nicht mögen, aber man muss ihn respektieren undfair behandeln. Das ergibt sich aus dem Recht in diesemLand. Dazu gehört auch, ein gemeinsames Projekt zufördern. Man macht sich sonst schadensersatzpflichtig.

Es geht auch um die Souveränität eines Mitglieds derLandesregierung. Ein Minister kann und darf nach mei-nem Verständnis nicht mehr oberster Projektgegner sein.Es ist sicherlich nicht angenehm, meine Damen und Her-ren von den Grünen, der eigenen Klientel Wahrheitenbeizubringen.

(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber das sollten Sie alles in Stuttgartdebattieren!)

– Nein, ich debattiere es hier, weil Ihr Minister diesesProjekt torpediert. Es ist ein Bundesprojekt.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Frau Kollegin, Sie können es gerne hier debattieren,

aber nicht mehr innerhalb Ihrer jetzigen Redezeit. Sie istnämlich längst um.

Karin Maag (CDU/CSU):Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.

Ich bin schließlich und endlich der Auffassung: WerBaurecht ignoriert, wer seiner Projektförderungspflichtnicht nachkommt, –

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Frau Kollegin!

Karin Maag (CDU/CSU):– der ist nicht geeignet für ein Ministeramt, der ist

eine Belastung.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Frau Kollegin!

Karin Maag (CDU/CSU):Ich halte den Ministerpräsidenten meines Landes al-

lerdings für so klug, dass er, wenn er schon den oberstenGegner des Projekts in die Regierung einbezogen hat,dies erkennt und die Konsequenzen zieht.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Thomas Strobl hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Nur um es noch einmal klar zu sagen: Die Art undWeise, wie der Kollege Dr. Hofreiter hier über ein für dieVerkehrsinfrastruktur in Deutschland und in Europa be-deutendes Unternehmen gesprochen hat – im Übrigenhandelt es sich um ein Unternehmen, dessen Eigentümerder Bund ist und für das wir alle hier eine besondere Ver-antwortung tragen –, und insbesondere seine Behaup-tung, dass es in diesem Unternehmen an der Tagesord-nung sei, die Unwahrheit zu sagen und zu täuschen

(Michael Schlecht [DIE LINKE]: Das hat er nicht gesagt!)

– das hat er wohl gesagt; zumindest hat er sinngemäß ge-sagt, dass dort die Unwahrheit gesagt und getäuscht wirdund dass das eigentlich immer so ist; das kann man imProtokoll nachlesen –, werden der Verantwortung, diewir als Bundestagsabgeordnete für dieses Bundesunter-nehmen haben, nicht gerecht, genauso wenig wie seinerVerantwortung als Vorsitzender des Verkehrsausschus-ses. Herr Kollege Lange, das geht nicht zu weit, sonderndas geht überhaupt nicht. Herr Hofreiter, nehmen Sie dasunverzüglich zurück, und entschuldigen Sie sich dafür.Anderenfalls sollten Sie die Konsequenzen in IhremAmt als Vorsitzender des Verkehrsausschusses ziehen.Das geht so nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Worüber wollen Sie hier reden?)

– Frau Kollegin, wir führen hier eine Debatte, und ichbin auf einen Vorredner eingegangen, der einen Redebei-trag geleistet hat, der nach meiner Meinung so nicht imRaum stehen bleiben kann. Auf diesen Redebeitrag binich – das ist der Sinn einer Debatte – soeben eingegan-gen.

(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sie zeigen deutlich, dass Sie gar keineInhalte haben!)

Zu den Inhalten ist Folgendes zu sagen: Niemand an-deres als Ihr Parteikollege Winfried Hermann, der grüneVerkehrsminister in Baden-Württemberg, hat das Thema

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Thomas Strobl (Heilbronn)

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Stresstest in die Welt gesetzt und auch, dass die Bahnvermutlich diesen Test bestanden hat. Daraufhin hat diegrün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg so-gar eingeräumt, dass Stuttgart 21 offenbar nicht vorüberdimensionierten Kostensteigerungen steht. Wenndas richtig ist, was in die Welt gesetzt worden ist, dannsteht dem Weiterbau technisch und rechtlich nichts mehrentgegen. Besprechen Sie das doch mit Ihrem Parteikol-legen, dem grünen Verkehrsminister Winfried Hermannin Baden-Württemberg! Ich habe ihn nicht gebeten,diese Debatte anzuzetteln. Das hat er aus freien Stückengetan. Fragen Sie ihn nach seiner Motivation! Mögli-cherweise wird er Sie aufklären.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Mein Rat wäre, dass die Grünen langsam aufhören,dieses Projekt ständig zu blockieren, zu diskreditierenund neue Hürden aufzubauen. Auch Sie, meine Damenund Herren von den Grünen, sollten darauf hinwirken,dass die Landesregierung in Baden-Württemberg demnachkommt, wozu sie vertraglich verpflichtet ist, näm-lich dieses Projekt zu befördern. Dazu passt nicht, Hür-den aufzubauen und zu blockieren.

Ich möchte noch einen Vorschlag machen. In Baden-Württemberg regiert eine Bürgerregierung. Warum gibtes nicht – das fände ich ganz vernünftig – ein Dialogfo-rum, in dem Befürworter, Gegner und Sachverständigedas Projekt Stuttgart 21 öffentlich und transparent be-gleiten, mit einer Persönlichkeit – ähnlich wie HeinerGeißler – als Moderator? In einem solchen Dialogforumkönnten Gegner und Befürworter ihre Argumenteaustauschen und das Projekt öffentlich begleiten. Einsolches Forum hätte die neue Landesregierung längsteinrichten können. Statt Hürden aufzubauen und zu blo-ckieren, könnte sie als Bürgerregierung so einen kon-struktiven und sinnvollen Beitrag zur Begleitung diesesProjektes leisten.

Es ist aber bemerkenswert, dass schon die Ergebnisseder Schlichtung unter dem Moderator Heiner Geißler,den die Grünen vorgeschlagen haben, immer nur dannmit Applaus bedacht wurden, wenn sie ins Konzeptpassten.

Das erinnert an die Geschichte von dem Dogmatiker,der immer sagt: Die Ergebnisse und der Kompromisssind mir dann recht, wenn sie sich zu 100 Prozent mitmeinen Positionen decken. – Eine solche Denkweise istin einer Demokratie nicht konstruktiv; sie ist auch nichtverantwortlich.

Der wahre Hintergrund ist klar: Die Grünen habenAngst, bei ihren Wählerinnen und Wählern das Gesichtzu verlieren und eingestehen zu müssen, dass sie einzentrales Wahlkampfversprechen, nämlich Stuttgart 21zu verhindern, nicht einhalten können.

(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Es gab kein solches Versprechen!)

Daher kommen auch die nervösen Aktivitäten desgrünen Verkehrsministers, den Ministerpräsident

Kretschmann zwar noch einen ehrenwerten Mann nennt;dies tut er aber durchaus mit der notwendigen Ironie.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch wennWinfried Hermann von der Sprachverwirrung redet, dieüber ihn gekommen sei, hängt das mit dieser Nervositätzusammen. Wir sind nicht in Babylon, sondern in derBundesrepublik Deutschland, und es ist schon zu klären,allerdings nicht hier – das wird im baden-württembergi-schen Landtag geschehen –, wie genau es der grüne Ver-kehrsminister mit der Wahrheit nimmt. Sein Verhaltenzeigt zumindest eines, dass er nämlich ein Dogmatiker inder Politik ist, der nach der Pippi-Langstrumpf-Methodeverfährt: Er macht sich die Welt, widdewidde wie sieihm gefällt.

(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Pippi Langstrumpf ist mir sehr sympathisch!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Herr Kollege, Ihre Redezeit ist dann auch abgelaufen.

Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU):Das ist wohl wahr.

(Zuruf von der CDU/CSU: Schade!)

Deswegen ist meine Schlussbemerkung: Warten wir alle– beruhigen Sie auch den grünen Verkehrsminister inBaden-Württemberg – die Ergebnisse des Stresstests ab.Warten wir ab, was SMA dazu sagt.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Herr Kollege.

Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU):Warten wir ab, was der Kollege Heiner Geißler dazu

sagt, und dann führen wir die Debatte –

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Herr Kollege.

Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU):– in aller Sachlichkeit weiter.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Damit schließe ich die Aussprache.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weite-ren Erleichterung der Sanierung von Unter-nehmen

– Drucksache 17/5712 – Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

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Hierzu ist verabredet worden, eine Stunde zu debat-tieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.Dann ist das so beschlossen.

Für die Bundesregierung hat die KolleginLeutheusser-Schnarrenberger das Wort.

(Beifall bei der FDP)

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Das Insolvenzrecht ist ein unerlässlicher Bestand-teil einer sozialen Marktwirtschaft in einer freien und of-fenen Gesellschaft. Ziel eines jeden Insolvenzverfahrensist die bestmögliche Befriedigung der Gläubiger. Diestrikte Orientierung am Gläubigerinteresse kann aberdazu führen, dass das für den Einzelfall angemesseneund zugleich im gesamtwirtschaftlichen Interesse lie-gende Ergebnis nicht in der Zerschlagung des Unterneh-mens, sondern darin liegt, das Unternehmen fortzufüh-ren und zu sanieren. Eine Sanierung ist immer dannvolkswirtschaftlich sinnvoll, wenn der Fortführungs-wert des Unternehmens den Liquidationswert übersteigt.Das Insolvenzverfahren gibt nicht vor, ob ein Unterneh-men zu retten oder zu liquidieren ist. Es setzt einen neu-tralen Rechtsrahmen, in dem die Beteiligten unterBerücksichtigung des Grundsatzes der Gläubigergleich-behandlung die für sie vorteilhafteste Lösung finden undumsetzen können.

Wir brauchen in Deutschland eine Kultur der zweitenChance. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass die-ser Ansatz zu wenig beherzigt wurde. Zudem legt dasgeltende Recht den Beteiligten vermeidbare Hindernissein den Weg zu der für sie bestmöglichen Lösung.

Mit dem heute zur Debatte stehenden Regierungsent-wurf wollen wir den Rechtsrahmen für Insolvenzen inDeutschland verbessern. Ich hoffe, dass wir mit dieserNovelle einen Schritt in Richtung einer sanierungs-freundlicheren Wirkung des Verfahrens tun können undihm noch mehr als schon bislang das Stigma des Schei-terns nehmen.

Die Gründe für Insolvenzen sind vielfältig. Die vor-herrschende Meinung, ein Unternehmen gerate stets auf-grund persönlichen wirtschaftlichen Versagens in eineSchieflage, ist falsch, hat aber unmittelbar nachteiligeKonsequenzen. Die Unternehmer scheuen den Gangzum Insolvenzgericht. In der Folge werden Insolvenz-verfahren in der Regel erst beantragt, wenn die letzteMasse verbraucht, die Chance auf Sanierung vertan unddie Quote für die Gläubiger gering ist.

Genau hier setzt der Gesetzentwurf an: Wir beseitigengezielt Hindernisse, die einer frühzeitigen Einleitung desInsolvenzverfahrens im Wege stehen. Das Verfahrenwird vorhersehbarer, das Störpotenzial Einzelner wirdbeseitigt.

Wie erreichen wir das? Wir stärken im Gesetzentwurfden Einfluss der Gläubiger auf die Auswahl des Insol-venzverwalters. Die jetzige Möglichkeit der Abwahl

durch die Gläubiger einige Monate nach Verfahrenser-öffnung kommt regelmäßig zu spät.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Deshalb soll künftig ein vorläufiger Gläubigerausschussschon an der Bestellung des vorläufigen Verwalters mit-wirken.

Das Insolvenzplanverfahren wird weiter ausgebaut,indem wir die Anteilsinhaber des insolventen Unterneh-mens einbeziehen und damit einen Geburtsfehler der In-solvenzordnung beheben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Gleichzeitig beschleunigen wir das Planverfahren undbeseitigen Obstruktionspotenzial und Verfahrenshinder-nisse. Dies erleichtert Sanierungen.

Die Eigenverwaltung wird vereinfacht und den Unter-nehmern so ein Stück die Angst vor dem Kontrollverlustgenommen. Wir führen zum Beispiel mit dem sogenann-ten Schutzschirmverfahren eine besondere Spielart desEröffnungsverfahrens ein und greifen damit Vorschlägeaus dem parlamentarischen Raum auf. Diese Möglich-keit soll dem Schuldner aber nur eröffnet werden, wennnoch keine Zahlungsunfähigkeit vorliegt. Damit werdeneinerseits die Gläubigerrechte gewahrt und andererseitsAnreize für einen früheren Insolvenzantrag gesetzt.

Der Gesetzentwurf sieht vor, die fachliche Kompe-tenz bei den Gerichten durch eine stärkere Konzentrationund durch zusätzliche Anforderungen an die Qualifika-tion der Insolvenzrichter und der Rechtspfleger zu stei-gern.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der Vorschlag, die Konzentration bei den Gerichten vor-zunehmen, was dann natürlich jeweils in der Verantwor-tung der Landesjustizminister zu erfolgen hat, hat denBundesrat in seiner Gegenäußerung besonders beschäf-tigt. Nach meinem Dafürhalten müssen wir uns im wei-teren Verfahren bei unseren Beratungen noch einmal ge-nau ansehen, wie es gekommen ist, dass in manchenLändern diese Konzentration erfolgt ist, auch ohne dasswir es schon ausdrücklich im Gesetz vorsehen. Da hatman genau dies bereits vorgenommen, sodass dann na-türlich der Sachverstand aufgrund der Durchführungmehrerer Verfahren an jeweils einem Gericht schondeutlich ausgeprägter ist. In anderen Ländern ist diesnicht der Fall; es hält sich mit ungefähr acht zu acht, wiewir es bewerten, wohl die Waage. Hier gibt es Bera-tungsbedarf im Hinblick darauf, dass von Teilen derLandesjustizminister Probleme bei den Umsetzungs-möglichkeiten gesehen werden.

Der Regierungsentwurf will aber nicht nur die Insol-venzordnung verbessern, sondern er enthält auch einvollständig neues Insolvenzstatistikgesetz. Das mag sichein wenig spröde anhören. Wir werden dadurch in Zu-kunft für die praktische Arbeit sehr viel genauere Anga-ben über Insolvenzen und die finanziellen Ergebnissevon Insolvenzverfahren erhalten, indem wir detaillier-

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Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

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tere Informationen auch von den Insolvenzverwalternund nicht nur den Gerichten einholen.

Das vorliegende Sanierungsgesetz enthält die richti-gen Leitlinien zur Erleichterung der Fortführung und Re-strukturierung von Unternehmen im Interesse aller Gläu-biger, vom Lieferanten bis zum Arbeitnehmer. Dieimmer wieder vorgenommene Anpassung der Insolvenz-ordnung an die Erfahrungen, die in der Praxis mit derAnwendung der einzelnen Instrumente gemacht werden,prägt die Gesetzgebung, auch die der vergangenen Le-gislaturperioden. Immer wieder hat man sich Reformenund Änderungen der Insolvenzordnung vorgenommen.Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein wichtiger Schritt.Ich denke dabei an die Konzentration auf das Planver-fahren, an die Steigerung der Eigenverwaltung und an-dere Punkte.

Wir werden uns noch mit weiteren Vorschlägen, wieim Koalitionsvertrag vereinbart, zu befassen haben. Ichmeine hier die Verbraucherinsolvenzen. Ferner stellt sichdie Frage der Insolvenzfestigkeit von Lizenzen und an-derem. Es handelt sich um Themen, die den Bundestagund insbesondere den Rechtsausschuss schon früher in-tensiv beschäftigt haben. Wir sollten diesen Gesetzent-wurf, natürlich mit Zustimmung des Bundesrates, bezüg-lich Wirkung und Anreizen so gestalten, dass es in derPraxis zu den Verbesserungen kommt, die ich genannthabe. Dann sind wir auf einem guten und richtigen Weg.

Wir müssen in der Bilanz des geltenden Rechts leiderfeststellen, dass die Erwartungen, die wir hier im Bun-destag, meistens über Koalitionsfraktionsgrenzen hin-weg, formuliert haben – dass es stärker zu Eigenverwal-tung, zu früheren Insolvenzanträgen, zu mehrPerspektive auf Sanierung kommt –, im erhofften Um-fang nicht erfüllt worden sind. Deshalb setzen wir mitden in diesem Gesetzentwurf enthaltenen Stellschraubenan diesen Punkten an.

Ich freue mich auf die Beratungen. Intensive Debattenfinden schon statt; es gibt Anhörungen. Ich hoffe aufIhre Unterstützung bei der Durchführung dieses Gesetz-gebungsverfahrens.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Burkhard Lischka spricht für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Burkhard Lischka (SPD):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn

wir uns hier heute eine Stunde Zeit nehmen, um über dasInsolvenzrecht und einen möglichen Reformbedarf zudebattieren, dann hat das einen guten Grund: Das Insol-venzrecht ist kein Randthema für einige wenige Fach-leute wie Insolvenzrichter oder Insolvenzverwalter. AufGrundlage dieses Rechts wird Jahr für Jahr über die Zu-kunft oder das Aus von etwa 32 000 Unternehmen undHunderttausenden von Arbeitsplätzen entschieden. BeimInsolvenzrecht geht es deshalb nicht nur um 359 Para-

grafen im Bundesgesetzblatt, sondern im konkreten Ein-zelfall immer auch um Gefühle und Emotionen: um Wut,Sorge, Trauer über den Verlust der beruflichen Existenzoder des Arbeitsplatzes genauso wie um Hoffnung odervielleicht die Freude, wenn die Sanierung eines Unter-nehmens gelingt.

Sie haben recht, Frau Ministerin: Das Ziel eines mo-dernen Insolvenzrechts muss es sein, Unternehmen, diesich in einer Schieflage befinden, frühzeitig unter dieArme zu greifen, sie zu sanieren, Arbeitsplätze zu erhal-ten, anstatt sie plattzumachen und abzuwickeln.

Die Kernfrage, mit der wir uns jetzt anhand des vor-gelegten Gesetzentwurfs zu beschäftigen haben, ist ganzeinfach: Dienen die Vorschläge, die Sie jetzt auf denTisch gelegt haben, tatsächlich dazu, die Sanierung, dasheißt die Fortführung von Unternehmen, zu erleichtern –ja oder nein? Das ist die simple Frage. Das ist aber auchder Prüfmaßstab, mit dem wir Sozialdemokraten IhrenGesetzentwurf beurteilen werden.

Frau Ministerin, da gibt es Ansätze, die in die richtigeRichtung weisen. Zu Recht beklagen Sie – Sie haben dasauch eben getan –, dass viele Unternehmer häufig viel zuspät einen Insolvenzantrag stellen, quasi dann, wenn dasKind bereits in den Brunnen gefallen ist und es in demUnternehmen nichts mehr zu retten gibt. Insofern teileich Ihre Einschätzung, dass wir Anreize setzen müssen,dass Unternehmer frühzeitig einen Antrag stellen. Daserhöht die Chancen auf die Rettung eines Unternehmensund den Erhalt der Arbeitsplätze. Aber, Frau Ministerin,ich habe Zweifel, ob Sie diesen guten und richtigen An-satz in Ihrem Gesetzentwurf immer konsequent zu Endegedacht haben.

So schlagen Sie beispielsweise vor, dass ein Unter-nehmer nicht, wie bisher, erst dann einen Antrag stellenkann, wenn er tatsächlich zahlungsunfähig, das heißtpleite, ist. Künftig soll das ein Unternehmer schon tunkönnen, wenn Zahlungsunfähigkeit lediglich droht. Siewollen dann – Sie haben das eben erläutert – einenSchutzschirm aufspannen, unter dem der Unternehmerfrei von Vollstreckungsmaßnahmen drei Monate lang ander Sanierung seines Unternehmens arbeiten kann. Soweit, so gut.

Der Pferdefuß liegt allerdings darin, dass dieserSchutzschirm in der Praxis höchst löchrig sein wird. Waswird nämlich in der Praxis passieren? Der Unternehmerstellt, wie von Ihnen gewünscht, einen Antrag. Davonbekommen seine Banken Wind, und sie werden ihm zu-nächst einmal sämtliche Kredite kündigen. Das heißt,der Unternehmer ist dann wirklich pleite.

Was machen Sie? Ihr Gesetzentwurf sieht vor, dassdamit das Schutzschirmverfahren automatisch beendetist und sich der Unternehmer in der ganz normalen Insol-venz befindet. Das heißt, erst locken Sie den Unterneh-mer unter Ihren Schutzschirm, und dann, wenn das Ge-witter beginnt, ziehen Sie den Schirm weg und lassenden Unternehmer im Regen stehen. Das ist doch grotesk,Frau Ministerin. Das ist kein Schutzschirm, den Sie daaufspannen, sondern das ist die Aufforderung, schlichtund einfach in eine Sackgasse zu laufen.

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Burkhard Lischka

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(Beifall bei der SPD)

Lassen Sie uns das weitere Gesetzgebungsverfahrenwirklich dafür nutzen, hier zu Regelungen zu kommen,nach denen derjenige, der frühzeitig einen Antrag stellt,auch tatsächlich die faire Chance bekommt, an der Sa-nierung seines Unternehmens zu arbeiten, selbst dann,wenn aus der drohenden eine tatsächliche Zahlungsunfä-higkeit wird. Anreize für die Praxis sollten wir hier set-zen, anstatt irgendwelche Scheinlösungen zu präsentie-ren, Frau Ministerin.

Ich will noch einen zweiten Punkt herausgreifen, beidem ich wirklich ernsthafte Zweifel an der Praxistaug-lichkeit Ihres Gesetzentwurfes habe. Sie wollen – Sie ha-ben das eben angesprochen – die Zahl der Insolvenzge-richte weiter reduzieren. Künftig soll es nur noch einInsolvenzgericht pro Landgerichtsbezirk geben. Zur Be-gründung führen Sie an, dass das zu einer Qualitätsver-besserung der Rechtsprechung führt. Weil große Ge-richte sich besser spezialisieren könnten als kleine, sosagen Sie, würde das dazu dienen, die Rechtsprechungzu verbessern.

Frau Ministerin, welches Problem wollen Sie da ei-gentlich lösen? Ist Ihnen während Ihrer Amtszeit irgend-wann zu Ohren gekommen, dass unsere Gerichte nichtvernünftig arbeiten würden, dass unsere Richter bei derAnwendung des Insolvenzrechts irgendwie Problemehätten? Das Gegenteil ist der Fall. Um die Qualität unse-rer Rechtsprechung und Gerichte beneiden uns andereStaaten. Das ist einer der glänzendsten Standortvorteile,die dieses Land weltweit hat. Hören Sie doch bitte damitauf, Probleme lösen zu wollen, wo gar keine Problemesind!

(Beifall bei der SPD)

Es gibt nichts, aber auch rein gar nichts, was Ihre An-nahme rechtfertigen würde, dass große Gerichte besserarbeiten als kleine. Der Deutsche Richterbund hat Ihnenerst vor wenigen Wochen eine Statistik vorgelegt, ausder eindeutig hervorgeht, dass die Rechtsmittel- und Be-schwerdequote bei kleinen Insolvenzgerichten keinenDeut höher ist als bei großen Insolvenzgerichten. In Ih-rer Rede sind Sie darauf nicht eingegangen, sondern ha-ben eigentlich stereotyp Ihr Credo von der Schließungzahlreicher Insolvenzgerichte wiederholt.

Was bedeutet das? Das bedeutet, dass in Zukunft bei-spielsweise die Menschen, die sich in einem Privatinsol-venzverfahren befinden, die also ohnehin nichts haben,150 Kilometer und mehr bis zum nächsten Insolvenzge-richt fahren müssen. Das hat mit der Bürgerfreundlich-keit der Justiz – das Wort führen Sie, Frau Ministerin, jasehr gern im Mund – gar nichts zu tun. Das ist ein Aktder Bürgerunfreundlichkeit, und zwar zulasten derSchwächsten in dieser Gesellschaft, derjenigen, die oh-nehin am Rande des Existenzminimums leben.

Das Ganze ist im Übrigen kein Randproblem. Wir ha-ben im letzten Jahr 109 000 Privatinsolvenzverfahrengehabt. Diesen Personen plus 32 000 Unternehmernwollen Sie jetzt die Wege verlängern. Hören Sie in demZusammenhang doch einmal auf Ihre Länderkollegen!Die Landesjustizminister lehnen diesen Vorschlag fast

unisono ab. Sie wissen, wovon sie reden, Frau Ministe-rin.

Es kommt noch etwas anderes dazu. Unsere Insolvenz-gerichte arbeiten vor allen Dingen deshalb besonders gut– das ist meine Erfahrung –, weil sie eingebettet sind,eingebettet in ein kleinteiliges Netzwerk aus Schuldner-beratungsstellen, Verbraucherzentralen und Wohlfahrts-verbänden, in dem gerade die Menschen im Privatinsol-venzverfahren über Jahre hinweg intensiv beraten undbetreut werden. Wenn Sie die Länder dazu zwingen, In-solvenzgerichte zu schließen, zerstören Sie auch diesegut funktionierenden Netzwerke, ohne zu wissen, obsich über die Entfernungen, die Ihnen vorschweben, ähn-liche Netzwerke überhaupt etablieren lassen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Frau Ministerin, das ist keine Weiterentwicklung des In-solvenzrechts, sondern schlicht und einfach ein Abbruchin der Fläche.

Deshalb werden wir Sozialdemokraten Ihren Gesetz-entwurf kritisch begleiten. Es gibt richtige Ansätze, ja-wohl, aber es gibt auch Regelungen, die aus unsererSicht weder praxistauglich noch sachgerecht nochdurchdacht sind. In den kommenden Wochen haben Siedie Möglichkeit, an diesen Regelungen zu arbeiten undVeränderungen vorzunehmen. Tun Sie das, korrigierenSie einzelne Regelungen! Das dient den Betroffenen, esdient der Justiz und dem Wirtschaftsstandort Deutsch-land.

Danke.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Das Wort hat die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-

Becker für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Es hat lange genug gedauert bis zur heutigen ers-ten Lesung des Gesetzentwurfs zur Vereinfachung derweiteren Sanierung von Unternehmen. Ich bin froh da-rüber, dass es jetzt so weit ist. Denn zwölf Jahre nach In-krafttreten der Insolvenzordnung müssen wir konstatie-ren, dass nicht alle Erwartungen erfüllt worden sind, mitdenen wir damals den Wechsel von der Konkursordnungzur Insolvenzordnung vorgenommen haben. EtlichePunkte sind zu ändern, einige davon jetzt in einem erstenSchritt. Weitere Schritte werden folgen, zum Beispiel inBezug auf die Verbraucherinsolvenz, die Konzerninsol-venz und dergleichen.

Der Entwurf hat sehr viel Zustimmung gefunden,auch in der Fachwelt. Wir hören aber auch viele Verbes-serungsvorschläge. Ich sage ausdrücklich unsere Bereit-schaft zu, wirklich zuzuhören, wenn Anregungen aus derPraxis kommen. Wir wollen ein Gesetz erlassen, das inder Praxis funktioniert. Es ist ein Gesetz, bei dem nichtIdeologie im Vordergrund steht. Vielmehr wollen wir

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13458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Elisabeth Winkelmeier-Becker

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gute Regelungen finden, um Sanierungen zu ermögli-chen.

Die Bilanz der Insolvenzen in Deutschland ist immernoch zu schlecht. Sanierungsfähige Unternehmen wer-den liquidiert; Arbeitsplätze gehen verloren. Das Leidder Betroffenen ist auch etwas, was uns dabei umtreibt.Wir wollen nicht, dass Menschen ihr Lebenswerk verlie-ren, dass sie ihre Löhne nicht bekommen oder dass sieselber in Insolvenz geraten, weil eine Forderung, die siegegen andere haben, ausfällt.

Diese Ziele sind nicht neu; sie lagen bereits der dama-ligen Insolvenzreform zugrunde. Wir müssen darübernachdenken, warum diese Reform nicht geklappt hat.Aus meiner Sicht ist in diesem Zusammenhang nicht un-wesentlich, dass wir an den Interessen der handelndenPersonen – an ihren irrationalen und rationalen Beweg-gründen – ein Stück weit vorbeigeregelt haben. Dasmuss auch eine vermeintlich trockene Materie wie dasInsolvenzrecht noch besser berücksichtigen. Deswegenmüssen wir uns die vier Player, die wir auf dem Spielfeldhaben, noch einmal im Hinblick darauf, was sie vomVerfahren erwarten, genau anschauen und uns überlegen,wie wir besser an sie herankommen.

Im Mittelpunkt stehen die Gläubiger. Es geht im In-solvenzverfahren darum, dass ihre Forderungen durch-gesetzt werden. Sie sind zwar die Hauptbetroffenen, wa-ren bislang aber immer nur in der Zuschauerrolle. Nachder Antragstellung sind bis zum ersten Zusammentreffendes Gläubigerausschusses drei bis fünf Monate vergan-gen, dann ist die Messe gelesen. Alle wesentlichen Ent-scheidungen sind bis dahin längst getroffen. Dement-sprechend haben die Gläubiger dann kein Interessemehr; Gläubigerversammlungen finden ohne Gläubigerstatt.

Wir wollen, dass die Fachkunde der Gläubiger deut-lich stärker einbezogen wird. Deshalb bieten wir das In-strument des vorläufigen Gläubigerausschusses an, derviel früher in das Verfahren einbezogen werden soll,nach Möglichkeit direkt bei Verfahrensbeginn. Wir ver-kennen dabei nicht, dass es hier einen Zielkonflikt gibt:einerseits die möglichst frühe Gläubigerbeteiligung, an-dererseits ein schnelles Verfahren. Wenn der Antrag ein-mal gestellt ist, dann muss der Verwalter schnell bestelltwerden und schnell agieren, gerade dann, wenn es sichum ein noch lebendes Unternehmen handelt, das saniertwerden soll.

Wir haben das Problem, mitwirkungsbereite Gläubi-ger zu finden, die die Gesamtheit der Gläubiger reprä-sentieren. Es soll nicht nur ein Bankenvertreter gefundenwerden, der dann für alle Gläubiger spricht, sondern dieGläubigerbeteiligung muss repräsentativ sein.

Deshalb ist es umso wichtiger, dass die Schuldner denAntrag gut vorbereiten. Demnächst müssen sie direkt zuBeginn eine Liste der Gläubiger einreichen. Das sollausdrücklich eine Anregung sein, sich bereits in diesemfrühen Stadium darum zu kümmern, welcher Gläubigermitwirkungsbereit ist oder in welche Richtung eine Sa-nierung gehen kann. All diese Punkte werden die Vorbe-reitung eines Insolvenzverfahrens verbessern.

Unabhängig davon hat ein vorläufiger Gläubigeraus-schuss aber auch dann noch seinen Sinn, wenn der Ver-walter die Arbeit bereits aufgenommen hat. In den erstenWochen werden viele wichtige Entscheidungen getrof-fen, die über Wohl und Wehe, über Sanierung oder Zer-schlagung des Unternehmens entscheiden können. Des-halb ist die Einbeziehung der Gläubiger auch an derStelle wichtig.

Wir gehen mit dem Gesetzentwurf auch darauf ein,dass die Gläubiger natürlich nicht in eine Sanierung in-vestieren, also neues Geld hineinstecken wollen, wennder Wertzuwachs hinterher gar nicht ihnen, sondern denAnteilseignern zukommt. Deshalb führen wir den Debt-Equity-Swap als neues Instrument ein. Ferner erhöhenwir die Durchsetzbarkeit des Plans gegen einzelne Gläu-biger, die obstruieren und eine vernünftig agierendeMehrheit erpressen wollen.

Wir sind optimistisch, dass wir damit die Möglichkei-ten der Gläubiger, konstruktiv an einem Plan mitzuwir-ken, insgesamt erhöhen, sodass die Gläubiger merken,dass es sich lohnt, die Zeit zu investieren, und dass wirbessere Ergebnisse erzielen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich möchte auf eine Gläubigergruppe kurz besonderseingehen; wir wissen, dass die Gläubiger keine homo-gene Gruppe bilden, sondern ganz unterschiedliche Inte-ressen haben. Mir läge es sehr am Herzen, dass wir unsmit der Interessenlage der Arbeitnehmer beschäftigen.Vor zwei Jahren haben wir eine große Diskussion überdie Anfechtung von Lohnnachzahlungen geführt. Dabeiging es um Fälle, in denen erarbeitete Löhne zurückge-zahlt werden mussten. Ich würde mir wünschen, dass wiruns Gedanken darüber machen, wie wir diesem Miss-stand vor allem bei kleineren Einkommen, jedenfalls beiEinkommen bis zu einer bestimmten Höchstgrenze, be-gegnen können.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP,der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Der zweite wichtige Player ist der Schuldner. Dassder Schuldner so lange zögert, ist häufig einer derGründe dafür, dass Sanierungen schwierig werden; denner verpulvert die letzten Ressourcen. Das, was vielleichtnoch für eine Sanierung gebraucht werden könnte, istdann weg, weil der Schuldner einfach nicht rechtzeitigden Weg zum Insolvenzrichter gefunden hat. Da brauchtman sich nicht zu wundern: Der Schuldner scheut natür-lich das Stigma der Insolvenz; er scheut den Kontrollver-lust, der droht, wenn ihm ein Verwalter vor die Nase ge-setzt wird, auf dessen Auswahl und Vorgehen er keinenEinfluss hat. Viele haben schon selbst oder in ihrem Um-feld erlebt, dass Familienunternehmen mit großer Tradi-tion schnell zerschlagen worden sind. Es hätte sicherlichnicht immer andere Lösungen gegeben; das ist klar. Ichhalte es aber auch für sehr verständlich, dass der Gangzum Insolvenzrichter Ängste auslöst.

Wir müssen auch sehen: Es liegt nicht immer amSchuldner, dass er sich in der Krisensituation befindet.Da kann etwa ein Geschäftspartner ausgefallen sein. Es

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Elisabeth Winkelmeier-Becker

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kann auch sein, dass der Schuldner ein Einsehen hat undden nötigen Sachverstand schon eingekauft hat, weil erlieber mit einem selbst ausgewählten Sanierer als mit ei-nem ihm vorgesetzten Verwalter in das Verfahren geht.Für diese Fälle wollen wir die Möglichkeiten erweitern,mit eigenem Personal, mit eigenem Berater oder untereigener Wahrnehmung der Funktion in das Verfahren zugehen, um mehr Planbarkeit und Kontrolle zu ermögli-chen und damit den Anreiz zu geben, frühzeitig das Ver-fahren zu beantragen, anstatt es mit aller Macht undletztlich ohne Erfolg nach hinten zu verschieben.

Wir eröffnen diese Chance mit dem neuen Schutz-schirmverfahren bei drohender Zahlungsunfähigkeit unddem leichteren Zugang zur Eigenverwaltung. Damit sollder Schuldner auch in der Krise die Kontrolle behalten.Das gibt es aber nicht zum Nulltarif; wir müssen uns dieSchwierigkeiten, die Sie genannt haben, genau an-schauen. Dreh- und Angelpunkt wird letztendlich sein,dass der Schuldner das Verfahren mit den Gläubigern gutvorbereitet, dass er die Gläubiger mit einem Plan davonüberzeugt, dass Sanierungschancen bestehen, sodass siebereit sind, Kreditlinien weiter offenzuhalten und viel-leicht auch neues Geld hineinzustecken; damit steht undfällt das Schutzschirmverfahren.

Wir hoffen, mit dem Zusammenspiel des Anreizes zufrüherer Antragstellung und der besseren Beteiligung derGläubiger, die frühzeitig einbezogen werden, zu einergrößeren Zahl von Sanierungen zu kommen, sodass dieForderung nach einem eigenständigen Sanierungsver-fahren zunächst zurückgestellt wird.

Der dritte Player sind die Gerichte. Bei den Gerichtenführt das Insolvenzrecht häufig ein Schattendasein; essteht im Schatten anderer Fachgebiete. Wenngleich wirauf unsere Gerichte sicherlich sehr stolz sind und sie fürDeutschland ein guter Standortfaktor sind, trifft das fürdas Insolvenzrecht eher nicht zu: Da werden teilweiseUnternehmenssitze verlegt, damit man nicht nach deut-schem Insolvenzrecht und mit deutschen Gerichten agie-ren muss;

(Burkhard Lischka [SPD]: Wenn das der Maß-stab ist!)

da geht man teilweise ganz bewusst in den angelsächsi-schen Raum. Dort werden hoch gestellte Richter in die-sem Fachbereich tätig, zum Teil sogar Bundesrichter.Bei uns ist es der Richter am Amtsgericht im Zusam-menspiel mit dem Rechtspfleger. Außerdem haben siezum Teil nur ein kleines Pensum solcher Fälle, was dazuführt, dass sie die Routine, die man braucht, nicht entwi-ckeln können. Deshalb halten wir daran fest – ich unter-stütze das nachdrücklich –, dass wir zu einer weiterenKonzentration der Insolvenzgerichte kommen und nureines pro Landgerichtsbezirk haben. So oft muss mannicht zum Insolvenzrichter, dass die Entfernung eine sogroße Bedeutung hätte, dass das nicht zumutbar wäre.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Sie kommen bitte zum Ende, Frau Kollegin.

Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU):Zuletzt ein Blick auf die Verwalter: Für sie ändert sich

in diesem Stadium der Reform noch nicht so viel. Siemüssen sich damit auseinandersetzen, dass die Gläubi-ger ihnen in Zukunft noch stärker auf die Finger schauenund Vorschläge machen werden. Für die Verwalter wirddie Arbeit also nicht bequemer. Gute Verwalter werdensich darüber aber keine Sorgen machen müssen.

Wir müssen uns jetzt alle zusammen an die Detail-arbeit machen. Ich glaube, dass wir zu einer guten Rege-lung kommen können, und freue mich auf die Beratun-gen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Richard Pitterle hat das Wort für die Fraktion Die

Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Richard Pitterle (DIE LINKE):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! In den vergangenen zehn Jahren gabes 340 000 Unternehmensinsolvenzen. 5 Millionen Män-ner und Frauen haben dabei ihre Arbeit verloren. Mitdiesem Gesetzentwurf soll erreicht werden, dass Unter-nehmen, die in Schieflage geraten sind, saniert werdenkönnen und somit die Abwicklung verhindert wird. Dasfinden wir gut, weil so die Möglichkeit eröffnet wird,Arbeitsplätze zu erhalten, statt sie den Bach runtergehenzu lassen.

(Beifall bei der LINKEN)

Allein das kann Grundlage dafür sein, dass die Unter-nehmen wieder auf die Füße kommen und später neueArbeitskräfte einstellen.

Auch der vorgesehenen Stärkung der Gläubigerrechtestimmen wir zu. Für größere Insolvenzverfahren soll einvorläufiger Gläubigerausschuss schon vor Eröffnung desInsolvenzverfahrens eingesetzt werden. Neu ist, dassihm ein Vertreter oder eine Vertreterin der Arbeitnehmerangehören muss, und zwar unabhängig von der Höhe ih-rer Forderungen im Insolvenzverfahren. Zudem hat dervorläufige Gläubigerausschuss das Recht, den Insolvenz-verwalter mitzubestimmen.

Die Stellung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer im Insolvenzverfahren ist trotzdem unbefriedigend.Sie wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht we-sentlich verbessert. Gerade im Vorfeld von Insolvenzenrackern sich Arbeitnehmer ab, machen Überstunden, to-lerieren das Ausbleiben von Gehältern, verzichten sogarauf Urlaubsgeld. Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrensist vielfach die Chance vorbei, diese Vorleistung jemalsvergütet zu bekommen. Daran ändert dieser Gesetzent-wurf nichts.

Außerdem ist durch das Insolvenzgeld die Lohnzah-lung nur für die letzten drei Monate vor der Insolvenzgesichert. Nach wie vor müssen Arbeitnehmerinnen und

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Richard Pitterle

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Arbeitnehmer befürchten, dass vor der Insolvenz ge-zahlte Gehälter vom Insolvenzverwalter zurückverlangtwerden. Wie oft habe ich als Fachanwalt für ArbeitsrechtArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern diese Regelungdes Gesetzes erklären müssen. Diese Menschen habendurch die Insolvenz ihren Arbeitsplatz verloren und wur-den plötzlich mit Rückzahlungsforderungen konfron-tiert, obwohl sie das Geld längst für Miete und sonstigenLebensaufwand ausgegeben hatten. Von den Betroffenenversteht das keiner. Dass die Bundesregierung diesesUnrecht duldet und die Insolvenzanfechtung gegenüberder vor der Insolvenz erfolgten Lohnzahlung nicht besei-tigt hat, ist ein Schwachpunkt dieses Gesetzentwurfs.

(Beifall bei der LINKEN)

In der gestrigen Anhörung gab es Einigkeit darüber, dassman diese Ungerechtigkeit durch Nachbesserung im Ge-setz abstellen kann. Tun Sie es also, Frau Justizministe-rin.

Wir finden es auch völlig ungenügend, dass Ihre Vor-schläge nicht vorsehen, die Ansprüche aus Sozialplänenund Aufhebungsverträgen gegen Ausfall zu schützen.Für einen Arbeitnehmer, der sich nach 30 Jahren Schuf-terei bereit erklärt hat, sich den Arbeitsplatz durch eineAbfindung abkaufen zu lassen, um eine Kündigung zuvermeiden, ist es eine Ungerechtigkeit, wenn er mit lee-ren Händen dasteht. Das sollte geändert werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn es die Intention des Gesetzentwurfs ist, die Ab-wicklung von Unternehmen zu vermeiden, so sind diehier vorgesehenen Änderungen bisher unzureichend. Eswäre unberechtigt, alle Insolvenzverwalter unter Gene-ralverdacht zu stellen. Aber jeder, der mit Insolvenzenzu tun hat, weiß, dass es für unseriöse Insolvenzverwal-ter zahlreiche Möglichkeiten der Bereicherung, Vorteils-nahme und Korruption gibt. Die Erfahrung zeigt, dassmanche Insolvenzverwalter nicht zuallererst das Allge-meinwohl, das Unternehmen, die Gläubiger und die Ar-beitsplätze im Blick haben, sondern vor allem die eige-nen Interessen.

Ich frage mich auch: Warum gibt es keine formalenAnforderungen an die Qualifikation der Insolvenzver-walter? Allein der gesunde Menschenverstand sagt, dassdie Kenntnis von wirtschaftlichen Zusammenhängen Vo-raussetzung sein muss, um die Chance der Sanierung ei-nes Unternehmens zu erkennen und die Sanierung er-folgreich zu betreiben. In Ihrem Gesetzentwurf stehtjedenfalls an keiner Stelle, dass Insolvenzverwalter überdiese konkreten Erfahrungen und Qualifikationen verfü-gen müssen. Nicht nur bei den Gerichten, die die Tätig-keit der Verwalter kontrollieren sollen, sondern auch beiden Verwaltern selbst muss mehr Qualifikation verlangtund nachgewiesen werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Fälle, in denen die Gläubiger leer ausgehen, wäh-rend die Insolvenzverwalter von der Insolvenz passabelleben können, sind leider nicht selten. ProfessorHaarmeyer von der Gläubigerschutzvereinigung bestä-tigte, dass 70 Prozent der Verfahren ohne Quote enden,

das heißt ohne Geld für die Gläubiger. Bei einem sol-chen Sachverhalt sagt der Volksmund: außer Spesennichts gewesen. Auch hier wäre eine Steuerung über dieVergütungsstruktur der Insolvenzverwalter möglich.Vorschläge von Fachleuten gibt es genügend. Zum Bei-spiel könnte man über eine Deckelung der Vergütung ei-nerseits und eine Erfolgsprämie beim Erreichen einerQuote von 30 Prozent andererseits nachdenken.

Damit eine größere Masse und somit die Chance füreine Sanierung erhalten bleibt, muss gesetzlich klarge-stellt werden, dass die Umsatzsteueransprüche, die vordem Eintritt des Insolvenzfalls entstanden sind, nicht alsMasseverbindlichkeiten anzusehen sind.

Schließlich: Insolvenzgerichte sollten das letzte Wortüber die Bestellung von Insolvenzverwaltern behalten.Nur durch ein unabhängiges Gericht ist gewährleistet,dass ein unabhängiger Insolvenzverwalter bestellt wird.Nur so ist gewährleistet, dass die Verfahren nicht nurvon den Interessen der Großgläubiger geleitet werden.Ich habe meine Zweifel daran, dass die Konzentrationder Gerichte sinnvoll ist. Aus meiner Sicht wäre es sinn-voll, den Ländern weiterhin freizustellen, ob sie von derMöglichkeit der Konzentration Gebrauch machen wol-len oder nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich bin auf alle Fälle gespannt, welche Schlussfolge-rungen die Koalition aus der gestrigen Anhörung ziehenwird und ob der Entwurf in dem von mir vorgeschlage-nen Sinne noch verbessert wird.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Jetzt hat Ingrid Hönlinger das Wort für Bündnis 90/

Die Grünen.

Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Frau Ministerin! Wir alle erinnern uns: Vorcirca zwei Jahren haben der Warenhauskonzern Arcan-dor und seine Tochtergesellschaften Quelle und Karstadtdie Eröffnung des Insolvenzverfahrens vor dem EssenerAmtsgericht beantragt. Das Kaufhaus Quelle war end-gültig am Ende, Karstadt konnte gerade noch durch ei-nen Privatinvestor gerettet werden. Von dieser Insolvenzwaren 43 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betrof-fen. Sie und ihre Familien mussten oft wochen- und mo-natelang um ihre Zukunft bangen.

Mit Blick auf die volkswirtschaftlichen Auswirkun-gen, aber auch mit Blick auf die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer müssen wir uns das Thema Unterneh-mensinsolvenzen genau anschauen. Die zentrale Fragelautet: Sind die Mittel der geltenden Insolvenzordnungausreichend, um angemessen auf die Situation von be-drohten Unternehmen zu reagieren? Die Antwort lautetNein. Die erfolgreiche Sanierung von Unternehmen imInsolvenzverfahren stellt noch immer die Ausnahme dar.

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Ingrid Hönlinger

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Ein Blick auf die Zahlen reicht aus, um uns den drin-genden Handlungsbedarf vor Augen zu führen. Im letz-ten Jahr haben rund 32 000 Unternehmen bei deutschenAmtsgerichten das Insolvenzverfahren beantragt. Damitist die Zahl der Unternehmensinsolvenzen im Vergleichzum Vorjahr um 2,1 Prozent zurückgegangen. Das Jahr2009 war aber auch das Jahr der Krisen und ist dahernicht die richtige Bezugsgröße. Die Zahlen zeigen: Wirt-schaftskrisen führen auch dazu, dass wir uns die Insol-venzordnung genau anschauen müssen.

Wir Grünen haben uns schon vor einem Jahr mit die-sem Thema auseinandergesetzt. Über unsere Verbesse-rungsvorschläge wurde hier im Bundestag diskutiert. Esfreut uns, dass die Bundesregierung, wenn auch ein Jahrspäter, jetzt diesen Gesetzentwurf vorlegt, in dem einigeunserer Forderungen aufgegriffen werden; aber es fehlendoch noch entscheidende Komponenten.

Das Hauptziel der Insolvenzreform muss die frühzei-tige Rettung und Restrukturierung von Unternehmensein. Unternehmen sollten möglichst erst gar nicht insol-vent werden. Es sollten schon vorher Sanierungsmög-lichkeiten greifen. Momentan fehlt eine institutionelleVerankerung, um grundsätzlich lebensfähige Unterneh-men noch vor der Stigmatisierung durch ein eröffnetesInsolvenzverfahren zu sanieren. Wir sollten deshalbüberlegen, wie wir es auch gestern in der Anhörung dis-kutiert haben, sanierungsbedürftigen Unternehmen einReorganisationsverfahren bzw. ein Sanierungsverfahren– eventuell vor einer spezialisierten Kammer für Han-delssachen – zu ermöglichen, um so das Stigma der In-solvenz zu vermeiden. Österreich erzielt damit schonsehr gute Erfolge.

Kommt es dann doch zur Eröffnung eines Insolvenz-verfahrens, sind natürlich die fachliche Kompetenz undauch die Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters oderder Insolvenzverwalterin Voraussetzungen für ein er-folgreiches Verfahren. Ich stimme Ihnen zu: Richterin-nen und Richter an Insolvenzgerichten müssen fachlichin der Lage sein, darüber zu entscheiden, welchen Ver-walter oder welche Verwalterin sie bestellen. Hierkönnte man ebenfalls daran denken, den Sachverstand,der an den Kammern für Handelssachen besteht, zu nut-zen. Kontraproduktiv ist es aber, dem vorläufigen Gläu-bigerausschuss – so ist es im Gesetzentwurf vorgese-hen – so weitgehend die Befugnis der Bestellung der In-solvenzverwaltung einzuräumen. Dieses Verfahren birgtnämlich die Gefahr, dass sich die Insolvenzverwaltungauf wenige Spezialistinnen und Spezialisten beschränkt –im schlimmsten Fall auf die, die großen Gläubigern wieBanken oder Versicherungen nahestehen. Wir meinen,die Insolvenzverwaltung muss auch neuen Verwalterin-nen und Verwaltern offenstehen. Konkurrenz ermöglichtauch im Bereich der Insolvenzverwaltung eine qualita-tive Steigerung.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen – JerzyMontag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Richtig!)

– Danke.

(Heiterkeit)

Wichtig ist uns bei der Neuregelung der Insolvenzord-nung auch, dass nicht nur große Unternehmen ins Blick-feld geraten, sondern auch die Interessenlage kleinererUnternehmen berücksichtigt wird. Eine Überlegung wäre,die Bestimmung einzuführen, dass Gläubigerforderungen,die in Anteils- oder Mitgliedschaftsrechte am Schuldner-unternehmen umgewandelt werden sollen, nur dann um-gewandelt werden können, wenn die Alteigner zustim-men. Das könnte es insbesondere Familienunternehmenerleichtern, einen Insolvenzantrag zu stellen, wenn es er-forderlich ist. Außerdem könnten wir so für Betriebe undBeschäftigte eventuell die Gefahr abwenden, dass sichSchnäppchenjäger an Insolvenzen bereichern.

Steuerliche Flankierungsmaßnahmen sucht man imGesetzentwurf vergeblich. Dazu ist in ihm leider garnichts enthalten. Wir wünschen uns, dass auch steuerli-che Komponenten bei einer Neuregelung des Insolvenz-rechts berücksichtigt werden.

Wir sehen also: Der Regierungsentwurf enthält einigebrauchbare Vorschläge. Weitere Verbesserungen sinddringend erforderlich, um das Insolvenzrecht zu aktuali-sieren, die Chancen auf Sanierung zu erhöhen und prä-ventive Maßnahmen zur Unternehmensrettung zuetablieren. Wir Grünen werden uns weiter konstruktivbeteiligen, wenn es um diese Thematik geht. Wir wollenmit unseren Verbesserungsvorschlägen erreichen, dassArbeitsplätze, wo immer möglich, erhalten werden, dasswir Unternehmen in schwierigen Zeiten eine Brückebauen, dass unnötige Investitionen vermieden werdenund dass damit der Wirtschaftsstandort Deutschland ins-gesamt gestärkt wird. Jeder gerettete Arbeitsplatz, jedesUnternehmen, das einen schwierigen Anpassungspro-zess übersteht, und jede Firma, die eine zweite Chanceerhält, sind ein Gewinn für die Menschen und für dieWirtschaft.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Heider für die

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Matthias Heider (CDU/CSU):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorweg:Das Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierungvon Unternehmen trägt seinen Namen zu Recht. Im We-sentlichen geht es um drei Punkte: Erstens. Es stärkt denEinfluss der Gläubiger insbesondere in Bezug auf dieAuswahl des Insolvenzverwalters. Zweitens. Das Insol-venzplanverfahren wird ausgebaut und gestrafft. Drit-tens. Der Zugang zur Eigenverwaltung wird erleichtert.

Darüber hinaus bietet das Gesetz eine Chance zurEtablierung bzw. Erneuerung einer Sanierungskultur.Wie wichtig ein Umdenken, ein Mentalitätswechsel imInsolvenzbereich ist, zeigt folgendes Beispiel – ichnenne Ihnen bewusst kein Beispiel aus aktuellen Insol-venzverfahren, sondern eines, das Sie alle möglicher-

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Dr. Matthias Heider

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weise kennen –: In den Buddenbrooks beschreibtThomas Mann den Bankrott als den bürgerlichen Toddes Kaufmanns, als etwas Grässlicheres als das Ende desLebens, als Tumult, Zusammenbruch, Ruin, Schande,Verzweiflung und Elend – für ihn, für seine Familie, aberauch für viele seiner Beschäftigten. Diese Vorstellungenhaben sich bis heute nicht geändert. Auch heute,134 Jahre nach Einführung der allgemeinen deutschenKonkursordnung von 1877 – ungefähr der Zeit, in derdie Buddenbrooks spielen – und zwölf Jahre nach demInkrafttreten der Insolvenzordnung, wird die Eröffnungeines Insolvenzverfahrens in Deutschland oftmals alsdas katastrophale Ende unternehmerischen Handelns an-gesehen.

Dies kann sich durch die erste Stufe der Insolvenzre-form ändern. Der Konkurs ist das Risiko unternehmeri-schen Handelns. Er gehört zu den Sanktionen kaufmän-nischer Fehler. Diese können vielfältiger Natur sein:Investitionen in falsche Produkte – „am Markt vorbei“nennt man das –, fehlendes Risikomanagement, man-gelnde Kostenkontrolle, Kapitalbindung durch zu hoheLagerbestände, explodierende Rohstoffkosten, Missma-nagement im Unternehmen bis hin zu dolosem Verhal-ten.

Der Antrag auf Insolvenz soll für den redlichen Gläu-biger die Chance auf eine erfolgreiche Unternehmenssa-nierung sein. Die geltende Insolvenzordnung stellt – dieBundesministerin der Justiz hat es einleitend gesagt –den Verfahrenszweck der gemeinschaftlichen Gläubiger-befriedigung vornan. Hieran wird sich auch nach Verab-schiedung dieses Gesetzes nichts ändern. Demgegenübersind Liquidation und Unternehmenserhaltung durch ei-nen Insolvenzplan sekundäre Verfahrenszwecke, diedem übergeordneten Zweck der Gläubigerbefriedigungdienen.

Die Insolvenzordnung und ihr Zweck sind Ausdruckder freien Marktwirtschaft und ihrer Regeln; das sollauch so bleiben. Ziel der Gesetzesnovellierung ist, dieSanierung von Unternehmen attraktiver zu gestalten undAnreize für den Schuldner zu schaffen, bei drohenderZahlungsunfähigkeit frühzeitig den Antrag zu stellen;denn allein dies hilft, die Gläubiger nach Möglichkeit zubefriedigen, Arbeitsplätze zu erhalten und einen mit derInsolvenz einhergehenden volkswirtschaftlichen Scha-den abzuwenden.

Im vergangenen Jahr sind 8 500 der 32 000 Insolven-zen, die Sie, Frau Hönlinger, gerade genannt haben,mangels Masse abgewiesen worden; das sind mehr als25 Prozent aller angemeldeten Insolvenzverfahren.„Mangels Masse abgewiesen“ heißt, dass das Vermögendes Schuldners nicht ausreicht, um die Verfahrenskostenzu decken. Auch diesen Unternehmen wollen wir klar-machen, dass die frühzeitige Antragstellung – bereits beidrohender Zahlungsunfähigkeit – der richtige Weg ist,um eine Sanierung erfolgreich abzuschließen, statt abzu-warten, bis es zu spät ist.

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung beinhaltethier den richtigen Weg. Das Insolvenzplanverfahrenwird entschlackt, die Eigenverwaltung wird gestärkt,und das Sanierungsvorbereitungsverfahren – Stichwort:

Schutzschirm – wird neu eingeführt. Der Erfolg der Sa-nierung erfordert jedoch eine rechtzeitige Kommunika-tion und eine Konsenssuche zwischen den Beteiligten:zwischen den Gläubigern und den Schuldnern, aber auchzwischen den Insolvenzgerichten und den Verwaltern.Ich nenne Ihnen ein Beispiel, weil ich hier Handlungsbe-darf sehe. Die Einsetzung eines vorläufigen Gläubiger-ausschusses bereits bei Eingang des Schuldnerantragesist grundsätzlich ein geeignetes Mittel, eine frühzeitigeKommunikation zwischen Gläubigern und Insolvenzge-richt zu fördern. Darüber hinaus ist es zentrales Anliegendes Gesetzentwurfes, die Gläubiger frühzeitig in dasVerfahren einzubinden.

Vertreter der Praxis haben uns in der Anhörung daraufhingewiesen, dass die Einsetzung eines vorläufigenGläubigerausschusses oft sehr aufwendig und schwerfäl-lig ist. In dringenden Fällen kann dadurch der Erfolg, dieAufrechterhaltung des Geschäftsbetriebes und damit dieSanierung, gefährdet werden. Die verpflichtende Einbe-rufung eines solchen Gläubigerausschusses bei einemUnternehmen mit einer Bilanzsumme und einem Umsatzvon nur 2 Millionen Euro und einer Anzahl von zehn Ar-beitnehmern im Jahresdurchschnitt erscheint daher imHinblick auf unsere kleinen und mittelständischen Un-ternehmen nicht sachgerecht. Ich würde mir hier einemoderate Anhebung der Schwellenwerte auf etwa dieGrößenordnung für mittlere Kapitalunternehmen wün-schen. Ergänzend könnte eine Sollvorschrift bestimmen,dass ein vorläufiger Gläubigerausschuss auch dann ein-zurichten ist, wenn mit dem Eröffnungsantrag vomSchuldner alle erforderlichen Daten eingereicht werden.Hierzu sollten namentlich Vorschläge nebst Gruppenzu-ordnung sowie Einverständniserklärungen der beteilig-ten Personen gehören. Das würde sogar noch über dieBeschleunigung im Verfahren hinausgehen und eineMitarbeit des Schuldners vor dem Verfahren erfordern.

Auch wenn angesichts des breiten und nachhaltigenwirtschaftlichen Aufschwungs die Folgen der Finanz-und Wirtschaftskrise mehr und mehr aus dem Blick derÖffentlichkeit geraten – wir haben aktuell nur noch rund2,8 Millionen Arbeitslose –, besteht auf diesem Feldnach wie vor Handlungsbedarf. Die Wirtschaft und dieBetroffenen erwarten von uns zu Recht, dass wir in die-sem Parlament einen praktikablen Vorschlag machen.Darauf sollten wir in der anstehenden Beratung gemein-sam hinwirken. Chancen zur Sanierung der betroffenenUnternehmen braucht es in guten wie in schlechten Zei-ten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Das Wort hat der Kollege Ingo Egloff für die SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Ingo Egloff (SPD):Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden

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Ingo Egloff

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aus den Erfahrungen, die wir in zehnjähriger Praxis mitder novellierten Insolvenzordnung gemacht haben, Kon-sequenzen gezogen. Die Sachverständigenanhörung amgestrigen Tage hat deutlich gemacht, dass der Regie-rungsentwurf an etlichen Stellen nachgebessert werdenmuss. Ich denke, das muss das Ziel unserer gesetzgeberi-schen Tätigkeit im Rechtsausschuss und auch hier imBundestag sein.

Ziel ist, ein Insolvenzrecht zu schaffen, das zuallererstdarauf setzt, Unternehmen zu erhalten und zu sanieren,deren Prognose darauf hindeutet, dass sie nach erfolgterEntschuldung oder Umschuldung weiter am Markt be-stehen können. Darüber hinaus müssen wir angesichtsder mittelständischen Struktur unserer Wirtschaft dafürsorgen, dass die Durchführung eines Insolvenzverfah-rens von den eigentümergeführten Unternehmen nichtmehr als Makel angesehen wird. Einige meiner Vorred-ner haben bereits darauf hingewiesen: Die Unternehmenmüssen das Insolvenzverfahren als Chance wahrneh-men, in einer schwierigen Situation durch professionelleHilfe gegebenenfalls die Weiterexistenz des Unterneh-mens zu organisieren.

(Beifall bei der SPD)

Es gilt – das zeichnet den Entwurf aus – den Gläubi-gereinfluss bei der Auswahl des Insolvenzverwalters zustärken; das ist die eine Seite. Auf der anderen Seitemüssen wir verhindern – auch darauf ist von meinenVorrednern schon hingewiesen worden –, dass be-stimmte Gläubigergruppen wie Banken und Versiche-rungen dafür sorgen, dass Insolvenzverwalter nach ih-rem Gusto bestellt werden. Wir müssen uns daher dieRegelung des § 56 Abs. 3 des Entwurfes genau ansehen.Ich bin der Auffassung, dass dieser Paragraf so nichtbleiben kann, weil hier das Recht des Insolvenzrichters,einen Insolvenzverwalter abzulehnen, in einer Art undWeise eingeschränkt wird, wie es meines Erachtens nichtsachgerecht ist.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Vonseiten des Bundesrates gibt es an der Regelung imvorgesehenen § 22 a in Bezug auf die SchwellenwerteKritik. Man kann in der Tat darüber nachdenken, ob diedort angesetzten Werte nicht zu niedrig sind. Ob aller-dings, wie in der Sachverständigenanhörung gestern dar-gestellt, die Werte des § 267 Abs. 2 HGB der richtigeAnsatzpunkt sind oder ob man nicht Werte suchen muss,die dazwischen liegen, wird Gegenstand der Beratungenim Ausschuss sein. Wir sollten darauf achten, dass wireine sachgerechte Lösung finden.

Die im Gesetzentwurf vorgesehene grundlegendsteÄnderung betrifft § 225 a. Hier findet in der Tat ein Pa-radigmenwechsel statt. Lassen Sie mich einmal in derGeschichte des Insolvenzrechts zurückgehen: Schon inden 70er-Jahren wurde unter Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel eine Kommission eingesetzt, die in dieseRichtung gearbeitet hat; aber bei jeder Insolvenzrechts-reform ist eine derartige Regelung abgelehnt worden.Wir müssen allerdings verhindern, dass Unternehmen in

andere europäische Länder ausweichen, um die Mög-lichkeiten des dortigen Insolvenzverfahrens in Anspruchzu nehmen. Deswegen ist es zunächst positiv zu bewer-ten, dass wir diese Regelung in § 225 a vorsehen. DieUmwandlung von Forderungen in Gesellschaftsanteilekann in der Tat Vorteile haben. In der Begründung desGesetzentwurfs wird das deutlich:

Durch den Wegfall von Verbindlichkeiten kann eineÜberschuldung des Unternehmens beseitigt wer-den; gleichzeitig kann das Erlöschen von Zins- undTilgungspflichten die Zahlungsfähigkeit des Unter-nehmens wiederherstellen.

Das kann man im Gesetzentwurf nachlesen.

Die Anwendung der vorgesehenen Regelung ist dannrichtig, wenn die Forderungsumwandlung mit dem Zielverbunden ist, das Unternehmen fortzuführen und fri-sches Kapital einzubringen. Die Frage ist aber, ob dasimmer so funktioniert. Angesichts der Aspekte, die ges-tern in der Anhörung angesprochen worden sind, solltenwir uns im Gesetzgebungsverfahren darüber verstärktGedanken machen.

Es gibt Beispiele aus dem angelsächsischen Raum.Als Beispiel ist die Deutsche Nickel AG genannt worden– das ist die Firma, die bei der Einführung des Euro die1-Euro-Münzen geprägt hat –, die 2004 in die Insolvenzgegangen ist. Sie hat durch Ausweichen in den angel-sächsischen Rechtsbereich versucht, die Vorteile desdortigen Verfahrens in Anspruch zu nehmen. Am Endeist sie trotzdem in Konkurs gegangen, weil die Gläubi-ger, diejenigen, die die Forderungen aufgekauft haben,das Unternehmen haben hängen lassen. Das warenFondsgesellschaften aus Amerika und England, die da-rauf spekuliert haben, die lukrativen Teile zu verwertenund den Rest in die Insolvenz gehen zu lassen.

Dieses Verhalten kennen wir aus der Vergangenheitdurch Beteiligung von Fondsgesellschaften, insbeson-dere amerikanischen Fondsgesellschaften, an deutschenmittelständischen Unternehmen. Deswegen lohnt es sichim Interesse der Arbeitsplätze und im Interesse der Un-ternehmen, darüber nachzudenken, ob wir in diesem Be-reich nicht Sicherungsmechanismen einführen könnenund wie wir das systematisch so ausgestalten können,dass wir auf der einen Seite den Vorteil haben, dass dieUnternehmen in Deutschland bleiben, und auf der ande-ren Seite Nachteile ausschließen können.

Die gestrige Anhörung war ein guter Ansatz. Es wareine ausgesprochen sachliche Diskussion mit vielen An-regungen. Wir nehmen die Anregung der Bundesjustiz-ministerin gerne auf, in den Ausschussberatungen weitergemeinsam am vorliegenden Gesetzentwurf zu arbeiten,um am Ende das zu erreichen, was wir alle erreichenwollen: ein Insolvenzrecht auf der Höhe der Zeit, dasseinen Zweck für die deutschen Unternehmen, für diedeutsche Wirtschaft erfüllt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Matthias Heider [CDU/CSU])

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Der Kollege Stephan Mayer hat jetzt das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-

ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir können zunächstfeststellen, dass sich unser Insolvenzrecht bewährt hat;aber wir müssen aufgrund der Erfahrungen der jüngstenWirtschafts- und Finanzkrise zur Kenntnis nehmen, dassunsere Insolvenzordnung in der praktischen Anwendungdurchaus Defizite und Schwächen aufweist.

Die Insolvenz kann, muss aber nicht das Ende einesUnternehmens bedeuten. Die Erfahrungen der Vergan-genheit haben gezeigt, dass viele Unternehmer bedauer-licherweise zu lange warten, bis sie mit Sanierungsmaß-nahmen in ihren Unternehmen beginnen oder – wenn esansteht – einen Insolvenzantrag stellen, und das deutscheInsolvenzverfahren teilweise zu unflexibel und zu wenigkalkulierbar ist. Dies hat – es wurde bereits angespro-chen – in der Vergangenheit dazu geführt, dass Unter-nehmen ihren Sitz ins Ausland verlegt haben, insbeson-dere nach Großbritannien, um dem deutschenInsolvenzrecht bzw. dem deutschen Insolvenzverfahrenzu entgehen. Dies zeigt uns, dass ein zeitgemäßes Insol-venzrecht ein wichtiger Aspekt und ein wichtiger Be-standteil eines modernen Wirtschaftsstandortes ist. Des-wegen ist es richtig, dass unser Insolvenzrecht novelliertwird. Der vorliegende Gesetzentwurf beweist, dass diechristlich-liberale Koalition nach wie vor – allen Unken-rufen zum Trotz – handlungsfähig ist, insbesondere imBereich der Innen- und Rechtspolitik.

Wichtig ist – das ist der entscheidende Punkt diesesGesetzgebungsvorhabens –, dass Sanierungsmaßnahmenfrüher einsetzen. Insbesondere müssen die Gläubiger-interessen stärker berücksichtigt werden. Es geht auchdarum, die Gläubiger zu beteiligen, wenn ansteht, denInsolvenzverwalter festzulegen. Das Ziel muss immerdie Neustrukturierung bzw. Neuausrichtung des Unter-nehmens sein, ebenso – das sage ich ganz deutlich – dieSicherung der vorhandenen Arbeitsplätze.

Zwei wichtige Aspekte des jetzt vorliegenden Gesetz-entwurfes sind, dass das Insolvenzplanverfahren ausge-baut und gestrafft wird und dass die Eigenverwaltung at-traktiver gestaltet wird.

Gerade von der Eigenverwaltung ist in der Vergan-genheit bedauerlicherweise zu wenig Gebrauch gemachtworden. Selbst wenn die Zahlungsunfähigkeit drohte,die Gläubiger aber durchaus Vertrauen in den Unterneh-mer hatten und dies auch deutlich zum Ausdruck ge-bracht haben, haben die Insolvenzgerichte bisher zu we-nig von dieser Möglichkeit der EigenverwaltungGebrauch gemacht. Deswegen ist es richtig, die Eigen-verwaltung insgesamt attraktiver zu gestalten, in derHoffnung, dass dann in der Praxis häufiger davon Ge-brauch gemacht wird.

Ich finde es sehr erfreulich, dass jetzt verpflichtendfestgelegt wird, dass in jedem Gläubigerausschuss ein

Arbeitnehmervertreter Sitz und Stimme hat. Das warbisher nicht der Fall.

Ich glaube, man kann wirklich festhalten: Der Gesetz-entwurf ist ein gelungener und ausgewogener Spagat,mit dem einerseits das berechtigte Interesse des Schuld-ners berücksichtigt wird, sein Unternehmen nach Mög-lichkeit fortzuführen, mit dem andererseits aber auch inBetracht gezogen wird, dass es berechtigte Gläubigerin-teressen zu wahren gilt und dass natürlich auch jeglicheMissbrauchsmöglichkeiten ausgeschlossen werden müs-sen.

Es ist auch festzuhalten, dass der Gesetzentwurf vonallen Seiten – insbesondere vonseiten der betroffenenVerbände – sehr positiv begleitet wurde. Ich bin auchsehr dankbar dafür, dass schon im Vorfeld, vor der Vor-lage des Gesetzentwurfs, sehr intensiv darauf geachtetwurde, den Interessen der Bundesrechtsanwaltskammer,des Deutschen Anwaltsvereins und auch des DeutschenRichterbundes Rechnung zu tragen. Dies hat auch diegestrige Sachverständigenanhörung gezeigt.

Wir müssen uns jetzt im parlamentarischen Gesetzge-bungsverfahren mit Sicherheit die Möglichkeit gebenund auch die Zeit nehmen, entsprechende Änderungenvorzunehmen. Ich möchte hier zwei Dinge explizit an-sprechen.

Zum einen bin ich persönlich der Überzeugung, dasses richtig ist, die Schwellenwerte für die verpflichtendeDurchführung eines Insolvenzplanverfahrens zu erhö-hen. Ich bin der Auffassung, dass dieses Insolvenzplan-verfahren vor allem für größere Unternehmen Anwen-dung finden sollte. Wenn man die Schwellenwerteweiterhin auf dem niedrigen Niveau belässt, dann seheich die Gefahr, dass es in der Praxis zu zeitlichen Verzö-gerungen kommt, weil viele kleinere Unternehmen ausmeiner Sicht für dieses verpflichtende Insolvenzplanver-fahren nicht geeignet sind. Wohlgemerkt: Wenn das In-solvenzplanverfahren auf freiwilliger Basis durchgeführtwird, dann kann es natürlich durchaus auch für kleinereUnternehmen Anwendung finden.

Ein zweiter wichtiger Punkt ist aus meiner Sicht dieKonzentration der Insolvenzgerichte. Ich möchte unshier schon auch dazu aufrufen, uns wirklich noch einmalsehr intensiv mit der Notwendigkeit auseinanderzuset-zen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich sage das ganz offen: Es ist ein berechtigter Grund-satz und auch ein berechtigter Wunsch, dass die Verfah-ren sachdienlich gefördert und auch schneller erledigtwerden. Ich persönlich bin aber auch der Überzeugung,dass es nicht unbedingt zu einer stärkeren Konzentrationder Insolvenzgerichte kommen muss.

Ich möchte hier auch auf die Stellungnahme des Deut-schen Richterbundes Bezug nehmen, der sehr deutlichzum Ausdruck bringt, dass die Erfahrung genau das Ge-genteil gezeigt hat. Die Bundesländer, die von dieserKonzentrationsmöglichkeit schon bisher Gebrauch ge-macht haben – Berlin, Hamburg, Sachsen –, weisen bei-leibe keine schnelleren Verfahrenszeiten als die Bundes-

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Stephan Mayer (Altötting)

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länder auf, die von der Konzentrationsmöglichkeitbisher noch nicht Gebrauch gemacht haben. Gerade Flä-chenländer wie Niedersachsen und Bayern haben,glaube ich, schon auch berechtigte Interessen, wenn esdarum geht, ob die dezentrale Struktur unserer Insolvenz-gerichte weiterhin aufrechterhalten werden soll.

Ich bin der festen Überzeugung, dass auch der Aspektder Bürgernähe hier mit zu berücksichtigen ist. Geradebei Verbraucherinsolvenzen geht es um Personen, dienicht vermögend sind und die größtenteils über keinenprivaten PKW verfügen. Denen aufzuoktroyieren undzuzumuten, dass sie 100 bis 150 Kilometer bis zumnächsten Landgericht fahren müssen, halte ich persön-lich für überzogen. Ich glaube, deswegen sollten wir unsdieses Themas noch einmal sehr intensiv annehmen.

Das gilt auch für die Konzentrationswirkung bei Un-ternehmensinsolvenzen, weil ich der Meinung bin, dasses durchaus einen Mehrwert bieten kann, wenn der In-solvenzrichter das Unternehmen, das ins Schlingern undin Kalamitäten gerät, schon zu einem Zeitpunkt kannte,als es noch prosperierend war. Ich glaube, die Sachkundedes Insolvenzrichters ist hier ganz wichtig.

Ich persönlich bin auch nicht der Auffassung, dass un-sere Insolvenzgerichte und die dabei tätigen Insolvenz-richter bisher eine schlechte Arbeit geleistet haben –ganz im Gegenteil. Auch wenn ein Insolvenzrichter vonder Anzahl her vielleicht noch nicht so viele Insolvenz-verfahren bearbeitet hat, heißt dies beileibe nicht, dass erqualitativ schlecht ist. Ganz im Gegenteil: Ich glaube,wir sind bisher gut damit gefahren, dass die Insolvenzge-richte eine dezentrale Struktur haben. Dieser Punkt wärees meines Erachtens wert, im weiteren parlamentari-schen Gesetzgebungsverfahren Berücksichtigung zu fin-den. In diesem Sinne freue ich mich auf eine intensiveund konstruktive Diskussion dieses Gesetzentwurfes.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/5712 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:

Vereinbarte Debatte

70. Jahrestag des Überfalls Deutschlands aufdie Sowjetunion

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeDr. Wolfgang Gerhardt für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Sie alle kennen Vergils Aeneis, die Geschichte,nach der Aeneas mit seinen Gefährten aus dem zerstör-ten Troja flieht und am Ende die Küste Italiens erreicht.Der Karlsruher Kulturwissenschaftler und PhilosophSloterdijk nimmt dieses Bild auf und sagt, Europa sei derKontinent, auf dem die Menschen eine zweite Chancehätten. Ich finde dieses Bild wunderbar. Es trifft auch zu:nach den Katastrophen des letzten Jahrhunderts, nach allden Schreckensszenarien, nach dem Grauen, nach derBrutalität, nach der Kaltblütigkeit des Mordens, desnoch nie dagewesenen Deportierens und auch Ausrot-tens ganzer Völkerschaften.

In dieser Debatte anlässlich des 70. Jahrestages desÜberfalls Hitler-Deutschlands auf die damalige Sowjet-union steht am Anfang, nicht nur weil es unvermeidlichist, sondern weil es der Wahrheit entspricht, die Tatsa-che, dass der Auslöser dieses ganzen Schreckens dasNaziregime war. Darum kommt kein vernünftig denken-der Mensch herum. Es hat im Übrigen nicht mit dem An-griff auf die Sowjetunion begonnen, sondern schon vor-her mit dem Angriff auf Polen, mit den ganzen Vorläufendes Regimes und mit dem zu späten Erkennen, auch vonintellektuell anspruchsvollen Menschen, der totalitärenPotenziale.

Wer angefangen hat, wer das ganze Elend ausgelösthat, ist unbestritten. Alle Versuche, aufzurechnen, waswir in vielen Diskussionen erleben, helfen dabei imGrunde genommen nicht weiter. Es ist wahr, dass unsdas Leid, das über Millionen von Menschen der damali-gen Sowjetunion gebracht worden ist und das hinterherin der Folge zur Vertreibung von Millionen von Men-schen geführt hat, bewegt und erschüttert. Aber es kanndie Verantwortung für den Beginn nicht ungeschehenmachen.

Es ist nicht schwer – es ist auch kein Fehler –, wennman sich das eingesteht. Ich würde sogar sagen: DenSchrecken der eigenen Vergangenheit erkennen und das,was es anderen angetan hat, bereuen, zeigt die Reife ei-ner Gesellschaft. Wenn wir uns weltweit umsehen, stel-len wir fest: Es gibt keine Gesellschaft und kein Land,das so die eigenen Tabus aufgegriffen hätte, Gräben zu-geschüttet hätte und sich selbst über seine eigene Kata-strophengeschichte klar geworden ist wie Deutschland.Manche meinen vielleicht, wir hätten es bitter nötig ge-habt.

Wenn ich heute in den anderen Ländern die geringeBereitschaft sehe, sich mit ihrer Geschichte auseinander-zusetzen und der eigenen Gesellschaft die eigenen Feh-ler vorzuhalten, dann würde ich sagen, dass wir eine sehrgute Leistung vollbracht haben und zu Recht die zweiteChance in Europa verdient haben. Wir haben, so gut esgeht, die Trümmer unserer eigenen Geschichte beiseite-geräumt, was auch die heutige Diskussion zeigt, die wirzum 70. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf dieSowjetunion auf die Tagesordnung gesetzt haben.

Man fragt sich bei solchen Gelegenheiten, wie es ei-gentlich möglich gewesen ist – man wird es nie richtigbegreifen –, dass im vergangenen Jahrhundert Europas

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Dr. Wolfgang Gerhardt

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Verfassungs- und Kulturgeschichte mit Renaissance undAufklärung beiseitegewischt worden sind und die Bin-dung an Werte und unveräußerliche Menschenrechte ge-radezu ausgeschaltet wurde. Dass totalitäre Versuchun-gen und Potenziale nicht rechtzeitig erkannt wurden,bleibt unbegreiflich. Nach jedem Buch, das man dazuliest, und jedem Dokumentarfilm, den man sich ansieht,stellt man sich wieder die Frage, wie es nur dazu kom-men konnte, und steht immer wieder vor dem Unfassba-ren.

Die Schreckensspur begann und endete nicht mit demAngriff auf die damalige Sowjetunion. Es war insgesamtdas totalitäre System sowohl der Nazis als auch – dasfüge ich hinzu – später des Stalinismus, die das Gesichtder Epoche so übel zugerichtet haben, wie es JoachimFest treffend beschrieben hat. Es hat lange gedauert, bisder Terror dieser Ideen, Beglückungsbanner und politi-schen Lügen beseitigt worden ist und die Befreiung zurRealität wurde.

Vaclav Havel hat das wie kein anderer für die er-schöpften Menschen beider Regime und der Kriege zumAusdruck gebracht. Er beschreibt den Versuch, in einembescheidenen ideologiefreien Raum zu leben, der es denMenschen – so drückt er sich wörtlich aus – erlaube, aufeinfache Art würdig zu leben, mit der Unvermeidbarkeitvon Widersprüchen, mit der Unvollkommenheit derWelt, aber auch – so füge ich hinzu – ohne Gier nachGröße oder anderen Verheißungen als Verrechnungen fürdie Mühen des Alltags. Das sollte man als politischesProgramm übernehmen.

Wenn heute für uns in Europa die Menschenwürde alsQuellcode unseres politischen Umgangs und unsererVerfassung insgesamt – nicht nur der geschriebenen –gilt und wenn wir uns tagtäglich bewusst werden, dasswir in Erinnerung an die Katastrophengeschichte uns be-mühen müssen, in Partnerschaft mit Russland und allenunseren europäischen Nachbarn zu leben, dann kannsich das nicht nur auf Regierungsgeschäfte konzentrie-ren.

Wir müssen täglich ein Stück menschliches Zusam-menleben organisieren. Wir müssen in einem menschli-chen Miteinander leben, weil man nur dann Einflüste-rungen begegnen kann, die in anderen Uniformen immerwieder auftreten werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Deshalb will ich zu dem Jahrestag sagen: Er sollte unsheute nicht nur veranlassen, über den Angriff nachzu-denken; er sollte uns vielmehr veranlassen, auch mitBlick auf die Zukunft darüber glücklich zu sein, dass dieGefahr eines Krieges zwischen den Staaten Europasnach meiner Überzeugung heute gebannt ist. Damit wirdaber noch unfassbarer, was vor 70 Jahren geschehen ist.Sich daran zu erinnern, auch wenn es nur eine Dreivier-telstunde im deutschen Parlament ist, bleibt notwendig.Wir müssen uns jeden Tag vergewissern, was zu tun ist,damit sich so etwas nicht wiederholen kann.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall im ganzen Hause)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Dr. Gernot Erler für die

SPD-Fraktion.

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD):Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Der 22. Juni wäre prädestiniert als ein trauriger Ge-denktag für eines der düstersten Kapitel der deutschenGeschichte. Dieser Tag erinnert uns daran, dass von ihmvor genau 70 Jahren unendliches Leid ausging, begleitetvon schwer begreifbaren Verbrechen.

Der Krieg gegen die Sowjetunion war ein rassisti-scher Vernichtungskrieg. Er sollte für die Deutschen Le-bensraum im Osten erobern, die angebliche Judenherr-schaft in Russland brechen und die minderwertigeslawische Rasse dezimieren und hinter den Ural verdrän-gen.

Die Verbrechen verteilen sich auf die vier Jahre zwi-schen 1941 und 1945, vom Anfang bis zum Ende. IhrAusmaß wird in Zahlen festgehalten, die unsere Vorstel-lungskraft überfordern: 27 Millionen getötete Menschenin dem überfallenen Land, davon 14 Millionen Zivilis-ten. Das bedeutete mindestens einen Trauerfall in prak-tisch jeder Familie. Hinter diesen Zahlen verbergen sichunauslöschliche Erinnerungsbilder von traumatischenErlebnissen. Dazu gehören die sofortige Erschießung al-ler gefangen genommenen Politoffiziere der Sowjet-armee nach dem sogenannten Kommissarbefehl, dermindestens 7 000 Opfer forderte, die grausame, auf Ver-nichtung zielende Behandlung von 5,7 Millionen sowje-tischen Kriegsgefangenen, von denen fast 60 Prozentihre Gefangenschaft nicht überlebten, und die systemati-sche Liquidierung von 2,5 Millionen Juden in den ero-berten Gebieten. Im Zuge dieser rassenideologischenVernichtungspolitik wurden schon ab August 1941ganze Gemeinden ausgelöscht. Die Schlucht von BabiJar bei Kiew, in der allein am 29. und 30. September1941 33 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder er-schossen wurden, steht als ein Erinnerungsort für Hun-derte anderer. Dazu gehören auch der Versuch, im Win-ter 1941/42 das eingeschlossene Leningrad, diezweitgrößte Stadt der Sowjetunion, schlicht verhungernzu lassen, mit mindestens 800 000 Toten in den 900 Ta-gen der Belagerung, die Verschleppung von 2,8 Millio-nen Sowjetbürgern als Zwangsarbeiter und ihre rück-sichtslose und erniedrigende Behandlung und dann,während des Rückzugs, die Politik der verbrannten Erde,der ganze Dörfer, Städte, Kulturlandschaften und wie-derum Millionen von Zivilisten zum Opfer fielen.

Wenn wir heute hier im Deutschen Bundestag an den22. Juni 1941 erinnern, von dem all dies grausame Ge-schehen ausging, dann bewegen wir uns auf dem Bodengesicherter Erkenntnisse der Wissenschaft mit vielenBeiträgen auch von deutschen und russischen Histori-kern. Das war nicht immer so. Nach 1945 ist alles, wasmit dem Unternehmen Barbarossa zusammenhing, langeZeit verdrängt oder verfälscht worden. Es hat lange Zeitgedauert, bis die sogenannte Präventivkriegsthese alsLüge entlarvt und widerlegt wurde. Es hat auch langegedauert, bis die Legende von der sauberen Wehrmacht

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Dr. h. c. Gernot Erler

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korrigiert werden konnte. Das geschah in der breiten Öf-fentlichkeit erst mit der berühmten Wehrmachtsausstel-lung nach 1995. Über mehrere Jahrzehnte hinweg schufder Kalte Krieg für viele ehemalige Täter und Mittätereine willkommene Legimitation, die alten Feindbilder zukonservieren und dabei von der eigenen Mitverantwor-tung für die Verbrechen des Krieges gegen die Sowjet-union abzulenken.

Eine überzeugende Aufarbeitung der Geschichteschafft die Voraussetzungen für eine angemessene Erin-nerungskultur. Diese Voraussetzungen bestehen heute.Die Erinnerung aber mit Leben zu füllen, das ist eineHerausforderung, der sich jede Generation von neuemstellen muss.

(Beifall im ganzen Hause)

Wenn wir das heute versuchen, müssen wir eigentlichzunächst über ein Wunder sprechen, das Wunder näm-lich, dass sich die Beziehungen zwischen Deutschlandund Russland nach all diesen Traumata der Jahre 1941bis 1945 über die Jahrzehnte hinweg so positiv entwi-ckelt haben. Wir bezeichnen uns heute wechselseitig alsstrategische Partner. Umfragen zeigen, dass die über-große Mehrheit der russischen Bevölkerung ein positivesDeutschlandbild pflegt. Die Wirtschaftsbeziehungenzwischen unseren beiden Ländern entwickeln sich gut.Große Erwartungen knüpfen sich an das Projekt der Mo-dernisierungspartnerschaft. Es bestehen über hundertdeutsch-russische Städtepartnerschaften. Seit 2001 be-müht sich der Petersburger Dialog, die Zivilgesellschaf-ten beider Länder näherzubringen. Auch in den Kultur-beziehungen haben wir viele Aktivitäten, vomJugendaustausch über das gerade angelaufene deutsch-russische Wirtschaftsjahr bis zu dem für 2012 vorgese-henen Deutschlandjahr in Russland und dem Russland-jahr in Deutschland.

Wenn man sich überlegt, dass es tatsächlich in prak-tisch jeder russischen Familie ein Kriegsopfer gab, dassnoch immer am 9. Mai, dem eigentlichen russischen Na-tionalfeiertag, der Sieg über Hitler-Deutschland gefeiertwird und an diesem Tag die Veteranen mit ihren Ordens-brüsten das Stadtbild bestimmen und dass all dieseschrecklichen Ereignisse, die niemand vergessen kann,von Deutschland ausgingen, dann kann man das realexistierende dynamische und positive deutsch-russischeVerhältnis von heute nur als Wunder bezeichnen undDankbarkeit dafür empfinden.

(Beifall im ganzen Hause)

Aber es gibt zum 70. Jahrestag des Überfalls auf dieSowjetunion auch von Schattenseiten zu berichten. Siebetreffen die Aufarbeitung des Unrechts, die Entschädi-gung der Opfer und die Vollständigkeit der Erinnerungs-arbeit. Ich spreche hierbei von Opfergruppen, die bisherzu wenig gewürdigt wurden. Hier stößt man an ersterStelle auf das Schicksal der 5,7 Millionen sowjetischerKriegsgefangener, die in doppelter Weise einem grausa-men Schicksal unterworfen waren. Ihre Behandlung imdeutschen Gewahrsam führte zu der entsetzlich hohen,von mir schon genannten Verlustquote von annähernd60 Prozent, während die Quote zum Beispiel für Kriegs-

gefangene aus westlichen Ländern 3,5 Prozent an Op-fern nicht überstieg.

Die Russen, die ihre Kriegsgefangenschaft überleb-ten, fanden zu Hause zunächst einmal für lange ZeitÄchtung, Ausgrenzung, ja, in vielen Fällen sogar eineFortsetzung von Lagerhaft in dem System des stalinisti-schen Gulag vor. Es dauerte bis zum 24. Januar 1995, bisPräsident Jelzin ein Dekret zur Wiederherstellung dergesetzmäßigen Rechte der russischen Kriegsgefangenenunterzeichnete, wodurch sie wenigstens den Status vonKriegsteilnehmern erhielten und ihre negative Sonder-stellung in der Gesellschaft beendet wurde.

Aber die ehemaligen Kriegsgefangenen erhielten we-der Zugang zu den 1991 und 1993 eingerichteten Stif-tungen in Moskau, Kiew, Minsk und Warschau, in dieDeutschland 766 Millionen Euro zur Weitergabe an Op-fer des Nationalsozialismus einzahlte, noch zu der imJahr 2000 gegründeten Stiftung „Erinnerung, Verantwor-tung und Zukunft“, die zwischen 2001 und 2007 Aus-zahlungen in Höhe von 4,4 Milliarden Euro an 1,6 Mil-lionen Opfer in 100 verschiedenen Ländern vornahm,hauptsächlich an Menschen, die als Zwangsarbeiter fürDeutschland gelitten hatten, ausdrücklich aber nicht andie Kriegsgefangenen, deren Leistungsberechtigung in§ 11 der Stiftungssatzung ausdrücklich ausgeschlossenwurde.

Immer wieder wird völkerrechtlich darauf verwiesen,dass Kriegsgefangene eben Opfer des sogenannten allge-meinen Kriegsschicksals seien und dass ihre Entschädi-gung insofern Sache ihrer Herkunftsländer sei, die dafürMittel aus Reparationszahlungen nutzen müssten. Abertrifft diese Einordnung ins allgemeine Kriegsschicksaltatsächlich auf die sowjetischen Kriegsgefangenen indeutscher Hand zu, auf Menschen, die in Güter- undViehwaggons transportiert wurden, die häufig und auchzu Winterzeiten im Freien untergebracht wurden und diein den berüchtigten Mannschaftslagern, in den Stalags,von völlig unzureichender Ernährung, von Hunger,schwerster Zwangsarbeit sowie Krankheiten und Seu-chen in so erschreckend großer Zahl dezimiert wurden?

Längst ist erwiesen, dass sich die Unterscheidung vonZwangsarbeitern und KZ-Häftlingen auf der einen Seiteund Kriegsgefangenen auf der anderen Seite so nichtaufrechterhalten lässt. Das wird auch durch drei neuereAusarbeitungen des Wissenschaftlichen Dienstes desDeutschen Bundestages aus den Jahren 2010 und 2011bestätigt, die im Zusammenhang mit einer Petition in Sa-chen Entschädigung der Kriegsgefangenen erstellt wor-den sind. Diese Petition liegt dem Deutschen Bundestagseit September 2006, also seit jetzt annähernd fünf Jahren,vor und wurde bis heute nicht abgeschlossen. Eingereichthat sie die Organisation KONTAKTE-KOHTAKTbl, diesich in bewunderungs- und unterstützungswürdigerWeise der noch lebenden ehemaligen Kriegsgefangenenannimmt. Ich finde, das ist ein Grund, auch einmal vondiesem Haus aus einen herzlichen Dank an diese enga-gierten Zeitgenossen zu sagen.

(Beifall im ganzen Hause)

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Dr. h. c. Gernot Erler

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Die Leute von KONTAKTE zahlen aus privaten Stif-tungsgeldern Einmalsummen von 300 Euro an die Be-troffenen aus und übersenden dieses Geld verbunden miteinem persönlichen Anschreiben. Es ist berührend, wennman sieht, wie häufig auf diese eher symbolische Aner-kennung des Leidens ausführliche Dankschreiben zu-rückkommen.

Es ist wirklich Zeit, zu versuchen, hier zu einem ge-meinsamen Ergebnis zu kommen. Wir können diesesThema nicht allein engagierten Privatpersonen überlas-sen oder gar auf die bevorstehende biologische Erledi-gung setzen. Wir sollten einen gemeinsamen Weg findenund uns gerade durch den 70. Jahrestag des 22. Juni1941 dazu mahnen lassen, zumindest einen Weg für eineGeste des Bedauerns und der Anerkennung des Leids dervergessenen Opfer des Vernichtungskrieges gegen dieSowjetunion zu finden. Dass zu diesen die 14 MillionenZivilopfer, aber eben auch die über 3 Millionen umge-kommenen Kriegsgefangenen gehören, daran hat uns ge-rade wieder ein Appell von Aktion Sühnezeichen zusam-men mit vier weiteren Organisationen eindringlichgemahnt; das Memorandum trägt den Titel „Aus demSchatten der Erinnerung“.

Es wäre gut – damit möchte ich schließen –, wenn un-sere heutige Debatte uns alle motivierte, es nicht weiterzuzulassen, dass wir auch 70 Jahre nach dem 22. Juni1941 noch von vergessenen Opfern in diesem Vernich-tungskrieg gegen die Sowjetunion sprechen müssen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall im ganzen Hause)

Vizepräsidentin Petra Pau:Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Michael

Glos das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Michael Glos (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich habe sehr vieleDebatten in diesem Hohen Hause erlebt. Aber dies isteine der berührendsten Debatten, der ich jemals bei-wohnte und in der ich das Wort ergreifen durfte. Es istvor allen Dingen spürbar, wie sich alle Seiten diesesHauses einig sind.

Wir gedenken heute des 22. Juni 1941. An jenem Tagvor 70 Jahren überschritten die deutschen Truppen dieGrenze der damaligen Sowjetunion und lösten mit die-sem Überfall eine beispiellose Serie von Gewalt aus, diedann auch zu Gegengewalt führen musste. KollegeWolfgang Gerhardt hat die Vorgeschichte geschildertund deutlich gemacht, dass wir an der Geisteshaltungfesthalten müssen, zu sagen, nie mehr dürften Krieg, Un-recht, Faschismus usw. die Oberhand gewinnen. Es warauch sehr berührend, was der Herr Kollege Erler anSchrecken geschildert hat.

Ich zitiere Helmut Kohl, den Kanzler der deutschenEinheit, der bereits 1995 in Moskau erklärt hat:

Die historische Verantwortung bleibt: Das national-sozialistische Regime in Deutschland hat den Zwei-ten Weltkrieg entfesselt. Es hat den Vernichtungs-feldzug … geplant und begangen.

Der heutige Tag ist ein Tag der Erinnerung an Schre-cken, Leid und Vernichtung. Voller Schmerz und Trauergedenken wir all der Opfer dieses furchtbaren Kriegesund vor allen Dingen des Rassenwahns des Naziregimes.Es ist dann aber auch ein Grund, da wir das alles nichtwiedergutmachen können, nach vorne zu blicken.

Vor dem Hintergrund menschenverachtender Ideolo-gien wurde dieser grausame Vernichtungskrieg ausge-löst, dessen Schrecken hier zu beschreiben mir nichtmöglich ist. Herr Kollege Erler hat einen Versuch ge-macht. Aber ich glaube, die ganzen Schrecken und Lei-den können wir, die Generation danach, uns nicht vor-stellen. Erfreulich ist, dass Russland und Deutschland,aber auch die Länder, die zur ehemaligen Sowjetuniongehört haben, zusammen einen langen Weg der Versöh-nung zurückgelegt haben.

Im vergangenen Jahr feierten wir gemeinsam den20. Jahrestag der Überwindung der deutschen Teilung,die ebenfalls eine direkte Folge des schrecklichen Zwei-ten Weltkriegs gewesen ist. Unsere russischen Freunde– ich war letzte Woche in Moskau – sprechen vom Gro-ßen Vaterländischen Krieg und sind stolz darauf, dass siediesen Vaterländischen Krieg überstanden und gewon-nen haben. Auch unsere Bundeskanzlerin AngelaMerkel war schon bei Siegesparaden in Moskau. Das istetwas, was nicht vom ganzen deutschen Volk sofort ver-standen worden ist. Ich halte diese Geste der Bundes-kanzlerin für sehr berechtigt.

Trotz der schmerzhaften Erinnerungen an die Leidender Kriegsjahre begegnen sich Russen und Deutsche in-zwischen – das haben, glaube ich, die allermeisten vonuns schon gespürt – sehr offen und in aufrichtigerFreundschaft und Zuneigung. Die wirtschaftlichen Be-ziehungen, die Verflechtungen wachsen stetig. Ich haltedas für ungeheuer wichtig. Russland ist heute unserwichtigster Energielieferant, ich kann sagen: unser wich-tigster Energiepartner.

Wir müssen alles dafür tun, dass nicht nur Russlandund Deutschland, sondern auch Russland und Europanoch stärker als in der Vergangenheit zusammenwach-sen. Ich habe vor einer stärkeren Abhängigkeit vonRussland – davor wird immer wieder gewarnt – über-haupt keine Angst. Im Gegenteil: Ich möchte, dass dieZusammenarbeit in Zukunft noch stärker wird. Ich kannmir durchaus vorstellen, dass Russland eines Tages Mit-glied der Europäischen Union wird. Ich glaube, das wärezum Vorteil beider Seiten. Wir müssen Schritt für Schrittan dieser Aufgabe arbeiten.

Ziel unserer Politik muss auch sein, dass zwischenden Menschen, vor allen Dingen in Russland und inDeutschland, dauerhaft Friede und Freundschaft gewährtsind. Und Freundschaft schafft Frieden. Nichtsdestotrotzist dieser Tag eine stete Mahnung. Der 70. Jahrestag desÜberfalls Hitlerdeutschlands gibt Anlass zu Trauer, Erin-nerung, aber auch zu hoffnungsvollen Ausblicken aufdie Zukunft.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13469

Michael Glos

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Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDPund dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowiebei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Ich bin froh darüber, dass es in diesem Hause mög-lich geworden ist, dass sich alle Fraktionen auf diese De-batte geeinigt haben. Ich finde, es ist ein hoffnungsvollesZeichen, dass man auch in diesen Fragen gemeinsamnachdenkt, gemeinsame Verantwortung hat und gemein-same Botschaften abgeben kann. Ich würde mich freuen,wenn diese Botschaften auch in Russland – in Moskau,in der Duma und bei den Menschen – aufgenommenwerden. Das ist der Gestus, mit dem wir hier diskutierenund der uns über die Fraktionsgrenzen hinweg verbindet.

Die Dramatik dieses Verbrechens, dieses rassistischenVernichtungskrieges, der Vernichtung von MillionenMenschen – Leid, Dreck, Elend, Blut, Not: all das ist vonDeutschland ausgegangen –, kann man sich heute nur mitdem Versprechen in Erinnerung rufen: So etwas darf niewieder eintreten. Die Botschaft nach 1945 – auch ausDeutschland, mit Blick auf Buchenwald und auf die be-freiten Konzentrationslager – war: Nie wieder Faschis-mus und nie wieder Krieg. Diese Botschaft verbindet, unddiese Botschaft gilt weiterhin. Ich glaube, sie muss vonuns immer wieder vorgetragen werden.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Ich möchte ein paar Zeilen aus einem Gedicht vonJewgenij Jewtuschenko, das ich mit einer großen innerenBewegung gelesen habe, zitieren – er hat es 1961, alsovor 50 Jahren, geschrieben; es behandelt die nächsteEtappe, die Etappe des Kalten Krieges; dieses Gedichthat folgende prägende Zeilen –:

Meinst du, die Russen wollen Krieg?…Dort, wo er liegt in seinem Grab,den russischen Soldaten frag!Sein Sohn dir drauf Antwort gibt:Meinst du, die Russen woll’n … Krieg?

Ich glaube, dass sich viele diese Frage gestellt haben,auch in unserem Lande. Diese Frage ist Gott sei Dank ineiner völligen Klarheit der Erkenntnisse beantwortetworden: Weder die Russen wollen Krieg, noch die Deut-schen wollen Krieg, noch Europa will Krieg. Krieg mussaus der Geschichte der Völker verbannt werden.

(Beifall im ganzen Hause)

Ich finde, dieses Gedicht ist gewaltig. Es bewegt michsehr.

Ich möchte diesen Gedanken aufnehmen und fortfüh-ren mit einer Überlegung zu dem, was für mich dernächste Einschnitt in der Geschichte der Republik Westgewesen ist, ein sehr bedeutsamer Einschnitt: dieRede, die der damalige Bundespräsident Richard vonWeizsäcker am 8. Mai 1985 in der Gedenkstunde desDeutschen Bundestages gehalten hat. Das war ein großerEinschnitt. Das war eine große Rede. Sie lässt sich in ei-nem Grundgedanken zusammenführen – ich zitiere vonWeizsäcker –:

Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat unsalle befreit von dem menschenverachtenden Systemder nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. …

Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 alsdas Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zuerkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bes-sere Zukunft barg.

Diese Rede von Weizsäckers – der 8. Mai als Tag derBefreiung und nicht als Tag der Niederlage – hat inDeutschland West, in Gesamtdeutschland eine Wendedes Denkens eingeleitet. Es war eine sehr wichtige Rede,eine wichtige Feststellung, die quer durch alle Fraktio-nen getragen werden kann.

Ich will Ihnen eine zweite Überlegung vortragen, undzwar aus einem Buch, das mich sehr bewegt. Es ist vonArno Lustiger, einem jüdischen Überlebenden der KZAuschwitz und Buchenwald. Er hat ein bewegendesBuch über die Verbrechen Stalins an den Jüdinnen undJuden geschrieben. Er kommt darin zu dem Urteil:

… ist es unerlässlich, der Millionen sowjetischerSoldaten zu gedenken, die im Kampf gegen Hitler-deutschland gefallen sind oder in der Gefangen-schaft ermordet wurden. Ohne ihr Opfer wäre dieWelt verloren; sie haben uns vor der Herrschaft desmörderischen Nazismus gerettet.

Das schreibt Arno Lustiger in seinem Buch.

Dieser Botschaft eines unmittelbar Betroffenen kannman sich als Parlament, als Deutscher Bundestag, nuranschließen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU, der SPD und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben uns zu bedanken. Wir haben das zu achten,was hier passiert ist und was geleistet worden ist.

Ich möchte sehr gern, dass wir gemeinsam darübernachdenken, wie man in Europa ein gesichertes Systemdes Friedens immer weiter ausbauen kann – das gehtnicht ohne Russland – und wie wir in Europa besserepersönliche Beziehungen schaffen. Ich würde mir wün-schen, dass wir die Frage der Visafreiheit gegenüberRussland endlich klären, und zwar hier im Parlament ge-meinsam klären.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU, der SPD, der FDP unddes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

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13470 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Wolfgang Gehrcke

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Ich möchte mir wünschen, dass wir eine Art und Weiseder wirtschaftlichen Beziehungen und der sozialen Si-cherheit entwickeln, bei der man bereit ist, voneinanderzu lernen. Ich möchte mir wünschen, dass Kultur, Kunstund Literatur uns verbinden. Da können wir unendlichviel lernen.

Wenn wir in diesem Sinne, bei allem Streit und allenWidersprüchen hier im Parlament, wieder ein Stück weitGemeinsamkeiten finden, wäre ich dafür dankbar. DerKalte Krieg ist zu Ende, und wir müssen unseren Beitragdazu leisten, dass er endgültig überwunden wird.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-geordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Volker Beck für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin

froh, dass die Initiative unserer Fraktion für diese De-batte zu einer so einmütigen Atmosphäre führt. Für unsalle – das haben Sie richtig beschrieben, Herr Gehrcke –ist im Rückblick der 8. Mai der Tag der Befreiung. Wirverdanken das den Soldaten aus den Völkern der Sowjet-union genauso wie unseren amerikanischen, britischenund französischen Freunden, die uns befreit haben vonder Hitler-Diktatur, welche – das sollte man auch immerdazusagen – das deutsche Volk zu verantworten hatte.Die dafür Verantwortlichen waren keine Fremden, die zuuns gekommen sind; sie kamen aus der Mitte des Volkes,und sie hatten leider auch große Unterstützung in unse-rem Volk.

Am 22. Juni 1941 begann mit dem Überfall auf dieSowjetunion das schlimmste Kapitel in dem schreckli-chen Kapitel des Zweiten Weltkrieges: ein Angriffs- undVernichtungskrieg, der nicht nur darauf abzielte, einenKrieg zu gewinnen, Territorium zu gewinnen, sondernauch darauf, die Menschen, die in diesem Land lebten,zu vernichten, zu dezimieren, zu liquidieren. Das siehtman ganz deutlich an den Worten, die Hitler schon imFrühjahr 1941 sprach: „Die jüdisch-bolschewistische In-telligenz als bisheriger Unterdrücker muss beseitigt wer-den“.

Das sieht man auch, wenn man die Worte des Reichs-landwirtschaftsministeriums zur Belagerung von Lenin-grad liest, wo es darum ging, 5 Millionen Menschen aus-zuhungern, damit die gewonnenen Lebensmittel demdeutschen Volk zur Verfügung stehen sollten.

Es ging darum, die Völker der Sowjetunion – die Rus-sen, die Ukrainer, die Weißrussen – zu vernichten. Wirsollten uns an diesem Tag vor den Opfern verneigen undvielleicht auch darüber nachdenken, ob wir den Opfernnicht eine würdigere Form des Gedenkens an diesen Tagund an diese schlimmen Verbrechen schuldig sind.

In Berlin gibt es das Sowjetische Ehrenmal für dieKrieger, für die Befreier. Es gibt aber keinen Ort undauch keine feste Stunde für das Gedenken an alle sowje-tischen Kriegsopfer.

An einem solchen Tag sollte man über die offenenFragen des Gedenkens reden. Dazu gehört für mich ganzentscheidend die Frage der überlebenden sowjetischenKriegsgefangenen. Denn in der Tat – Herr Erler hat dasvöllig richtig beschrieben –: Sie fielen aus allen Rasternheraus. Nach ihrer Befreiung aus der Gefangenschaftwurden sie in der Sowjetunion diskriminiert, als poten-zielle Vaterlandsverräter verachtet und von den Entschä-digungen ausgeschlossen. Von uns wurden sie nicht alsZwangsarbeiter – weil Soldaten – betrachtet. Sie wurdenauch von den Entschädigungswerken, die wir nach 1990mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag und den entsprechen-den Versöhnungsstiftungen – wie mit der Zwangsarbei-terstiftung – ins Werk gesetzt haben, am Ende nicht be-rücksichtigt.

Es gibt noch 7 000 bis 8 000 Überlebende aus dieserGruppe. Manche von ihnen kamen in die Konzentra-tionslager. Andere kamen ins sogenannte Russenlager.Die Sterblichkeitsrate in beiden Lagern war die gleiche.Deshalb sollten wir uns bei aller Einigkeit fragen – daspreche ich Sie an, Herr Glos; denn Sie haben in der De-batte diese Einigkeit ja festgestellt –, ob wir nicht überdie Fraktions- und Parteigrenzen hinaus eine Geste insWerk setzen, um diesen Menschen zu helfen. Damit kön-nen wir zugleich deutlich machen, dass wir das Unrechtals Unrecht der Deutschen sehen und uns dazu verpflich-tet fühlen, für diese Menschen etwas zu tun. Es gehtnicht darum, mit ihnen über Reparationsrecht und der-gleichen Fragen zu reden, sondern ihnen im Angesichtder Geschichte konkret zu helfen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Meine Damen und Herren, Patrick Desbois hat in sei-nem Buch über den vergessenen Holocaust – die Ermor-dung der ukrainischen Juden – gesagt: Ein Krieg ist erstvorbei, wenn die letzten Opfer beerdigt sind. – Ich binfroh, dass die Bundesregierung eine Initiative von demKollegen Jerzy Montag und mir zur Unterstützung einesGedankens des American Jewish Committee aufgegrif-fen hat, wonach man damit beginnt, die Massengräberder ermordeten Juden in der ehemaligen Sowjetunion– also in der Ukraine, in Russland und in Weißrussland –als würdige Gedächtnis- und Begräbnisstätten herzurich-ten.

Wenn die Täter – die Mitglieder des SD und der SS –,die die Morde begangen haben, im Krieg gefallen sind,wurden sie nach Deutschland zurückgebracht, bekamendort Ehrengräber oder sind auf den Soldatenfriedhöfenbeerdigt worden. Aber die Opfer der ersten Massener-schießungen, die den Beginn der systematischen Ermor-dung der Juden Europas bedeuten, sind oftmals an Ortenverscharrt worden, die man nicht als Begräbnisstätten er-kennen kann und die der Vergessenheit anheimfallen.Ich finde, wir sollten eine solche Initiative verstärken,damit diese Taten nicht in Vergessenheit geraten. Das istunsere Aufgabe, die Aufgabe der Deutschen, und nicht

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13471

Volker Beck (Köln)

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die Aufgabe der Völker, auf deren Territorium diese Ver-brechen verübt wurden.

Das ist meines Erachtens eine weitere Konsequenz ausdieser Gedenkdebatte. Ich wünsche mir, dass wir uns zum75. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion in einemangemesseneren, protokollarisch würdigeren Rahmendaran erinnern. Ich glaube, das sind wir den Russen, denUkrainern und den Weißrussen sowie den Menschen ausden zentralasiatischen Staaten, die an diesem Krieg eben-falls als Soldaten beteiligt waren, einfach schuldig. Des-halb sollten wir uns nach dieser Debatte interfraktionellüber dieses Thema noch weiter austauschen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge-ordneten der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Philipp Mißfelder für die

Unionsfraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Philipp Mißfelder (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Meine Damen und Herren! Am 22. Juni1941 eröffnete das Deutsche Reich auf breitester Frontzwischen der Ostsee und den Karpaten den Krieg gegeneine offensichtlich überraschte Sowjetunion. Damals zogHitler in seiner Wehrmacht eine unvorstellbar große Mi-litärmacht für den sogenannten Kreuzzug Europas gegenden Bolschewismus zusammen: 153 Divisionen mitknapp über 3 Millionen Soldaten, 3 600 Panzern und600 000 Motorradfahrzeugen standen zur Verfügung.Hinzu kamen weitere 600 000 Mann aus damals verbün-deten Staaten. Es war ein von langer Hand geplanterÜberfall auf die Sowjetunion mit dem Hintergedanken,einen ideologischen Weltanschauungskrieg und rassen-biologischen Vernichtungskrieg zu führen.

Im Vordergrund standen die Eroberung von Lebens-raum im Osten sowie – es wurde eben schon gesagt – dieVernichtung der Sowjetunion. Es ist unbestritten – da istdie Geschichtsschreibung heute Gott sei Dank eindeutig –,dass mit dem Kommissarbefehl vom 6. Juni 1941 die so-fortige Liquidierung von gefangenen kommunistischenKommissaren der Roten Armee angeordnet worden ist.Damit ist klar, dass dies keine normale militärischeAuseinandersetzung war, sondern damit weitere ZieleHitlers von Anfang an verbunden waren.

Kein Land in Europa hat im Zweiten Weltkrieg einenso hohen Preis gezahlt: Offizielle russische Angaben ge-hen von 27 Millionen Opfern aus. Die Gegenreaktion,die schrecklichen Verbrechen der Roten Armee an Deut-schen, sind nicht mit der Ursache zu verwechseln, näm-lich mit dem Vernichtungszug der Wehrmacht, der vonAnfang an zu erheblichen Opfern in der russischen Zivil-bevölkerung geführt hat.

Der 22. Juni 1941 markiert den Tiefpunkt der fast tau-sendjährigen gemeinsamen Geschichte beider Völker.

Ich bin froh, dass in der heutigen Debatte in jeder Redeauch die positiven Seiten zum Ausdruck gekommensind. Wir haben eine positive Grundstimmung gegen-über Russland.

Die gemeinsame Geschichte umfasst ein großartigesFundament der Kultur; hier haben wir viele Dinge ge-meinsam erreicht. Beispielsweise wurde die Wolga-Steppe schon früh von schwäbischen und pfälzischenBauern beackert. Deutsche Handwerker, Hoflieferanten,Kaufleute zogen nach Russland. Zwischen 1692 und1695 waren es sogar deutsche Diplomaten, die Russlandauf einer wichtigen und erstmaligen Mission in Chinavertraten – der Reisebericht ist sehr empfehlenswert –und damit diese neue Welt erschlossen haben.

Wenn man sich die gemeinsame Geschichte anschaut– angefangen bei von Clausewitz, der gemeinsam mitRussen gekämpft hat, bis zu Katharina der Großen –,dann ist dieser Zivilisationsbruch im Zweiten Weltkrieg,der sich insbesondere gegen Russland gerichtet hat,umso unverständlicher; er stellt einen Bruch in der lan-gen gemeinsamen Geschichte dar.

Heute blicken wir auf eine Zeit zurück, die von Frie-den und gemeinsamen Anstrengungen, um diesen Frie-den zu erhalten und die Partnerschaft und Freundschaftzu stärken, geprägt ist. In einem Jubiläumsmarathon imvergangenen Jahr – 65 Jahre Kriegsende, 40 Jahre Ost-verträge, 35 Jahre OSZE-Akte, 25 Jahre Perestroika und20 Jahre deutsche Wiedervereinigung – richtet sich derBlick weniger in die Vergangenheit, selbst wenn die heu-tige Debatte auch genutzt worden ist, um noch offeneFragen anzusprechen, deren Klärung wir uns annehmenwollen; ich stimme zu, dass wir die Klärung der Fragengemeinsam angehen sollten. Der Blick richtet sich viel-mehr auch in die Zukunft. Herr Gehrcke, Sie haben ge-sagt, wir müssten versuchen, den Kalten Krieg endgültigzu überwinden. Gerade was viele Vorurteile gegenüberRussland angeht, haben wir tatsächlich noch einige Ar-beit vor uns. Wir sollten mit dieser Debatte beginnen,diese Arbeit anzugehen. Dafür sollten wir alles tun.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD, der FDP, der LINKEN und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Unsere politischen Initiativen mit Russland sind fort-zuführen. Sie sind nicht auf den wirtschaftlichen Bereichzu begrenzen. Michael Glos hat die Energiepartnerschaftangesprochen; das ist ein weites Feld. Wir sollten versu-chen, aus den wirtschaftlichen Initiativen – ich denkebeispielsweise daran, dass Ministerpräsident Putin imvergangenen November in Deutschland die Einrichtungeiner Freihandelszone von Lissanon bis Wladiwostokangesprochen hat – auch in politischer Hinsicht etwas zumachen. Wir sollten es nicht bei der wirtschaftlichen Ko-operation belassen, sondern versuchen, auf Basis unserergemeinsamen kulturellen und politischen Geschichtemehr zu erreichen. Auf Basis der wirtschaftspolitischenZusammenarbeit können wir jedoch gemeinsam auchaußenpolitisch viel schaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

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13472 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Philipp Mißfelder

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Russland ist heute einer unserer wichtigsten Partner.Viele Konflikte, die zum außenpolitischen Alltag gehö-ren – ich denke an den Iran-Konflikt, an den Konflikt imNahen Osten, an Konflikte in Zentralasien oder an Fro-zen Conflicts –, sind nur zu lösen, wenn wir gemeinsammit Russland aktiv sind und eine gemeinsame außenpoli-tische Konzeption erarbeiten.

Deshalb richte ich den Blick auch heute optimistischin die Zukunft. Trotz der schrecklichen Verbrechen, dieim deutschen Namen von Deutschen am russischen Volkbegangen wurden, treffen wir auf eine junge Generationin Russland, die uns vorurteilsfrei als privilegierten Part-ner ansieht und über die wirtschaftliche Kooperation mituns gemeinsam viel erreichen will. Darum werbe ichauch im Namen meiner Generation dafür, dass wir dieseChance nutzen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und derFDP sowie bei Abgeordneten der LINKENund des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Der Kollege Peter Beyer hat nun für die Unionsfrak-

tion das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Peter Beyer (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wer Windsät, wird Sturm ernten“. – Jeden Tag laufen wir Parla-mentarier an dieser mahnenden Inschrift in der Wandel-halle des Reichstagsgebäudes vorbei. Das kyrillischeGraffiti gehörte zu den Kraftausdrücken der sowjeti-schen Besatzer, die 1945 ihr rotes Siegesbanner auf die-sem Gebäude hissten. Zorn und Hass sind es, die uns ausden wenigen noch verbliebenen Lebenszeichen an denWänden entgegenschlagen.

Man entschied sich bei den Renovierungsarbeitennach Rücksprache mit dem damaligen russischen Bot-schafter, eine Vielzahl der Inschriften und Lebenszei-chen der Besatzer zu entfernen. Die Argumentation lau-tete damals: Die Sprüche könnten die deutsch-russischeFreundschaft stören. Mit dem Wissen um das Leid, dasNazideutschland säte, sind diese Graffiti nur zu ver-ständlich. „Aus dem Kessel bis nach Berlin“, steht aneiner Stelle im Umgang des Plenarbereichs. Generalfeld-marschall von Reichenau befahl 1941 die totale Vernich-tung des Sowjetstaates. Das war die Losung des „Unter-nehmens Barbarossa“.

Am 22. Juni 2011 jährte sich zum 70. Mal der Über-fall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion – derAnlass für unsere heutige Debatte. Zwar hatte Hitler-Deutschland die Apokalypse des Zweiten Weltkriegeslängst begonnen, dennoch markiert der 22. Juni 1941eine neuerliche Zäsur mit dem Beginn unvorstellbarenLeids. Das Unheil, die Verbrechen und die Opferzahlensind auch heute nur schwer zu begreifen. An diesem Tagwurden Grenzen überschritten – in jeder Hinsicht. Es

folgte ein rassenideologischer Vernichtungs-, Verskla-vungs- und Eroberungskrieg mit Massenerschießungen,Deportationen und Hungerpolitik – eine Volkskatastro-phe. Hitler säte Leid und Qualen. Seine Ernte: ver-brannte Erde, Hunger und Tod, kurzum: ein Weltbrand.

Über die Bedeutung und Einordung des 8. Mai 1945,des Kriegsendes, ist viel gesagt und geschrieben worden.Dem totalen Krieg folgte die totale Niederlage, und da-nach erst, wie es Richard von Weizsäcker 1985 kriti-sierte, die Einordnung der Niederlage als Bedingung fürBefreiung und Freiheit.

Es bleibt mithin unsere Aufgabe, für uns und künftigeGenerationen das Gedenken an dieses Datum wachzu-halten und die Lehren aus diesem dunklen Kapitel zuziehen, wohl wissend, dass das Leid selbst mit demKriegsende 1945 nicht aufhörte, weder für die Balten,für die Menschen in weiten Teilen Osteuropas, für dieaus ihrer Heimat Vertriebenen noch für die Russenselbst, die unter den Verbrechen Stalins, den Gulags,wahrscheinlich am meisten gelitten haben.

Die Kriegserinnerungen verbinden Deutschland undRussland bis zum heutigen Tag.

„Wer Erinnerung sät, wird Zukunft ernten.“

Ein Zeugnis des Gedenkens sind die zahllosenKriegsgräber. Die Pflege der Kriegsgräber ist eine wich-tige Aufgabe. Sie halten die Mahnung des 22. Juni 1941ebenso lebendig wie zum Beispiel Ausstellungen überdie Schicksale der Zwangsarbeiter, die es heute inDeutschland und Russland in Gedenkstätten sowie Mu-seen gibt.

Vor eineinhalb Jahren rief eine internationale Initia-tive, die übrigens auch vonseiten der Union tatkräftigunterstützt wurde, dazu auf, Tausende vergessene Holo-caust-Massengräber in Osteuropa als würdige Gedenk-stätten zu schützen. Dieser Aufruf, der mehr als1,5 Millionen osteuropäischen Juden, die zwischen 1941und 1943 von NS-Einsatztruppen, Wehrmachts- undPolizeieinheiten erschossen und in Gruben verscharrtwurden, zu gedenken und ihnen ihre Würde zurückzuge-ben, zeigt Wirkung. Die Initiative wird federführendvom Berliner Büro des American Jewish Committee ko-ordiniert und auch von der Bundesregierung unterstützt.

Heute muss es uns besonders um die weitere Förde-rung und Intensivierung des zivilgesellschaftlichen Dia-logs gehen. Erst kürzlich hatte ich die Gelegenheit, ander XI. Deutsch-Russischen Städtepartnerkonferenz teil-zunehmen. Bundespräsident Christian Wulff würdigtedie Kooperationen zwischen deutschen und russischenKommunen ausdrücklich, als er die Repräsentanten ausrund 70 deutschen und 50 russischen Städten im SchlossBellevue begrüßte.

„Ernten, was man sät.“

70 Jahre nach dem deutschen Überfall auf die Sowjet-union sprechen beide Seiten von einer verlässlichenPartnerschaft mit dichten wirtschaftlichen Verflechtun-gen, Investitionen und bilateralem Handel. Die Erinne-rung an das Bild einer umfassenden Katastrophe, wie esBundespräsident Roman Herzog zeichnete, lässt den-

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13473

Peter Beyer

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noch keinen Zweifel an der Verantwortung der Deut-schen für begangenes Unrecht, aber ebenso wenig an ih-rer festen Entschlossenheit, als wichtigste Lehre aus derGeschichte eine neue politische Kultur des Zusammenle-bens in Europa zu fördern.

Es gibt in den bilateralen Beziehungen zwischenDeutschland und Russland keine erkennbaren großenKonflikte. Dennoch muss es uns stets Pflicht und Anlie-gen zugleich sein, die Bemühungen der russischen Part-ner hinsichtlich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit undMenschenrechten unterstützend zu begleiten. Die Quali-tät der künftigen deutsch-russischen Beziehungen wirdganz entscheidend davon abhängen, ob Deutschland undRussland verantwortungsvoll miteinander umgehen undob in Russland künftig diejenigen Kräfte tonangebendsein werden, die einen besonderen russischen Weg be-fürworten, oder diejenigen, die für eine weitere Annähe-rung an Europa eintreten.

Beide Staaten befinden sich in einem als evolutionärzu bezeichnenden Prozess der Annäherung. Es ist eineBeziehung, die reift, die wächst, die erwachsen wird, diesich weiter normalisiert.

Die Inschriften der russischen Besatzer sind nicht al-lein Bestandteil dieses Baudenkmals, des Reichstagsge-bäudes. Sie stehen symbolisch für die Mahnung auch anuns als politisch verantwortlich Handelnde, die Existenzder Völker in Europa und in der Welt niemals mehr zugefährden.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Schluss

dieser vereinbarten Debatte. Ich gestehe, es fällt mirschwer, diese Debatte mit der üblichen Formel zu been-den. Deshalb möchte ich den Wunsch, den alle Rednerhier vorgetragen haben, noch einmal verstärken, dass dieBotschaft dieser Debatte tatsächlich nach draußen dringtund wir gemeinsam an der Umsetzung der Dinge arbei-ten, die heute hier von allen in den Mittelpunkt gestelltwurden.

(Beifall im ganzen Hause)

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Fraktionder SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Artikel-115-Gesetzes

– Drucksache 17/4666 (neu) –

Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts-ausschusses (8. Ausschuss)

– Drucksache 17/6241 –

Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider (Erfurt)Otto Fricke

Dr. Gesine LötzschSven-Christian Kindler

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeNorbert Barthle für die Unionsfraktion.

Norbert Barthle (CDU/CSU):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Die Einführung einer strikten Be-grenzung der Neuverschuldung im Grundgesetz derBundesrepublik Deutschland ist eine historisch-politi-sche Leistung der Großen Koalition während der letztenLegislaturperiode. Sie bedeutet nicht mehr und nicht we-niger als das unwiderrufliche Bekenntnis zu dauerhaftsoliden und tragfähigen öffentlichen Finanzen inDeutschland. Darin, lieber Kollege Carsten Schneider,waren und, denke ich, sind wir uns einig: Es muss end-lich Schluss sein in Deutschland mit der Finanzierungder Wünsche von heute zulasten der Generationen vonmorgen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich erinnere mich allerdings auch, dass die Gewerk-schaften bei der Einführung der Schuldenbremse imGrundgesetz öffentlich dagegen eingetreten sind. Auchin Teilen der SPD-Fraktion gab es da nur gebremste Be-geisterung.

Die glaubwürdige Umsetzung der Vorgaben derSchuldenbremse ist daher eines der zentralen finanzpoli-tischen Ziele der Koalition. Die aktuelle Haushaltsent-wicklung des Bundes zeigt, dass wir auf dem richtigenWeg sind. Wir werden im laufenden und in den kom-menden Jahren deutlich unter der im Rahmen der Schul-denbremse maximal erlaubten Nettokreditaufnahme lie-gen. Das ist solide Finanzpolitik und zeigt, dass derSPD-Entwurf politisch eigentlich ins Leere läuft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Denn der Haushalt 2011 ist der erste, der im Rahmen derneuen Schuldenbremse aufgestellt wurde. Gerade in denersten Jahren ihrer Anwendung ist deren Einhaltung fürdie Glaubwürdigkeit der Schuldenbremse von besonde-rer Bedeutung.

Lassen Sie mich daher noch einmal auf den Punktbringen, warum wir den SPD-Gesetzentwurf geradeauch vor diesem Hintergrund entschieden ablehnen. Zielder Regelungen zum Abbaupfad ist es, für die Jahre2011 bis 2015 einen geordneten, unumkehrbaren Weghin zu der ab 2016 regulär geltenden Schuldenregel desArt. 115 Grundgesetz festzulegen. Die jährlichen Haus-halte sind dann mit der Maßgabe aufzustellen, dass dieEinnahmen aus Krediten 0,35 Prozent des Bruttoinlands-produktes nicht überschreiten. Diesem Ziel müssen dieHaushaltsaufstellung und die mittelfristige Finanzpla-nung entsprechen. Der Bund erfüllt diese Forderungvollständig. Es gilt, bis dahin den Übergangspfad ver-lässlich und verbindlich auszugestalten.

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13474 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Norbert Barthle

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Klar ist: Nicht jede neue Erkenntnis, nicht jede neueEntwicklung kann zu einer nachträglichen Anpassungvorgegebener Obergrenzen führen, zumal diese bereitseinmal verbindlich festgelegt und auch öffentlich klarkommuniziert worden sind. Ein mehr oder weniger lau-fendes Nachjustieren des Abbaupfades würde zu einemhektischen Anpassungsmarathon führen, der am Endeniemandem hilft. Die Bevölkerung verlöre jeglichen Be-zugspunkt und jegliche Kontrollmöglichkeit, um zu be-urteilen, ob das, was wir Haushaltspolitiker machen,auch entsprechend der Schuldenregel geschieht.

Im Ergebnis würde damit die Glaubwürdigkeit derSchuldenbremse in den ersten Jahren nicht gestärkt, son-dern erheblich geschwächt. Wir wollen aber einen fes-ten, sozusagen in Stein gemeißelten Abbaupfad undkeine Gummirutsche. Darum geht es letztendlich.

Daher ist unser Weg ein anderer. Die Berücksichti-gung veränderter Umstände geschieht immer ganz kon-kret im Rahmen des jeweiligen Haushaltsaufstellungs-verfahrens. Die Erfahrung zeigt: Der Umgang mitentsprechenden Ermessensspielräumen muss auch prak-tisch umsetzbar sein.

Die SPD – das erschließt sich aus ihrem Gesetzent-wurf – denkt etwas anders. Ihr Ziel scheint es zu sein,sich dem, wie Sie es nennen, „Geist der Schulden-bremse“ durch abstrakt-technokratische Vorgaben anzu-nähern. Ich will es einfach einmal auf den Punkt bringenund dabei ein Bild benutzen: Man hat den Eindruck, Siebeschwören einen Flaschengeist. Denn mit dem Aufbau-schen theoretischer Möglichkeiten gehen Sie eigentlichan der Wirklichkeit vorbei. Sie arbeiten sich an Neben-kriegsschauplätzen ab. Diese Nebenkriegsschauplätzeerinnern an Sandkastenspiele. Das geht komplett an denwirklich wahren und großen Herausforderungen unseresLandes vorbei.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Einen Vorwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen vonden Sozialdemokraten, kann ich Ihnen nicht ersparen.Sie reden auch in Ihrem Gesetzentwurf von Konsolidie-rung und vom „Geist der Schuldenbremse“; aber dort,wo die SPD regiert, zum Beispiel in NRW, geschieht ge-nau das Gegenteil. Dort werden zunächst einmal dieSchulden erhöht, und zwar exorbitant und sogar verfas-sungswidrig.

Dort, wo Grün-Rot regiert, in Baden-Württemberg,könnte man, wenn man wollte, schon im kommendenJahr wieder bei einer Nettokreditaufnahme von null sein,was die Vorgängerregierung bereits erreicht hat.

(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Na ja! Guckt einfach mal genauer hin!)

Aber was sagt die dortige grün-rote Regierung? Sie sagt:Wir wollen die Nullverschuldung erst im Jahre 2020 er-reichen. – Das ist der letztmögliche Zeitpunkt.

(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ja! Das war in Thüringen genauso!)

Bis dahin will man Schulden machen. Nichts anderes ge-schieht in Baden-Württemberg.

(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Und Sie haben für EnBW Schul-den aufgenommen! – Klaus-Peter Willsch[CDU/CSU]: Das ist aber wenig nachhaltig!)

Mir sei eine weitere Anmerkung erlaubt. Wenn dieSPD jetzt vehement für eine Nachjustierung eintritt, sofrage ich mich, ob sie dies auch in der umgekehrten Si-tuation getan hätte. Wären Sie auch für eine Anpassungdes Abbaupfades eingetreten, wenn sich daraus ein grö-ßerer Verschuldungsspielraum ergeben hätte? Das wäreim Sinne Ihres Gesetzentwurfes zumindest konsequent.Aber das hätten Sie, so vermute ich, natürlich nicht ge-wollt. Auch dieses Gedankenkonstrukt entlarvt IhreWillkür bei der Handhabung Ihrer Form der Schulden-bremse. Das – ich wiederhole es – ist der Grund, wes-halb wir Ihren Gesetzentwurf ablehnen.

Ich möchte betonen: Die Menschen in Baden-Württemberg und in ganz Deutschland erwarten von unseine solide, verlässliche Finanzpolitik im Geist derSchuldenbremse. Das ist genau das, was wir machen.

(Rolf Hempelmann [SPD]: Wenig glaubwür-dig! – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meinen Sie damit Ihre Steu-ersenkungen für Reiche?)

Wir haben im Rahmen unseres Zukunftspaketes eineganze Reihe konkreter Sparmaßnahmen beschlossen undauf den Weg gebracht; weitere setzen wir um.

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Da bin ich gespannt!)

Unser Konzept fußt auf der Idee wachstumsorientierterKonsolidierung.

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Die Hälfte ist doch schon Makulatur!)

Die Entwicklung, die wir bisher zu gewärtigen haben,gibt uns in dieser Beziehung vollkommen recht. Erst vorwenigen Tagen hat das Ifo-Institut die Wachstumspro-gnose für dieses Jahr erneut angehoben, auf 3,3 Prozent– von solchen Wachstumszahlen haben wir in früherenZeiten nur geträumt –,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

und das nach einem Jahr, das sogar noch höhere Wachs-tumsraten aufwies.

Wir befinden uns in einer ausgesprochen positivenEntwicklung. Das macht sich auch an der Situation deröffentlichen Haushalte bemerkbar. Die Steuereinnahmenentwickeln sich konjunkturbedingt sehr positiv. DieAusgaben in den sozialen Sicherungssystemen gehenaufgrund der historisch niedrigen Arbeitslosenquote zu-rück. Die Zahl der Arbeitslosen liegt bei unter3 Millionen. Demnächst sind vielleicht, um es saloppauszudrücken, die Mitarbeiter der Jobcenter arbeitslos.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Gerade in dieser Situation, in der konjunkturell be-dingte Mehreinnahmen zu gewärtigen sind, muss manimmer wieder darauf hinweisen, dass sich strukturelle,

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Norbert Barthle

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dauerhafte Verbesserungen des Haushalts am strukturel-len Defizit orientieren. Auf das strukturelle Defizit hebtdie Schuldenbremse ab. Das ist uns in diesem Hause zujeder Stunde bewusst.

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Weiß das auch der Wirtschaftsminister?)

Uns geht es darum, das strukturelle Defizit im Sinne derSchuldenregel abzubauen.

Selbstverständlich wollen wir die Bürgerinnen undBürger an den Früchten der positiven Wirtschaftsent-wicklung teilhaben lassen – das ist unser Ziel –,

(Bettina Hagedorn [SPD]: Auf Pump! – Klaus Brandner [SPD]: Ja! Durch mehr Schulden!)

aber immer unter der Prämisse, dass die Schuldenregeleingehalten wird. Noch haben wir eine riesige Schulden-last zu tragen. Der Weg hin zu dem von der Schuldenre-gel vorgegebenen ausgeglichenen Haushalt desJahres 2016 hat gerade erst begonnen. Diesen Weg müs-sen wir konsequent weitergehen, auch wenn er anstren-gend ist.

(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagt das mal der FDP!)

Die christlich-liberale Koalition traut sich zu, dieses Zielzu erreichen. Auch die Menschen trauen es uns zu.

(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Oh ja! Das zeigen ja die Umfra-gen!)

Deshalb machen wir das.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Jetztmacht erst mal eure Steuersenkungen! Dannwird sich auch der konjunkturelle Vorteil ganzschnell wieder verflüchtigen!)

Vizepräsidentin Petra Pau:Der Kollege Carsten Schneider hat für die SPD-Frak-

tion das Wort.

(Beifall bei der SPD – Klaus Brandner [SPD]: Jetzt kommt etwas Verbindliches!)

Carsten Schneider (Erfurt) (SPD):Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Zu-

nächst einmal etwas Verbindendes. Herr KollegeBarthle, es ist richtig: Wir haben im Bundestag imJahr 2009 unter Federführung eines SPD-Finanzminis-ters gemeinsam die Schuldenbremse im Grundgesetzverankert. Der Hintergrund war, dass es uns seit 1969unter verschiedenen Koalitionen nicht mehr gelungenist, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Deswe-gen kam es zu der Übereinkunft – sie ist vor dem Hinter-grund der Staatsschuldenkrise, die Europa seitdem er-reicht hat, wie ich glaube, noch verbindlicher –, unskonstitutionell, also in der Verfassung, einen engerenRahmen zu setzen. Dieser Beschluss gilt.

Nun befinden wir uns in der ersten Phase der Anwen-dung der Schuldenbremse. Es ist teilweise kompliziert,sie zu verstehen; denn sie hat sehr viel mit makroökono-mischen Daten, die der Bevölkerung und manchmalauch dem Kollegenkreis nur schwer zu erklären sind, zutun.

In der Analyse des ersten Jahres kommen wir alsSPD-Fraktion in Anbetracht dessen, was Sie und IhrBundesfinanzminister vorgelegt haben, zu dem Ergeb-nis, dass die jetzige Regelung Lücken aufweist. Die Lü-cken bestehen insbesondere darin, dass man den Abbau-pfad von seinem Startpunkt bis zu seinem Endpunktmanipulativ handhaben kann. Ich mache diesen Vorwurfungern, aber genau das tun Sie.

Entgegen dem gesamten finanzwissenschaftlichenSachverstand vom Bundesrechnungshof, von der Bun-desbank und dem Sachverständigenrat halten Sie an ver-alteten Zahlen fest. Diese veralteten Zahlen vom Juni2010 führen dazu, dass Sie im Rahmen der Anwendungder Schuldenbremse, so wie Sie sie planen, zusätzlicheKredite in Höhe von 50 Milliarden Euro aufnehmenkönnen.

(Otto Fricke [FDP]: Könnten!)

– Können.

(Otto Fricke [FDP]: Nein! Könnten! Das kleine T und seine großen Folgen!)

Wir als SPD-Fraktion sind folgender Auffassung: DerGeist der Schuldenbremse sieht vor, dass man sich diederzeitige Situation ansieht. Das heißt, dass man dieZahlen vom Ende des Jahres 2010 heranziehen muss. Dawar das Defizit viel geringer, weil wir eine exzellentewirtschaftliche Lage hatten. Von da an muss man denPfad nach unten gehen. Dies tun Sie aber nicht. Sie hät-ten heute die Gelegenheit, das, was Sie eben hier be-hauptet haben, umzusetzen und gesetzlich bzw. rechtlichverbindlich zu machen.

Bei uns besteht Argwohn darüber, dass Sie diese zu-sätzlichen Kreditermächtigungen von 50 MilliardenEuro – das sind Zahlen der Deutschen Bundesbank,nicht der SPD-Fraktion – nutzen werden und wollen.

(Otto Fricke [FDP]: Aha! Jetzt doch!)

– Lieber Kollege Fricke, ich habe den Bundeswirt-schaftsminister so vernommen. Ich werde ihn gleichnoch zitieren. – Sie wollen diese 50 Milliarden Euro nut-zen, um der FDP und der Koalition wahrscheinlich imJahr 2013 – das ist naheliegend; das ist ein Wahljahr –mit zusätzlichen Steuersenkungen zu helfen. Dem Landwerden sie aber zusätzliche Schulden hinterlassen.

Deswegen sage ich Ihnen ganz klar: Jede Steuersen-kung auf Pump – wir werden 2013 ohnehin neue Krediteaufnehmen müssen – ist eine Steuerentlastung, die wie-der zurückkommen wird; denn Sie werden noch mehrZinsen zahlen und die Steuern letztendlich erhöhen müs-sen. Das wollen wir nicht mitmachen.

Wir als SPD-Fraktion stehen für eine klare, transpa-rente und solide Finanzpolitik. Aus diesem Grund wol-len wir dem Entscheidungsspielraum, den sich der Bun-

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Carsten Schneider (Erfurt)

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desfinanzminister gesichert hat – denn er kennt seineKoalition und seine Kombattanten –, um 2013 – das istmeine Vermutung – Steuersenkungen auf Pump zu fi-nanzieren, einen Riegel vorschieben. Wenn Sie IhreSonntagsreden tatsächlich ernst meinen, dann könntenSie heute unserem Vorschlag zustimmen. Das wäre ganzeinfach.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das tun Sie aber nicht, weil Sie diesen Spielraum be-wusst bestehen lassen wollen, obwohl eine breite Mehr-heit im Bundestag die Schuldenbremse, die eine Neuord-nung der finanzpolitischen Situation und Einlassungenmit sich bringen sollte, beschlossen hat. Sie verspielenauf diese Weise Glaubwürdigkeit und politische Unter-stützung; dies werfe ich Ihnen vor. Sie verspielen sielangfristig, nicht nur in der Bevölkerung, sondern wahr-scheinlich auch im Parlament. Denn wenn man schonbei der ersten Anwendung des Ernstfalls schummelt,wenn man Spielräume nutzt, die einem durch eine guteKonjunktur in den Schoß fallen, und wenn man die Neu-verschuldung nicht konsequent abbaut, damit wir aus derAbhängigkeit von den Finanzmärkten herauskommenund das Primat der Politik endlich wieder etwas gilt,dann ist das ein Armutszeugnis für diese Regierung undletztendlich – das mache ich Ihnen zum Vorwurf – fürdas Parlament. Denn das Budgetrecht des Parlaments istunser Kernrecht. Es ist in vielen Fragen über den euro-päischen Bereich bereits ausgehöhlt. Sie aber billigendem Bundesfinanzminister einen Spielraum zu und neh-men ihn sich selbst. Es ist schon atemberaubend, wieschnell Sie sich von finanzpolitischer Solidität verab-schiedet haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Um das zu unterstreichen, habe ich hier ein Zitat vonHerrn Vizekanzler Rösler aus der Welt vom 24. Juni2011. Er sagt:

Eine konkrete Steuersenkungsperspektive ist einwichtiges Mittel, um weitere Ausgabenwünsche ab-zuwehren, und kann so helfen, den Haushalt tat-sächlich nachhaltig zu konsolidieren.

Das ist schon Dialektik. Man will die Steuern senken,also die Einnahmen reduzieren, um den Haushalt zukonsolidieren. Das verstehe ich nicht ganz; das muss ichaber auch nicht.

Ich will nur sagen: Wenn ich mir Ihre mittelfristigeFinanzplanung, Stand 2010, und die Eckpunkte für 2012anschaue – nächste Woche wird ja im Kabinett der Be-schluss gefasst –, dann muss ich feststellen: Sie habenallein auf der Ausgabenseite 18 Milliarden Euro Mehr-ausgaben, weil Ihr Sparpaket, das Herr Kollege Barthlehier gerade so schön dargestellt hat, nur in einem Punktgegriffen hat, nämlich da, wo es die sozial Schwächstentrifft.

(Bettina Hagedorn [SPD]: Genau!)

Das haben Sie konsequent umgesetzt. Der Rest sindLuftbuchungen. Die Finanztransaktionsteuer kommtnicht vor; sie ist mittlerweile herausgebucht.

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Luftverkehrs-abgabe!)

Das Gleiche gilt für die Brennelementesteuer etc. Alldies kommt nicht.

Ich will jetzt nicht auf die Bundeswehrreform einge-hen, Herr Kollege Barthle. Ich schätze ja Herrn deMaizière sehr. Aber das Stückwerk, das er von Herrn zuGuttenberg übergeben bekommen hat, führt dazu, dassvon den Einsparungen in Höhe von 8 Milliarden Euro5 Milliarden nicht verwirklicht werden können, was sichjetzt hier niederschlägt.

Dass die FDP darüber sauer ist, kann ich verstehen;denn ihre Entlastungsperspektive ist dadurch vollkom-men weg. Dass jetzt aber Geschäfte zulasten des Staatesgemacht werden – der eine bekommt mehr Geld zumAusgeben, der andere bekommt es im Wege von Steuer-senkungen –, wodurch im Endeffekt die Schulden stei-gen und die Kredite in einer historischen Situation, inder wir Wachstum haben, das wir hoffentlich behaltenwerden – ich bin allerdings sehr skeptisch, ob sich daslangfristig in Deutschland halten wird –, nicht abgebautwerden, zeigt, dass Sie an dieser Stelle versagen. Eswäre Ihre verdammte Pflicht, die exzellenten Zahlen zunutzen, um das Defizit deutlich weiter herunterzufahren.

Sie hätten heute hier die Chance, Glaubwürdigkeit,auch im Hinblick auf den Kabinettsbeschluss in dernächsten Woche, zu zeigen und als Parlament der Regie-rung etwas Maßgebliches mit auf den Weg zu geben. Ichkann Sie dazu nur auffordern. Im Interesse der Unabhän-gigkeit der Bundesrepublik in der Finanzierung und zurVermeidung der Abhängigkeit von Investoren, davon, obsie uns Geld geben oder nicht, wäre das notwendig.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Otto Fricke für die FDP-

Fraktion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Otto Fricke (FDP):Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Der Konjunktiv ist wohl Ihr liebster Freund, HerrKollege Schneider: „Ich habe die Vermutung,“ „ichdenke“, „ich glaube“, „Sie haben den Plan“, „Sie werdendas tun“. Es ist nicht nur so, dass der Konjunktiv IhrFreund ist, sondern Sie können sogar in die Zukunft se-hen. Das ist, finde ich, für einen Politiker in der Opposi-tion toll, und das ist auch in Ordnung.

Beim Haushalt – das ist vielleicht wichtig für die Zu-hörer – geht es am Ende doch nur um eines: um Zahlen,um Fakten, um das, was passiert. Um das für die Zuhörerzu verdeutlichen, die nicht ständig mit dem Haushalt zu

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Otto Fricke

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tun haben und meinen, der Haushalt sei wie in derSchule Mathematik, etwas, was man nicht gerne mag,will ich einfach einmal erklären, worum es geht.

Die Politik hat immer Schulden gemacht. Da ist – ichglaube, Kollege Schneider, da sind wir uns einig – keinePartei in der Vergangenheit ohne Fehler gewesen. Manhat – sogar in vordemokratischen Zeiten – immer wiederversucht, das irgendwie zu vermeiden. Es ist fast nie ge-lungen. Warum? Weil es immer einfacher ist, sich zuverschulden, als zu erklären, warum etwas nicht geht,warum man für etwas kein Geld hat; denn es ist immerderjenige beliebter, der sagt: „Das machen wir; Bürger,wenn du das willst, dann geben wir es dir“, und der sichdas Geld vermeintlich irgendwo anders holt. Das ist so,obwohl wir alle Steuerzahler sind.

Ich finde es immer wieder bemerkenswert, wenn manmit Schülern redet und sie als Steuerzahler begrüßt. Sieerkennen dann, dass sie wirklich Steuerzahler sind. Auchalle Zuhörer haben heute schon Steuern gezahlt, nämlichzum Beispiel immer dann, wenn sie etwas eingekauft ha-ben und Mehrwertsteuer zahlen. Sie zahlen damit nichtnur für den Bund, sondern auch für die Länder, die Kom-munen und sogar für Europa.

Angesichts dessen hat sich die Politik immer wiederentschieden, Schuldenbremsen einzuführen, und hat da-bei alle möglichen Argumentationen bemüht: Wir müs-sen uns verhalten wie ein Kaufmann. Man darf Schuldennur dann machen, wenn man dafür investiert, nach demMotto: Wenn du dir ein Haus kaufst und dafür Schuldenmachst, hast du ja das Haus als Gegenwert.

All diese Dinge, die man versucht hat, haben am Endenicht funktioniert. Ich bleibe dabei: Verschuldung funk-tioniert nur – da, glaube ich, gehen wir noch konform –,wenn wir in der Verfassung möglichst konkret die Gren-zen dessen darlegen, was an Verschuldung geht.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Ich persönlich würde sogar noch hinzufügen: und wennwir klare Regeln dafür aufstellen, was im Falle der Ver-letzung passiert, nach dem Motto: Wer die Verschuldungüber einen bestimmten Grad erhöht, der muss automa-tisch diese oder jene Steuer erhöhen, also im Sinne einerautomatischen Bestrafung.

Jetzt geht der Streit bei der neuen Schuldenbremseum Folgendes: Man hat gesagt: 2016 wollen wir bei derVerschuldung irgendwo hier unten sein, bei 0,35 Pro-zent, ungefähr bei 11 Milliarden Euro.

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das ist unver-rückbar!)

Daran kommt keiner vorbei. Das will keiner bestreiten.Sie bestreiten auch nicht, dass wir das wollen und dassdas nach den Regeln gilt.

Jetzt ist die Frage: Von welchem Wert im Jahre 2010geht man aus? Die einen haben gesagt: Wir gehen voneinem Wert aus, den wir am Anfang des Jahres 2010messen bzw. der grob zu peilen ist. Bei Herrn Steinbrückwar das im Jahre 2010 einmal eine Neuverschuldungvon 86 Milliarden Euro.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Das wäre eine steile Kurve gewesen. Der Bundestag hatdann eine Neuverschuldung von 80 Milliarden Euro be-schlossen. Wir haben gesagt: Aha, dann bauen wir von80 Milliarden Euro ab.

(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das war eine kluge, vorsichtige Schätzung!)

– Vom Bundestag, nicht von Herrn Steinbrück; denn wirhatten ja schon gespart.

(Bettina Hagedorn [SPD]: Ihr habt gar nichtgespart! Ihr habt 4,1 statt 4,6 Millionen Ar-beitslose zugrunde gelegt! Keinen Cent ge-spart!)

Im faktischen Verlauf des Jahres – das ist das, worauf ichhinaus will; es geht um konkrete Zahlen – ist die Neu-verschuldung im Haushalt dann ja, wie wir alle wissen,weit heruntergegangen, nämlich auf Mitte 40 MilliardenEuro.

Jetzt kommt die Frage: Gehe ich von den Mitte40 Milliarden Euro am Ende des Jahres aus? Gehe ichdavon aus, was am Anfang beschlossen wurde, gehe ichvon Steinbrücks 86 Milliarden Euro aus? Hier müssenwir feststellen: Die Verfassungsgesetzgeber waren hiernicht präzise genug; das stimmt. Deswegen wollt ihrkorrigieren, und deswegen haben wir gesagt: Das Fairsteist, wenn wir als Basis die Zahlen vom Mai, wenn wiralle Meldungen nach draußen geben, die Finanzplanungmachen und wissen, wie hoch die Verschuldung im Jahre2010 voraussichtlich sein wird, nehmen. Somit kamenwir auf einen Betrag von 65 Milliarden Euro. Das warweit unter dem, was Steinbrück vorgeschlagen hat, undauch weit unter dem, was Sie vermutet haben. Weil wirall das gemacht haben, sind die Abbauschritte in dennächsten Jahren so, wie sie sind.

Jetzt könnte man ja sagen: Das ist uns nicht genug,wir wollen mehr sparen. – Herr Kollege Schneider, jetzthabe ich eine einfache Frage zu diesem Abbaupfad:Würden Sie mir zustimmen, dass wir, gingen wir nachIhrer Rechnung von 44 Milliarden Euro aus, um auf un-gefähr 11 Milliarden Euro zu kommen, im Jahre 2011bei einer Neuverschuldung von ungefähr 38 MilliardenEuro liegen müssten, während wir nach unserem Modellbei ungefähr 56 Milliarden Euro liegen könnten? Ich be-tone: nicht können, sondern könnten. Würden Sie mirauch zustimmen, dass wir, wenn wir am Ende des Jahres2011 unter Ihrer Zahl von 38 Milliarden Euro sind, sogarmehr erreicht haben, als Sie wollen, dass wir aber trotz-dem noch weit weg von dem sind, was wir könnten? Ichglaube schon. Daran, welche Zahlen nachher tatsächlichherauskommen, müssen Sie die Sparpolitik messen. Erstdann können Sie beurteilen, ob sie erfolgreich ist.

Sie werden wie ein begossener Pudel dastehen, wennam Ende des Jahres in der Gesamtrechnung heraus-kommt, dass wir selbst unter Ihrer Sparlinie sind. Jetztkommt die Frage: Warum sind Sie sich nicht sicher, obwir nicht vielleicht doch unter Ihrer Sparlinie sein wer-den? Wenn Sie sich sicher sind, dann stellen Sie sich hierhin und sagen Sie, dass wir die Neuverschuldung, die

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Otto Fricke

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nach Ihrer Modellrechnung möglich ist, nicht erreichenwerden.

Warum erreichen wir die? Hier liegt der Unterschied:Sparen heißt immer, die Ausgaben zu senken.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!Das musste mal gesagt werden! Nicht immerso ein theoretischer Kram!)

Wenn Sie das nämlich nicht tun, dann bekommen Sie imZweifel immer wieder dasselbe Problem, nämlich dassSie selbst in guten Zeiten nicht auf eine positive Seitekommen. Für den Privatbürger heißt das ganz einfach: Indem Moment, in dem er seine Ausgaben an die Einnah-men anpasst – das kann sich jeder sagen, der aus derSchule in die Lehre gekommen ist oder der nach demStudium einem Beruf nachgeht und auf einmal mehrEinnahmen hat –, hat er verloren. Das funktioniert nicht.Für die Politik gilt erst recht: Man muss die Ausgabenstabil halten. Das ist auch ein Grund, warum wir bei derSchuldenbremse besser dastehen.

Es stimmt: Es geht nicht nur um die Ausgaben, aberes ist wichtig, sie stabil zu halten. Hier besteht ein großerUnterschied zwischen Ihrem und unserem Anspruch. Ichwill Ihnen und auch den Haushältern der SPD – jeden-falls den meisten – ausdrücklich zugutehalten:

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Nicht so viel so-zialliberal! Das haben wir gar nicht gern!)

Sie wollen auch sparen. Das ist aber nicht die Meinungder Sozialdemokratischen Partei und auch nicht die IhrerFraktion; denn überall da, wo Sie an der Regierung sindund Macht haben – das kann der Bürger anhand der tat-sächlichen Zahlen erkennen –, steigen die Ausgaben.

(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Die FDPwar 40 Jahre dabei! Jetzt sind es zwei! Immerder gleiche Effekt: Schuldenaufbau durch dieFDP! – Bettina Hagedorn [SPD]: Wir haben esbeschlossen! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:NRW zum Beispiel!)

Ich empfehle jedem, einfach einmal zu schauen, wie sichin den Ländern, in denen die SPD an der Regierung ist,die Ausgaben nach oben bewegen, während die Ausga-ben in den anderen Ländern und auch im Bund stabilbleiben.

Wenn Sie sich mein Heimatland und das Heimatlanddes Kollegen Kampeter, Nordrhein-Westfalen, anschauen,dann erkennen Sie, dass sie dort hochgehen. Die Begrün-dung dafür lautet zum Beispiel: Wir verzichten auf Stu-diengebühren. – Das ist nämlich leichter. Deswegen sindaber mehr Mittel aus dem Haushalt für die Universitätennotwendig. Genau daran merken Sie, wie es zu solchenDingen kommt, die Sie eigentlich gar nicht wollen.

Jetzt könnte man immer noch sagen: Vielleicht setzenSie sich in Ihrer Fraktion noch durch. Daran glaube ichaber nicht angesichts der anderen Debatten, in denen dieHaushaltspolitiker, die ja in allen Fraktionen unbeliebtsind,

(Roland Claus [DIE LINKE]: Was?)

nicht vertreten sind. Dann wird genau das Gegenteil ge-fordert und gesagt: Ich hätte noch gerne dafür Geld, ichhätte noch gerne hierfür Geld; es wäre doch schön, wennman da noch etwas machen könnte, und es wäre nur ge-recht, wenn man hier und da noch etwas tun würde. –Dann muss man diese klaren Grenzen einhalten.

Ich komme zur Quintessenz Ihres Gesetzentwurfs, indem es heißt, dass das Budgetrecht des Parlamentes inseinen Entscheidungsspielräumen durch all die Maßnah-men, die diese Koalition beschließe, sehr stark einge-schränkt werden würde. Maßgeblich für das Budgetrechtist eine zentrale Frage, nämlich auf welcher Basis dieNeuverschuldung angesetzt wird und wie die Neuver-schuldung nachher unterm Strich aussieht.

Beim Ansatz der Neuverschuldung werden wir sehen– das wird nächste Woche der Fall sein, wenn der Minis-ter den Haushaltsentwurf 2012 vorlegt –, wie die Vor-gabe der Regierung ist. Wenn wir das als Koalition sogut wie in den letzten Jahren machen und als Haushälterin der Koalition weiter so vertrauensvoll zusammenar-beiten, dann werden die Zahlen noch besser werden.

Weil Sie mir immer erklärt haben, die SPD sehe dasanders, will ich Ihnen zum Abschluss noch etwas sagen.Ich habe mir angesehen, wie die Meinung der SPD war.Es stimmt, die Mehrheit von Ihnen hat damals zuge-stimmt. Schauen wir uns aber einmal an, wie sich FrauNahles zur Schuldenbremse geäußert hat.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Oje, Frau Nahles!)

Frau Nahles, immerhin in einer der wesentlichsten Posi-tionen Ihrer Partei auf Bundesebene, hat erklärt, die SPDsollte die Schuldenbremse ablehnen, mit der Begrün-dung:

Ich finde es fragwürdig, wenn die jetzige Politiker-generation Regeln ins Grundgesetz aufnehmen will,die ab 2020 die Handlungsspielräume zukünftigerGenerationen in einer Weise einschränken,

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Handlungs-spielräume durch Verschuldung – was ist denndas?)

die die heutige Generation nie akzeptiert hätte.

(Beifall bei der LINKEN)

– Schauen Sie genau, wer klatscht.

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Da klatscht die Linke! Das ist demaskierend!)

Wer sich weiter verschuldet und im Kern keine Schul-denbremse haben will, der schränkt Handlungsspiel-räume ein, die wir uns gerade erarbeiten, auch für Steu-ersenkungen, die wir vereinbart haben und zu denen dieFDP steht, genauso wie ihr Koalitionspartner.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Bis auf dieFrisur war das eine gute Rede!)

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Vizepräsidentin Petra Pau:Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege

Roland Claus das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)

Roland Claus (DIE LINKE):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn

wir aus der vergangenen bewegenden Debatte zum70. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion etwashinübernehmen können, dann meines Erachtens dies,immer und überall für gesellschaftliche Zustände einzu-treten, in denen Demokratie gestärkt und nicht untergra-ben wird. Das hat auch etwas mit diesem Thema zu tun.

Seit Mitte 2009 ist die Schuldenbremse im Grundge-setz verankert. Der Begriff ist eine geniale Erfindung.Ich vermute, dass er aus der Abteilung „Überschriften“der SPD kommt. Dort sitzt ein sehr leistungsfähigesTeam. Wer kann sich schon einem solchen Begriff wi-dersetzen und nicht für die Begrenzung von Schuldensein? Schaut man näher hin, auch was die Wirkung be-trifft, ist es in Wahrheit aber eine Bildungsbremse, eineWirtschaftsförderungsbremse, eine Sicherheitsbremse,eine Bremse für den Osten und eine Demokratiebremse.Deshalb gibt es gute Gründe, warum die Linke gegendieses Konstrukt der Schuldenbremse ist. Dabei bleibtes.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich will das an ein paar Beispielen belegen. DieSchuldenbremse ist in Wirklichkeit eine Bildungs-bremse. In meinem Wahlkreis wird gerade ein Gymna-sium verschenkt, das bisher dem Land gehört. DerGrund ist, dass das Land nicht in der Lage ist, weiterhindie anstehenden Sanierungs- und Investitionskosten zuzahlen, obwohl das Land schon etliche Millionen indiese Schule hineingesteckt hat. In seiner Not verschenktdas Land das Gymnasium, in der Hoffnung, dass dasGymnasium weiterbetrieben wird. So sieht die Realitätder Wirkung Ihrer Schuldenbremse aus. Wichtiger wäredoch, in diesem Land endlich Geld in die Hand zu neh-men und das überkommene Bildungssystem zu refor-mieren.

(Beifall bei der LINKEN – Priska Hinz [Her-born] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Damuss man Prioritäten setzen!)

Die Schuldenbremse ist in Wirklichkeit eine Bremsefür Investitionen und Wirtschaftsförderung. Ein Mittel-ständler in meinem Wahlkreis will eine größere Investi-tion tätigen und hat auch die Zusage für entsprechendeFördermittel des Bundes.

(Otto Fricke [FDP]: Ich dachte, er will inves-tieren!)

– Dafür gibt es doch Fördermittel. Das ist doch keine Er-findung von mir, Herr Kollege. Ein bisschen mehr Auf-merksamkeit bitte!

(Otto Fricke [FDP]: Er will also einen Investi-tionszuschuss!)

Warum kann er die Investition nicht machen? Weildas Land nicht in der Lage ist, die Fördermittel zu kofi-nanzieren.

Die Schuldenbremse ist in Wirklichkeit eine Bremsefür die öffentliche Sicherheit. Da kommen Polizeirevier-chefs aller Couleur zu den Abgeordneten und suchenhänderingend Unterstützung, weil unserem neuen Lan-desfinanzminister in seiner Sparwut nichts anderes ein-fällt, als öffentlich anzukündigen, jede dritte Polizistin-nen- und Polizistenstelle zu streichen. Deshalb ist IhreSchuldenbremse in Wirklichkeit eine Sicherheitsbremse.

Die Bremse hat auch zur Folge, dass sich die Ab-stände zwischen den armen und reichen Bundesländernnicht verringern, sondern vergrößern. Das schadet demOsten, weil vor dem Hintergrund eines verfestigten Nie-driglohnsektors im Osten die reicheren Bundesländer imSüden und Westen die besseren Fachkräfte mit besserenLohn- und Gehaltsmöglichkeiten einfach wegkaufenkönnen.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Einschließlich Lehrer!)

So zementieren Sie weiter die Ungleichheit, statt auf dieAngleichung der Lebensverhältnisse hinzuwirken.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Schuldenbremse ist auch eine Demokra-tiebremse; denn Länder und noch mehr die Kommunenkönnen immer weniger selbst entscheiden. Deshalb gabes gute Gründe, dass das vernünftig und gut regierteLand Berlin,

(Lachen bei der CDU/CSU)

aber auch Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein dieser Initiative im Bundesrat nicht zugestimmthaben.

(Beifall bei der LINKEN)

Wie wir gesehen haben, kann sich der Bund immernoch selber helfen. Hier befassen wir uns mit der reinenLehre. Sie aber haben zeitgleich mit der Aufnahme derSchuldenbremse ins Grundgesetz im Zuge der Banken-rettung die bisher höchste Verschuldung in Kauf genom-men. Diese Bundesregierung und diese Koalition ma-chen in der laufenden Legislaturperiode neue Schuldenin Höhe von etwa 120 Milliarden Euro,

(Otto Fricke [FDP]: Woher wissen Sie das denn?)

so viel wie nie zuvor. Das ist etwa so viel, wie dem LandSachsen in der gesamten Legislaturperiode, also in vierJahren, zur Verfügung stehen.

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Es gab eine Fi-nanzkrise!)

Das ist die Wahrheit, über die man hier reden muss unddie Sie mit so wunderbaren Begriffen wie Schulden-bremse wegreden wollen.

(Beifall bei der LINKEN)

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Roland Claus

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Beim Haushalt geht es immer um eine Balance zwi-schen Einnahmen und Ausgaben. Die Schuldenbremsethematisiert lediglich die Ausgabenseite. Sie ist einSpardiktat. Ein Nachdenken über andere Einkommens-möglichkeiten und Steuergerechtigkeit ist Ihnen fern. Esist in diesem Land aber bitter nötig.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun hat die SPD-Fraktion einen Gesetzentwurf vor-gelegt, den man auf die Formel „Schulden besser brem-sen“ bringen könnte. Das ist die Botschaft, die Sie ver-künden. Sie wollen die Berechnungsgrundlage ändern,damit der Finanzminister weniger tricksen kann. Ichstelle fest: Das ist ein Rückfall in die Agenda-2010-Logik.

Liebe SPD-Kollegen, wir schreiten mancherorts Seit’an Seit’.

(Otto Fricke [FDP]: Hand in Hand! –Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Hand inHand in Berlin!)

Wir kritisieren gemeinsam und zutiefst berechtigt dieseBundesregierung. Aber unter dem Motto „Schulden bes-ser bremsen“ in Wahrheit Bildung, Wirtschaftsförde-rung, öffentliche Sicherheit, sozialen Ausgleich undletztendlich die Demokratie zu bremsen, ist mit der Lin-ken nicht zu machen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-

legin Hinz das Wort.

(Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Da sind wir mal gespannt!)

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Claus, es kann doch nicht angehen, dass wir alsParlamentarier glauben, nur durch zusätzliche Verschul-dung politische Schwerpunkte im Haushalt setzen zukönnen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Es geht vielmehr darum, durch eine gerechte Steuerbe-teiligung und Steuerverteilung, aber auch durch einegute Ausgabenpolitik und teilweise auch durch Ausga-benkürzungen und Umschichtungen Spielräume zu er-öffnen.

(Beifall des Abg. Otto Fricke [FDP])

Dann sind auch politische Schwerpunktsetzungen mög-lich.

Es geht aber nicht an, dass die Verschuldung inDeutschland bei 80 Prozent des BIP liegt – dieMaastricht-Kriterien sehen höchstens 60 Prozent vor –,und Sie so tun, als wäre keine Schuldenbremse notwen-dig.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Doch! –Stefan Liebich [DIE LINKE]: Da muss manhandeln! Man muss die Verfassung ändern!)

Das heißt, Sie wollen die Nettokreditaufnahme weitersteigern. Dazu sagen wir Grünen ganz klar: Das hatnichts mit nachhaltiger Haushaltspolitik zu tun. Auchwir wollen, dass die Schuldenbremse eingehalten wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD und der FDP)

Ich komme zu Ihnen, Herr Kollege Fricke. Sie habengesagt, man müsse sich an Zahlen und Fakten orientie-ren. Ich kann Ihnen ein Beispiel nennen. Schon heute be-tragen die Zinszahlungen 38 Milliarden Euro jährlich.Sie sollen laut Finanzplanung bis 2014 auf fast50 Milliarden Euro anwachsen.

(Otto Fricke [FDP]: Nein! Sie können!)

– Sie können auf fast 50 Milliarden Euro anwachsen.Das ist trotzdem nicht witzig.

(Otto Fricke [FDP]: Nein!)

Wenn die Zinszahlungen auf „nur“ 45 Milliarden Euroanwachsen, ist das auch nicht schön. Daher ist es not-wendig, die Nettokreditaufnahme so schnell und so ef-fektiv wie möglich zu senken.

(Otto Fricke [FDP]: Richtig!)

Deswegen sind wir der Meinung, dass die Schulden-bremse nicht durch Buchungstricks ausgehebelt werdendarf. Es kann doch nicht wahr sein, dass man aufgrundder konjunkturellen Entwicklung, die im letzten Jahrglücklicherweise gut war, mehr Schulden aufnimmt. Je-der Euro, der die Verschuldung erhöht, bedeutet eine hö-here Zinsbelastung für die nächsten Jahre. Wir unterstüt-zen den Gesetzentwurf der SPD-Fraktion,

(Beifall bei der SPD)

weil wir der Meinung sind, dass solche Buchungstricksnicht in Ordnung sind.

Auch sonst ist die Koalition durchaus findig, wenn esdarum geht, die Schuldenbremse auszuhebeln. Nehmenwir als Beispiel das im Vermittlungsausschuss erzielteErgebnis zum ALG II. Es ist vereinbart worden, dass derBund die Finanzierung der Grundsicherung im Alterübernimmt.

(Otto Fricke [FDP]: Falsch oder richtig?)

– Das unterstützen wir. – Aber das muss sauber finan-ziert werden.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Bei der Bundes-agentur wurde entsprechend gekürzt!)

Es ist doch falsch, für die Finanzierung die Bundesagen-tur für Arbeit bluten zu lassen und bis 2015 den Sozial-versicherungen 10 Milliarden Euro mehr aufzubürden.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist die Schuldenbremse! Genau!)

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Priska Hinz (Herborn)

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Dieser Verschiebebahnhof trägt nicht zu Haushaltsklar-heit und -wahrheit bei. Vielmehr wird damit die Schul-denbremse manipuliert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Auszubaden haben das die Versicherten. Hier wird aufdem Rücken derjenigen, die arbeitslos sind, gespart. Vorallen Dingen gibt es blinde Kürzungen bei erfolgreichenProgrammen wie dem Gründerzuschuss. Dieser Miss-brauch der Schuldenbremse schwächt zusätzlich die Fi-nanzausstattung der Arbeitslosenversicherung und lässtkeinen Puffer mehr zu. Was hätten wir ohne Puffer inden Hochzeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise ge-macht? Damals haben wir einen Puffer in der Sozialver-sicherung gebraucht. Wir können doch jetzt nicht davonausgehen, dass die Konjunktur weiterhin so gut bleibt.Deswegen ist es falsch, dass Sie die Haushalte der So-zialversicherungen durch Haushaltstricks überfordern.Hier sind wir auf keinen Fall auf Ihrer Seite, obwohl wirfür die Übernahme der Finanzierung der Grundsicherungdurch den Bund sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ein noch heftigerer Verstoß gegen die Schulden-bremse würden die Steuersenkungen bedeuten, die dieFDP gefordert hat und von denen die CDU/CSU nochnicht so recht weiß, ob sie sie zulassen soll oder nicht.Ich darf an dieser Stelle Lars Feld zitieren, der in diesemJahr in den Sachverständigenrat aufgenommen wurde.Er hat laut Handelsblatt vom 27. Juni gesagt:

Die Konsolidierung der Staatsfinanzen muss Vor-rang vor Steuersenkungen haben. Konjunkturell be-dingte Steuermehreinnahmen dürfen nicht zuletztwegen der Schuldenbremse nicht für dauerhafteSteuersenkungen verwendet werden.

Genau so ist es. Steuersenkungen belasten die Haushaltestrukturell und sorgen für dauerhafte Einnahmeausfälle.

(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Hätten Sie Steuersenkungen mal verboten!)

Ich erinnere nur an die Mövenpick-Steuer, die die FDPdurchgesetzt hat. Auch diese hat zu dauerhaften Steuer-ausfällen und damit zu Defiziten geführt. Liebe Damenund Herren von der Koalition, es trägt nicht zu guter undseriöser Haushaltspolitik bei, wenn Sie wieder mit sol-chen Vorschlägen kommen, nur weil zurzeit konjunktu-rell bedingt ein bisschen Mehreinnahmen zu verbuchensind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Otto Fricke [FDP]:22 Milliarden ist ein bisschen?)

– Es gibt noch viele Haushaltsrisiken, die Sie noch garnicht abgedeckt haben.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das liegt immer noch unter der Schätzung von 2008!)

Erstens sind diese Mehreinnahmen schon im Eckwerte-beschluss der Bundesregierung eingepreist.

(Otto Fricke [FDP]: Nein!)

Zweitens gibt es Finanz- und Haushaltsrisiken, die nochgar nicht abgedeckt sind, ob es die Bundeswehrreform,die Brennelementesteuer oder die Finanztransaktion-steuer ist. Das alles muss doch finanziert werden. Des-wegen ist es falsch, wieder strukturelle Steuerausfälledurch Steuersenkungen zuzulassen.

Stattdessen wäre es notwendig, mehr für den Abbauumweltschädlicher Subventionen zu tun.

(Zuruf von der CDU/CSU: Benennen Sie sieeinmal konkret! Sagen Sie den Leuten einmal,was Sie da meinen!)

Auch da sind Sie bislang überhaupt nicht gut, im Gegen-teil. Sie wollen jetzt schon wieder energieintensive Be-triebe mit Zuschüssen bedenken. Das ist in der Anhö-rung des Haushaltsausschusses von fast allenSachverständigen gegeißelt worden, weil es überhauptkeinen Sinn macht, sie zusätzlich zu entlasten. Stattdes-sen könnten Sie 10 Milliarden Euro steuerschädlicheSubventionen streichen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das haben Sie falsch verstanden, Frau Kollegin!)

Auch das könnte dazu beitragen, dass man die Nettokre-ditaufnahme senkt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD – KlausBrandner [SPD]: Das wäre mutig!)

Meine Damen und Herren, es bleibt mir am Schluss,noch einmal zu sagen, dass es falsch ist, über Steuersen-kungen zu philosophieren und sich über BuchungstricksAusgabenpuffer zu erwirtschaften, die schlicht zu mehrZinsen führen. Es wäre sinnvoller, Sie würden zu seriö-ser Haushaltspolitik zurückkehren, die die Grünen im-mer vorschlagen,

(Otto Fricke [FDP]: Und in NRW nicht ma-chen!)

nämlich konsolidieren und Subventionen kürzen, umdann in die Zukunft zu investieren. Dabei muss manrichtige Schwerpunkte setzen: Ökologie, soziale Teil-habe und Bildungsgerechtigkeit.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau:Der Kollege Aumer hat nun für die Unionsfraktion

das Wort.

Peter Aumer (CDU/CSU):Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Präsidentin!

Liebe Kollegen! Ich nehme an, der Großteil dieses Hau-ses hat dieselbe Meinung, was die Konsolidierung unse-res Staatshaushaltes betrifft.

(Zuruf von der CDU/CSU: Zumindest auf die-ser Seite!)

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Peter Aumer

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– Zumindest auf dieser Seite ist die Meinung wohl sehrgefestigt.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das stimmt!)

Frau Hinz, Sie haben „Sie haben Haushaltsprobleme“gesagt und dabei uns angeschaut. Meines Erachtens ha-ben nicht wir als Koalition diese Probleme. Vielmehr ha-ben wir als Staat eine gemeinsame Verantwortung, nach-haltige Haushaltspolitik zu betreiben. Es muss das Zieldes ganzen Hauses sein, eine verlässliche Haushaltspoli-tik zu betreiben.

Mit der Einführung der Schuldenbremse haben wirals Deutscher Bundestag eine wesentliche Entscheidungfür die Zukunft unseres Landes und für die Nachhaltig-keit der Haushaltspolitik getroffen. Unsere Bundeskanz-lerin hat vor einiger Zeit in ihrer Regierungserklärunggesagt, dass unser Staat über Jahrzehnte über seine Ver-hältnisse gelebt hat. Damit hatte sie vollkommen recht.

Gerade ich als Junger darf die Herausforderungen derZukunft gemeinsam mit Ihnen allen annehmen, um un-seren Staat in eine andere Zukunft zu führen, in derNachhaltigkeit in allen Politikbereichen gefragt ist. Dazugehört, dass man nicht im Klein-Klein verharrt und überDetails streitet, sondern die großen Linien zieht.

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist es!)

Das große Ziel ist das, was wir im Grundgesetz fest-gelegt haben, nämlich dass wir ab 2016 nicht mehr Geldausgeben, als wir einnehmen. Es ist zuvor schon gesagtworden, dass alle Regierungen in den letzten Jahrzehn-ten nicht mehr das Ziel der Haushaltskonsolidierung imBlick hatten. Deswegen sind wir alle gefragt, die Schul-denbremse einzuhalten, auch die PDS.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Was? Wer?)

Herr Kollege Claus, wenn Sie sagen, die Schulden-bremse sei eine Bildungsbremse, dann haben Sie dasPrinzip der Schuldenbremse nicht verstanden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Dr. Axel Troost [DIELINKE]: So ist die Realität!)

Das ist traurig und wenig nachhaltig.

(Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Der ver-steht sowieso nichts!)

Das ist nicht die Realität. Schauen Sie sich an, was dieBundesregierung gemacht hat: Sie hat überall gespart,nur nicht im Bildungs- und im Forschungsbereich.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Er redet von der Länderebene!)

– Ja, von den Ländern; das ist egal.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist nicht egal!)

Aber die Tatsache, dass man ganz bewusst Spiel-räume gelassen hat, muss man ebenfalls zur Kenntnisnehmen. Es muss unser gemeinsames Ziel sein, dieseSpielräume konsequent zu nutzen. Wir als christlich-li-berale Koalition machen dies und haben in allen Berei-

chen Konsolidierungsmaßnahmen getroffen. Beispiels-weise haben wir Regelungen auf den Weg gebracht, umdie Finanzmärkte zu regulieren, gleichzeitig haben wirdarauf geachtet, unsere Wirtschaft nicht abzuwürgen.

Ich halte es für die Aufgabe der nächsten Jahre, dasswir gemeinsam sparen, dass wir eine glaubwürdige Poli-tik machen. Das, was Sie mit Ihrem hier eingebrachtenAntrag verfolgen, ist unglaubwürdig.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Aus meiner Sicht verlieren Sie vielmehr den Sinn undZweck der Schuldenbremse aus den Augen. Sie betrei-ben hier reinen Populismus.

Ihnen geht es darum, sich auf Kosten derjenigen zuprofilieren, die versuchen, trotz der großen Zwänge derSchuldenbremse eine realistische Politik umzusetzen.Gab es denn von der SPD Vorschläge, wie man dieSchuldenbremse einhalten kann, gab es Vorschläge, wieman eine realistische Politik gemeinsam mit den Bürge-rinnen und Bürgern umsetzen kann?

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ja! Natür-lich!)

Das ist die Aufgabe der Regierung. Sie können pole-misch sein und in den Tag hineinleben. Aber Sie verlie-ren das aus den Augen, was uns allen wichtig ist: verant-wortungsvolle und ehrliche Politik für die nächstenJahrzehnte und für die kommende Generation zu ma-chen.

Wir haben heute mit den weitreichenden Beschlüssenim Energiebereich einen wichtigen, nachhaltigen Beitraggeleistet, was die Zukunft der kommenden Generationenangeht. Dafür ist die große Kraftanstrengung des gesam-ten Hauses notwendig. Die Aufgabe auch der Linken istes, einen realistischen Weg zu gehen. Den beschreitenSie nicht nur nicht in der Energiepolitik, sondern diesenWeg verlieren Sie auch bei der Konsolidierung unsererHaushalte aus den Augen.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wir haben heute Vorschläge zur Bankenkrise gemacht!)

Es muss uns allen und vor allem der Bundesregierungein großes Anliegen sein, dass wir unseren Haushalt aus-gleichen, aber zugleich auch die richtigen Entscheidun-gen im Hinblick auf die Nachhaltigkeit treffen. Wenn esdie Haushaltsspielräume zulassen, sollten wir aber auchsteuerliche Maßnahmen ergreifen und Bezieher vonmittleren und niedrigen Einkommen entlasten, um ihnendie Teilhabe am Aufschwung zu ermöglichen. Aller-dings ist auch da die Zusammenarbeit mit Ihnen schwie-rig, meine sehr geehrten Damen und Herren der Opposi-tion. Sie nehmen zwar für sich in Anspruch, gerade dieseKlientel zu vertreten, tun aber wenig, um entsprechendekonkrete Gesetzentwürfe vorzulegen.

Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab. Wir halten unsan das, was im Grundgesetz verankert ist, und führen diePolitik fort, die wir gemeinsam auf den Weg gebrachthaben. Die SPD verliert oft das Ziel aus den Augen,etwa bei der Rente mit 67 oder bei Hartz IV.

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Peter Aumer

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(René Röspel [SPD]: Ihr duckt euch doch in die Büsche!)

Sie wissen nicht mehr, was Sie alles beschlossen ha-ben, was wir gemeinsam Großes in der Großen Koalitionauf den Weg gebracht haben, um unser Land in eine guteZukunft zu führen. Deswegen fordere ich Sie auf: Neh-men Sie diese Herausforderung mit uns an, gehen Sieden Weg der Nachhaltigkeit und der Verlässlichkeit auchin der Haushaltspolitik. Wichtig ist, dass die Menschendas Gefühl haben, dass in der Politik Kontinuitätherrscht. Dazu gehört auch die Kontinuität der Haus-halte, die Verlässlichkeit der Planungen der Regierung.Wir lehnen Ihren Antrag ab und arbeiten weiter daran,das Ziel der grundgesetzlich verankerten Schulden-bremse einzuhalten.

(Thomas Oppermann [SPD]: Das ist wenig glaubwürdig, Herr Kollege!)

Leisten auch Sie hierzu Ihren Beitrag!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Hagedorn

das Wort.

(Beifall bei der SPD)

Bettina Hagedorn (SPD):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!

Am Anfang möchte ich noch ganz kurz etwas zu Ihnen,Kollege Claus, sagen, weil man es Ihnen nicht durchge-hen lassen kann, dass Sie so tun, als sei es die Schulden-bremse, die für all das verantwortlich ist, was Sie hierteilweise zu Recht angeprangert haben, etwa fehlendeInvestitionen im Osten und fehlende Investitionen in Bil-dung.

(Roland Claus [DIE LINKE]: Das ist die Steu-erabsenkung, die Sie vorher beschlossen ha-ben!)

Das alles hat mit der Schuldenbremse nichts zu tun, son-dern das ist die verfehlte Politik der jetzigen Koalition.Da stimme ich Ihnen zu.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das hat schonetwas eher angefangen! – Norbert Barthle[CDU/CSU]: Weil wir für die Schulpolitik derLänder zuständig sind? Also bitte schön, FrauKollegin! Das ist Ländersache!)

Es sind die Auswirkungen dieses sogenannten Sparpake-tes, das eindeutig – die Kollegin Hinz hat schon daraufhingewiesen – eine massive soziale Schieflage in diesemLand verursacht, zulasten gerade der östlichen Bundes-länder und strukturschwacher Regionen, zulasten auchder Stadtstaaten wie Berlin und vor allen Dingen zulas-ten der Menschen, die dringend auf Investitionen in Bil-dung, in Ausbildung, in lebenslanges Lernen und aufeine Chance, aus der Langzeitarbeitslosigkeit herauszu-kommen, warten. Aber all das, Kollege Claus, hat mit

der Schuldenbremse an sich nichts zu tun, sondern dasist das Ergebnis dieser verfehlten Politik.

(Beifall bei der SPD – Roland Claus [DIELINKE]: Das ist nicht eure einzige Sünde! Dasstimmt!)

Den Rest meiner Redezeit möchte ich jetzt lieber denvier Fraktionen widmen, die eigentlich für die Schulden-bremse sind. Ich sage „eigentlich“, liebe Kolleginnenund Kollegen von Schwarz-Gelb; denn wer wirklich fürden Geist der Schuldenbremse ist – wir haben sie vorzwei Jahren gemeinsam eingeführt –, der müsste eigent-lich diesem Antrag der SPD zustimmen.

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ja!)

Es ist schon eine große Enttäuschung, dass Sie dasnicht tun. Natürlich entlarven Sie damit ein Stück weit,wie wenig ernst es Ihnen mit dem Sparen tatsächlich ist.

Das, was mein Kollege schon ausgeführt hat, braucheich hier nicht zu wiederholen. Ich will noch einmal deut-lich machen – es sollte Sie stutzig machen, dass dassnicht nur die SPD-Fraktion und die Grünen sagen, son-dern auch die Bundesbank, der Sachverständigenrat undder Bundesrechnungshof, etwa in einer Sachverständi-genanhörung des Haushaltsausschusses im Herbst letz-ten Jahres, und das seitdem kontinuierlich –, dass Sie mitIhrer frei gewählten Interpretation der Schuldenbremseauf dem Holzweg sind und dass Sie sich damit selbstver-ständlich einen zusätzlichen Kreditrahmen von 50 Mil-liarden Euro – ich beziehe mich auf Zahlen der Bundes-bank – schaffen wollen. Natürlich müssen wir vermuten,dass dieses Geld eine Art Kriegskasse für das Jahr 2013ist; das ist doch wohl logisch.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir werden es zusammen erleben.

Das Schlimme daran ist, dass Sie mit diesem Ansin-nen erneut auf einem wichtigen Politikfeld, dem der Ein-führung der Schuldenbremse – darüber hat es in diesemHaus vor gar nicht langer Zeit einen breiten parteiüber-greifenden Konsens gegeben –, das gewonnene politi-sche Renommee aufs Spiel setzen. Wir alle haben denMenschen das Versprechen gegeben, stärker zu konsoli-dieren, nicht um des Sparens willen, sondern um in Ver-antwortung gegenüber den künftigen Generationen Ge-staltungsspielräume zu schaffen für Bildung, Mobilität,Infrastruktur und Investitionen in die Energiewende, diewir gemeinsam zu bewältigen haben; wie wir alle wis-sen, ist das, was Sie vorhaben, komplett unterfinanziert.

(Beifall bei der SPD)

Um diese Zukunftsinvestitionen nicht auf Pump täti-gen zu müssen, brauchen wir die Schuldenbremse, aller-dings in der verschärften Form, wie sie unisono von Bun-desbank, Sachverständigenrat und Bundesrechnungshofverlangt worden ist, das heißt auf der Basis der 2010 zu-grundegelegten 44 Milliarden Euro und nicht auf Basisder von Ihnen zugrunde gelegten über 65 Milliarden Euro.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

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Bettina Hagedorn

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Wenn Sie hier immer so tun, als wenn Sie durch Spa-ren in der letzten Zeit das ursprünglich in der GroßenKoalition festgelegte Ziel einer bestimmten Nettokredit-aufnahme erreicht hätten, dann ist das wirklich Volks-verdummung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie profitieren nämlich von konjunkturellen Effekten– das wissen Sie auch –, und konjunkturelle Effekte dür-fen entsprechend den Regelungen zur Schuldenbremseeben nicht für langfristige, nachhaltige strukturelle Aus-gaben und schon gar nicht für Steuersenkungen, lieberKollege Fricke, verfrühstückt werden.

Vizepräsidentin Petra Pau:Kollegin Hagedorn, gestatten Sie eine Frage des Kol-

legen Fricke?

Bettina Hagedorn (SPD):Aber selbstverständlich, gern.

Otto Fricke (FDP):Geschätzte Frau Kollegin Hagedorn, ich sage an Stel-

len wie dieser immer: Okay, in jedem Gedanken, denman sich macht, kommt zum Ausdruck, dass man etwasPositives erreichen will. Ich gehe davon aus, dass hinterIhrer Schuldenbremse etwas Vernünftiges steckt.

Bettina Hagedorn (SPD):Hinter meiner?

Otto Fricke (FDP):Hinter der Schuldenbremse, so wie die SPD sie sich

vorstellt und wie sie von den Grünen unterstützt wird.Man behauptet, diese Form sei besser, transparenter, kla-rer und gerechter.

Der Kollege Barthle und ich möchten einfach gernewissen, wie viele Milliarden Euro Schulden wir, dieseKoalition, nach Ihrer Vorstellung am Ende dieses Jahresgemacht haben dürfen. Können Sie eine Zahl nennen?Können Sie „circa soundso viel Milliarden Euro“ sagen?Wenn Sie das könnten, dann könnten wir uns am Anfangdes nächsten Jahres wieder treffen und sagen: „Wir ha-ben die Schuldenbremse eingehalten“, oder Sie könnensagen: Seht, ihr habt sie nicht eingehalten. – Das wäreeine schöne Sache. Bringen Sie es zustande, uns einegrobe Zahl – plus/minus 1 Milliarde Euro – zu nennen?

Bettina Hagedorn (SPD):Lieber Herr Schulmeister,

(Otto Fricke [FDP]: Ich habe nur gefragt!)

ich will gerne auf Ihre Frage eingehen,

(Otto Fricke [FDP]: Das können Sie!)

aber nicht in der Form, die Sie intendieren.

Zunächst einmal: Es ist nicht meine Schuldenbremseoder die der SPD oder die der Grünen, sondern unseregemeinsame; darauf habe ich ausdrücklich hingewiesen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – OttoFricke [FDP]: Aber ich meine Ihren Antrag!)

Es geht darum, die Auslegung des Schuldenabbaupfa-des zu konkretisieren, und zwar deshalb – das hat derKollege Schneider hier gesagt –, weil wir in der Sach-verständigenanhörung zu unserer gemeinsamen Schul-denbremse mit Bundesrechnungshof, Bundesbank undSachverständigenrat festgestellt haben, dass es diese In-terpretationslücke gibt.

(Otto Fricke [FDP]: Aber wie viele Schulden dürfen wir denn jetzt machen?)

Diese Lücke – Sie interpretieren so, wir interpretierenanders – wollen wir schließen. Wir wollen eine gesetzli-che Festlegung, um ein für alle Mal Klarheit zu schaffen.

(Otto Fricke [FDP]: Sagen Sie doch einfach mal wie viel!)

– Mein lieber Kollege Fricke – wir reden hier im Plenumund nicht im Haushaltsausschuss –,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Reden Sie da an-ders als hier?)

ich spreche in erster Linie, weil ich von den Menschenaußerhalb dieses Saales, für die „Schuldenbremse“ einschwer zu verstehender Begriff ist, verstanden werdenmöchte. Es geht darum – das verstehen die Menschen –,dass Sie durch Ihre freie Interpretation, die von denSachverständigen nicht geteilt wird, die Chance haben,zusätzlich 50 Milliarden Euro an Krediten aufzunehmen.

(Otto Fricke [FDP]: Aber wir tun es ja nicht!)

– Das sagen Sie jetzt. Wenn Sie es nicht tun, dann stim-men Sie doch unserem Entwurf zu! Das wäre doch derBeweis für Glaubwürdigkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Klaus Brandner [SPD]:Reingelegt!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss zumSchluss kommen. Ich möchte aber noch einen Aspektaufgreifen, den die Kollegin Prinz –

(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Jetzt fängst du auch damit an!)

Hinz – Entschuldigung, Priska – hier schon angespro-chen hat.

(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wenn schon, dann Prinzessin!)

Es geht um das, was die Koalition sonst noch allesmacht, um die Schuldenbremse auszutricksen. Dabei istdie Belastung der sozialen Sicherungssysteme eines derschwerwiegendsten Probleme. Das gilt insbesondere fürdie Bundesagentur für Arbeit.

Der Kollege Schneider hat es schon angesprochen.Um die Regelungen der Schuldenbremse einzuhalten,haben Sie vor einem Jahr ein sogenanntes Sparpaket auf-gelegt. Mit diesem Sparpaket wollten Sie den Unterneh-men und den Verursachern der Wirtschaftskrise Belas-

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Bettina Hagedorn

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tungen zumuten. Diese Belastungen kommen nicht; diehaben sich in Luft aufgelöst. Das Einzige, was Sie wirk-lich umsetzen, ist Ihr völlig unsoziales Sparpaket zulas-ten des Etats von Frau von der Leyen im Bereich Arbeitund Soziales. Das sind ungefähr 40 Prozent des gesam-ten Sparpakets. Das führt dazu, dass das, was Sie bei derBundesagentur für Arbeit, bei Arbeitslosengeld-II-Emp-fängern jetzt sparen, nur ein Bruchteil dessen ist, wasnoch folgt. In Wahrheit kommt die große Welle an Ein-sparungen und Kürzungen erst noch auf die Länder zu.

Ich war vor kurzem bei einer Veranstaltung in Berlin.Da musste ich den Leuten mitteilen: Wenn Sie glauben,dass das, was durch dieses Sparpaket in diesem Jahr beider Bundesagentur für Arbeit hier eingespart wird, näm-lich 136 Millionen Euro, schon viel ist, dann irren Siesich; Sie müssen realisieren, dass sich das in den nächs-ten Jahren nach den Beschlüssen der Koalition allein fürBerlin bis 2015 auf über 500 Millionen Euro pro Jahrsteigern wird. Dieses Geld fehlt der Generation, der wirmit der Schuldenbremse eigentlich Chancen für die Zu-kunft erhalten wollen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Brackmann für die Unions-

fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Norbert Brackmann (CDU/CSU):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Gemeinhin sagt man: Mens agitat molem. ZuDeutsch: Der Geist bewegt die Materie. – Aber der GeistIhres Entwurfs hat offenbar nicht einmal Ihre eigenenKolleginnen und Kollegen erreicht; denn wir müssenfeststellen: Bei dieser trockenen Materie konnte offenbarnicht erreicht werden, dass Ihnen allen klar ist, worum esbei der Berechnung der Schuldenbremse eigentlich geht.Jedenfalls war die inhaltliche Debatte offenbar andersangelegt.

Deshalb ist das hier eine Diskussion, die viele Bürgernicht verstehen, die mit dem Geist der Schuldenbremsewenig zu tun hat und vor allen Dingen mit dem Ergebnisüberhaupt nichts zu tun hat. Die Schuldenbremseschreibt den Endpunkt auf 2016 fest. Mit Ihrem Entwurfsagen Sie, dass Sie für das, was wir im Grundgesetz inBezug auf den Abbaupfad festgeschrieben haben – derAbbau hat im Übrigen linear zu erfolgen und endet 2016bei einem Fixpunkt –, eine flachere Entwicklung habenwollten.

Wir sprechen in dieser Situation über eine sehr tro-ckene Materie und vergessen dabei, dass wir eine extremgute wirtschaftliche Lage haben. Die Nettokreditauf-nahme ist weitaus geringer, als wir geplant haben. Wirwerden bei unter 40 Milliarden Euro landen. Die Ar-beitslosenzahlen sinken. Gerade heute wurde verkündet,dass wir 228 000 Arbeitslose weniger haben als vor ex-

akt einem Jahr. Die Wirtschaft boomt – 3,3 Prozent mehrWachstum –, und die Steuereinnahmen sprudeln.

Einmal weg von dieser trockenen Materie Ihres Ent-wurfs: Eine Schuldenbremse muss man nicht nur demGeist nach, sondern auch dem Inhalt nach leben.

(Bettina Hagedorn [SPD]: Das wäre prima! –Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das wäregut! Dann können Sie unserem Antrag zustim-men! Schon wieder ein Grund!)

– Das wäre doch gut, wenn wir das täten.

(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Schonwieder ein Grund, unserem Gesetzentwurf zu-zustimmen!)

Das setzt aber auch voraus, dass wir das Geld dafür auf-bringen. Denn man muss die Schuldenbremse nicht nurwollen, man muss sie auch leben. Das Einhalten derSchuldenbremse erreicht man nämlich nicht über Ausga-ben, sondern darüber, dass man Ausgaben eben nicht tä-tigt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Thomas Oppermann [SPD]: Zum BeispielSteuersenkungen!)

Wir alle wissen, was eine zu hohe Staatsverschuldungbedeutet. In diesen Tagen können wir im Mittelmeer-raum sehr genau beobachten, welche Bedeutung das hat.Getreu dem Motto „Spare in der Zeit, dann hast du in derNot“ wurde die Schuldenbremse im Grundgesetz veran-kert. Die jährliche Neuverschuldung ist nach wie vorviel zu hoch. Das wissen wir.

(Bettina Hagedorn [SPD]: Denn man tau!)

Im Jahre 2011 kann sie nach dem beschlossenen Haus-halt 48 Milliarden Euro betragen. Wir werden die Netto-neuverschuldung in diesem Jahr so weit reduzieren kön-nen, dass wir auf unter 40 Milliarden kommen werden.

Hier fängt es an, blümerant zu werden. Der Behaup-tung von Herrn Schneider, wir könnten 50 Milliardenmehr Schulden machen, als das nach Ihrem Antrag mög-lich sei, liegen offenbar Zahlen zugrunde, die aus derZeit stammen, als wir den Haushalt 2011 beschlossenhaben. Wir müssen aber linear abbauen; schon deshalbstimmen diese 50 Milliarden nicht. Das ist eine schlichteIrreleitung der öffentlichen Diskussion.

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ob das dieBundesbank gut findet, dass Sie das sagen?Das hat die Bundesbank selbst im Monatsbe-richt vom Mai 2011 gesagt!)

– Die Bundesbank hat das zu Beginn dieser Diskussiongesagt; sie sagt es eben nicht heute. Sie meinen jetzt,dass wir uns auf einen anderen Wert kaprizieren müssen.Wo aber sind wir dann, wenn Sie uns schon Tricksereiund – wie Sie es nannten, Herr Schneider – Schummeleivorwerfen? Wo sind denn die konkreten Zahlen, die FrauHagedorn nicht nennen konnte?

Wir hätten die Möglichkeit, 53 Milliarden Nettoneu-verschuldung zu machen. Die Regierung hat diesen Wert

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Norbert Brackmann

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doch gar nicht ausgeschöpft, und wir als Bundestag auchnicht.

(Bettina Hagedorn [SPD]: Dann können Sie unse-rem Gesetzentwurf ja zustimmen!)

Wir haben bereits zusammengekürzt, und zwar anders,als Finanzminister Steinbrück das seinerzeit noch be-gründet hatte. Weil er wusste, dass man nur mit Zahlenoperieren kann, die vorliegen, ist er davon ausgegangen,dass wir mit Soll-Zahlen operieren. Damit hätten wirdiese 53 Milliarden ausschöpfen können. Im Laufe desJahres 2010 zeichnete sich aber eine Verbesserung ab.Da haben wir bereits gesagt: Wir gehen auf die44 Milliarden herunter. – Wenn wir jetzt Ihren Gesetz-entwurf zugrunde legen, müssten wir retrospektiv völligneue Berechnungen durchführen und unser ganzes Zah-lenwerk neu aufdröseln. Inhaltlich – und das ist das ei-gentlich Dramatische – würde das noch nicht einmal et-was bringen.

Wie sehen denn die Zahlen aus? Wenn wir die44 Milliarden zugrunde legen, dann müssten wir bei demlinearen Abbau jedes Jahr knapp 6 Milliarden wenigerausgeben. Das wären dann für 2011 38 Milliarden. Wirhaben aber gerade vernommen, dass wir unter40 Milliarden gehen. Das heißt, wir erreichen bei derNettoneuverschuldung ohnehin genau diesen Wert, so-dass Ihr Gesetzentwurf auch dort ins Leere laufenwürde. Wenn wir das für 2012 weiterrechnen, müsste dieNettoneuverschuldung um weitere 6 Milliarden sinken.Das hieße, die Nettoneuverschuldung dürfte nur noch32 Milliarden betragen.

Warten Sie die nächste Woche einmal ab. Ich bin ganzgespannt.

(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)

Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung uns einenHaushaltsentwurf vorlegt, bei dem die Nettoneuver-schuldung unter diesen 32 Milliarden liegen wird. Daswird dann der schlagende Beweis dafür sein, dass wirkonsequent eine solide Haushaltspolitik betreiben, derenAnsätze noch unter denen liegen, die Sie mit Ihrem Ge-setzentwurf wollen. Das ist außerdem der schlagendeBeweis für einen supersoliden Haushalt der Regierungs-koalition, der den Menschen in Deutschland eine ver-nünftige Zukunft sichern wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist dieKonsequenz dessen, worüber wir seit anderthalb Jahrendiskutieren: intelligent zu sparen, um Wachstum zu pro-duzieren.

(Bettina Hagedorn [SPD]: Intelligent? Auf dem Rücken der Langzeitarbeitslosen!)

Die Folgen dieser Politik ernten wir heute. Mit unse-rem Wachstum erreichen wir über natürliche Einnah-meerhöhungen, dass wir die Schuldenbremse locker ein-halten. Wenn heute in diesem Hause von Frau Hinz unterHinweis auf die ALG-II-Verhandlungen vorgetragenwird, dass wir die Bundesagentur für Arbeit geschröpfthätten, kann ich nur sagen: Das gesamte Vermittlungs-verfahren war weder von uns initiiert noch war es darauf

angelegt, dass wir in den Vermittlungsverfahren mehrGeld ausgeben oder dass es für den Bund teurer und da-mit die Einhaltung der Schuldenbremse auch noch zu-sätzlich erschwert wird. Insofern sollten Sie bei denLeisten bleiben.

(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das war ein Vorschlag Ihrer Re-gierung!)

Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass die Schul-denbremse zum Erfolg geführt wird.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-wurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Artikel-115-Gesetzes. Der Haushaltsausschuss empfiehlt in sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6241, denGesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache17/4666 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und derFraktion Die Linke bei Zustimmung der SPD und desBündnisses 90/Die Grünen abgelehnt. Danach entfälltnach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesord-nung um die Beratung einer Beschlussempfehlung desAusschusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge-schäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zurDurchführung eines Strafverfahrens zu erweitern unddiese jetzt als Zusatzpunkt 21 aufzurufen. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so be-schlossen.

Somit rufe ich jetzt den Zusatzpunkt 21 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge-schäftsordnung (1. Ausschuss) zu einem Antragauf Genehmigung zur Durchführung einesStrafverfahrens

– Drucksache 17/6384 –

Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschussfür Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache17/6384, die Genehmigung zur Durchführung einesStrafverfahrens zu erteilen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 6 auf:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs einesNeunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bun-deswahlgesetzes

– Drucksache 17/6290 –

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

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Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)Rechtsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt esWiderspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann istdas so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Dr. Günter Krings von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Günter Krings (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die Koalitionsfraktionen haben den DeutschenBundestag, also auch die Opposition, im Zusammenhangmit unserem heute auch förmlich einzubringenden Ge-setzentwurf zum Bundestagswahlrecht – das gebe ichunumwunden zu – auf eine lange Geduldsprobe gestellt.Aber diese Geduldsprobe ist zu Ende: Wir, die Koalition,haben in dieser Sitzungswoche unseren Gesetzentwurfvorgelegt. Ich freue mich besonders, dass wir zumindestmit der ersten Lesung die heute ablaufende Frist einhal-ten; es ist schade, dass wir sie nur mit der ersten Lesungund nicht, wie es sich eigentlich gehört – auch das habeich schon beim letzten Mal gesagt –, mit der dritten Le-sung einhalten.

(Beifall der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])

Aber – wir haben das schon in den letzten Debatten er-klärt – es ist auch eine komplizierte, komplexe Materie.

Es wäre sicherlich noch schöner gewesen, vielleichtschon fraktionsübergreifende Konsenspunkte zu haben;aber alle anderen Fraktionen – ich nehme das gar nichtübel; denn das gebot die Zeit – haben ihre Anträge be-reits vorgelegt. Wir nutzen die Regelungen, die uns dasGrundgesetz und die Geschäftsordnung vorgeben, um imBundestag über die vier verschiedenen Anträge zu de-battieren und uns in Anhörungen und Ausschusssitzun-gen zu beraten. Das ist das gesetzlich vorgesehene Ver-fahren.

Ganz überraschend dürfte das, was wir in dieser Wo-che vorgeschlagen haben, nicht sein. Wir haben unsschon mehrfach öffentlich zu den Grundstrukturen unse-rer Vorschläge geäußert; das haben der Kollege Ruppert,der Kollege Uhl, ich und andere getan. Ich habe an die-ser Stelle seit zweieinhalb Jahren erklärt: Wir wollen dasWahlrecht nicht komplett umkrempeln; wir wollen einenminimalinvasiven Eingriff, weil sich das Wahlrecht – dieVerbindung aus Erst- und Zweitstimme und das Systemdes personalisierten Verhältniswahlrechts – im Kern be-währt hat. Wir wollen nur so viel reformieren, wie not-wendig ist, um die Vorgaben des Bundesverfassungsge-richts zu erfüllen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Deswegen schlagen wir dem Haus eine Lösung vor, diesich eng an den Ursachen des Problems orientiert. Es ist

in der Politik ohnehin ratsam, Lösungen zu finden, diemit den Ursachen des Problems etwas zu tun haben.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!)

Das Bundesverfassungsgericht hat uns ausdrücklichnicht den Auftrag gegeben, die Überhangmandate abzu-schaffen. Wir gehen die entscheidende Ursache des ne-gativen Stimmgewichts an. Das sind nicht zentral dieÜberhangmandate, sondern das ist die Verknüpfung derLandeslisten in der Bundesrepublik Deutschland. DieseLandeslisten müssen getrennt werden. Das ist eine ver-blüffend einfache Erkenntnis. Wenn das Problem dieVerknüpfung der Landeslisten ist, ist die Lösung dieTrennung der Landeslisten. Der Kern unseres Vorschlags– so simpel ist das – ist die Streichung eines einzigen Pa-ragrafen, des § 7 Bundeswahlgesetz, der diese Verbin-dung bislang möglich gemacht hat.

Zu dem Vorschlag konkret: Wir schlagen ein einfa-ches Verfahren mit zwei Rechenschritten und einem drit-ten, ergänzenden Schritt vor. Im ersten Schritt werdendie 598 Mandate des Deutschen Bundestages auf die16 Bundesländer aufgeteilt. Nach welchem Kriterium?Auch darüber gibt es Diskussionen. Wir haben gesagt:Das beste Kriterium ist die Wahlbeteiligung. Wir könnennicht immer die mangelnde Wahlbeteiligung beklagenund sagen, dass es für die Aufteilung egal ist, wie hochdie Wahlbeteiligung ist. Wir werden dem Prinzip der Er-folgswertgleichheit dann gerecht, wenn wir die Auftei-lung nach der Wahlbeteiligung und nicht nach der Be-völkerungszahl vornehmen.

Der zweite Rechenschritt ist ebenfalls ganz einfach.In jedem Bundesland werden die einzelnen Mandate ent-sprechend dem Wahlergebnis auf die Parteien aufgeteilt.

Wir haben uns entschlossen, einen dritten, ergänzen-den Schritt vorzunehmen – eine Modifikation –; dennwir müssen einräumen, dass durch die Kappung der Lan-deslisten relativ viele Reststimmen übrigbleiben. Daskann zu Verwerfungen zwischen den Parteien führen.Das betrifft übrigens große wie kleine Parteien; das willich hier einmal ganz deutlich sagen. Eine Partei hatPech, wenn sie aufgrund dieser Trennung in 16 Ländernknapp vor dem nächsten Mandat hängenbleibt. Ich findees nur fair, dafür einen gewissen Ausgleich vorzusehen,diese Reststimmen einzusammeln und zusätzlich auf dieLandeslisten, die die meisten Reststimmen haben, zuverteilen. Das ist ein sinnvoller Schritt, auch wenn derBundestag dadurch um einige wenige Mandate erweitertwerden könnte. Wir gehen nach sehr klaren Rechnungendavon aus, dass wir dabei im einstelligen Bereich blei-ben. Wir würden deutlich weniger stark zulegen, als dasbei den Ausgleichsmandaten der Fall wäre, die die SPDvorgeschlagen hat. Das könnte 30 bis – im ungünstigstenFall – 100 Ausgleichsmandate bedeuten. Unser Vor-schlag bedeutet eine vertretbare, ganz geringfügige Aus-weitung des Bundestages.

Ist das ein perfekter Vorschlag? Nein, natürlich ist daskein perfekter Vorschlag. Es ist aber mit Abstand derbeste Vorschlag von denen, über die in diesem Haus undin der Wissenschaft diskutiert wurde;

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

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Dr. Günter Krings

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denn wir beseitigen das negative Stimmgewicht nachden Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts. Indem entsprechenden Urteil wurde festgestellt, akzepta-bel sei ein negatives Stimmgewicht allenfalls in selte-nen, unvermeidbaren Ausnahmefällen. In diesem Sinnebeseitigen und verhindern wir das negative Stimmge-wicht ausnahmslos im Regelfall.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist sehr schön formuliert!)

Nur bei nicht lebensnaher, unrealistischer Betrachtungkann dieser Effekt eintreten.

(Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Der Wähler darf nur so wählen, dassder Regelfall eintritt!)

Wir halten uns sehr eng an den Wortlaut des Bundesver-fassungsgerichts. Mit diesem Ansatz wird das Problemgelöst. Vor allem aber – und das ist viel wichtiger – wer-den damit keine neuen großen Probleme geschaffen, wasFolge der Oppositionsvorschläge wäre.

Wem unser Vorschlag nicht hundertprozentig zusagt,wer das Haar in der Suppe sucht – das kann man immerfinden –, der müsste eigentlich spätestens dann über-zeugt sein, wenn er sich einmal kurz die Vorlagen derOpposition anschaut. Die Grünen, inzwischen auch dieLinken, fordern die Verrechnung der Überhangmandatemit Listenmandaten auf anderen Landeslisten; das ist be-kannt. Dann müssten die Überhangmandate, die zumBeispiel in Baden-Württemberg und Sachsen entstehenkönnten, dadurch kompensiert werden, dass man bereitsgewonnene Listenmandate in Nordrhein-Westfalen,Brandenburg oder anderswo abzieht. Das ist keine ge-rechte Lösung.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!)

Das ist eine grob ungerechte Lösung, gerade für die Län-der, die in der Regel keine Überhangmandate erhalten.Ich komme aus einem solchen Bundesland. Das ist eineföderalismusfeindliche Lösung. Die Länder werden dop-pelt bestraft: Sie erhalten keine Überhangmandate, undbeim Ausgleich müssen sie für die anderen auch nochsozusagen die Kompensation leisten. Das ist föderalis-musfeindlich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zugleich ist der Vorschlag bürgerfeindlich; denn erführt auch zu einer schlechteren Repräsentanz der Ein-wohner dieser Länder. Einige ganz konkrete Beispiele:Wäre bei der letzten Bundestagswahl Ihr Modell ange-wandt worden, hätte das dazu geführt, dass die CDU inBrandenburg trotz 327 000 Wählern nur ein einzigesBundestagsmandat erhalten hätte. In Brandenburg hattendie Grünen 77 000 Wähler und hätten auch ein Bundes-tagsmandat bekommen.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Da sieht man, wie die Grünen arbeiten!)

In Bremen hatte die CDU 81 000 Wähler und hätte keineinziges Bundestagsmandat bekommen. Ich kann durch-aus verstehen, dass die Grünen diesen Vorschlag gut fin-den, wenn sie dadurch in Brandenburg mit 77 000 Stim-

men genauso viele Mandate bekommen wie die CDUmit 327 000 Stimmen. Aber dies ist nicht fair. Deswegenkönnen wir diesen Vorschlag nicht umsetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Noch absurder ist natürlich, wenn man, wie auch vor-geschlagen, direkt gewählten Abgeordneten das Mandatzur weiteren Kompensation von Überhangmandaten ab-nehmen will. Auch das ist Teil des grünen Vorschlags.

(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Ungeheuer-lich!)

Das wäre wirklich Gift für die Akzeptanz des Wahl-rechts in Deutschland. Wir haben oft über möglicheSargnägel für die Demokratie gesprochen. Das wäre einsolcher Sargnagel. Das, was Grüne und Linke hier vor-geschlagen haben, erinnert – das müssen wir in allerSachlichkeit sagen – ein bisschen an den Arzt, der stolzverkündet: Die Operation – nämlich die Beseitigung desnegativen Stimmgewichts – ist geglückt, nur leider istder Patient Demokratie dabei verstorben. – Das wollenwir nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU – ThomasOppermann [SPD]: Das ist aber weit herge-holt!)

Eine brauchbare Alternative stellt im Ergebnis auchder Vorschlag der SPD nicht dar, einen Ausgleich vonÜberhangmandaten vorzunehmen. Er löst das selbstge-stellte Problem nicht. Was ist negatives Stimmgewicht?Negatives Stimmgewicht heißt: Wenn x Stimmen füreine Partei A weniger abgegeben werden, bekommt siedadurch einen Sitz mehr. Das ist zugegebenermaßen einwidersinniges Ergebnis. Genau das Problem lösen Sienicht. Bei Ihrem Vorschlag besteht es weiter: Es werdenx Stimmen weniger abgegeben, und die Partei bekommttrotzdem einen Sitz mehr. Genau dieses Phänomen ge-hen Sie nicht an.

(Thomas Oppermann [SPD]: Das wird alles am Ende ausgeglichen!)

Das Verfassungsgericht hat aber nicht gesagt, dass dasnegative Stimmgewicht ausgeglichen werden soll, es hatgesagt, dass es beseitigt werden soll.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist der entscheidende Punkt!)

Der zweite Nachteil dieser Lösung ist, dass sie zu ei-ner drastischen Vergrößerung des Bundestages, durchausauch im dreistelligen Bereich, führen würde. Der Vor-schlag, dafür die Zahl der Wahlkreise zu reduzieren, istvielleicht gut gemeint, Herr Oppermann, wäre aber eineVerschlimmbesserung. Denn die Direktwahlkreise in un-serem Land sind ein ganz entscheidendes Bindegliedzwischen Bürger und Bundestag. Die Direktwahlkreisesind das Fundament für die Akzeptanz und Bürgernäheunserer Politik. Eine Verringerung der Zahl der Direkt-wahlkreise würde zu weniger Bürgernähe führen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

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Dr. Günter Krings

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Der Hauptunterschied zwischen den Vorschlägen derOpposition und unserem Gesetzentwurf als Regierungs-koalition ist: Wir wollen zentral das negative Stimmge-wicht beseitigen.

(Zuruf der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])

Sie wollen die Überhangmandate beseitigen. Man kannsich – das sage ich ganz ausdrücklich – darüber unter-halten, wie man mit Überhangmandaten umgeht, obman vielleicht einen Teilausgleich vornimmt. Das allessind Überlegungen, die man politisch anstellen kann.Aber – das sage ich noch einmal – das reicht nicht aus,um das Problem des negativen Stimmgewichts, so wiedas Bundesverfassungsgericht es versteht, zu lösen.

Eines ist nicht in Ordnung: hier so zu tun, als ob dereinzige Weg, das Problem des negativen Stimmgewichtszu lösen, ein Angriff auf die Überhangmandate ist. Wirsollten uns gemeinsam davor hüten, die Gerichtsent-scheidung dafür zu missbrauchen, ein politisches Ziel,über das man politisch streiten kann, mit verfassungs-rechtlichen Weihen zu versehen. Das ist nicht fair undangemessen gegenüber dem Bundesverfassungsgericht,das eine verfassungsrechtliche Entscheidung und keinepolitische Grundentscheidung getroffen hat.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Im Deutschen Bundestag – das sage ich mit Blick aufdie Überhangmandate sehr deutlich – gibt es keine Ab-geordneten erster und zweiter Klasse. Auch die Abge-ordneten, die ihr Mandat einem Überhangmandat zu ver-danken haben, sind vollwertige Mitglieder unseresHauses. Das wird durch die Vorschläge der Oppositionein wenig infrage gestellt. Unser Wahlrecht basiert aufErst- und Zweitstimmen. Ein integraler Bestandteil die-ses Systems sind die Überhangmandate.

Das hat auch einmal in weiten Teilen die Oppositionso gesehen, die SPD und auch die Grünen. Ich darf daranerinnern, dass fast jahrzehntelang der Hauptprofiteur derÜberhangmandate die SPD war. Ich darf daran erinnern,dass ein gewisser Gerhard Schröder als Bundeskanzler2001 hier in diesem Hause nur deshalb die Vertrauens-frage gewonnen hat, weil er Überhangmandate hatte. DieMehrheit war so knapp, dass er ohne diese Überhang-mandate nach den Wahlen 1998 und 2002 nicht Bundes-kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewesen wäre.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wäre nicht schlimm gewesen!)

Wir hätten das nicht bedauert; ich möchte das nur einmalso feststellen.

Ich komme zu meiner letzten Bemerkung. Es gibt im-mer Alternativen in der Politik. Wir werden schauen, obes Brücken zwischen den Vorschlägen gibt. Dazu wirdes Gespräche und ein Anhörungsverfahren geben; das istselbstverständlich.

Ich möchte noch kurz ein gemeinsames Anliegen er-wähnen, das wir in diese Gespräche einbringen wollen.Wir wollen den subjektiven Rechtsschutz im Wahlver-fahren einführen; diesen gibt es zurzeit in Deutschland

nicht. Das ist ein weißer Fleck auf der RechtsschutzkarteDeutschlands. Darüber sollten wir uns in allen Fraktio-nen einig sein. Wir hatten überlegt, das in diesen Gesetz-entwurf aufzunehmen; das ist übrigens eine der Ursa-chen, warum wir diesen Vorschlag relativ spät vorlegen.Uns ist dann klar geworden, dass dies zu komplex undschwierig wäre; es erfordert vielleicht sogar eine Grund-gesetzänderung.

Von daher freue ich mich auf die Gespräche zur Frageeines negativen Stimmgewichts, aber auch zur Einfüh-rung eines Rechtsschutzes in Bezug auf Wahlsachen inDeutschland.

Ganz herzlichen Dank.(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Sehr überzeu-gend!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat der Kollege Thomas Oppermann von

der SPD-Fraktion.

Thomas Oppermann (SPD):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute ist

der 30. Juni. Heute läuft die vom Bundesverfassungsge-richt vor drei Jahren gesetzte Frist zur Reparatur desWahlrechts ergebnislos ab.

(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Aber erst um24 Uhr! – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]:Noch ist alles richtig!)

Das hat schwerwiegende Konsequenzen. Wir haben imAugenblick in Deutschland kein Wahlrecht, das ange-wendet werden kann.

(Zuruf von der CDU/CSU: Stimmt nicht! – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Schämt euch!)

Auf der Basis dieses Wahlrechts kann keine Bundestags-wahl mehr durchgeführt werden. Eine Wahl, die durch-geführt werden würde, wäre ungültig. Der Bundestagmüsste aufgelöst werden, und es gäbe dann nicht einmalmehr ein Parlament, das ein verfassungsgemäßes Wahl-recht verabschieden könnte. In diese groteske Situationhaben Sie den deutschen Parlamentarismus gebracht.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Früher haben die Politiker von Union und FDP immerdie rechtsfreien Räume in der Gesellschaft kritisiert.Wenn Hausbesetzer sich anmaßten, ein Haus zu beset-zen, hat Herr Uhl gesagt: Das ist ein rechtsfreier Raum,den dürfen wir nicht dulden.

(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Das gab es in München nie!)

Heute schaffen Sie – nicht in der Gesellschaft, abermitten im Staat, im Bereich des für die Demokratie kon-stitutiven Wahlrechts – einen rechtsfreien Raum in unse-rer Demokratie. Das ist ein unerträglicher Zustand, denSie da geschaffen haben.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Reinhard

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13490 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Thomas Oppermann

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Grindel [CDU/CSU]: Parlamentarische Haus-besetzung! – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]:Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich!)

Wer eine dreijährige Frist des Bundesverfassungsge-richts nicht respektiert, der missachtet unsere Demokra-tie und unsere Verfassung. Und er zeigt eine beispielloseRespektlosigkeit gegenüber dem Bundesverfassungs-gericht.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ReinhardGrindel [CDU/CSU]: Sagen Sie einmal etwaszur Sache!)

Ich komme nun zu dem Gesetzentwurf, den Sie einge-bracht haben. Das ist kein Gesetzentwurf zur Reform un-seres Wahlrechts, sondern ein Gesetzentwurf zur Ab-sicherung eines machtpolitischen Sondervorteils inGestalt von Überhangmandaten. Das ist das einzige Ziel,das Sie verfolgen.

(Beifall bei der SPD)

Wir hatten bisher in Deutschland ein einheitlichesWahlgebiet: Das deutsche Volk wählte den DeutschenBundestag. Sie spalten jetzt das einheitliche Wahlgebietin 16 verschiedene Wahlgebiete auf. Mal werden dieseWahlgebiete getrennt, dann werden sie an anderer Stellebemerkenswerterweise wieder miteinander verbunden.

(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: In Bayern war das schon immer so!)

Das ist ein dürftiges Notkonstrukt, das den Anforderun-gen des Bundesverfassungsgerichts in keiner WeiseRechnung trägt.

(Beifall des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr. Günter Krings[CDU/CSU]: Oh doch!)

Ich will Ihnen einmal ein Beispiel nennen. Sie erfin-den jetzt sogar ein ganz neues negatives Stimmgewicht.Bisher gab es das nur im Zusammenhang mit Überhang-mandaten.

(Dr. Peter Danckert [SPD]: Not macht erfinde-risch!)

Jetzt aber beziehen Sie in die Verteilung der Mandate aufdie Länder – mit weitreichenden Folgen – auch die Stim-men ein, die nach dem geltenden Wahlrecht unter denTisch fallen würden, weil die entsprechenden Parteienkeine 5 Prozent erreicht haben.

Die 58 000 Wählerinnen und Wähler, die 2009 inBerlin die Piratenpartei gewählt haben, wollten die Pira-tenpartei wählen. Jetzt würden diese Stimmen aber mit-zählen – mit der Konsequenz, dass das Land Berlin einMandat mehr als bei der letzten Wahl bekäme.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Nicht schlecht, oder? Was haben Sie gegen Berlin?)

Innerhalb von Berlin entfiele dieses Mandat auf die Grü-nen. Ich unterschätze die Wähler der Piratenpartei nicht;aber sie wollen ganz sicher eines nicht: Sie wollen nicht,

dass ihre Stimme dazu führt, dass die Grünen ein Man-dat mehr bekommen.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Eher als die SPD!)

Das ist die Konsequenz Ihres Wahlrechts bzw. des nega-tiven Stimmgewichts, das Sie ganz neu in unser Wahl-recht einbringen wollen.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Darüber können wir reden!)

Damit werden Sie vor dem Bundesverfassungsgerichtkeinen Erfolg haben.

Sie trennen die Wahlgebiete, um die Wanderung vonMandaten zwischen Landeslisten zu unterbinden. Dannaber müssen Sie die 16 Wahlgebiete wieder verbinden,weil Sie eine bundeseinheitliche 5-Prozent-Klausel bei-behalten wollen.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hü und hott!)

Sie müssen das auch verbinden, weil die FDP unbedingtdie Verwertung der Reststimmen haben möchte.

(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Da hat er komplett recht!)

Die CDU trennt, damit sie die Überhangmandate behal-ten kann. Die FDP verbindet, damit die Reststimmenverwertet werden können.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Rest-FDP!)

Jeder von Ihnen will bei der Gestaltung des Wahlrechtsauf seine Kosten kommen.

(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das ist ja eineResteverwertungskoalition! – Gegenruf desAbg. Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Wosind denn eure Reste?)

Ich sage Ihnen: Das Wahlrecht ist nicht dazu da, dassdie Parlamentsmehrheit auf ihre Kosten kommt, sonderndas Wahlrecht ist Ausdruck des großen Versprechens derDemokratie. Das große Versprechen der Demokratie istdie Gewährleistung des gleichen Wahlrechts für alleWahlbürgerinnen und Wahlbürger. Das bedeutet, ihreStimme muss das gleiche Gewicht haben.

(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Eben! Das wollen wir auch!)

Es darf kein doppeltes Stimmgewicht geben. Überhang-mandate bedeuten aber im Ergebnis ein doppeltesStimmgewicht, nämlich für Wählerinnen und Wählervon Abgeordneten, die ein Überhangmandat gewinnen.Ich sage Ihnen: Wir wollen die Überhangmandate ab-schaffen und dieses Problem in der politischen Aus-einandersetzung lösen.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr resigna-tiv!)

Wenn Sie Überhangmandate im Wahlrecht verankernund absichern wollen, wird der politischen Debatte einejuristische Auseinandersetzung vor dem Bundesverfas-sungsgericht folgen.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13491

Thomas Oppermann

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(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Machen wires doch erst einmal hier! Reden wir erst malpolitisch! Das Juristische kommt dann später!)

Jetzt ist der Zeitpunkt, zu handeln. Am Ende könnte esallerdings darauf hinauslaufen, dass das Bundesverfas-sungsgericht die Verfassungsmäßigkeit von Überhang-mandaten abschließend klären muss.

Ich sage Ihnen ganz kurz, warum wir Überhangman-date für verfassungswidrig halten. Das hat vier Gründe:

Der erste Grund ist das doppelte Stimmgewicht, dasich schon erwähnt habe.

Zweitens führen Überhangmandate zu einer massivenregionalen Umverteilung bzw. Ungleichverteilung derMandate. So hat Baden-Württemberg bei der letztenBundestagswahl zehn Überhangmandate erhalten, fürdie man dort aber überhaupt keine Zweitstimmen be-kommen hat.

Drittens beeinträchtigen Überhangmandate die Chan-cengleichheit der Parteien. Die SPD musste bei der letz-ten Bundestagswahl im Durchschnitt 68 500 Stimmenerhalten, um ein Mandat zu gewinnen. Die Union bekamein Mandat schon bei 61 000 Stimmen. Das ist ein Son-dervorteil, der nicht legitimiert ist.

(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Dann müsst ihr eure Kandidaten besser aufstellen!)

Viertens können Überhangmandate schlimmstenfallssogar die Zweitstimmenmehrheit umdrehen. Das wäre inder Tat eine Situation, in der die Menschen das Ver-trauen in die Funktionsfähigkeit unserer Demokratieverlieren würden. Wir werden ein Wahlgesetz, das Über-hangmandate weiter absichert, dem Bundesverfas-sungsgericht zur Überprüfung vorlegen; das sage ich Ih-nen schon jetzt.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Genau!)

Von Ihnen erwarten wir, dass Sie diesen Gesetzent-wurf schnell mit Ihrer Mehrheit verabschieden, damitwir genügend Zeit für die gerichtliche Überprüfung ha-ben.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wollen wirnicht erst noch einmal darüber reden, HerrOppermann?)

Das Wahlrecht muss klar, einfach und manipulationsfreiausgestaltet werden. Wenn die Koalition die Machtpoli-tik über das Verfassungsrecht stellt, dann werden wir dieHilfe des Bundesverfassungsgerichts suchen und ein de-mokratisches, gleiches Wahlrecht für alle Bürgerinnenund Bürger in Deutschland erwirken.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Ruppert von der

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Stefan Ruppert (FDP):Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ein relativ bekannter Verfassungsrechtler hat ge-sagt, dass eine Entscheidung des Bundesverfassungsge-richts vorliegt, die uns in die Lage versetzt, dasbestehende Wahlrecht abschaffen zu müssen. Damitwollten wir uns nicht zufriedengeben. Wir waren derMeinung, das Wahlrecht der Bundesrepublik Deutsch-land hat sich bewährt. Es ist in seinen Grundzügen zu er-halten. Ich glaube, es ist lohnend, darüber nachzuden-ken, wie man es erhalten kann. Wir haben daszugegebenermaßen lange getan.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu lange!)

Aber die Aufgabe war sehr kompliziert.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir haben inzwischen eine Lösung gefunden – dasmuss man Herrn Oppermann entgegnen –, die vielerleiVorteile hat. Sie hat ein unitarisches Element, weil siedie Fünfprozenthürde auf Bundesebene erhält. Sie hatein föderales Element, weil sie, das Prinzip des negati-ven Stimmgewichts beseitigend, 16 Wahlgebiete kennt.Allerdings berücksichtigt sie – das ist der dritte Aspekt –den gleichen Erfolgswert der Stimmen, weil sie in denkleiner werdenden Wahlgebieten auch die unter denTisch fallenden Stimmen im Rahmen einer Reststim-menverwertung zu Mandaten werden lässt.

(Thomas Oppermann [SPD]: Überlaufman-date!)

Es wäre ein echtes verfassungsrechtliches Problem,wenn wir 16 Wahlgebiete und damit 16-mal Rundungs-ungenauigkeiten bei der Mandatsverteilung schaffenwürden, ohne die dann unter den Tisch fallenden Stim-men einer Reststimmenverwertung zuzuführen.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Dann gehen Sie doch einfach ei-nen anderen Weg! Dann haben Sie das Pro-blem nicht!)

Insofern ist die bestehende Lösung mit einem unitari-schen, einem föderalen Element und einem Element desgleichen Erfolgswerts jeder Stimme eine sachgerechteLösung.

Ich höre, wir hätten eine Staatskrise oder kein verfas-sungsgemäßes Wahlrecht.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das stimmt ja wohl!)

Ich will Sie jetzt nicht mit den Einzelheiten juristischerPräzision behelligen. Aber erstens haben wir ein Wahl-recht,

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber ein verfassungswidriges!)

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zweitens sind wir zu diesem Zeitpunkt bei der ersten Le-sung, und drittens haben wir die Möglichkeit, innerhalbder Fristen der Auflösung für den Bundestag jederzeitein verfassungsgemäßes Wahlrecht abschließend herzu-stellen. Sie sollten das Wort „Staatskrise“ für wirklichernsthaftere Problemlagen verwenden, anstatt es so in-flationär zu benutzen und somit zu entwerten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Leider erliegen Sie dem politischen Reflex, die Wahl-rechtsfrage nach der bestehenden politischen Wetterlageund den politischen Umfragewerten anzugehen. Sie ha-ben nicht das Selbstbewusstsein, zu glauben, dass Sie ir-gendwann einmal wieder erstarken.

(Thomas Oppermann [SPD]: Das ist souverän!)

Sie haben auch nicht das Selbstbewusstsein, zu sehen,dass Sie in der Vergangenheit durchaus zahlreiche Über-hangmandate gewonnen haben. In 60 Jahren haben Siesich nie über Überhangmandate beschwert. Sie habenüber 60 Jahre lang davon profitiert. In schweren PhasenIhrer Partei hat sich Rot-Grün auf diese Mandate verlas-sen; Herr Krings hat das schon gesagt. Herr Schröder istnur deswegen im Amt geblieben, weil Sie diese Mandatehatten. Jetzt spielen Sie sich aufgrund der aktuellen Wet-terlage plötzlich zum Bekämpfer dieser Mandate auf.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Man muss einmal sagen: Die SPD hat in drei Jahrenkeine Lösung des Problems vorgelegt.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Was?)

Sie haben vielmehr ihre gesamte Kraft darauf verwen-det, zu behaupten, das Problem sei nicht das negativeStimmgewicht, sondern das Problem seien die Über-hangmandate. Sie versuchen der geneigten Öffentlich-keit vorzuführen, dass wir ein Problem A und ein Pro-blem B haben.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ja!)

Das Bundesverfassungsgericht hat uns zwar die Lösungdes Problems A aufgegeben. Sie aber wollen sich lieberdem Problem B – den Überhangmandaten – widmen.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ja, weil das zusammenhängt und daseine durch das andere entsteht!)

Wenn wir die Wahl 2005, die Nachwahl in Dresden,nicht unter dem damaligen Wahlrecht, sondern unterdem Wahlrecht, das die SPD jetzt vorschlägt, durchge-führt hätten, dann hätte die Union trotz weniger Stim-men noch immer ein Mandat mehr bekommen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Da hören Sie es! So ist es!)

Da muss man sich doch folgende Kontrollfrage stellen:Entfällt dann nicht der Klagegrund für die Klage beimBundesverfassungsgericht?

(Thomas Oppermann [SPD]: Ja!)

Die Antwort ist Nein.

(Thomas Oppermann [SPD]: Nein! Falsch!)

Wer auf eine solche Weise mit den uns gestellten Aufga-ben umgeht, der ist, was diese Frage angeht, meinerMeinung nach nicht in der Position, zu kritisieren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Gisela Piltz [FDP]: So viel zur Ehrlichkeit derSozialdemokraten!)

Es fällt mir schwer, dies zu sagen: Den einzigen dis-kutablen Entwurf aus Oppositionskreisen hat die Linkeeingebracht.

(Beifall bei der LINKEN)

Dass in Ihrem Entwurf direkt gewählte Mandate,

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das sind doch keine Mandate!)

also Mandate mit einer sozusagen größtmöglichen Legi-timation, schlicht entfallen – so haben es die Grünenvorgeschlagen – und ganze Wahlkreise in Deutschlandüberhaupt keinen Abgeordneten haben, zeigt, dass essich hierbei nicht um einen verfassungsrechtlich satis-faktionsfähigen Vorschlag handelt. Es erübrigt sich da-her von selbst, darüber zu diskutieren. Die Linken lösendas Problem, dass ein ganzer Wahlkreis kein Mandat hat,indem sie sagen: Wir gleichen es aus. Dieses Vorgehen– das ist es, was aus unserer Sicht dagegen spricht –zieht aber einen enormen Hebel für die Vergrößerungdes Bundestages nach sich.

(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Auf Bun-desebene!)

Sie würden einen enorm vergrößerten Bundestag schaf-fen. In gewissen Konstellationen wären es gegebenen-falls 100 bis 120 zusätzliche Mandate. Stellen Sie sichvor, eine Partei erreicht beim ersten Mal 8 Prozent undbeim zweiten Mal 10 Prozent. Weil es aber keine Aus-gleichsmandate mehr gibt, hat sie beim zweiten Mal2 Prozent mehr und trotzdem weniger Mandate.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Kann doch passieren!)

Das sind alles Ungenauigkeiten, die man Ihnen nichtdurchgehen lassen kann.

Am Ende bleibt zu sagen: Das Wahlrecht der Bundes-republik Deutschland hat sich in allen Grundzügen be-währt. Anders, als Sie es glauben, sind Überhangman-date bis zu einer Größenordnung von 5 Prozent vomVerfassungsgericht nicht beanstandet worden. In der ak-tuellen Entscheidung, die wir heute diskutieren, wurdesogar gesagt, dass sie explizit zulässig sind.

Insofern ist mein Petitum: Lasst es uns um ein weite-res Element des subjektiven Wahlrechtsschutzes ergän-zen. Wir haben in der Tat lange gebraucht. Aber dafürhat die Koalition auch ein gutes Ergebnis erzielt, nichtnur, was den Stil der Zusammenarbeit angeht. Wir habentrotz zum Teil unterschiedlicher Interessenlage – dasliegt bei kleinen und großen Parteien in der Natur derSache – mit der CDU/CSU gut zusammengearbeitet. Wir

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haben einen tollen Vorschlag, mit dem wir stolz in dieÖffentlichkeit treten können. Ich glaube, die Bundesre-publik Deutschland hat ein gutes Wahlrecht, wenn wirdiesen Gesetzentwurf beschließen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat die Kollegin Halina Wawzyniak von der

Fraktion Die Linke.

Halina Wawzyniak (DIE LINKE):Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Bevor wir in die Einzelheiten des Koalitionsent-wurfs einsteigen, möchte ich noch einmal sehr deutlichauf etwas hinweisen, was der Kollege Oppermann schongesagt hat: Wir haben mit dem Ablauf des heutigen Ta-ges kein verfassungsgemäßes Wahlrecht mehr. Ich finde,das ist für eine Demokratie, das ist für unser Land einSkandal. Es ist eine Missachtung des Verfassungsge-richts und des Parlaments. Da hilft es Ihnen auch nicht,dass wir heute die erste Lesung haben;

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD)

denn erstens beschließen wir heute nichts, sondern wennwir etwas beschließen, dann tun wir das nach der Som-merpause.

Zweitens wirft der von Ihnen vorgelegte Gesetzent-wurf erhebliche Zweifel an der Verfassungsgemäßheitauf. Sie selbst schreiben auf Seite 11 in der Begründungzu Ihrem Gesetzentwurf, dass das negative Stimmge-wicht nicht abgeschafft wird, sondern nur erheblich redu-ziert wird. Im Laufe der 35-seitigen Drucksache gibt esnoch verschiedene andere Formulierungen. Fakt bleibtaber, das negative Stimmgewicht wird gerade nicht aus-geschlossen.

Drittens ist in Bezug auf Ihren Gesetzentwurf, zumin-dest was den berühmten § 6 Abs. 2 a – das ist die soge-nannte Reststimmenverwertung – angeht, völlig unklar,ob er dem Gebot der Normenklarheit genügt. Das wageich ernsthaft zu bezweifeln. Im Übrigen wird auch aufder Seite wahlrecht.de heftig darüber gestritten. Daskönnte man hier einmal vorlesen. Ich glaube, dann hät-ten wir sehr viele Fragezeichen hier im Raum.

Fakt ist: Bei Ihrem Gesetzentwurf ist völlig unklar,was der Wähler und die Wählerin mit seiner oder ihrerStimme erreicht. Richtig ist: Ihr Gesetzentwurf ist einLösungsvorschlag. Dankenswerterweise haben Sie ge-schrieben, dass es einer von vielen möglichen Lösungs-vorschlägen ist. Sie setzen darauf, dass wir – ich machees jetzt einmal sehr einfach – 16 getrennte Wahlgebietehaben, die Landeslisten nicht als verbunden gelten. Ent-sprechend der Wählerbeteiligung werden die Sitze aufdie Länder umgelegt. Dann werden die Zweitstimmen,die eine Partei erreicht hat, auf die Länder umgerechnet.Dann erhält man eine bestimmte Zahl von Mandaten,von der die Direktmandate abgezogen werden.

(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Sie haben es doch verstanden!)

Dann gibt es noch den Reststimmenausgleich. Wenn ichden jetzt erklären würde, wäre meine Redezeit zu Ende.Der ist nämlich so kompliziert, dass ihn tatsächlich kei-ner wirklich versteht.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wenn Sie esnicht verstehen, heißt das nicht, dass es keinerversteht!)

Ich will aber noch etwas zur Berliner Zweitstimmesagen. Das Problem, das Sie lösen wollen, besteht darin,dass Direktmandate errungen werden, die Partei, derenKandidaten diese Direktmandate gewinnen, danach abernicht ins Parlament kommt. Ich kann Ihnen versprechen:Es handelt sich um einen einmaligen Vorfall aus demJahre 2002, jedenfalls was unsere Partei angeht. Siekönnten das Problem auch dadurch lösen, dass Sie dieFünfprozenthürde abschaffen.

(Beifall bei der LINKEN)

Generell kann ich Ihnen sagen: Ihr Gesetzentwurfgreift zu kurz. Sie haben dankenswerterweise angespro-chen, dass in Ihrem Gesetzentwurf kein Wort zumRechtsschutz bei Nichtzulassung einer Partei auftaucht.Das ist völlig inakzeptabel. Ich verweise darauf, dassmeine Fraktion die einzige Fraktion ist, die einen kon-kreten Vorschlag dazu unterbreitet hat, wie man Rechts-schutz suchen kann, wenn man nicht zur Wahl zugelas-sen wird.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich will an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich fürden Vorschlag der Linken werben. Ich bedanke michauch für das Lob der FDP und empfehle sowohl Unionals auch FDP, noch einmal genauer nachzulesen. UnsereAusgleichsmandatsregelung bezieht sich auf die Bun-desebene. Wie Sie da auf 100 Mandate kommen, würdeich gerne einmal wissen.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ich habe Sie gar nicht angesprochen! Das war die SPD!)

Wir fordern das aktive Wahlrecht ab 16. Wir forderndas aktive Wahlrecht für Menschen, die seit fünf Jahrenhier legal in Deutschland leben.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Für verur-teilte Straftäter!)

Ferner fordern wir das Verbot von Wahlcomputern.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Her-ren, ich war heute Morgen gemeinsam mit dem KollegenOppermann bei der Übergabe von 4 100 Unterschriften,die Mehr Demokratie e. V. unter der Überschrift „Wäh-len ohne Überhang!“ gesammelt hat. Mein konkreterVorschlag an Sie von Union und FDP ist: Wenn Sie zuGesprächen über das Wahlrecht einladen, dann laden Siedoch auch Mehr Demokratie ein, damit deren Vertretermit am Tisch sitzen. Da ich von Mehr Demokratie e. V.Unterschriftenlisten bekommen habe und Sie heute Mor-

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Halina Wawzyniak

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gen nicht da waren, übergebe ich sie Ihnen jetzt undsage: Machen Sie was draus!

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat jetzt der Kollege Volker Beck von

Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koali-

tionsredner versuchen hier, die aktuelle schwierige Si-tuation wegzureden. Lesen Sie doch einmal die Wortedes ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsge-richts, Herrn Papier, zur Situation nach, die wir ab nullUhr morgen früh haben.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Er schreibt jetzt für jeden!)

Die Bundesrepublik Deutschland steht dann ohne einWahlrecht dar.

Herr Papier hat Ihnen die Konsequenzen ausgemalt.Er hat gesagt: Wenn ein Bundestag nach diesem verfas-sungswidrigen Wahlrecht gewählt werden würde, könntedie Wahl aufgrund einer Wahlprüfungsbeschwerde wo-möglich für ungültig erklärt werden.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wir wollen den Bundestag nicht auflösen!)

Eine Heilung des verfassungswidrigen Wahlgesetzesdurch den Bundestag selbst wäre dann eben nicht mehrmöglich.

(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Herr Beck, wir können nicht wählen!)

Das sind nicht meine Worte, sondern die des ehemaligenPräsidenten des Bundesverfassungsgerichts.

Ab morgen früh um null Uhr droht eine Staatskrise,wenn die Kanzlerin hier die Nerven verliert

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das wird nicht passieren!)

– bei dieser Koalition könnte ich es total verstehen,wenn ihr das passieren würde – und die Vertrauensfragestellt, die sie mit irgendeiner Vorlage verbindet – wo-möglich mit der Griechenlandhilfe – und dann verliert.Was ist dann los?

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Machen Sie es einfach ein bisschen kleiner!)

Das kann in der nächsten Woche passieren, das kannauch in der ersten Sitzungswoche im September passie-ren. Deshalb ist die jetzige Situation keine Kleinigkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dass Sie drei Jahre für diesen Gesetzentwurf ge-braucht haben, erklärt sich mir allerdings nicht.

(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Sie haben gar kei-nen!)

– Wir haben gar keinen? Unser Gesetzentwurf war dererste, der vorlag.

(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Das ist aber der schlechteste!)

Mit ihm würden das negative Stimmgewicht und dieProblematik der Überhangmandate eindeutig beseitigt.Das Bundesverfassungsgericht hat unseren Vorschlag inseinem Urteil zum negativen Stimmgewicht ausdrück-lich als einen möglichen Lösungsweg erwähnt. HerrRuppert, plustern Sie sich hier also nicht auf, sondern le-sen Sie das Urteil noch einmal nach.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. GünterKrings [CDU/CSU]: Wer plustert sich hierdenn auf?)

Wenn man Ihren Gesetzentwurf liest, wird einemübel. Das geht schon beim Wortlaut los. Es wird davongesprochen, dass sich die Anzahl der Sitze, die sich deneinzelnen Ländern zuordnen lassen, in Zukunft nach derZahl der Wähler in jedem Land richtet. Was meinen Siedenn jetzt? Meinen Sie die Wahlberechtigten in diesemLand oder die Leute, die die Stimme abgegeben haben?Wenn man schon drei Jahre lang über einen Gesetzent-wurf brütet, wäre ein bisschen mehr Normenklarheitschon angemessen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Günter Krings[CDU/CSU]: Wähler ist Wähler! Was verste-hen Sie an dem Begriff Wähler nicht?)

Wenn Sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichtsnachlesen, dann sehen Sie, dass es uns mit Blick darauf,dass das Bundeswahlgesetz ziemlich unverständlich ge-schrieben ist und dass der Gesetzgeber die Aufgabe an-nehmen sollte, das klarer und verständlicher zu formu-lieren, mit drei Jahren eine relativ lange Frist gegebenhat.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN – Thomas Oppermann[SPD]: Viel zu lang!)

Ein Beispiel aus Ihrem Gesetzgebungslabor ist § 6Abs. 2 a in Ihrem Gesetzentwurf. Der ist an Normenklar-heit und Verständlichkeit wirklich nur schwer zu toppen.Ich lese ihn deshalb auch vor

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sollen wir Ihren Text einmal vorlesen?)

– Sie haben das ja nicht getan, deshalb bleibt das mirüberlassen –:

Ist der Quotient aus der Summe der positiven Ab-weichungen der auf die Landeslisten einer Parteientfallenen Zweitstimmen von den nach Absatz 2Satz 6 für die errungenen Sitze erforderlichenZweitstimmen geteilt durch die im Wahlgebiet füreinen der zu vergebenden Sitze erforderliche Stim-menzahl größer als 0,5, werden den Landeslistendieser Partei mit der höchsten positiven Abwei-chung weitere Sitze nach Maßgabe des Absatzes 2Sätze 3 und 4 zweiter Halbsatz zugeteilt.

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Volker Beck (Köln)

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(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: VerschluckenSie sich nicht! – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Lesen kann er! Was verstehen Sienicht? – Gegenruf des Abg. Dr. DieterWiefelspütz [SPD]: Dass Sie das nicht verste-hen, ist klar!)

In einem solchen Falle erhöht sich die Gesamtzahlder Sitze (§ 1 Absatz 1) um die Unterschiedszahl.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist eine super Regelung und total verständlich.

Mit dieser Regelung in Abs. 2 a lösen Sie ein Pro-blem, das Sie durch die Aufteilung des Wahlgebietes in16 Länder zum Wohle der FDP selbst erst geschaffen ha-ben. Ich finde, wenn man einen solchen Vorschlagmacht, dann muss man auch für einen Ausgleich sorgen.Ansonsten würde das in der Tat bedeuten, dass die FDP7 oder 8 Prozent erreichen müsste, um überhaupt auf5 Prozent der Sitze zu kommen. Das wäre Ihnen gegen-über nicht fair. Sie sollen gegebenenfalls nach fairen Re-geln verlieren, nicht nach unfairen. Das konzediere ich.Das ist das Demokratieprinzip.

Aber warum wir neben den Überhangmandaten jetztnach dieser Regelung noch Überlaufmandate schaffensollen, mit denen der Bundestag vergrößert wird, stattuns an den Ausgleich der Überhangmandate zu machenoder die Überhangmandate, wie wir das vorschlagen, zubeseitigen, das verstehe wer will.

Das Entscheidende beim Wahlrecht ist doch, dass dieBürgerinnen und Bürger mit ihrer Stimme entscheiden,welche Parteien gemeinsam oder alleine im DeutschenBundestag über eine Mehrheit verfügen. Es darf nichtsein, dass die Mehrheit der Bürger eine Partei gewählthat und nachher eine andere Partei die Mehrheit derSitze hat. Dann bewirken wir Demokratiemüdigkeit, unddie Menschen sagen: Meine Wahl bewirkt gar nichts.

(Gisela Piltz [FDP]: Das ist wie mit Stuttgart 21!)

Irgendein wundersames Instrument im Wahlrecht führtzur Umkehrung der Ergebnisse. Das ist demokratiefeind-lich und zerstört die Grundlagen der parlamentarischenDemokratie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen doch zwei-mal gesagt, dass beim negativen Stimmgewicht dieÜberhangmandate das Problem sind. Ich zitiere aus demUrteil selbst:

Der von den Beschwerdeführern angegriffene Ef-fekt des negativen Stimmgewichts tritt im Zusam-menhang mit Überhangmandaten bei der Verteilungvon Mandaten auf verschiedene verbundene Lan-deslisten auf und beruht auf einem Zusammenspielder Normen …

Es folgen verschiedene Paragrafen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Beck, kommen Sie bitte zum Schluss.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Das Bundesverfassungsgericht hat am 25. Februar

2009 eine Wahlprüfungsbeschwerde zurückgewiesen,die die Überhangmandate betraf.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Beck, kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Das ist der letzte Satz, den ich zitiere – das ist die Be-

gründung –:

Die vom Beschwerdeführer aufgeworfene Frageder Verfassungswidrigkeit von Überhangmandatenwird sich nach einer Neuregelung der Problematikdes negativen Stimmgewichts nicht mehr in dergleichen Weise stellen.

Bei Ihnen stellt es sich in der gleichen Weise. Es wird le-diglich noch durch die Problematik der Überlaufmandategetoppt. Deshalb ist Ihr Gesetzentwurf keine Lösung desProblems. Er ist verfassungswidrig, und er ist schlechtgemacht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl von der

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Thomas Oppermann [SPD]: Können Sie denEntwurf noch herausreißen? – Dr. DieterWiefelspütz [SPD]: Haben Sie den Entwurfüberhaupt verstanden, Herr Uhl? – Gisela Piltz[FDP], an den Abg. Dr. Dieter Wiefelspütz[SPD] gewandt: Im Gegensatz zu Ihnen, ja!)

Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und

Kollegen! Ich erspare es mir, den Entwurf zu erklären,den ich für die CSU genauso miterarbeitet habe wie derKollege Ruppert und der Kollege Krings, die diesen Ge-setzentwurf auf hervorragende Weise erläutert haben.Ich will mich ganz kurz mit einigen Themen befassen.

Erster Punkt. Wir bedauern, dass sich unser Gesetz-entwurf aufgrund der Verweigerungshaltung der Grünenund der SPD nicht auf eine breite Mehrheit stützen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La-chen bei Abgeordneten der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir wollten einen breit aufgestellten Gesetzentwurf ha-ben, bei dem möglichst viele Fraktionen mitmachen.Herr Kollege Krings hat erläutert, warum es nicht mög-lich war, sich mit Ihnen zu einigen. Herr KollegeOppermann, die SPD will nicht das negative Stimmge-wicht, sondern die Überhangmandate abschaffen.

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13496 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Dr. Hans-Peter Uhl

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Ich komme damit zu meinem Hauptthema. Sie habenhier in Ihrer Rede so getan, als sei das Überhangmandatals solches Teufelszeug.

(Thomas Oppermann [SPD]: Soll ich Ihnen mal sagen, was Herr Kauder dazu sagt?)

Ich rechne Ihnen jetzt vor, was die SPD in 60 Jahren anÜberhangmandaten bekommen hat. In dieser Zeit hat sie34 Überhangmandate kassiert und vom Wähler dankendentgegengenommen. Da waren die Überhangmandategut. Jetzt auf einmal sollen sie Teufelszeug sein.

(Thomas Oppermann [SPD]: Sie waren da-mals auch nicht gut, aber hilfreich!)

Wir haben in dieser Zeit – das gebe ich zu – 38 Über-hangmandate bekommen, also 4 mehr.

Wir erinnern uns alle an die Wahl im Jahre 2002. Beider Wahl 2002 hat die SPD ganze 6 027 Zweitstimmenmehr als die Union gehabt. Wozu hat das bei den Man-daten geführt? Die 0,01 Prozent Vorsprung haben dankder Überhangmandate zu drei Sitzen Vorsprung geführt,die Sie dankend angenommen haben. Jetzt sollen genaudiese Überhangmandate Teufelszeug und verfassungs-widrig sein und sofort abgeschafft werden müssen.

Ich komme zu dem zweiten Punkt, um den es mirheute geht: Haben wir eine Staatskrise?

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Kollege Uhl, erlauben Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Oppermann?

Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU):Nein. Ich muss um 20 Uhr meine Frau abholen. Das

ist mir wichtiger, als Ihre Fragen zu beantworten.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das ist jedenfalls eine gute Begründung.

Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU):Sie reden ja immer von Familienpolitik. Mir ist das

wichtiger, als Ihre Fragen zu beantworten.

Lassen Sie mich zum nächsten Punkt kommen. Habenwir eine Staatskrise? Der Pensionär Jürgen Papier hatsich in der Bild-Zeitung dazu verstiegen, diese Dinge aufhysterische Weise zu dramatisieren.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Er war damals Ihr Vorschlag!)

Wir haben in der Tat ab heute Nacht kein Wahlrechtmehr. Herr Beck spinnt das weiter und glaubt, es könn-ten jemandem die Nerven durchgehen, und wir würdenden Bundestag auflösen und die Wahl vorziehen.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Jeder glaubt das hier!)

Ich rate Ihnen, Herr Oppermann: Sparen Sie sich dasFraktionsgeld und geben Sie kein Gutachten bei Herrn

Papier in Auftrag. Ich kann das gleich jetzt in meinerRede erledigen. In Art. 39 Abs. 1 Satz 4 des Grundgeset-zes heißt es sinngemäß: Wenn der Bundestag aufgelöstwird, hat man 60 Tage Zeit bis zur Neuwahl.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Niemand hat die Absicht, den Bundestag aufzulösen!)

Sollten wir in der Sommerpause auf den abenteuerli-chen Gedanken kommen, den Bundestag aufzulösen,dann treffen wir uns am 5. September zur Anhörungwieder. Heute ist die erste Beratung. Am 5. Septemberfindet die Anhörung statt. Wenn wir tatsächlich an dieAuflösung des Bundestags denken sollten, könnten wirdann im Laufe des Septembers oder Oktobers in allerRuhe zur Tat schreiten. Vorher führen wir die zweite unddritte Beratung durch. Dann schreiten wir zur Wahl.

(Gisela Piltz [FDP]: Machen Sie sich keine Hoffnung!)

Ich sehe nirgends den Hauch einer Krise, die Siegerne hätten. Sie wollen nämlich dramatisieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich meine ganz ernsthaft, wir sollten das Wahlrecht,das in der Tat kompliziert ist – nicht nur der Paragraf,den Herr Beck vorgelesen hat, ist kompliziert; das giltauch für viele andere Paragrafen im geltenden Recht –,beibehalten. Es verbindet Elemente des Verhältniswahl-rechts mit dem Mehrheitswahlrecht. Das betrifft den di-rekt gewählten Abgeordneten. Wir Bayern sind stolz da-rauf, in Bayern alle Wahlkreise gewonnen zu haben. Vonden Grünen nickt mir nur einer zu, und zwar HerrStröbele. Auch ihm ist es gelungen, einen Wahlkreis di-rekt zu gewinnen. Wir wissen, was das heißt, und sindstolz darauf. Das muss so bleiben.

Wir haben aber auch ein Verhältniswahlrecht.

(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Denken Sie an Ihre Frau, Herr Uhl!)

Das Verhältniswahlrecht führt dazu, dass in allen Län-dern nach dem Proporz ein Ausgleich zu den direkt ge-wählten Abgeordneten stattfindet. Das ist gut so. Wirsollten dieses System beibehalten und nur minimalinva-siv das bizarre Ergebnis des negativen Stimmgewichtsbeseitigen und ansonsten bei unserem bewährten Wahl-recht mit Überhangmandaten bleiben, Herr Oppermann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Grüßen Sie IhreFrau!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich das Wort der Kollegin Gabriele Fograschervon der SPD-Fraktion, die auch schon am Rednerpultsteht.

Gabriele Fograscher (SPD):Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Herr Uhl muss Termine einhalten. Das ist auch gutso. Es wäre aber auch gut gewesen, wenn diese Koalition

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Gabriele Fograscher

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den Termin des Bundesverfassungsgerichts eingehaltenhätte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Tatsache ist, dass wir uns ab morgen in einem rechts-freien Raum befinden. Wir haben dann kein verfassungs-mäßiges Wahlrecht mehr.

Wer geglaubt hat, dass Sie aufgrund der langen Zeitfür Beratungen einen besonders guten, die Probleme desWahlrechts lösenden und die Auflagen des Bundesver-fassungsgerichts erfüllenden Vorschlag vorgelegt haben,

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Der sieht sich bestätigt!)

der ist enttäuscht. Sie täuschen auch.

(Beifall bei der SPD)

Der von Ihnen vorgelegte Vorschlag zielt nämlichnicht darauf ab, das Wahlrecht transparenter und für dieBürgerinnen und Bürger nachvollziehbarer zu machen.Ihr Vorschlag, liebe Kolleginnen und Kollegen derCDU/CSU, dient der Absicherung Ihrer Überhangman-date und beinhaltet einen kleinen, aber merkwürdigenKompromiss zur Befriedung Ihres kleinen Koalitions-partners.

Jetzt, fast genau drei Jahre nach dem Urteil des Bun-desverfassungsgerichts, erklärten Sie sich in der letztenAusschusssitzung bereit, unserem Antrag zu folgen undeine Anhörung zum Wahlrecht im Innenausschussdurchzuführen. Diese findet in der ersten Sitzungswochenach der Sommerpause statt. Das alles hätten wir schonviel früher haben können bzw. viel früher haben müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

All Ihren verbalen Beteuerungen in der letzten Debattezum Trotz haben Sie keinen breiten Konsens im Hausegesucht, obwohl dies beim Wahlrecht immer gute Tradi-tion war. Sie haben keine Berichterstattergespräche unterHinzuziehung von Sachverständigen organisiert. UnsereGesprächsangebote haben Sie abgelehnt.

Was passiert jetzt? Sie wollen mit Ihrer Mehrheit eineWahlrechtsänderung zu Ihrem eigenen Vorteil durchset-zen. Dazu werfen Sie in Ihrem Vorschlag neue verfas-sungsrechtliche Fragen auf. Bei der Bundestagwahlwählt das unitarische Bundesvolk. Dieses Prinzip bre-chen Sie auf, da Sie Länder zu getrennten Wahlgebietenmachen wollen. Die Verrechnung der Reststimmen er-folgt wiederum bundesweit über Zusatzmandate. Wir be-streiten, dass Ihr Vorschlag das negative Stimmgewichtrestlos beseitigt. Ihr Vorschlag fördert weiterhin das Ent-stehen von Überhangmandaten und das Stimmensplit-ting. Dies widerspricht der Gleichheit des Erfolgswertsjeder Stimme.

In dieser Wahlperiode machen Ihre 24 Überhangman-date 4 Prozent der Mitglieder des Bundestages aus; dasist fast Fraktionsstärke. Damit entspricht Ihr Anteil anZweitstimmen nicht Ihrem Anteil an Mandaten. DieMehrheitsverhältnisse werden verzerrt. Die Überhang-

mandate führen auch zu einer regionalen Ungleichvertei-lung der Mandate. Die CDU in Baden-Württemberg hatzehn Überhangmandate und damit mehr Gewicht imBundestag, als ihr nach Zweitstimmen zusteht. Zudembrauchte die CDU 6 500 Stimmen weniger als die SPD,um ein Mandat bei der letzten Bundestagswahl zu errin-gen. Das widerspricht dem Prinzip der Gleichheit derStimme. Bei einem anzunehmenden Anwachsen derÜberhangmandate wird sich dieses Problem noch ver-schärfen.

Diese Fragen werden wir in der Sachverständigenan-hörung erörtern müssen. Dann werden auch Sie feststel-len, dass Ihr Gesetzentwurf nicht taugt, um den Auflagendes Bundesverfassungsgerichts gerecht zu werden undden Geboten von Transparenz und Gleichheit der Stimmenachzukommen. Die Anhörung wird zeigen, dass Ihr Vor-schlag ein misslungener Versuch ist, die Probleme unse-res Wahlrechts zu lösen. Ihr Vorschlag macht das Wahl-recht nicht transparenter und nicht nachvollziehbarer fürdie Bürgerinnen und Bürger. Er verletzt den Grundsatzder Gleichheit der Stimme. Er konterkariert das Prinzipder unitarischen Bundestagswahl. Er schafft das Problemdes negativen Stimmgewichts nicht ab. Er löst nicht dieFrage der Überhangmandate.

(Beifall bei der SPD)

Die Süddeutsche Zeitung vom 27. Juni nennt IhrenVorschlag „selbstsüchtige Wahlrechtsreform“. Ich for-dere Sie auf: Geben Sie diesen Vorschlag auf, und bemü-hen Sie sich endlich ernsthaft um eine breite Akzeptanzder Wahlrechtsreform.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/6290 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist das so beschlossen.

Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 7 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten BeateMüller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Tarifvertragssystem stärken – Allgemeinver-bindliche Tariflöhne und branchenspezifischeMindestlöhne erleichtern

– Drucksache 17/4437 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Tourismus

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall.

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

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Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin das Wort der Kollegin Beate Müller-Gemmeke vonBündnis 90/Die Grünen.

Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Bundeskanzlerin Merkel hat kürzlichbei der ILO-Konferenz in Genf die deutsche Sozialpart-nerschaft gelobt, und auch Sie, die Regierungsfraktio-nen, verweisen bei vielen Debatten immer auf die Tarif-autonomie.

Auch wir Grünen stehen zur Tarifautonomie, und ge-rade deswegen schauen wir genau hin: Realität ist, dassdie Tarifautonomie immer weniger funktioniert. Arbeit-geber wechseln in OT-Mitgliedschaften oder begehengleich ganz Tarifflucht. In der Folge nimmt die Tarifbin-dung kontinuierlich ab. Heute sind nur noch circa62 Prozent der Beschäftigten durch tarifliche Vereinba-rungen geschützt. Das schwächt die Tarifpartner undauch die Tarifautonomie; das ist nicht akzeptabel.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Natürlich hat dies auch Auswirkungen auf die Lohn-entwicklung. Der neue Global Wage Report der ILOzeigt: Im weltweiten Vergleich von 26 entwickelten Län-dern liegt Deutschland bei der Reallohnentwicklung inden letzten zehn Jahren mit minus 4,5 Prozent an letzterStelle.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Oh!)

Die Löhne orientieren sich nicht mehr angemessen an derProduktivitätsentwicklung. Der Trend hin zu den Nied-riglöhnen ist ungebrochen. Durch die sinkende Tarifbin-dung fehlt zudem in manchen Branchen zuungunsten derkleinen und mittleren tariftreuen Betriebe ein einheitli-cher Wettbewerbsrahmen. Diese Entwicklung sehen wirmit großer Sorge; wir meinen, dass sie endlich gestopptwerden muss.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Abernicht durch so etwas!)

Andere europäische Länder stützen die Tarifautono-mie politisch mit einem System aus Mindestlöhnen undvor allem mit für allgemeinverbindlich erklärten Tarif-löhnen. In Deutschland hingegen gibt es kaum Mindest-löhne, und vor allem sind gerade einmal 1,5 Prozent derTarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt.

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Vereini-gungsfreiheit!)

Damit bewegt sich Deutschland auf Augenhöhe mit denosteuropäischen Ländern,

(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Mit Luxemburg und England!)

und das kann ich nur als peinlich bezeichnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

Beim DGB-Kongress im letzten Jahr hat Frau Merkeldie weißen Flächen bei der Tarifautonomie kritisiert,aber seither ist wenig passiert. Wir wollen aber die So-zialpartner stärken. Im Tarifvertragsgesetz wollen wirdas Verfahren der Allgemeinverbindlicherklärung vonTarifverträgen erleichtern und die zu hohen Hürden ab-bauen. Der Tarifausschuss soll beispielsweise temporärum die Tarifparteien derjenigen Branchen erweitert wer-den,

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Da macht man den Bock zum Gärtner!)

in denen ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich er-klärt werden soll. Einseitige Blockaden der Spitzenver-bände sind damit nicht mehr möglich; die antragstellen-den Tarifparteien hingegen werden gestärkt.

Die Tarifflucht der Arbeitgeber führt auch dazu, dassimmer weniger Branchen Anträge stellen können. Des-halb wollen wir auch die geforderte Tarifbindung von50 auf 40 Prozent senken.

Schlussendlich bleiben wir bei unserer alten Forde-rung, dass das Arbeitnehmer-Entsendegesetz für alleBranchen geöffnet wird. Die Tarifpartner sollen ganz imSinne der Tarifautonomie selber entscheiden, ob in ihrenBranchen Mindestlöhne notwendig sind oder eben nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mittlerweile höre ich auch aus der Regierungskoali-tion eine gewisse Bereitschaft zum Umdenken. Arbeits-ministerin von der Leyen oder auch Peter Weiß sprechensich für Branchenmindestlöhne aus. Selbst aus der FDPwaren Stimmen zu hören, die sich positiv zu Mindest-löhnen geäußert haben. Das freut mich natürlich.

Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen der Re-gierungsfraktionen: Wenn es Ihnen mit der Tarifautono-mie ernst ist, dann verfallen Sie bitte nicht in den üblichenReflex, unsere Forderungen kategorisch abzulehnen.

(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist kein üb-licher Reflex, sondern wohlbegründet!)

Führen Sie mit uns, Herr Lehrieder, konstruktive Dis-kussionen in den Gremien. Unser Ziel ist, dass die tarif-treuen Arbeitgeber und die Gewerkschaften weiter dieLöhne und die Arbeitsbedingungen aushandeln.

Notwendig aber sind politische Rahmenbedingungen,um die Tarifpartner zu stärken, damit die Tarifautonomiewieder funktioniert und möglichst alle Beschäftigten da-von profitieren.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder von der

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Paul Lehrieder (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Kollegin Müller-Gemmeke,heute debattieren wir über Ihren Antrag „Tarifvertrags-system stärken – Allgemeinverbindliche Tariflöhne undbranchenspezifische Mindestlöhne erleichtern“. Wir ha-ben zu diesem Thema – alle Arbeitsmarktpolitiker hierwissen das – in der letzten Zeit bereits zahlreiche Dis-kussionen geführt; eigentlich ist dazu schon sehr viel ge-sagt worden.

Gleichwohl verdient es Ihr Antrag, dass man einmalgenauer hinschaut.

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)

Sie haben gerade mit Krokodilstränen in den Augen aus-geführt, Frau Müller-Gemmeke, dass der Trend zu Nied-riglöhnen nach Ihrer Ansicht ungebrochen sei. In IhremAntrag schreiben Sie:

Deutschlandweit arbeiteten im Jahr 2008 bereits21,5 Prozent … der Beschäftigten im Niedriglohn-bereich …

Wenn man jetzt aber tatsächlich einmal die statistischenZahlen hinterfragt und schaut, woher die 21,5 Prozentkommen, dann stellt man fest, dass dies keine drastischeSteigerung beispielsweise im Verhältnis zu 1999 ist. ImJahr 1999 waren 19,0 Prozent der Menschen im Gering-verdienerbereich. Das heißt also, den freien Fall nachunten in den Niedriglohnbereich hat es nicht gegeben.

Natürlich ist es richtig, dass in Branchen, in deneneine bestimmte Tarifbindung vorhanden ist und in denenVerwerfungen da sind,

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darum geht es!)

branchenspezifische Mindestlöhne eingeführt werdenkönnen. Wenn Sie das Beispiel der letzten Wochen ein-fach sine ira et studio, also gelassen, auf sich wirken las-sen,

(Beifall bei der CDU/CSU)

dann werden Sie merken, dass wir es sogar geschafft ha-ben, in der Zeitarbeit einen Mindestlohn einzuführen.Das hätten uns vor wenigen Jahren die Grünen am aller-wenigsten zugetraut. Das heißt, bei dieser christlich-libe-ralen Koalition sind die Sorgen der Arbeitnehmer um dieTarifvertragsfreiheit besser als bei mancher anderenGruppierung in diesem Hause aufgehoben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Deswegen ermuntern wir Sie ja,dass Sie weitermachen!)

Sie haben des Weiteren ausgeführt, die Grünen stehenzur Tarifautonomie. Richtig ist, liebe Kolleginnen undKollegen, dass die Festsetzung von Mindestlöhnen fürweitere Branchen auf Basis des Tarifvertragsgesetzes,des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und des Mindestar-beitsbedingungengesetzes Sinn macht und die Tarifauto-nomie stärkt. Sie haben ja bereits selbst ausgeführt:62 Prozent der Arbeitnehmer sind von Tarifverträgenumfasst. Gleichzeitig führen Sie aus, dass wir im Ver-gleich mit allen EU-Staaten im Bereich des Tarifbin-dungsgrades lediglich im Mittelfeld und im Vergleichmit den ursprünglichen EU-Staaten sogar ganz untensind. Als Beispiele für Länder, die noch schlechter alswir sind, nennen Sie Großbritannien und Luxemburg.Das sind genau die Länder, die einen relativ hohen ge-setzlichen Mindestlohn bereits haben. Das heißt, ein Zu-sammenhang zwischen geringer Entlohnung und Min-destlöhnen, den Sie immer wieder herstellen wollen, istgerade durch Ihre eigene Argumentation nicht gegeben,sondern längst widerlegt.

Meine Damen und Herren, was wollen Sie eigentlich?

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist die entscheidende Frage!)

Sie wollen die erforderliche Mindesttarifbindung auf un-ter 50 Prozent ansetzen. Da müssten doch eigentlich alleGlocken läuten: Eine Minderheit bestimmt über eineMehrheit, wenn hier weniger als 50 Prozent mit Tarif-bindung über die Vertragsbedingungen für die Mehrheitder Arbeitnehmer entscheiden können. Das werden Siedoch nicht ernsthaft mit dem Demokratieprinzip in Ver-bindung bringen wollen.

(Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwi-schenfrage)

– Lassen Sie es; ich muss nachher meine Frau abholen.Das passt mir gerade nicht.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Beim Wahlrecht lagen Sie gerade mitder Demokratie daneben! Jetzt versuchen Siees noch mal!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Kollege Lehrieder, Frau Müller-Gemmeke

würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Paul Lehrieder (CDU/CSU):Ich habe mir vorgenommen, keine Zwischenfragen

zuzulassen. Aber weil Frau Müller-Gemmeke so nett istund es vielleicht ihrer Wissensmehrung dienen könnte,lasse ich die Frage natürlich zu.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Bitte.

Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Herr Kollege Lehrieder, vielen Dank, dass ich Sie et-was fragen darf. Sie haben gerade gesagt, dass es nicht

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Beate Müller-Gemmeke

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geht, dass eine Mehrheit von einer Minderheit bestimmtwird usw. Demokratie hat ja auch etwas mit Fairness zutun. Von daher frage ich Sie, ob Sie finden, dass es fairist, dass die Arbeitgeber, die Tarifflucht begehen, imEndeffekt dafür verantwortlich sind, dass es für diejeni-gen, die die Tarifautonomie hochhalten und Tariftreuezeigen, keine allgemeinverbindlich erklärten Tariflöhnemehr gibt. Halten Sie es für fair, dass gerade diejenigen,die die Tarifautonomie unterlaufen, im Endeffekt dafürsorgen, dass die Quote der Tarifbindung, die notwendigist, um den Antrag zu stellen, nicht mehr erreicht werdenkann?

Meine zweite Frage ist: Was wollen Sie dafür tun,dass genau dies nicht mehr der Fall ist und dass die Ver-ordnung, die möglich ist, wirklich angewandt werdenkann?

Paul Lehrieder (CDU/CSU):Schauen Sie, Frau Müller-Gemmeke, wir haben im

Grundgesetz einen Grundrechtekatalog. Da steht unteranderem als ein hohes Gut die Vereinigungsfreiheit, alsodie Freiheit, eine Vereinigung zu gründen, aber auch dieFreiheit, einer Vereinigung fernzubleiben.

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Negative Koali-tionsfreiheit!)

Das gilt für Sie, das gilt für Parteien, das gilt für Vereine,und das gilt genauso für Arbeitgeber und Arbeitnehmer.Das heißt, wir können niemanden zwingen, einer be-stimmten Vereinigung beizutreten oder ihr nicht beizu-treten. Mit dirigistischen Maßnahmen haben wir eigent-lich wenig am Hut. Das ist nicht unser Stil.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Gitta Connemann [CDU/CSU]: Wir halten unsans Grundgesetz, ganz genau!)

– Ja, wir halten uns selbstverständlich ans Grundgesetz,und wir halten eine entsprechende wirtschaftliche Ent-wicklung und eine Steigerung des Marktwertes der Ar-beitnehmer für das probatere Mittel. Letztendlich müs-sen Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände etc. bessereund faire Konditionen für das Arbeitsverhältnis aushan-deln. Das ist besser, als wenn wir es par ordre du muftiüber den Bundestag regeln.

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das heißt, Sie machen nichts!)

Wir werden im Endeffekt niemanden zwingen. Wirwerden schauen, wo Verwerfungen sind. Ich verweise indiesem Zusammenhang auf das, was wir vor wenigenWochen bei der Zeitarbeit gemacht haben; ich könntedas entsprechende Beispiel erneut anführen. Da, wo wirHandlungsbedarf sehen, werden wir handeln.

Sie selbst outen sich hier ein Stück weit, wenn Sie aufSeite 2 Ihres Antrages ausführen; ich darf mit Erlaubnisdes Herrn Präsidenten zitieren. Frau Müller-Gemmeke,bleiben Sie bitte stehen; ich bin noch bei der Antwort;das verlängert meine Redezeit; Sie wollen doch wissen,was wir machen.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

– Doch, ich antworte noch. Ich schaue Sie doch an. Ichhabe nur einmal einen Blick auf meinen Zettel geworfen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Kollege Lehrieder, die Fragen und die Antwor-

ten sollen kurz und präzise sein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN-KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN)

Paul Lehrieder (CDU/CSU):Ja, aber es ist manchmal erforderlich, dass diese Ant-

worten etwas länger dauern.

Frau Müller-Gemmeke, Sie führen in Ihrem Antragaus:

„Arbeit muss sich lohnen“ – dieser zentrale Leitsatzder Bundesregierung bestimmte die Sozialstaatsdis-kussion der vergangenen Monate. … Nicht durchSteuersenkungen wird sich Arbeit wieder lohnen,sondern durch verbindliche Lohnuntergrenzen. Ne-ben der Stärkung des Tarifvertragssystems bleibenein gesetzlicher Mindestlohn und ebenso Mindest-löhne nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetzfür Branchen ohne funktionierende Tarifautonomienach wie vor absolut notwendig.

Das heißt, Sie outen sich. Sie sagen: Wir wollen ei-gentlich nicht die Tarifautonomie stärken, wir wollenden gesetzlichen Mindestlohn. Das ist eine Forderung,die wir von Ihnen seit Jahr und Tag kennen. Sie ist alsonicht völlig neu.

Jetzt wird es lustig:

Das BMAS kann somit Tarifverträge für allgemein-verbindlich erklären, wenn 40 Prozent der Beschäf-tigten der Branche unter den Geltungsbereich desfür allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifver-trages fallen und eine Allgemeinverbindlichkeitvon öffentlichem Interesse ist.

Dann wird es noch lustiger:

Ein öffentliches Interesse liegt vor, wenn die Ein-führung gleichartiger, dauerhafter und angemesse-ner sozialer Arbeitsbedingungen in einer Brancheals notwendig erachtet wird,

– wer erachtet es als notwendig: die Grünen, der Bun-destag, die Arbeitnehmer, die Gewerkschaften? –

unlauterer Wettbewerb verhindert werden mussoder das Tarifgefüge einer Branche erheblich er-schüttert ist, weil die Tarifbindung auf ein

– wieder ein unbestimmter Rechtsbegriff –

sozial unverträgliches Niveau abgesunken ist.

Bei den verschiedenen Komponenten ist es natürlichschwierig, zu begreifen, was Sie wann wo wollen.

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Paul Lehrieder

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Wir halten unseren Weg für richtig. Wir passen auf,dass es keine Verwerfungen gibt. Wir werden auf Antragvon über 50 Prozent der Tarifvertragsparteien Mindest-arbeitsbedingungen festlegen bzw. über die Aufnahmeins Arbeitnehmer-Entsendegesetz Mindestlöhne in deneinzelnen Branchen individuell festsetzen. Damit hattenwir Erfolg. Denken Sie an die Pflegebranche, an dasWachgewerbe oder an die Zeitarbeit. Wir werden in die-ser Sache weiterhin die richtigen Anwälte der Arbeitneh-mer in Deutschland sein. Arbeiten Sie daran mit! Wirbleiben in einem konstruktiven Dialog, Frau Müller-Gemmeke. Dieser Antrag ist natürlich ablehnungsreif.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat jetzt der Kollege Ottmar Schreiner von

der SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb[FDP]: Blick nach vorn, Schreiner! Nicht im-mer zurückgucken!)

Ottmar Schreiner (SPD):Was ist los? Er ruft schon dazwischen, bevor man hier

überhaupt begonnen hat.

(Heiterkeit – Gitta Connemann [CDU/CSU]: So bleiben Ihre Worte uns im Gedächtnis!)

– Sie bekommen das ganz bestimmt. Sie können eineVerlängerung Ihrer Redezeit beantragen. Das würde sichwahrscheinlich lohnen.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich willzunächst einmal an den Antrag von Bündnis 90/Die Grü-nen anknüpfen, den wir ohne Einschränkung unterstüt-zen.

(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich habe bisher kein einziges ernsthaftes Argument ge-hört – auch nicht vom Vorredner, von Herrn KollegenLehrieder –, das wirklich gegen diesen Antrag spricht.

Frau Müller-Gemmeke hat zu Beginn aus dem jüngs-ten Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation zi-tiert. Vor wenigen Tagen war eine Delegation des Deut-schen Bundestages in Genf. Übrigens war auch FrauMerkel in Genf, wenn ich es richtig gelesen habe. DieInternationale Arbeitsorganisation kritisiert in diesemBericht – er ist erst einige Tage alt; er ist noch druck-frisch – massiv die Arbeitsmarktsituation in Deutsch-land, mit dem Hinweis – die Zahlen sind genannt wor-den –, dass wir in den Jahren 2000 bis 2009 ein realesMinus beim Durchschnittseinkommen aller Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer von 4,5 Prozent zu ver-zeichnen hatten. Kein anderes Land in der EuropäischenUnion hat eine auch nur annähernd vergleichbare nega-tive Entwicklung bezüglich der Arbeitnehmereinkom-men.

(Beifall bei der SPD)

Diese Situation ist schon deshalb nicht hinnehmbar,weil sie dazu führt, dass die Politikverdrossenheit beivielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern steigt,weil sie das Gefühl bekommen, sie nähmen am Zuwachsdes gesellschaftlichen Wohlstands nicht mehr teil.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Genau das geht nicht. Das ist der Kern der ganzen Aus-einandersetzung.

Lesen Sie Ludwig Erhard, lesen Sie andere aus IhrenReihen – leider Gottes lesen Sie nur Personen aus IhrenReihen; das ist das Problem –: Man hat immer wiederdarauf hingewiesen, dass die Arbeitnehmereinkommenentlang der steigenden Arbeitsproduktivität steigen sol-len.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Genau!)

Wenn das so gewesen wäre, hätten wir in den letztenzehn, zwölf Jahren einen erheblich größeren Zuwachsder Arbeitnehmereinkommen haben müssen, als wir ihntatsächlich gehabt haben. Die Arbeitnehmer und Arbeit-nehmerinnen sind systematisch von der Entwicklung desgesellschaftlichen Wohlstands abgekoppelt worden.Nochmals: Das ist der zentrale Punkt.

Das führt zu Lohnarmut. Das führt dazu, dass derStaat und damit der Steuerzahler inzwischen jedes Jahr10 Milliarden Euro bereitstellen muss, um die Einkom-men auf Hartz-IV-Niveau aufzustocken, damit die Leuteüberhaupt leben können. Wo lohnt sich Arbeit für dieseMenschen? Wenn Sie sagen: „Arbeit muss sich wiederlohnen“, dann frage ich Sie: Wo lohnt sich die Arbeit fürArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihre Arbeits-kraft zur Verfügung stellen, ihren Job ordentlich machen

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Was hat das mit diesem Antrag zu tun?)

und anschließend bei den Sozialämtern vorstellig wer-den müssen, damit ihnen noch etwas draufgepackt wird,damit sie überhaupt über die Runden kommen? DerenArbeit lohnt sich nicht! Das ist das zentrale Problem.Deshalb brauchen wir hierfür vernünftige Lösungen.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Im Übrigen: Diese Entwicklung ist natürlich die Vor-stufe zur kommenden Altersarmut. Je weniger die Leutean Einkommen mit nach Hause bringen, umso stärkerwerden sie später von Altersarmut betroffen werden. Dasheißt, wenn Sie nichts tun, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von der Koalition, dann werden Sie systematisch dasAuseinanderbrechen dieser Gesellschaft befördern. Dasist der Kern des Vorhalts: Die Gesellschaft zerfällt im-mer weiter in diejenigen, die gar nicht mehr wissen, wo-hin mit ihrem Wohlstand, und die wachsende Zahl derje-nigen, die nicht mehr wissen, wie sie die Butter für dasBrot ihrer Kinder bezahlen sollen. Das ist eine nichtmehr hinnehmbare Spaltung der Gesellschaft. Sie solltenmit dazu beitragen, dass wir diese enorme Kluft wiederkleiner machen, als sie gegenwärtig ist. Das ist eine ganzzentrale Politikaufgabe.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

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Ottmar Schreiner

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Im Übrigen kritisiert die Internationale Arbeitsorgani-sation diese Situation in Deutschland ausdrücklich. Siesagt: Die Kehrseite der guten Beschäftigungsentwick-lung ist genau diese wachsende Spaltung, was die Ein-kommenssituation im Lande anbelangt. Sie nennt auchdie Gründe. Zum einen ist das die Ausweitung des Nie-driglohnsektors; ich zitiere die Internationale Arbeitsor-ganisation in Genf. Sie benennt als zweiten Grund diewachsende Anzahl prekärer Beschäftigungsverhält-nisse, zeitlich befristeter Arbeit, von 400-Euro-Jobs. Esgibt jede Menge Leute, die einen 400-Euro-Job habenmit einem Stundenlohn von 2 Euro, 2,50 Euro, 3 Euro.Das ist eine bodenlose Sauerei, die abgeschafft werdenmuss. Das kann man nicht mehr weiter hinnehmen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Die ILO weist ausdrücklich darauf hin, dass die pre-kär Beschäftigten in Deutschland im Durchschnitt min-destens ein Drittel weniger Einkommen erzielen alssogenannte normale Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer. Das ist ebenfalls eine Entwicklung, die nicht mehrakzeptabel ist.

Ein dritter Grund für diese Entwicklung ist die soge-nannte negative Lohndrift; so nennen das die Fachleute.Das heißt nichts anderes, als dass die Bruttoverdienstehinter den Tariflöhnen zurückbleiben. Wenn immer we-niger Beschäftigte Tariflöhne erhalten, wird sich das na-türlich in Form sinkender Durchschnittseinkommen aus-wirken, weil die Bruttolöhne derjenigen, die nicht intarifgebundener Beschäftigung sind, deutlich hinter denTariflöhnen hinterherhinken und den Gesamtdurch-schnitt nach unten ziehen. Das wird wiederum Auswir-kungen negativer Art auf die Situation der tariflich Be-schäftigten haben.

(Beifall des Abg. Willi Brase [SPD])

Die Frau Kollegin Müller-Gemmeke hat auf die Zah-len hingewiesen, darauf, dass wir noch vor etlichen Jah-ren über 80 Prozent Tarifbindung hatten; heute sind esgerade mal noch 60 Prozent. Die Tendenz geht weiternach unten.

Deshalb ist auch die Politik gefordert. Das ist nichtnur eine Angelegenheit der Tarifparteien. Wir haben denRahmen dafür zu schaffen, dass die Tarifbindung wiederstabilisiert wird und mehr Menschen in den Genuss tarif-lich abgesicherter geschützter Beschäftigung kommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist eine Kernaufgabe der Politik. Die Instrumente dazusind von Frau Müller-Gemmeke benannt worden. Das sindInstrumente, die wir auch in anderen Zusammenhängen imDeutschen Bundestag mehrfach vorgetragen haben. Dasgilt für die Erleichterung von Allgemeinverbindlichkeits-erklärungen im Bereich des Tarifvertragsgesetzes. Wenndie Zahlen richtig sind – es gibt keinen Zweifel, dass sierichtig sind –, wonach gerade noch 1,5 Prozent der Tarif-verträge – ich glaube, es gibt über 70 000 Tarifverträge –für allgemeinverbindlich erklärt werden, dann ist das ein

Hohn. Das hat nichts mehr mit einem verantwortungsbe-wussten Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mern zu tun.

Sie wissen, dass im wachsenden Maße Arbeitgeber,gerade auch die großen, ihre Organisationen verlassenund dadurch mit die Ursache dafür liefern, dass die tarif-geschützte Beschäftigung insgesamt sinkt.

Die Instrumente liegen auf der Hand; sie sind vorge-schlagen worden. Deshalb glaube ich, dass Sie sich die-sen Überlegungen anschließen sollten. – Herr Präsident,da bemüht sich der Kollege Weiß verzweifelt, eine Zwi-schenfrage anzubringen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Ich will Ihnen natürlich die Gelegenheit geben, Herr

Kollege Weiß. – Sie erlauben die Zwischenfrage? – Bitteschön, Herr Kollege Weiß.

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):Herr Kollege Schreiner, nachdem Sie die Verantwor-

tung der Politik – sprich: auch der Bundesregierung –einklagen, möchte ich von Ihnen eine kurze Informationbekommen. Es hat ja nicht immer nur christdemokrati-sche Bundeskanzlerinnen und Bundeskanzler gegeben,

(Zuruf von der CDU/CSU: Leider!)

sondern es hat sieben Jahre lang eine Bundesregierungunter Führung des Sozialdemokraten Gerhard Schrödergegeben. Könnten Sie mir sagen, wie viele Tarifverträgewährend der Amtszeit von Bundeskanzler GerhardSchröder durch die Bundesregierung für allgemeinver-bindlich nach dem Tarifvertragsgesetz erklärt wordensind?

Ottmar Schreiner (SPD):Nach meiner Kenntnis nicht allzu viele.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Null! Nada!)

Die Zahl bewegt sich in äußerst bescheidenen Größen-ordnungen.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So ist es!)

Das ist der Unterschied zwischen uns und Ihnen: Wirkönnen uns gelegentlich auch sehr kritisch zu dem äu-ßern, was wir selbst gemacht haben. Da, wo wir etwasfalsch gemacht haben, sind wir gerne bereit, das zu kor-rigieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist einer der wesentlichen Unterschiede zu Ihnen.

Herr Kollege Weiß, Sie sind doch ein aufrechterChristdemokrat.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie meinen, ersoll stehen bleiben? – Zurufe von der CDU/CSU)

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Ottmar Schreiner

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– Nein, ich bin jetzt noch nicht fertig. Wenn Sie schoneine Frage stellen, sollen Sie auch eine Antwort bekom-men. – Sie sind doch ein aufrechter Christdemokrat. DieBetonung liegt auf „Christ“, sie liegt aber auch auf „De-mokrat“. Sie kennen doch den berühmten Satz – jetztweiß ich die Fundstelle in der Bibel nicht –, dass derje-nige, der zum wahren Bekenntnis findet, dem Herrnwichtiger ist als 99 Gerechte. Die Formulierung lautetetwas anders.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Vom verlorenen Sohn!)

– Ich sehe, dass die FDP sogar die Fundstelle kennt. Dasist der verlorene Sohn. – Insoweit ist es durchaus christ-lich, sich zu Fehlentwicklungen zu bekennen, sie zu kor-rigieren und für die Zukunft daraus zu lernen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist eine durchaus christliche Tugend; das sollten Siesich aneignen.

Zum Schluss will ich Ihnen sagen: Das Tarifsystem inDeutschland hat sich über viele Jahre und Jahrzehnte be-währt. Es ist ein Instrument des fairen Interessenaus-gleichs zwischen den Interessen der Arbeitnehmerschaftund denen der Arbeitgeberschaft. Dieses Instrument desfairen Interessenausgleichs ist in etlichen Bereichen not-leidend geworden. Deshalb müssen wir dazu beitragen– das ist die originäre Aufgabe der Politik –, dass das Ta-rifsystem wieder zu einem echten Instrument des Inte-ressenausgleichs wird, dass sich Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer auf der einen Seite und Arbeitgeber aufder anderen Seite im Tarifsystem wieder auf Augenhöhebegegnen und für ihre jeweiligen Interessen streiten kön-nen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb von

der FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Schreiner, meine Aufgabe ist es, Sie immer an IhreVergangenheit zu erinnern. Wenn Sie sich mit der Lohn-höhe und der Lohnentwicklung in Deutschland beschäf-tigen, muss ich nochmals darauf hinweisen: Die Idee, inDeutschland einen Niedriglohnsektor zu schaffen, kamvon der SPD im Zusammenhang mit der Agenda 2010.

Jetzt weiß ich, dass Sie damals zwar in der Regierung,aber trotzdem in der Opposition waren, das heißt, dassSie Bundeskanzler Schröder bekämpft haben und nichtalles richtig fanden, was er wollte. Aber dieser Sachver-halt bleibt mit der SPD verbunden.

Wenn Sie sich Statistiken anschauen, die Durch-schnittswerte abbilden, dann sehen Sie: Die Schaffung

eines Niedriglohnsektors in Deutschland führt genau zudiesem statistischen Phänomen, das ich Ihnen geradevorgehalten habe. – Natürlich dürfen Sie eine Zwischen-frage stellen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Sie erlauben es. – Herr Schreiner, bitte schön. Die

Zwischenfrage ist erlaubt.

Ottmar Schreiner (SPD):Herr Kollege Kolb, da Sie darauf hinweisen oder je-

denfalls behaupten – sagen wir einmal so –, der Niedrig-lohnsektor sei eine Erfindung von Rot-Grün, würde ichSie darum bitten – die Frage kommt anschließend –, zurKenntnis zu nehmen, dass in dem von mir mehrfach zi-tierten Bericht der ILO darauf hingewiesen wird – ichsage Ihnen jetzt die Zahlen –, dass der Bereich der pre-kär Beschäftigten in der Regel im Niedriglohnsektor an-gesiedelt ist; ganz gleich, ob es sich um Zeitbefristun-gen, 400-Euro-Jobs oder Leiharbeitnehmerinnen undLeiharbeitnehmer handelt. Nach den Daten der ILO vonvor wenigen Wochen waren im Jahre 1998 5,2 MillionenBeschäftigte in Deutschland in prekärer Beschäftigung,und heute sind es 7,2 Millionen. Das heißt, wir haben ei-nen Zuwachs von 2 Millionen; er ist konzediert. Übri-gens waren zwischenzeitlich andere Regierungen amWerk. Sie können nicht bestreiten, dass es schon vorRot-Grün einen enormen Block an prekärer Beschäfti-gung in Deutschland gab, nämlich – ich sage es nocheinmal – über 5 Millionen prekär Beschäftigte. Deshalbmacht es überhaupt keinen Sinn, was Sie schon seit Mo-naten systematisch betreiben: Sie führen eine nach hin-ten gerichtete Schuldzuweisungsdebatte, anstatt die Si-tuation zu analysieren und zu sagen: Das läuft gut inDeutschland, das weniger gut. – Sie sollten nicht ständignach hinten blicken, sondern Antworten auf die Fragefinden: Wie können wir etwas besser machen?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):Herr Schreiner, ich will natürlich gern Ihre Frage be-

antworten; aber ich muss vorausschicken: Es wird mitdem, was Sie jetzt gefragt haben, nicht besser für Sie.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Auch die von Ihnen genannten Voraussetzungen für pre-käre Beschäftigung – Zeitarbeit, Teilzeit, befristete Be-schäftigungsverhältnisse – sind im Rahmen der Agen-da 2010, mit den Gesetzen für moderne Dienstleistungenam Arbeitsmarkt, verändert worden.

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Was hat er denn gerade gesagt?Sie hören ja gar nicht zu!)

Wenn Sie sich darüber beklagen, dass es bis heute – dasmuss man sagen – einen deutlichen Zuwachs an Zeitar-beit gegeben hat, muss man entgegnen: Das ist der Ef-fekt Ihrer Reformen in Ihrer Regierungszeit. Wir habenden Bereich bisher überhaupt nicht angepackt. Sie be-

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Dr. Heinrich L. Kolb

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schweren sich darüber, dass es mehr Teilzeit und Befris-tung gebe; aber Ihre Beschwerde berücksichtigt nicht,dass die Änderungen des Teilzeit- und Befristungsgeset-zes von Ihnen stammen.

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wollen Sie denn?)

Da kommen Sie definitiv nicht raus.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich habe Ihnen deswegen am Mittwoch gesagt – ichsage es Ihnen heute wieder –: Man muss immer wissen,woher man kommt, damit man weiß, wohin man in Zu-kunft will; das vermisse ich bei Ihnen immer. Sie sindseit 30 Jahren Mitglied des Deutschen Bundestages undtun immer so, als hätten Sie mit all dem, was hier in denletzten 30 Jahren passiert ist, überhaupt nichts zu tun,insbesondere auch nicht mit dem, was in Zeiten derSPD-Regierung passiert ist.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, Herr Kollege Schreiner,der zweite Punkt, auf den ich hinweisen will: Die Allge-meinverbindlichkeitserklärung ist nicht die Regel, son-dern die Ausnahme, und zwar aus gutem Grund – er isthier schon genannt worden –: wegen der negativen Ko-alitionsfreiheit. Man hat das Recht, einem Tarifvertragnicht beizutreten. Ich muss sagen: Trotzdem ist mir nichtbekannt, dass es zu massiven Problemen gekommenwäre.

Frau Müller-Gemmeke, weil Sie den Antrag vorge-legt haben, sage ich an Ihre Adresse: Ich wüsste nicht,dass in großer Zahl Anträge nach TVG gestellt wordenwären, die nicht zum Zuge gekommen sind.

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie vorhin nicht zugehört?)

Sie wollen hier ein Scheinproblem lösen, auch weil Siesich teilweise nicht richtig informiert haben. So heißt esin Ihrem Antrag: Es soll künftig auf „die im Koalitions-vertrag … vereinbarte Zustimmung des Kabinetts“ zurAllgemeinverbindlicherklärung nach Tarifvertragsgesetzverzichtet werden. Eine solche Vereinbarung haben wirnicht; da gibt es keine Absprache. Wir haben eine Ab-sprache zum Arbeitnehmer-Entsendegesetz, die aber denkompletten Bereich des TVG nicht berührt und folglichin dem Bereich nicht restriktiv wirken kann.

Ich bin strikt gegen Ihre Forderung, den Prozentsatzder Beschäftigten, die in den Geltungsbereich eines Ta-rifvertrages fallen müssen, damit die Allgemeinverbind-licherklärung eines Tarifvertrags nach TVG erfolgenkann – das ist eine Voraussetzung –, von 50 auf 40 Pro-zent zu reduzieren. Das ist undemokratisch. Ich glaube,dass eine Mindestbindung gegeben sein muss. Ihre Lo-gik ist: Je geringer die Tarifbindung, desto größer ist dasInteresse, eine AVE zu erhalten.

(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Umso nötiger ist es doch! –Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Es muss doch die Möglichkeit ge-ben, eine AVE zu beantragen!)

Wenn man sich das sozusagen in der Grenzbildung vorAugen führt, erkennt man doch: Das ist absolut unsinnig.

Im Übrigen wird es auch nicht dazu führen, dass dieTarifautonomie gestärkt wird. Stellen Sie sich das vor:Wenn ich als Arbeitgeber das Ergebnis des Tarifvertra-ges durch die AVE sozusagen kostenlos bekommenkann, warum soll ich dann überhaupt noch Mitglied ei-nes Arbeitgeberverbandes werden?

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Andersrum!)

– Nein, so ist die Logik doch. Im Ergebnis würde es je-denfalls auf der Arbeitgeberseite einen sinkenden Orga-nisationsgrad geben. Deswegen geht das, was Sie hiervorlegen, in die vollkommen falsche Richtung, sowohlin Bezug auf den Regelungsbereich des Tarifvertragsge-setzes, TVG, als auch in Bezug auf den Regelungsbe-reich des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes.

Herr Schreiner, weil es notwendig ist, kein Gesetz zumachen, wenn es nicht nötig ist, ein Gesetz zu machen– das gilt analog für Anträge –, ist Ihr Antrag, FrauMüller-Gemmeke, konsequenterweise abzulehnen. Ge-nau das werden wir tun.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann von der

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Jutta Krellmann (DIE LINKE):Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Damen

und Herren! „Tarifvertragssystem stärken – Allgemein-verbindliche Tariflöhne und branchenspezifische Min-destlöhne erleichtern“; wieso müssen wir eigentlich da-rüber reden?

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das frage ich mich auch!)

Was für eine Situation haben wir mittlerweile in unseremLand, dass ein solcher Antrag notwendig ist? Wir sindals Beste aus der Krise herausgekommen.

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Dank der Ta-rifautonomie!)

– Frau Connemann, Sie können gleich reden.

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Danke!)

Die Bundesregierung, mit Frau Merkel an der Spitze,ist voller Lob für die Sozialpartnerschaft. Hand in Handmit den Gewerkschaften haben wir die Krise überwun-den – das hat Frau Merkel zuletzt auf der Konferenz derILO in Genf gesagt; das ist schon erwähnt worden. Toll,oder?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vielleicht stimmt daran irgendetwas nicht. Meine Kolle-gen von CDU/CSU und FDP singen ständig Lobeshym-

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Jutta Krellmann

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nen auf die Tarifautonomie, aber wehren sich mit Hän-den und Füßen gegen Regeln für alle, die zu schaffenwären. Jede Aufforderung, die Erosionsprozesse bei denEntgelten zu stoppen, wird ignoriert. Deutschland istnicht nur Weltmeister im Export, Deutschland ist auchWeltmeister bei Dumpinglöhnen in Europa geworden.

(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Na, na!)

Ein paar Eckpunkte: Über 20 Prozent der Beschäftig-ten arbeiten im Niedriglohnbereich. Sie verdienen weni-ger als 9,85 Euro pro Stunde. Tätigkeiten im Niedrig-lohnbereich werden überwiegend von weiblichen Be-schäftigten ausgeübt. Die Tarifbindung in deutschen Un-ternehmen liegt im Westen bei 63 Prozent und – manhöre und staune – im Osten bei 50 Prozent, in beidenFällen mit sinkender Tendenz. Als Linke muss ich über-haupt nicht sagen, worauf ich das zurückführe. ImGrunde genommen macht das immer Herr Kolb. Er istda eine Bank. Echt klasse!

(Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Der Mann ist gut!)

Rot-Grün hat das eingeführt; aber Sie tun nichts, um daszu ändern, obwohl Sie die Zahlen kennen.

(Beifall bei der LINKEN)

Deutschland ist das einzige Land in ganz Europa, indem die Löhne real gesunken sind – auch das ist schonmehrfach gesagt worden –, in den letzten zehn Jahrenum 4,5 Prozent. In der Industrie sind die Löhne durch-schnittlich um 7,8 Prozent gestiegen, im Baubereich um5,2 Prozent gesunken. Die größten Verluste entstandenfür Arbeitnehmer, für die keine Tarifverträge gelten, unddeswegen brauchen wir welche.

(Beifall bei der LINKEN)

Das hat System. Die Tarifbindung wird nicht von Ar-beitnehmern gekündigt, sondern von Arbeitgebern. JederArbeitgeberverband hat heute die Möglichkeit eröffnet,dass Betriebe ohne Tarifbindung Mitglied werden kön-nen. Nicht die Beschäftigten betreiben Outsourcing, umdie Löhne zu drücken, sondern die Arbeitgeber.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall hat im Jahr 2000die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft ins Lebengerufen. Die machen seit zehn Jahren nichts anderes, alsdie Bürgerinnen und Bürger von der Notwendigkeitmarktwirtschaftlicher Reformen zu überzeugen undmarktliberale Gedanken in der Gesellschaft zu veran-kern. Gesamtmetall zahlt dafür 10 Millionen Euro proJahr, und das schon seit zehn Jahren. Das ist Lobbyarbeitim Arbeitgeberinteresse: 100 Millionen Euro gegenMindestlöhne und gegen verbindliche Regeln in Formvon Tarifverträgen und Gesetzen. Wer das weiß, kannsich denken, wie schwer es für Gewerkschaften und Ar-beitnehmervertreter ist, gegen diesen Lobbymainstreamanzukämpfen.

Der Antrag der Grünen ist gut und durchdacht. DieLinke wird ihm zustimmen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Als Linke sind wir dafür, den Abschluss allgemeinver-bindlicher Tarifverträge zu erleichtern. Wir sind derMeinung, dass das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufalle Branchen ausgeweitet wird, und wir wollen, dass dieEinführung von Mindestlöhnen in allen Branchen er-leichtert wird.

An die Adresse der Regierungsfraktionen sage ich:Denken Sie doch einmal darüber nach, und machen Sieeinfach einen Schritt nach vorn. Stimmen Sie dem An-trag zu, damit sich die Bedingungen für die Arbeitneh-mer endlich verbessern.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat jetzt die Kollegin Gitta Connemann von

der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Gitta Connemann (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer von

Ihnen erinnert sich eigentlich noch an seinen Politik-oder Geschichtsunterricht? – Ein paar melden sich, wun-derbar. – Art. 9 Grundgesetz: Vereinigungs- und Koali-tionsfreiheit. Von Ihnen hat sich niemand gemeldet. Dasist auch sehr offensichtlich, meine Damen und Herrenvon Bündnis 90/Die Grünen; denn die darin verankerteTarifautonomie wird bei Ihnen nur in Sonntagsreden und-anträgen bemüht – mit dem vorliegenden Antrag einmalmehr –, aber nur in den Überschriften. In der ÜberschriftIhres jetzt vorliegenden Antrages heißt es: „Tarifver-tragssystem stärken“; aber Ihre Forderungen zielen imErgebnis auf das genaue Gegenteil, auf staatliche Lohn-festsetzung. Das eine hat mit dem anderen überhauptnichts zu tun. Tarifautonomie und staatliche Lohnfestset-zung stehen in einem absoluten Gegensatz zueinander.

Sie wollen diese staatliche Lohnfestsetzung von obenherab, diese Tarifbindung, im Wege – das zitiere ich; ichfinde diese Formulierung bemerkenswert – „einer be-wussten politischen Unterstützung“ erhöhen. Das ist eineschöne Formulierung. Die Voraussetzungen dafür, dassTarifverträge auch auf Tarifungebundene erstreckt wer-den können, sollen erleichtert werden. Meine Damen undHerren von den Grünen, damit zeigen Sie uns erstens,dass Ihnen staatliches Diktat lieber ist als Tarifhoheit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Übrigens verkennen Sie damit, dass gerade die Tarifau-tonomie entscheidend zum sozialen Frieden und zumWohlstand in diesem Land beigetragen hat, und zwar seitseiner Gründung und insbesondere in Krisen wie der Fi-nanz- und Wirtschaftskrise. Ohne diese Tarifautonomiewären wir nicht in dieser Form aus der Krise gekommen;

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Beate Müller-Gemmeke [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das setzen Sie aufsSpiel, wenn Sie nichts machen!)

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Gitta Connemann

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denn die Tarifparteien haben die notwendige Sachkennt-nis und Problemnähe, sie kennen die branchen- und un-ternehmensspezifischen Besonderheiten viel besser, alsdie Politik es je könnte.

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Genau! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Völligrichtig!)

Zweitens betreiben Sie eine Politik, bei der Sie dieDaten und Fakten nicht zur Kenntnis nehmen wollen.Fakt ist, liebe Frau Müller-Gemmeke und auch liebeFrau Krellmann, dass – dies zeigen die aktuellen Zahlendes IAB – 2010 insgesamt 60 Prozent aller Betriebe– diese Zahl von Ihnen stimmt – mit 80 Prozent aller Be-schäftigten direkt oder indirekt durch Tarifverträge er-fasst wurden. Das ist die Wahrheit. Es ist sicherlich rich-tig, dass die Tarifbindung nach der Wiedervereinigungabgenommen hat; aber seit 2006 hat sich das Niveau sta-bilisiert. Die Wirtschaftskrise hat übrigens nach Anga-ben des IAB nicht zu einer Welle des Austritts der Be-triebe aus der Tarifbindung geführt. Also: Erosion? Weitgefehlt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Für die Austritte gilt eines: Die gesetzlichen Regelun-gen zur Nachwirkung von Tarifverträgen im Tarifver-tragsgesetz und übrigens auch die Rechtsprechung desBundesarbeitsgerichts zum Beispiel zum Wechsel ineine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung stellen für einesogenannte Tarifflucht extrem hohe Hürden auf. Tarifge-bundenen Unternehmen ist es regelmäßig eben nichtmöglich, sich mittelfristig von tarifvertraglichen Ar-beitsbedingungen zu verabschieden. Sie haben in IhrerRede genau das Gegenteil behauptet. Sie haben sich wie-der als unbefleckt von jeder Rechtskenntnis dargestellt;das sage ich an dieser Stelle sehr deutlich. Das zeigtauch Ihr Antrag.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich muss sagen: Es ermüdet mich inzwischen, IhreAnträge zu lesen, in denen es von Behauptungen nur sowimmelt, die aber nicht mit Rechtskenntnis unterlegtsind. Ich will gar nicht mit dem Grundgesetz anfangen.Kollege Lehrieder hat zutreffend darauf hingewiesen,dass das Grundgesetz die negative Koalitionsfreiheitschützt, dass also niemand Mitglied einer Gewerkschaftoder eines Arbeitgeberverbandes sein muss und dass je-der, der austritt und damit die Freiheit von einer Tarif-bindung wählt, grundgesetzlich geschützt wird. Allge-meinverbindliche Tarifverträge müssen schon ausAchtung vor der Verfassung die Ausnahme bleiben – dasist das Prinzip –; denn sie gelten gerade gegenüber den-jenigen, die – aus welchen Gründen auch immer – tarif-ungebunden sind. Deshalb hat der Gesetzgeber in denletzten Jahrzehnten gut daran getan, zu sagen: Die Er-streckung eines Tarifvertrages auf sogenannte Außensei-ter bedarf immer einer besonderen Rechtfertigung. Daskann nur in engen Grenzen stattfinden, die im Arbeit-nehmer-Entsendegesetz und übrigens auch im Tarifver-tragsgesetz formuliert werden. Diese wollen Sie jetztausweiten.

Ein besonderer Dorn im Auge ist Ihnen der Tarifaus-schuss. Ich frage mich, weshalb. Mit zwei Ausnahmengab es dort bislang nur Zustimmung. Einmal lehnten dieArbeitgebervertreter ab; das war im Fall der Weiterbil-dung. Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung der Tarif-regelungen für das Wach- und Sicherheitsgewerbe schei-terte demgegenüber zunächst an den DGB-Gewerk-schaften. Das Prinzip hat sich also absolut bewährt.

Dennoch wünschen Sie Änderungen. Sie fordern– ich finde das hanebüchen –, dass der Tarifausschuss imEinzelfall um Vertreter aus der jeweils antragstellendenBranche ergänzt wird.

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Sie wissen ja auch, worum esgeht; denn sie verhandeln die Tarifverträge!)

Damit würde die Beteiligung des Gremiums zur Farce.Sie machen damit doch den Bock zum Gärtner.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Denn mit dem Antrag haben die Antragsteller bereits ihrVotum für den Antrag abgegeben, nämlich Zustimmung.Damit wäre die Zustimmung quasi immer sicher. Das hatmit der Rolle eines Tarifausschusses tatsächlich nichtsmehr zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie fordern auch, das Einvernehmen im Tarifaus-schuss durch das Mehrheitsprinzip zu ersetzen. LiebeFrau Müller-Gemmeke, wenn das Ihr Antrag ist: Infor-mieren Sie sich einfach besser! Wie wäre es mit einemBlick ins Gesetz oder in die Rechtsprechung gewesen?Für die Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines Tarif-vertrages nach § 5 Tarifvertragsgesetz genügt, um Ein-vernehmen zu erreichen, schon nach geltender Rechts-lage die einfache Mehrheit im Tarifausschuss. DasMehrheitsprinzip gilt also bereits für Entscheidungendes Tarifausschusses. Einfach mal wieder daneben!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Nach Ihrem Antrag, meine Damen und Herren vomBündnis 90/Die Grünen, soll das Mehrheitsprinzip, dasSie gerade eingefordert haben, für die Allgemeinver-bindlichkeitserklärung aber nicht mehr gelten. Da wol-len Sie das 50-Prozent-Quorum durch ein 40-Prozent-Quorum ersetzen. Das finde ich wirklich kurios. Ichfinde es auch unverständlich; denn eine Allgemeinver-bindlichkeit als starkes Schwert kann doch nur in Be-tracht kommen, wenn sich die Regelungen des Tarifver-trages in der jeweiligen Branche mehrheitlich durch-gesetzt haben. Andernfalls könnte eine Minderheit dieBedingungen für die Mehrheit diktieren. Das ist mit unssicherlich nicht zu machen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn Sie schon vom Mehrheitsprinzip abweichen wol-len: Weshalb gerade 40 Prozent? Das bleibt Ihr Geheim-nis.

Ihre letzte Forderung ermüdet mich einfach nur noch.Sie sagen, dass die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall– liebe Frau Müller-Gemmeke, hören Sie doch bitte we-

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Gitta Connemann

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nigstens zu, wenn Sie sich schon nicht mit der Recht-sprechung auseinandersetzen – in den Katalog der Ar-beitsbedingungen einzubeziehen sei. Sie hätten sicheinfach besser informieren sollen. Hätten Sie dies getan,würden Sie die Entscheidung des EFTA-Gerichtshofes,die gerade zwei Tage alt ist – sie datiert vom 28. Juni2011 –, kennen. Der Gerichtshof hat entschieden, dasseine im isländischen Recht enthaltene vergleichbare Re-gelung – danach wird die Entgeltfortzahlung im Krank-heitsfall in die nationale Entsendegesetzgebung einbezo-gen –, die Sie für uns einfordern, mit dem EWR-Abkommen absolut unvereinbar ist. Das gilt dann auchfür uns.

Ich bitte Sie einfach: Ermüden Sie uns zukünftignicht. Bereiten Sie sich besser vor. Überprüfen Sie dieRechtslage. Ich kann an dieser Stelle nur sagen: Wenigerwäre da tatsächlich mehr.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

jetzt der Kollege Johannes Vogel von der FDP-Fraktiondas Wort.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

bin schon froh, liebe Frau Kollegin Müller-Gemmeke,dass in der diesmonatlichen Mindestlohndebatte ein An-trag die Diskussionsgrundlage ist, der sich zumindestnicht mit dem Staatslohn, also dem gesetzlichen Min-destlohn, auseinandersetzt.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Doch, der steht auch drin!)

– Zumindest nicht im Kern. Als Erwähnung steht er na-türlich schon drin.

Frau Müller-Gemmeke, ich glaube, die beeindru-ckende Rede der Kollegin Connemann – sie hat nicht nurwegen ihres Schuhwerks beeindruckt – hat gezeigt, dasswir sehr gerne machen, was Sie wollen. Wir setzen unsnämlich konstruktiv mit Ihrem Antrag auseinander. Aberda bleiben eben Fragen offen. Ich will nur einmal zweinennen. Natürlich bleibt die Frage offen, ob es vernünf-tig sein kann, dass die Minderheit der Mehrheit etwasdiktiert; denn die Tarifbindungsgrenze von 50 Prozentist nicht zufällig gesetzt worden. Man kann auch skep-tisch sein, ob es eine gute Idee ist, den Tarifausschuss,der in dem Verfahren gerade fürs große Ganze, für dievolkswirtschaftliche Gesamtsicht und nicht für die ei-gene Betroffenheit zuständig ist, mit Vertretern aus derBranche zu besetzen, um die es konkret geht.

Ich glaube aber – das sage ich ernsthaft –, dass Siegrundsätzlich einen Fehler machen. Der Kollege Kolbhat eben darauf hingewiesen. Wenn Sie die Tarifbindungwirklich erhöhen wollen – ich glaube, dieses Ziel teilenwir alle –, dann ist es ein Fehler, die Anreize zu senken.

Das wird nicht funktionieren. Deshalb sollten Sie aufdiesem Weg nicht weitergehen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Da wir gerade über eine konstruktive Auseinander-setzung reden, will ich einen weiteren Punkt anspre-chen. Ich finde, zum Niveau einer konstruktiven Aus-einandersetzung gehört, dass die Fakten stimmen. Michärgert – das erleben wir nicht nur in Anträgen von Ihnen,liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, son-dern auch bei der SPD immer wieder –, wenn die Lageauf dem deutschen Arbeitsmarkt falsch dargestellt wird.Ich will jetzt gar nicht darauf eingehen, dass der KollegeSchreiner eben wieder einmal alle atypischen Beschäfti-gungsverhältnisse mit prekären Beschäftigungsverhält-nissen gleichgesetzt hat. Abgesehen davon, dass Sie vonder SPD diese Beschäftigungsverhältnisse erst geschaf-fen haben – Sie hatten auch einen Grund dafür –, istnicht jede flexible Beschäftigungsform prekär. Sonst wä-ren die Mitarbeiter aller Abgeordneten des DeutschenBundestages prekär beschäftigt. Meine sind es nicht. Ichhoffe, Ihre sind es auch nicht. Insofern: So einfach kannman es sich nicht machen.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Das ist ziemlicher Blödsinn, was Sie da erzählen!)

Was mich vor allem ärgert, sind Ihre Aussagen zurGruppe der Aufstocker. Sie, Frau Müller-Gemmeke,schreiben in Ihrem Antrag wieder einmal, knapp11 Milliarden Euro würden ausgegeben, um Billiglöhnezu subventionieren. Sie wissen, dass das nicht stimmt.Sie wissen das genau.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Es ärgert mich, dass Sie immer wieder den Eindruck er-wecken, als sei es so, wie Sie schreiben. Sie kennen dieZahlen so gut wie wir. Sie wissen, dass drei Viertel derAufstocker nur Teilzeit arbeiten und dass nicht die Lohn-höhe das Problem ist.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja! Weil sie keinen Vollzeitjob kriegen!)

Sie wissen auch, dass es beim restlichen Viertel an derGröße der Familie liegt,

(Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen-frage)

dass ihnen die Solidargemeinschaft richtigerweise Geldzukommen lässt,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

und dass die Zahl derjenigen, die nur aufgrund der Höheihres Lohnes aufstockt, gering ist; es sind einige Zehn-tausend und nicht mehr.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Was haben die dennfür Stundenlöhne in dem Bereich? –Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Zwischenfrage,Herr Präsident!)

– Ich lasse die Zwischenfrage der Kollegin gerne zu.

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Sie erlauben die Zwischenfrage?

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):Ja, fünf Sekunden vor Ende meiner Redezeit sehr

gern.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hat ja auch ganz schön lange gedauert!)

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Vogel, Sie haben in Ihrer Rede darauf hingewie-

sen, dass die Lohnhöhe nicht das Problem darstellt. IstIhnen bekannt, dass in Deutschland fast 2 Millionen Be-schäftigte für Löhne unter 5 Euro pro Stunde arbeitenund dass es unter den Aufstockern eine besonders hoheZahl von Niedriglöhnern gibt?

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das war esschon? Jetzt können Sie erst einmal ein Weil-chen stehenbleiben, Frau Kollegin!)

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):Mir sind diese Zahlen sehr wohl bekannt. Ich habe Ih-

nen gerade die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit vor-getragen. Man muss sich die Aufstockerstatistik genauanschauen.

(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig! Das sollteman tatsächlich tun!)

Ich meine, keine andere Statistik macht so sehr deutlich,ob Menschen in Deutschland unterhalb des Existenzmi-nimums leben müssen oder nicht; dafür gibt es Hartz IV,dafür gibt es die Existenzsicherung, Frau Kollegin. Ander Aufstockerstatistik wird deutlich, dass nur einigeZehntausend Menschen alleinstehende Vollzeitaufsto-cker sind, die wirklich wegen der Höhe ihres Lohnesaufstocken und nicht, weil sie nur Teilzeit arbeiten oderin einer großen Bedarfsgemeinschaft leben und deshalbunterstützt werden.

(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Das sind dochdeutlich mehr!)

Es stimmt einfach nicht, wenn Sie den Eindruck erwe-cken, Millionen Menschen in diesem Land würden Voll-zeit arbeiten, könnten von ihrem Lohn aber nicht leben.Es stimmt auch nicht, dass jedes Jahr 11 Milliarden Eurofür die Subventionierung von Billiglöhnen ausgegebenwerden.

Diese Aussagen stören mich, weil sie sich in eine Me-lodie einreihen, die Sie von der Opposition in den letztenMonaten immer wieder spielen. Sie behaupten, dass dasdeutsche Jobwunder nur auf Billiglöhnen basiert. Damitmachen Sie den Menschen in diesem Land die gute Lageam deutschen Arbeitsmarkt, die sie sich hart erarbeitethaben – wenngleich wir noch einiges verbessern müs-sen; da sind wir uns einig –, madig.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ach was! Die Lage ist doch gar nicht so rosig!)

Sie machen auch politische Erfolge madig, sogar Ihre ei-genen aus der vorvergangenen Legislaturperiode. Dassollten Sie beenden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wenn Sie das tun, befinden wir uns auf einem Diskus-sionsniveau, auf dem wir dann über alle weiteren Detailskonstruktiv streiten können.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/4437 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 b auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-scher Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-Ope-ration in Darfur (UNAMID) auf Grundlageder Resolution 1769 (2007) des Sicherheitsra-tes der Vereinten Nationen vom 31. Juli 2007und Folgeresolutionen

– Drucksache 17/6322 – Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dasso beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin der Staatsministerin im Auswärtigen Amt,Cornelia Pieper, das Wort.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Cornelia Pieper, Staatsministerin im AuswärtigenAmt:

Danke, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Ich begrüße es, dass wir heute über die weiteredeutsche Beteiligung an einer der wohl wichtigsten, zah-lenmäßig größten, aber manchmal auch vergessenenFriedensmission der Vereinten Nationen in Afrika disku-tieren: UNAMID in Darfur. Die Bilder und Nachrichten,die wir seit Jahren aus Darfur erhalten, sind immer nocherschreckend. Wir müssen unser Engagement für denSchutz der Zivilisten, gerade auch der Frauen und Kin-der, fortsetzen. Deshalb hat die Bundesregierung gesternbeschlossen, sich weiterhin an der von den Vereinten

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13509

Staatsministerin Cornelia Pieper

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Nationen und der Afrikanischen Union gemeinsam ge-führten Friedensmission in Darfur, UNAMID, zu beteili-gen. Das gegenwärtige Bundestagsmandat für die militä-rische Beteiligung endet, wie Sie wissen, am 15. Augustdieses Jahres. Es soll bis zum 15. November 2012 ver-längert werden. Weiterhin soll die Obergrenze bei50 Soldatinnen und Soldaten liegen. Durch die Fortfüh-rung der deutschen Beteiligung an UNAMID setztDeutschland ein klares Signal für den Einsatz für Men-schenrechte, den Schutz von Zivilisten und die humani-täre Unterstützung der Zivilbevölkerung in Darfur.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir wissen, dass UNAMID vor großen und wichti-gen Herausforderungen steht; BundesaußenministerWesterwelle hat sich auf seiner Reise in den Sudan letzteWoche persönlich davon überzeugt. Leider ist in denletzten Monaten die Lage in Darfur angespannt geblie-ben. Immer wieder aufflammende Kämpfe zwischen Re-gierungstruppen, Rebellen und Milizen sowie eine stän-dige Bedrohung durch bewaffnete Banditen belasten dieohnehin prekäre humanitäre Lage der Zivilbevölkerungin Darfur.

Eine dauerhafte politische Lösung des Darfur-Kon-flikts steht weiter aus. Die Friedensverhandlungen zuDarfur in Doha haben mit der Versammlung der betrof-fenen Parteien und der Zivilgesellschaft vom 27. bis31. Mai 2011 einen vorläufigen Abschluss gefunden. Eswurde zwar kein Friedensvertrag unterzeichnet, da sichdie Rebellengruppen letztendlich verweigert haben. Ver-handlungen unter Vermittlung der internationalen Ge-meinschaft werden aber fortgesetzt. Katar, die Afrikani-sche Union, Mitvermittler Thabo Mbeki sowie derSicherheitsrat der Vereinten Nationen haben alle Kon-fliktparteien aufgerufen, sich ernsthaft und konstruktivan Friedensgesprächen zu beteiligen.

Die sudanesische Regierung hat gegenüber Bundes-außenminister Westerwelle bei seinem Besuch im Sudanihre Bereitschaft zu weiteren Verhandlungen bekräftigt.Bundesaußenminister Westerwelle hat auch die Verbesse-rung der Menschenrechtslage in Khartoum angemahnt –zu Recht, wie ich meine. Die Bundesregierung hält es fürdringend notwendig, dass bei einem Friedensschluss inDarfur der Ausnahmezustand aufgehoben wird, die All-macht der sudanesischen Geheimpolizei beschnittenwird und die Menschen- und Bürgerrechte, insbesonderedie Presse- und Versammlungsfreiheit, in Darfur und imganzen Sudan hergestellt werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir werden uns weiter mit Nachdruck für eine fried-liche und nachhaltige Lösung des Darfur-Konflikts undfür eine Verbesserung der Menschenrechtslage einset-zen. UNAMID bleibt bis auf Weiteres als stabilisieren-des Element zur Verbesserung der Sicherheitslage inDarfur und zur Begleitung der politischen Bemühungenum ein Ende der dortigen Krise unverzichtbar.

Gestern habe ich mich im Auswärtigen Amt noch ein-mal mit in Darfur und im Tschad tätigen Vertretern derNGOs unterhalten. Auch sie bestätigen die Notwendig-

keit von UNAMID für ihre Arbeit und die Stabilisierungder Lage in Darfur. Die Vertreter der Organisationen be-richteten mir aber auch über fortgesetzte Behinderungenihrer Arbeit durch Bürokratie, Zugangsverweigerungund Schikanen. Die Unterstützung von UNAMID durchdie sudanesische Regierung sowie den freien Zugang fürdie humanitären Helfer wird die Bundesregierung auchdeshalb weiter mit Nachdruck anmahnen.

Die deutsche Beteiligung an UNAMID ist ein wichti-ges Zeichen, insbesondere an die Vereinten Nationenund an die Afrikanische Union, dass Deutschland das in-ternationale Engagement in Darfur unterstützt. Art undUmfang des deutschen Engagements wurden dabei engmit unseren internationalen Partnern abgestimmt. Wirsehen unser Bestreben in Darfur als Teil unseres Einsat-zes für den gesamten Sudan.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Neben der Beteiligung mit sechs Offizieren verrich-ten auch deutsche Polizeivollzugsbeamtinnen und -be-amte ihren Dienst bei der Mission. Derzeit sind es fünf.Das Mandat für die Beteiligung mit Polizeibeamtinnenund -beamten wurde gestern ebenfalls durch einen Kabi-nettsbeschluss unbefristet verlängert.

An dieser Stelle möchte ich den Soldatinnen und Sol-daten sowie den Polizistinnen und Polizisten, die dortunter extrem schwierigen Bedingungen ihre Aufgabenerfüllen – ich denke, auch in Ihrem Namen –, Dank undAnerkennung aussprechen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will auch noch einmal erwähnen, dass die Hilfefür die vom Darfur-Konflikt betroffene Bevölkerungnicht nur in Darfur, sondern auch im benachbartenTschad zu den Schwerpunkten der humanitären Hilfe derBundesregierung zählt. Die Leistungen der Bundesregie-rung beliefen sich in ganz Sudan und im benachbartenTschad für die Zeit von 2009 bis 2011 auf rund613 Millionen Euro. Ich glaube, dieser Beitrag kann sichsehen lassen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wie Sie wissen, wird Deutschland im Juli 2011 diePräsidentschaft des Sicherheitsrates übernehmen. Dorthaben wir zwei Schwerpunktthemen: Sudan und Kinderin bewaffneten Konflikten.

Für den Sudan gilt es den Friedensprozess voranzu-treiben und zu einem guten Ende zu bringen. So habendie Konfliktparteien, die Regierung in Khartoum und diesüdsudanesische Befreiungsbewegung, die die neue Re-gierung des Südsudan stellen wird, gerade Abkommenüber die Einstellung der Feindseligkeiten in Kordofanund über gemeinsame Überwachungsmechanismen ander Grenze zwischen Nord- und Südsudan getroffen. DieVereinten Nationen sollen diese durch Beobachter über-wachen. Minister Westerwelle hat dies in Khartoum beiseinem Besuch zu einem seiner zentralen Themen ge-macht und Khartoum wieder davon überzeugt, VN-Prä-senz zuzulassen.

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Staatsministerin Cornelia Pieper

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Zum Schutz von Kindern in bewaffneten Konfliktenwerden wir eine Resolution einbringen, die Angriffe aufSchulen und Krankenhäuser zusätzlich ächtet und dieDemobilisierung von Kindersoldaten, wie es sie im Su-dan immer noch gibt, vorantreiben soll.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowieder Abg. Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich bitte Sie daher alle um Ihre Zustimmung zur wei-teren deutschen militärischen Beteiligung an UNAMIDund damit einem wichtigen Teil unseres Engagementsfür den Sudan sowie den Schutz von Flüchtlingen undZivilisten, Kindern und Frauen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat die Kollegin Karin Evers-Meyer von der

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Karin Evers-Meyer (SPD):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch wenn es wie ein Ritual erscheint, das man reflex-artig ableistet, möchte auch ich im Namen meiner Frak-tion den Soldatinnen und Soldaten, die bei UNAMID inDarfur eingesetzt sind, für ihre Arbeit danken.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Ich finde, gerade bei einem Einsatz wie dem in Darfur,der nicht das größte Interesse bei den Medien weckt, istes richtig, jede Gelegenheit zu nutzen, um daran zu erin-nern, dass auch dort deutsche Soldaten im Einsatz sindund ihren Dienst tun, in einem Land, in das wohl keinervon uns derzeit gerne fahren möchte und das viele, diedort leben, am liebsten verlassen würden. Die Mitgliederdes Deutschen Bundestages haben ihren Einsatz imBlick. Wir stehen abseits der Schlagzeilen aus Afghanis-tan auch an ihrer Seite und an der Seite ihrer Familien.

In den vergangenen zwölf Jahren waren es in derSpitze acht deutsche Soldatinnen und Soldaten, die ihrenDienst in Darfur getan haben. Das ist angesichts einerZielgröße von insgesamt 26 000 Mann bei UNAMID einsehr kleiner Anteil an der immerhin größten Friedens-mission der Vereinten Nationen überhaupt. Dieser ge-ringe Umfang der deutschen Beteiligung wurde kriti-siert. Kritisiert wurde insbesondere die noch einmalverringerte Obergrenze von 50 Soldatinnen und Solda-ten. Es hat sich aber in den letzten zwölf Monaten ge-zeigt, dass diese maximale Stärke von 50 Soldatinnenund Soldaten wirklich ausreicht. Der Bundeswehr istnicht geholfen, wenn sie mit zu viel Personal für ihreEinsätze planen muss. Gerade in den unsicheren Zeitender Bundeswehrreform ist eine realistische und vernünf-tige Einschätzung der Mandatsstärke wichtig – für dieBundeswehr selbst und für den Erfolg der Missionen, diesie unterstützen soll.

Das Gleiche gilt im Übrigen auch für die Forderungnach größerer materieller Unterstützung, vor allem nachdem Einsatz von Hubschraubern. Ich wünschte mir jaauch, dass die Bundeswehr mehr davon hätte, aber dieRealität sieht leider anders aus,

(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wo ein Wille, da ein Weg!)

und die Hubschrauber, die wir haben, benötigen wir fürandere Einsätze, allen voran für den Einsatz in Afghanis-tan, wo wir derzeit zu wenige eigene Hubschrauber ha-ben und daher auf die Unterstützung unserer Bündnis-partner angewiesen sind.

Ich kann hier deshalb nur davor warnen, den Eindruckentstehen zu lassen, dass die Bundesregierung keineHubschrauber für UNAMID bereitstellen möchte. DieBundeswehr hat sie schlicht und ergreifend nicht. Daskann man zwar zu Recht bedauern, aber man kann derRegierung in diesem Fall zumindest keinen mangelndenWillen vorwerfen. So ehrlich sollten wir bleiben.

(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

In Darfur, wo während des Bürgerkriegs von 2003 bis2006 furchtbare Verbrechen und Vertreibungen stattge-funden haben, ist UNAMID der wesentliche Anker fürStabilität. Ohne das Engagement der internationalen Ge-meinschaft wird es dort auf absehbare Zeit keinen stabi-len Frieden geben, und ohne einen stabilen Frieden wirdes auch keine Chancen auf eine menschenwürdige Ent-wicklung geben.

Die Ausgangssituation in Darfur ist denkbar ungüns-tig. Der Krieg hat dort mindestens 300 000 Todesopfergefordert. Weit über 2 Millionen Menschen wurden dazunoch vertrieben. Auch heute, vier Jahre nach dem Waf-fenstillstand, leben noch immer mehrere HunderttausendMenschen in Flüchtlingslagern. Diese Situation kannuns nicht egal sein, und deswegen ist die Beteiligungdeutscher Soldatinnen und Soldaten richtig – übrigensnicht zuletzt auch deshalb, um die Arbeit der humanitä-ren Helfer vor Ort zu sichern; denn auch der Schutz derhumanitären Helfer ist eine der Kernaufgaben vonUNAMID.

Der Frieden in Darfur bleibt brüchig. Trotz vieler An-strengungen in den vergangenen Monaten und trotz derVerhandlungen in Doha zu Jahresanfang gibt es bis heutekein Friedensabkommen, das von allen Parteien aner-kannt wird. Deswegen bleibt das bei aller berechtigtenKritik an den Vereinten Nationen in Darfur und der Kri-tik am UNAMID-Einsatz unser einziges richtiges Mittelzur Lösung des Konfliktes, das wir in der Hand haben.

UNAMID bindet mit der Afrikanische Union endlichauch die regionalen Akteure ein. Das ist wichtig. Nur mitdieser gemeinsamen Anstrengung der Vereinten Natio-nen und der Afrikanischen Union gibt es in Darfur dieChance auf einen stabilen Frieden und damit auch dieChance auf eine solide politische und wirtschaftlicheEntwicklung, und das ist doch unser gemeinsames Ziel.

UNAMID ist auch noch aus einem anderen Grundwichtig. Darfur ist nicht der einzige Krisenherd im Su-dan. Anfang des Jahres hat der Süden für seine Unab-hängigkeit gestimmt, und am 9. Juli 2011, also in einer

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13511

Karin Evers-Meyer

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guten Woche, wird sich der Süden zum unabhängigenStaat ausrufen.

Wir haben diese Entwicklung unterstützt, aber in denvergangenen Wochen hat sich gezeigt, dass mit der Un-abhängigkeit des Südens erst einmal wohl keine Ruhe imSudan einkehren wird. Deswegen ist es auch richtig,dass wir in der nächsten Woche über das zweite Sudan-Mandat der Bundeswehr abstimmen. Es ist dringend nö-tig, dass wir jetzt ein eindeutiges Zeichen setzen und un-sere Bereitschaft demonstrieren, dass wir auch im Südendie Arbeit der Vereinten Nationen weiter unterstützen.

Gerade weil sich die Aufmerksamkeit in den kom-menden Wochen auf den Süden richten wird, ist die Be-teiligung an UNAMID so wichtig. Alles, was denNordsudan in den schwierigen Wochen und Monaten,die vor uns liegen, in Unruhe bringen könnte, muss ver-hindert werden. Hier kommt UNAMID wieder ganz ein-deutig ins Spiel.

Wir haben die beiden Sudan-Missionen der Bundes-wehr hier immer gemeinsam betrachtet und auch ge-meinsam darüber abgestimmt. Das hat seinen gutenGrund. In diesem Jahr ist das leider etwas anders. ÜberUNMIS, die andere Mission, werden wir erst in derkommenden Woche debattieren können. Das sollte unsaber nicht daran hindern, auf den Zusammenhang derbeiden Missionen hinzuweisen. Es geht um die Stabilitätdes ganzen Sudan, des Nordens und des Südens, und esgeht darum, den Regionen, die von langen Bürgerkrie-gen gezeichnet sind, eine friedliche Entwicklung zu er-möglichen.

Mit dieser Zustimmung verbinden wir aber auch eineAufforderung an die Bundesregierung. Afrika hat mehrEngagement verdient. Mit dem neuen Afrika-Konzeptder Bundesregierung ist in Deutschland ein Zeichen ge-setzt worden, und Schlagzeilen sind produziert worden.Jetzt kommt es aber darauf an, dass Sie das, was Sie hierausgebreitet haben, vor Ort auch umsetzen. Einsätze wieder von UNAMID müssen auch politisch flankiert wer-den, sonst sind sie auf Dauer sinnlos. Deswegen fordernwir Sie auf: Tun Sie etwas! Meine Fraktion steht hinterdem UNAMID-Einsatz der Bundeswehr. Sudan und ins-besondere Darfur braucht weiterhin die Unterstützungder internationalen Gemeinschaft. Deutschland kann undsollte sich daran beteiligen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten der FDP und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Der Kollege Philipp Mißfelder hat für die Unions-

fraktion das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Philipp Mißfelder (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Am 25. März 2010 haben wir uns imRahmen eines interfraktionellen Antrags mit großer Ge-

schlossenheit dem Gesamtkomplex Sudan gewidmet.Die Regierungsfraktionen, CDU/CSU und FDP, sowiedie SPD und die Grünen waren sich einig: Wir wollenden Menschen im Sudan helfen. Gleichzeitig haben wirimmer gefordert – das ist in der Debatte deutlich gewor-den –, die komplexe Situation insgesamt zu betrachten.

Im Sudan gibt es einerseits den Darfur-Konflikt. Es gibtden Abyei-Konflikt. Am 27. Juni 2011 hat der Sicherheits-rat für sechs Monate einen Peacekeeping-Einsatz be-schlossen, um die Situation insgesamt zu stabilisieren. Esgibt den Südkordofan-Konflikt. Dort ist die Situation An-fang Juni eskaliert und zurzeit immer noch instabil. Daszeigt uns allen, dass die Arbeit der Bundeswehr im Rah-men von UNAMID und auch bei UNMIS – die beidenMandate sind von Frau Evers-Meyer schon genannt wor-den – wichtig ist. Deshalb freue ich mich, dass so vieleKolleginnen und Kollegen auch um diese Uhrzeit dieserDebatte aufmerksam folgen.

Der Sudan ist mit einer der größten Herausforderungenfür den Frieden auf dem afrikanischen Kontinent. Leider– das muss man sagen – hat er viel zu lange ohne interna-tionale Beteiligung stattgefunden. Im Rückblick ist das,was dort passiert ist, für die Weltgemeinschaft eher bestür-zend, als dass man beruhigt von einem funktionierendenEingreifen sprechen könnte. Insofern ist es richtig, dasswir heute unserer Verantwortung gerecht werden, weiter-hin stabilisierend in der Region zu wirken.

Nach der Unabhängigkeitserklärung stellen sich dreigroße Problemfelder: Erstens. Das ComprehensivePeace Agreement ist noch nicht voll umgesetzt. Nord-und Südsudan müssen sich über die Grenzziehung eini-gen. Sie müssen das Abyei-Problem friedlich lösen.Kämpfer des SPLA, die noch im Nordsudan sind, müs-sen sich zurückziehen.

Zweitens. Wie gehen der Norden und der Süden mitden Folgen der Unabhängigkeit selbst um? Es gibt vieleoffene Fragen zu Rohstoffen und zum Grenzregime.Hier darf sich kein neues Pulverfass auftun.

Drittens. Der Südsudan muss erst staatliche Struktu-ren schaffen. Es gibt überhaupt kein funktionierendesStaatsgebilde. Offen ist, wie sich Bildung, Infrastrukturund Sicherheit auf Dauer ohne internationale Maßnah-men garantieren lassen.

Das Gesamtbild im Sudan bleibt also eine große He-rausforderung. Gott sei Dank – ich habe es gerade schonangesprochen – ist nach Jahren der Ignoranz die Weltge-meinschaft aufmerksam geworden. So hat sich zum Bei-spiel Präsident Obama dieser Frage im Januar diesesJahres in einem bemerkenswerten Artikel im Tagesspie-gel gewidmet. Ich bin froh, dass wir uns auch im Deut-schen Bundestag ausführlich mit diesem Problem be-schäftigen. Das ist auch dem persönlichen Engagementeiniger Abgeordneter zu verdanken. Ich möchte fürmeine Fraktion Hartwig Fischer nennen, der bei unsnicht müde wird, auf dieses Thema hinzuweisen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

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13512 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Philipp Mißfelder

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Ich komme zum Mandat, um dessen Unterstützungich Sie bitte. Die Mission UNAMID soll sicherstellen,dass die Gräueltaten und Vertreibungen in Darfur einEnde haben und die Menschen wieder sicher leben kön-nen. Diesen Auftrag hat der Sicherheitsrat der VereintenNationen gegeben. Darüber sind wir uns in diesemHause einig.

Es gibt nur eine Fraktion, die zu diesem Einsatz Neinsagt, die Linke. Ich möchte die Gelegenheit in dieser ers-ten Lesung nutzen, Sie zu bitten, Ihr Nein zu überden-ken, und hier für einen wirklichen Friedenseinsatz zuwerben. Es ist tatsächlich so, dass man viele grundsätzli-che Fragen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr stel-len kann. Deshalb debattieren wir hier unter dem Parla-mentsvorbehalt jeden Einsatz sehr gewissenhaft und mitgroßer Akribie. Aber bei diesem Einsatz können Sie nunwirklich nicht unterstellen, dass es sich nicht um einenFriedenseinsatz handelt. Deshalb fordere ich Sie auf, IhrNein zu überdenken.

Die Menschen in Darfur rufen uns zu: Helft uns! DieVereinten Nationen sagen: Bitte helft, ihr werdet ge-braucht! – Wir geben die Antwort und machen verant-wortungsbewusste Außenpolitik.

Die Linke sagt aus ideologischen Gründen Nein. Vordem Hintergrund sollte man, glaube ich, in dieser De-batte zwar die Einigkeit des Hauses betonen, aber nichtvergessen, unter welcher Maßgabe sich eine Fraktion au-ßerhalb unseres Konsenses stellt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Die Herausforderungen für Afrika bleiben groß. DieReise unseres Bundesaußenministers begrüße ich aus-drücklich. Auch die anstehende Reise der Bundeskanzle-rin nach Afrika halte ich für wichtig. Ich glaube, dassinsgesamt viele Kolleginnen und Kollegen ihren persön-lichen Fokus viel stärker auf Afrika legen sollten. Wirwerden damit auch unserem Koalitionsvertrag gerecht,in dem wir vereinbart haben:

Wir bekennen uns zur Unterstützung der afrikani-schen Sicherheitsbemühungen und beteiligen uns …Für eine dauerhafte Stabilisierung des Kontinentssetzen wir auf eine starke Afrikanische Union alswichtiger Baustein afrikanischer Eigenverantwor-tung.

Das versuchen wir zu unterstützen. Darum sind die bei-den Mandate, die wir in diesen beiden Sitzungswochenberaten, wichtig.

Ich möchte zuletzt unseren Soldatinnen und Soldaten,aber auch den Polizisten, die dort ihren Beitrag leisten,herzlich danken, dass sie dort auch unter schwierigenBedingungen einen wichtigen Beitrag zum Ansehen un-seres Landes leisten.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:Die Kollegin Buchholz hat für die Fraktion Die Linke

das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)

Christine Buchholz (DIE LINKE):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Mißfelder, wenn Sie uns für ein Ja zu diesem Einsatz ge-winnen wollen, dann hätten Sie zumindest ein Argumentnennen und sich auch mit den Problemen dieses Einsat-zes auseinandersetzen müssen.

(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Frieden!Schutz der Menschen! – Ernst-Reinhard Beck[Reutlingen] [CDU/CSU]: Humanitäre!)

Es besteht bei uns allen in diesem Hause kein Zweifeldarüber, dass die Lage in Darfur katastrophal ist. DasMandat, das heute zur Debatte steht – es stehen schließ-lich nicht die Allgemeinplätze und das Afrika-Konzeptder Regierung zur Diskussion, sondern das UNAMID-Mandat –, ist allerdings völlig ungeeignet, die Lage zuverbessern.

(Beifall bei der LINKEN – Kerstin Müller[Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Stimmt!)

UNAMID ist der größte und teuerste UN-Einsatz inder Geschichte. Er kostet jährlich 1,8 Milliarden Dollar.Mittlerweile sind 23 000 Polizisten und Soldaten in Dar-fur stationiert.

Bei meinem Besuch im Sudan im letzten Novemberhat mir der Mitarbeiter einer Hilfsorganisation gesagt,was er von der Darfur-Mission UNAMID hält. Ich zi-tiere: „UNAMID ist eine große Geldfressmaschine ohneAuswirkung.“

(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das sagt ein Mitarbeiter!)

Der Einsatz wird den Problemen in Darfur nicht ge-recht. Das will ich begründen. Erstens. Dorthin, wo dieGefährdung von Zivilisten stattfindet, kommt UNAMIDgar nicht: weder ins Grenzgebiet zum Tschad noch insGrenzgebiet zum Südsudan und nirgendwohin, wo Ge-fechte stattfinden. Von der Bevölkerung wird UNAMIDdeswegen auch zunehmend als verlängerter Arm derZentralregierung wahrgenommen.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist absolut falsch, was Sie da sagen!)

Zweitens. Weil UNAMID nicht als neutral angesehenwird, empfinden viele Hilfsorganisationen die Präsenznicht als Schutz, sondern als Hindernis für ihre Arbeit.

(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Nennen Sie Namen!)

Das sind Realitäten, die Sie zur Kenntnis nehmen müs-sen, wenn Sie mit den Menschen reden, die dort in denHilfsorganisationen arbeiten.

(Beifall bei der LINKEN – Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Verschwörungstheorie!)

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13513

Christine Buchholz

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Ich habe das gemacht, Sie vielleicht nicht.

Neben der bitteren Armut ist der Klimawandel eineder wesentlichen Ursachen der Probleme der Menschenin Darfur. Die Ausbreitung der Wüste zerstört die Le-bensbedingungen, schafft neue und verschärft alte Kon-flikte.

Letztes Jahr sind 40 Prozent der Ernte in Darfur we-gen Dürre ausgefallen. Die 16 trockensten Jahre seit Be-ginn der Aufzeichnungen 1910 fielen in die letzten30 Jahre. Wenn die Entwicklung so weitergeht, erwartetdie UNO bis 2050 Ernteausfälle von 70 Prozent.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Wer hat denn die Wasserlöcher zerstört?)

Solange die Menschen dort keine wirtschaftliche undsoziale Perspektive haben, wird es keinen Frieden geben.Dazu enthält Ihr Antrag gar nichts; Sie schreiben nur,dass Sie mit dem Nordsudan keine Entwicklungszusam-menarbeit machen wollen. Das ist angesichts der Pro-bleme ein Armutszeugnis.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich hatte im November letzten Jahres die Gelegenheit,in Darfur mit allen drei zu dem Zeitpunkt dort stationier-ten Bundeswehrsoldaten zu sprechen. Einer von ihnensagte: „Wenn wir unser Mandat, den Schutz der Zivilbe-völkerung, nicht wahrnehmen können, sind wir hierüberflüssig.“ Recht hat er: Beenden Sie den Militär- undPolizeieinsatz, der ohnehin ein symbolischer ist, und be-ginnen Sie endlich, sich ernsthaft über wirkliche Hilfefür die Menschen in Darfur Gedanken zu machen!

(Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer[Göttingen] [CDU/CSU]: Das war’s? Das wardie Alternative?)

Vizepräsidentin Petra Pau:Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-

lege Nouripour das Wort.

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Spätes-

tens seit es einen Haftbefehl gegen al-Baschir, den Präsi-denten des Sudan, gibt, verbindet man die Situation inDarfur mit einem Namen. Die Tatsache, dass dieser Prä-sident dieser Tage mit einem roten Teppich in Pekingempfangen wurde, ist deshalb nicht nur eine moralischeBankrotterklärung, sondern auch eine Niederlage für dieinternationale Gerichtsbarkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Ich möchte die Bundesregierung aufrichtig bitten– sie übernimmt in knapp neun Stunden den Vorsitz imUN-Sicherheitsrat –, auf unsere Partnerstaaten, geradeauf die USA, einzuwirken, keine Double Standards undEinfallstore mehr zuzulassen und dem Statut des Interna-tionalen Strafgerichtshofs beizutreten. Das wäre ein rich-tiges Signal Richtung China und eine große Hilfe zurVerbesserung der Situation im Sudan, speziell in Darfur.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Situation in Darfur ist gravierend. Präzise Zahlensind zwar nicht bekannt, aber Schätzungen gehen von300 000 bis 400 000 Getöteten in den letzten acht Jahrenund von bis zu 3 Millionen Vertriebenen aus. DieseSchätzungen sind nicht ganz präzise, weil wir kein ge-naues Bild haben. Aber selbst die vorsichtigsten Schät-zungen zeichnen ein Bild des Grauens. Die aktuelle Lageist zwar besser als die in der Zeit vor dem Waffenstill-stand. Aber es gibt weiterhin viele Gewaltausbrüche. DieFriedensverhandlungen in Doha sind gescheitert. Es gibtweiterhin Kämpfe zwischen dem Justice and EqualityMovement, Regierungstruppen und den Dschandscha-wid-Milizen. Sie verhindern, dass internationale Hilfslie-ferungen ankommen, behindern den Zugang zu Flücht-lingslagern und greifen UN-Personal an. Natürlich ist dieZivilbevölkerung die erste Leidtragende. Wir erlebendort eine fürchterliche humanitäre Katastrophe.

Die politische Situation ist verfahren. Die Doha-Frie-densverhandlungen sind, wie gesagt, gescheitert. Diepolitische Situation wird nicht unbedingt dadurch einfa-cher, dass Khartoum nun mit der Unabhängigkeit des Sü-dens konfrontiert ist. Gerade in dieser Situation istUNAMID wichtig. Gerade in dieser Situation ist es wich-tig, dass es eine UN-Mission gibt, die zumindest den Ver-such unternimmt, das Land zu stabilisieren. Deshalb istdie Fortsetzung des Mandates – auch unter Beteiligungder Bundeswehr – aus meiner Sicht völlig richtig. Dieentscheidende Frage ist nur, welches Engagement dafürgebraucht wird. In der letzten UNAMID-Debatte hat HerrAußerminister Westerwelle den Satz gesagt: Der Sudanbraucht von der internationalen Gemeinschaft mehr En-gagement und nicht weniger. – Zudem gab es damals ei-nen von einer breiten Mehrheit getragenen interfraktio-nellen Antrag, in dem die Bundesregierung aufgefordertwird, mehr Engagement im Sudan zu zeigen. Nun stehtaber im vorliegenden Mandatstext:

Der Einsatz wird im Übrigen fortgesetzt ohne in-haltliche Änderungen … .

Die Bundesregierung nimmt an dieser Stelle leidernoch nicht einmal die Forderungen der Koalitionsfrak-tionen für voll und erfüllt sie nicht. Das ist extrem wenigund sehr bedauerlich.

Es fehlt an Ausrüstung. Es ist sicherlich richtig, dassdie Hubschrauberfrage gelöst werden muss. Aber das istbei weitem nicht das einzige ungelöste Problem. Das be-trifft nicht nur UNAMID. Es wird auch nicht versucht,den EU-Sonderbeauftragten für den Sudan zu stärken.Die Liste der Mängel ist lang. Man muss feststellen: DieBundesregierung macht an dieser Stelle leider viel zuwenig. Diese Passivität ist sehr bedauerlich.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Das heißt aber nicht, dass die Mission falsch ist. Ich plä-diere dafür, der Fortsetzung des Mandats zuzustimmen.

Die Bevölkerung in Darfur braucht unsere Hilfe, ins-besondere im zivilen Bereich. Wenn ich eine letzte Zahlnennen darf: Es sind gerade einmal sechs Polizisten ausDeutschland dort eingesetzt. Das entspricht 0,1 Prozentder gesamten Polizeimission vor Ort. Die Polizistinnen

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Omid Nouripour

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und Polizisten sowie die Soldatinnen und Soldaten, diedorthin entsandt werden, leisten einen hervorragendenund dankenswerten Einsatz unter schwierigsten Bedin-gungen. Aber sie brauchen mehr Unterstützung, Engage-ment und Rückendeckung seitens der Bundesregierung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau:Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege

Dr. Götzer das Wort.

Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Noch immer ist die Lage in Darfur von Gewalt ge-prägt. Der Waffenstillstand von Doha zwischen der Re-gierung und den Rebellengruppen wird immer wiedergebrochen. So haben erst kürzlich Soldaten der VN-Mis-sion in Darfur über Bombardierungen durch Regierungs-truppen sowie von der Geiselnahme mehrerer Angehöri-ger von Hilfsorganisationen berichtet. Auch die jüngstenDarfur-Friedensgespräche in Doha sind am 31. Mai die-ses Jahres ohne konkretes Ergebnis zu Ende gegangen.Die Lage im Westen des Sudan bleibt somit angespannt,und eine dauerhafte politische Lösung des Darfur-Kon-flikts steht nach wie vor aus. Dies zeigt die Notwendig-keit der Verlängerung des UNAMID-Mandats eindeutigauf.

Die UNAMID-Mission der Vereinten Nationen, inner-halb derer unsere deutschen Soldatinnen und Soldatenunter schwierigsten Bedingungen einen wichtigen Bei-trag leisten, dient der Verbesserung der Sicherheitslage inDarfur und begleitet die politischen Bemühungen um einEnde der dortigen Krise. Auch ich möchte deshalb – diesist kein Ritual, sondern es kommt aus tiefstem Herzen –unseren Soldatinnen und Soldaten im Sudan für die ver-schiedenen Einsätze, die sie dort leisten – wie gesagt, un-ter extremen Bedingungen –, unser aller Dank ausspre-chen.

(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-ten der FDP)

Die Mission ist daher unbedingt unverändert zunächstbis zum 15. November 2012 fortzusetzen. Darin ist sichwohl die ganz große Mehrheit dieses Hauses einig.

Auch UNMIS ist als stabilisierendes Element zurWahrung der Sicherheit der Zivilbevölkerung im Sudanunverzichtbar. Eine der Hauptaufgaben von UNMIS wardie Sicherung des Referendums über den Südsudan vom9. bis 15. Januar dieses Jahres. Das Referendum war Teileines Friedensabkommens von 2005 und sollte den mehrals 20 Jahre andauernden Bürgerkrieg im Sudan been-den. Die Tatsache, dass das Referendum, bei dem sicheine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung dafürausgesprochen hat, einen unabhängigen Staat Südsudanzu errichten, relativ friedlich und korrekt durchgeführtwurde, ist auch ein Zeichen für den Erfolg der UNMIS-Mission. Auf Grundlage dieses Referendums geht es nundarum, eine dauerhaft stabile politische Lösung für dieZukunft von Nord- und Südsudan zu finden.

Der Südsudan braucht jetzt zur Stabilisierung drin-gend stärkere, bessere staatliche Strukturen. Das ist ent-scheidend für die Stabilität der gesamten Region, wennman bedenkt, dass der Sudan das derzeit größte afrikani-sche Flächenland ist.

Darüber hinaus muss auch die Menschenrechtslage imSüdsudan langfristig verbessert werden. Hierbei werdenwir nur Fortschritte sehen, wenn sich insbesondere die Si-cherheitskräfte an rechtsstaatlichen Kriterien orientieren.Irreguläre Milizen müssen deshalb entwaffnet und wiederin die Zivilgesellschaft eingegliedert werden, wo diesmöglich ist. Eine bessere Ausbildung und Unterstützungim Rahmen dieser Demobilisierungsprogramme ist un-verzichtbar. Daher muss sich an UNMIS eine Folgemis-sion anschließen, die all dies leisten kann. Deutschlandwill und wird dazu auch weiterhin seinen Beitrag erbrin-gen.

Da mit der Unabhängigkeit des Südsudan in wenigenTagen, am 9. Juli dieses Jahres, allerdings das beste-hende UNMIS-Mandat endet, ist ein neues Mandat unddamit eine erneute Befassung des Bundestages erforder-lich. Mit der Erteilung eines neuen Mandats durch denVN-Sicherheitsrat ist Ende nächster Woche zu rechnen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, am Tag der südsu-danesischen Unabhängigkeitserklärung wird Deutsch-land bereits den Vorsitz im VN-Sicherheitsrat haben undoffiziell für die Begrüßung des neuen Staates in der Orga-nisation zuständig sein. Wir sollten auch aus diesemGrund dafür Sorge tragen, dass unsere Zustimmung zurBeteiligung an dem Mandat bis zu diesem Tag erfolgt ist.

Deutschland hat bislang im Sudan einen außerordent-lich guten Namen und wird als ehrlicher Mittler zwi-schen Nord und Süd betrachtet. Im Interesse der Men-schen im Sudan, aber auch nicht zuletzt, um unserenSoldatinnen und Soldaten für ihren schwierigen Einsatzden Rücken zu stärken, bitte ich Sie um Unterstützungdieser Mandate.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die

Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/6322 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von der Frak-tion der SPD eingebrachten Entwurfs eines… Gesetzes zur Änderung des Grundgeset-zes (Artikel 3 Absatz 3 Satz 1)

– Drucksache 17/254 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Dr. Barbara Höll, Cornelia Möhring,Matthias W. Birkwald, weiteren Abgeordnetenund der Fraktion DIE LINKE eingebrachten

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Vizepräsidentin Petra Pau

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Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung desGrundgesetzes (Artikel 3 Absatz 3 Satz 1)

– Drucksache 17/472 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Volker Beck (Köln), Jerzy Montag,Kai Gehring, weiteren Abgeordneten und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Grundgesetzes (Artikel 3 Absatz 3Satz 1)

– Drucksache 17/88 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 17/4775 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Stephan HarbarthDr. Jan-Marco LuczakChristine LambrechtMarco BuschmannHalina Wawzyniak

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sichum folgende Kolleginnen und Kollegen: Dr. Jan-MarcoLuczak und Norbert Geis für die Unionsfraktion, SonjaSteffen für die SPD-Fraktion, Marco Buschmann für dieFDP, Dr. Barbara Höll für die Linken und Volker Beckfür die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf ei-nes Gesetzes der Fraktion der SPD zur Änderung desGrundgesetzes, Art. 3 Abs. 3 Satz 1. Der Rechtsaus-schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/4775, den Gesetzent-wurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/254abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist inzweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt laut unsererGeschäftsordnung die weitere Beratung.

Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes derFraktion Die Linke zur Änderung des Grundgesetzes,Art. 3 Abs. 3 Satz 1: Der Rechtsausschuss empfiehlt un-ter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/4775, den Gesetzentwurf der Fraktion DieLinke auf Drucksache 17/472 abzulehnen. Ich bitte die-jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, umdas Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abge-lehnt. Damit entfällt laut unserer Geschäftsordnung dieweitere Beratung.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf ei-nes Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zurÄnderung des Grundgesetzes, Art. 3 Abs. 3 Satz 1. DerRechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/4775, den Ge-

1) Anlage 16

setzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 17/88 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DerGesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damitentfällt laut unserer Geschäftsordnung die weitere Bera-tung.

Ich rufe die Zusatzpunkte 8 und 9 auf:

ZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzeszur Änderung des Parteiengesetzes und eines… Gesetzes zur Änderung des Abgeordneten-gesetzes

– Drucksache 17/6291 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und GeschäftsordnungRechtsausschuss

ZP 9 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Dagmar Enkelmann, Herbert Behrens, MatthiasW. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKE

Kommission zur Überprüfung des Abgeordne-tenrechts – Mehr Transparenz und Verant-wortung für das Gemeinwohl

– Drucksache 17/6305 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (f)InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesHaushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieBeratung eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegePeter Altmaier für die Unionsfraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Peter Altmaier (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Eine funktionierende Demokratie braucht funk-tionsfähige politische Institutionen. Dies gilt für Parteienund Parlamente gleichermaßen. Auch wenn wir die De-batten, die wir heute führen, oftmals vor dem Hinter-grund öffentlicher Befindlichkeiten führen, selbst wennsie nicht immer frei von der einen oder anderen partei-politischen Erwägung sind, glaube ich, dass es gut ist,daran zu erinnern, dass ein kardinales Problem der Wei-marer Republik in der enormen Schwäche der demokra-tischen Parteien bestand. Diese Schwäche geht daraufzurück, dass die demokratischen Parteien von Weimarweder eine ausreichende Mitgliederbasis noch eine aus-reichende Finanzausstattung besaßen und deshalb vonSpenden, von Geldern, von privaten Interessen abhängigwurden.

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Peter Altmaier

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Infolgedessen ist im Grundgesetz ausdrücklich dieRolle der Parteien verankert. Auf der Grundlage dieserVorschrift haben wir uns schon vor vielen Jahren für einestaatliche Teilfinanzierung politischer Parteien entschie-den. Nur wenn die Parteien tatsächlich zur Wahrneh-mung ihrer Aufgaben befähigt sind, können sie an derWillensbildung verantwortlich mitwirken.

Die letzte Anpassung der staatlichen Parteienfinan-zierung liegt neun Jahre zurück. Vor neun Jahren wurdedie absolute Obergrenze zum letzten Mal angepasst. Ob-wohl eine Anpassung an die Preisentwicklung von An-fang an intendiert war, ist sie in der Praxis zu keinemZeitpunkt erfolgt. Das bedeutet, dass sich die Rahmen-bedingungen für die politische Arbeit von Parteien ge-messen an der Situation vor rund zehn Jahren in derZwischenzeit erheblich verschlechtert haben. Dies müs-sen wir zur Kenntnis nehmen.

Wir haben uns nach langen Überlegungen dazu ent-schlossen, in zwei verantwortlichen, maßvollen Schrittendie staatliche Teilfinanzierung an die zwischenzeitlicheingetretenen preislichen Veränderungen anzupassen,wohlgemerkt nicht rückwirkend, sondern lediglich für dieZukunft. Wir haben uns entschieden, eine automatischeAnpassung an die Preisentwicklung für die Zukunft vor-zuschlagen, weil wir glauben, dass Verlässlichkeit undBerechenbarkeit wichtig sind. Es geht um nicht mehr undnicht weniger.

Ähnlich wichtig wie die Funktionsfähigkeit der politi-schen Parteien ist die Funktionsfähigkeit unserer demo-kratisch gewählten Parlamente. Es gab im Kaiserreich,in der Bismarck-Zeit und vor dem Ersten Weltkrieg hef-tige Debatten darüber, ob es überhaupt angebracht ist,Abgeordnete mit Entschädigungen auszustatten. Einesolche Ausstattung ist von denjenigen abgelehnt worden,die das Parlament schwächen wollten und die ein Inte-resse daran hatten, dass das Parlament als gleichberech-tigter Gegenpart zu einer starken Exekutive seine Rollenicht spielen konnte. Auch das war der Grund, warumsich die Gründungsväter der Bundesrepublik Deutsch-land im Grundgesetz dazu entschieden haben, die Ar-beitsfähigkeit der Parlamente durch eine angemesseneEntschädigung der Abgeordneten sicherzustellen.

Wir haben in der Vergangenheit oftmals – häufigdurch eigene Fehler und durch eigene Ungeschicklich-keiten – Debatten geführt, die dem Ansehen des Parla-ments in der Öffentlichkeit nicht zuträglich waren. Wirmüssen zugeben, dass die Schuld daran nicht immer nurandere trifft, sondern es lag oft auch an eigener Uneinig-keit und an der Unfähigkeit, uns auf angemessene undnachvollziehbare Maßstäbe zu einigen.

Vor einigen Jahren haben wir entschieden, dass sichdie Entschädigung der Abgeordneten an den Einkünftenvon Bürgermeistern kleinerer und mittlerer Städte undvon Richtern an obersten Bundesgerichten orientierensoll. Dies ist eine Einordnung, die man in der politischenDiskussion begründen und vertreten kann. Abgeordnetevertreten Wahlkreise von bis zu 300 000 Einwohnern.Sie haben eine Verantwortung für die Gesetzgebung desBundes, aber auch für die Akzeptanz parlamentarischer

Demokratie vor Ort in ihren Wahlkreisen. Deshalb ist eseine Frage des Selbstverständnisses des Parlaments undder parlamentarischen Demokratie, wie man mit den ei-genen Repräsentanten umgeht.

Wir haben die Zielmarge, die wir selbst im Gesetzverankert haben, in der Vergangenheit nie erreicht. Dashatte viele Gründe. Ein Grund war auch die Wirtschafts-krise als Folge der internationalen Bankenkrise, die dazuführte, dass für viele Bürgerinnen und Bürger nicht nurkeine Einkommenssteigerungen realisiert werden konn-ten, sondern dass durch Kurzarbeit und anderes Einbu-ßen hingenommen werden mussten.

Es war für uns selbstverständlich – ich rede an dieserStelle im Namen aller Fraktionen in diesem Hause –,dass wir im Jahre 2009 nach der Bundestagswahl und imJahre 2010, als die große Wirtschaftskrise gerade ersthinter uns lag und in ihren Folgen noch nicht überwun-den war, eine solche Anpassung der Diäten nicht vorge-nommen haben. Aber wir haben auch eine Verantwor-tung, die Frage zu beantworten, wie die Entwicklung derDiäten vor dem Hintergrund der Entwicklung der nächs-ten Jahre weitergehen soll.

Was wir vorgeschlagen haben, sind zwei Anpassungs-schritte für das nächste und das übernächste Jahr in derGrößenordnung von 3,8 und 3,7 Prozent, was, wenn mandas auf die Wahlperiode insgesamt umrechnet, durchausmit der allgemeinen Lohn- und Einkommensentwick-lung übereinstimmt. Wir machen damit einen Schritt, dervertretbar ist, der nachvollziehbar ist und der dazu bei-trägt, dass wir die gesetzlich angepeilte Größenordnungwenn nicht erreichen, so ihr doch einen Schritt näherkommen.

Wir haben uns aber auch entschieden, eine unabhän-gige Kommission einzuberufen, die sich mit der Frageder Altersversorgung von Abgeordneten und mit derFrage der künftigen Anpassung der Bezüge beschäftigensoll. Wir werden diese Kommission so organisieren, dassder Sachverstand, den es in unserer Gesellschaft gibt,mit einbezogen wird. Wir werden am Ende der Wahlpe-riode darüber zu diskutieren haben, welche Veränderun-gen wir vor dem Hintergrund von Entwicklungen in derGesellschaft vornehmen müssen. Wir führen diese Dis-kussion offen. Wir führen diese Diskussion transparent.

Ich möchte mich bei allen Kolleginnen und Kollegenim Deutschen Bundestag bedanken, die dazu beigetra-gen haben, dass wir gemeinsam einen vernünftigen undvertretbaren Vorschlag vorgelegt haben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Oppermann für die SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

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Thomas Oppermann (SPD):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach

Art. 48 des Grundgesetzes haben die Abgeordneten An-spruch auf eine angemessene Entschädigung, die ihreUnabhängigkeit sichert. Diese Vorschrift ist eine demo-kratische Errungenschaft; der Kollege Altmaier hatschon darauf hingewiesen. Es ist sicher nicht richtig,wenn jemand nur deshalb in die Politik geht, um dortGeld zu verdienen; aber es kann auch nicht richtig sein,wenn nur diejenigen in die Politik gehen, die es sich fi-nanziell leisten können. Deshalb brauchen wir eine Ab-geordnetenentschädigung, die es allen ermöglicht, imParlament Aufgaben zu übernehmen und den Beruf desAbgeordneten auszufüllen.

Wir haben in der Vergangenheit immer wieder ver-sucht, dafür Maßstäbe zu finden, und sind im Jahr 1995zu dem Ergebnis gekommen, dass sich eine angemes-sene Entschädigung in der Besoldungsgruppe R 6 oderB 6 ausdrückt. Das ist die Besoldungsgruppe, die Bun-desrichter und Bürgermeister in mittleren Städten erhal-ten.

Ich glaube, das ist ein angemessener Maßstab. DieAbgeordneten haben schwierige Entscheidungen zu tref-fen. Sie tragen große Verantwortung. Sie müssen ent-scheiden über Bundeswehreinsätze im Ausland. Siemüssen entscheiden, ob der Haushalt konsolidiert wirdoder ob Steuersenkungen gemacht werden sollen, wennSteuermehreinnahmen vorhanden sind. Sie müssen ent-scheiden, ob wir in Deutschland zukünftig eine Energie-versorgung ohne Atomkraft und nur mit erneuerbarenEnergien haben wollen. Sie müssen entscheiden, ob wirGriechenland unterstützen, damit der Euro stabilisiertwird. Das sind schwierige Entscheidungen, komplexeEntscheidungen; wir alle wissen, dass es keine einfachenEntscheidungen sind. Die Arbeit, die hier gemacht wird,ist anspruchsvoll, und sie bedeutet eine hohe Verantwor-tung. Also halte ich die Besoldungsgruppe R 6 für einenvernünftigen Maßstab.

Die Abgeordneten müssen – so hat es das Bundesver-fassungsgericht im Diätenurteil 1975 festgelegt – dieEntscheidung selber treffen; sie können sie nicht dele-gieren. Das muss ein offener, transparenter Prozess sein.Das ist in Ordnung. Aber wir hatten nicht immer denMut und vielleicht auch nicht immer das Geschick, Diä-tenerhöhungen oder -anpassungen durchzusetzen. In denletzten zehn Jahren hatten wir fünf Nullrunden. AmEnde des Jahres werden wir schon rund 8 Prozent hinterder Besoldungsgruppe R 6 liegen. Deshalb ist die jetztvorgesehene Anpassung notwendig. Sie bringt uns 2013bei der Besoldungsgruppe R 6 auf den Stand von 2010.Wir haben also keine vollständige Anpassung; wir habeneine nachholende Anpassung. Die ist vernünftig. DasGanze hat Augenmaß.

Wenn ich sehe, wie unaufgeregt unsere Vorschlägebisher kommentiert worden sind und dass es in ansons-ten in dieser Frage außerordentlich kritischen Mediensogar zustimmende Kommentare gab, dann zeigt das fürmich, dass dieser Vorschlag für die Anpassung akzep-tiert wird. Wir sollten ihn ebenfalls akzeptieren und das

Ganze dann nächste Woche in der zweiten und drittenLesung beschließen.

Ich bin zuversichtlich, dass das gelingt und dass dieAbgeordnetenentschädigung das Vertrauen der Men-schen in das Parlament nicht infrage stellt oder beein-trächtigt, den Abgeordneten aber eine vernünftige Arbeitermöglicht. Zum Bereich der Parteienfinanzierung wirdmein Kollege Wiefelspütz noch eine Anmerkung ma-chen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege van Essen für die FDP-

Fraktion.

Jörg van Essen (FDP):Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Ich möchte meine Ausführungen mit ei-ner Beobachtung beginnen. Als ich in meinem alten Be-ruf in der Justiz tätig war, wurde ich von meinen Studi-enkollegen ständig gefragt: Wie konntest du so unklugsein – sie haben es etwas drastischer ausgedrückt –, indie Justiz zu gehen? Mit deinem Examen hättest du dochgroße Chancen, als Rechtsanwalt viel mehr Geld zu ver-dienen. – Das habe ich immer an mir abperlen lassen,weil ich in meinem Beruf sehr viel Befriedigung gefun-den habe, weil ich die Arbeit interessant fand und weilich gerne Angehöriger der Justiz war.

Dann wurde ich in den Bundestag gewählt und hattefast das gleiche Gehalt, aber mindestens die dreifacheArbeitszeit. Früher, als ich noch Oberstaatsanwalt war,hätte ich mich um diese Zeit auf das Anschauen desheute journals vorbereitet. Jetzt stehe ich hier und ar-beite noch.

(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das nennen Sie Arbeit, Herr Kollege van Essen?)

Früher, als ich Oberstaatsanwalt war, hatte ich jedes Wo-chenende frei. Mein letztes freies Wochenende hatte ichAnfang Februar. Von daher hat sich eine Menge getanund verändert, insbesondere was die Betrachtung meinesGehaltes anbelangt. Seitdem ich Abgeordneter bin, mussich mich wegen meines üppigen Gehalts verteidigen.Vorher hat man sich über mein geringes Gehalt lustig ge-macht; jetzt – mit dreifacher Arbeitszeit und viel größe-rer Verantwortung – muss ich mich, wie gesagt, wegenmeines Gehalts verteidigen. So unterschiedlich sind of-fensichtlich die Betrachtungsweisen.

Deshalb bin ich dankbar, dass die Kollegen, die bishergeredet haben, darauf hingewiesen haben, dass wir kei-nerlei Grund haben, uns zu verstecken. Das gilt auch fürden Vorschlag, der jetzt zur Debatte steht.

Wenn Sie sich einmal vergegenwärtigen: Es gibt diedrei obersten Bundesorgane – den Bundestag, die Bun-desregierung und das Bundesverfassungsgericht. AlleOrgane sind gleichberechtigt. Dabei ist die Verantwor-tung sehr ähnlich gelagert, ebenso die Arbeitszeit. Das

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Jörg van Essen

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Ministergehalt liegt jenseits der Besoldungsstufe B 11.Das Gehalt der Verfassungsrichter liegt ebenfalls in die-ser Größenordnung. Von daher bedeutet es überhauptkeine Überschätzung der eigenen Position – sondernganz im Gegenteil ein Stück Bescheidenheit –, wenn wirsagen: Wir wollen uns an B 6 orientieren.

In den letzten Jahren sind wir – weil wir zum Teil sogarauf Anpassungen der Abgeordnetenentschädigung ver-zichtet haben – gegenüber B 6 ganz erheblich zurückge-fallen. Wenn man sich einmal anschaut, wer in unseremUmfeld – beispielsweise in der Bundestagsverwaltung –oder wer von unseren Mitarbeitern in den Fraktionen inder Gehaltsstufe B 6 und höher ist, dann wird man zu demSchluss kommen, dass es wahrscheinlich nur ganz we-nige Institutionen gibt, wo diejenigen, die die eigentlicheVerantwortung tragen, weniger Geld verdienen als dieMitarbeiter, die ihnen zuarbeiten. Auch das ist ein Grund,warum wir uns mit unserem Vorschlag nicht versteckenmüssen.

Ich halte es daher für richtig, dass wir diese Anpas-sung vornehmen, und zwar in zwei Schritten. Der Kol-lege Oppermann hat schon darauf hingewiesen, dass wirauch dann im Jahr 2013 die Besoldungsstufe B 6 nichterreichen, sondern dass wir nur auf den Stand des Jahres2010 kommen. In der Zwischenzeit wird es sicherlichnoch Erhöhungen der Beamtenbesoldung geben, sodasssich der Abstand im Jahre 2013 nochmals vergrößernwird. Von daher denke ich, dass wir hier einen maßvol-len Vorschlag vorlegen.

Ich möchte an etwas erinnern, das häufig untergeht.Die meisten glauben, insbesondere die Altersversorgungder Abgeordneten sei besonders üppig. Wer sich einmaldamit beschäftigt hat, weiß, dass es viele Witwen gibt,die von einer sehr geringen Rente leben. Es ist auch keinGeheimnis, dass der Bundestag da und dort helfen muss.Auch wir mussten in bestimmten Fällen über eine So-zialkasse, die wir in der Fraktion haben, helfen, damit je-mand überhaupt existieren konnte. Auch das gehört zurWirklichkeit; auch das muss bei einer so deutschen De-batte wie der heutigen angesprochen werden.

Wir von der FDP haben uns immer dagegen gewehrt,dass wir mit Beamten verglichen werden. Wir haben dasGefühl – daran hat sich nichts geändert –, dass wir eherzu den freien Berufen gehören. Trotzdem kann und darfdie Beamtenbesoldung als Orientierungsmaßstab dienen.Wir möchten aber, dass auch die Erfahrungen, die in derletzten Zeit mit einigen neuen Modellen gemacht wor-den sind, in die Diskussionen einfließen. Der nordrhein-westfälische Landtag hat beispielsweise eine neue Formder Altersversorgung eingeführt, übrigens mit Ergebnis-sen, die einen nicht zufriedenstellen können: Ein Kol-lege von mir, der nicht wieder in den Landtag gewähltworden ist, ist im Augenblick ohne Gehalt, und zwarschon seit etwa anderthalb Jahren. Das ist etwas, dasnicht eintreten darf. Wer für dieses Land gearbeitet hat,kann, wenn er aus dem Parlament ausscheiden muss,weil er nicht wiedergewählt worden ist, nicht plötzlichauf der Straße stehen. Wir haben die Verantwortung, da-für zu sorgen, dass das nicht eintritt.

Ich freue mich deshalb sehr, dass wir zwischen denFraktionen insgesamt vereinbart haben, eine Kommis-

sion einzurichten, die sich genau das anschaut: das Sys-tem, nach dem die Höhe der Abgeordnetenentschä-digung bestimmt wird, und das System derAltersversorgung. Sachsen hat beispielsweise ein inte-ressantes Modell, bei dem mit Erfolgsfaktoren gearbeitetwird, beispielsweise mit der Höhe des Bruttoinlandspro-dukts; auch das sollte man sich anschauen.

Meine beiden Vorredner haben schon deutlich ge-macht, dass die Parteienfinanzierung der allgemeinenEntwicklung ganz erheblich hinterherhinkt. Auch dawird angepasst, und zwar angemessen. Deswegen wirdmeine Fraktion beides unterstützen: sowohl die Anpas-sung der Parteienfinanzierung als auch die Anpassungder Abgeordnetenentschädigung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten der SPD und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat die Kollegin Dr. Enkelmann für die

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE):Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Jetzt ist es an mir, Wasser in den Wein zu kip-pen; ich vermute einmal, Sie haben mit nichts anderemgerechnet. Herr van Essen, angesichts der Höhe der Diä-ten und der sonstigen Versorgung, die wir bekommen, istMitleid nicht angebracht.

(Jörg van Essen [FDP]: Habe ich auch nichtgefordert! Ich habe Selbstbewusstsein einge-fordert, nicht Mitleid!)

Seit Juni bekommen Rentnerinnen und Rentner indiesem Land 0,99 Prozent mehr Rente;

(Jörg van Essen [FDP]: Hier geht es nicht umdie Altersversorgung, Frau Kollegin! Wir ar-beiten noch!)

das sind im Schnitt 10 Euro mehr. Das hat nun wahrlichnicht zu La-Ola-Wellen der Seniorinnen und Seniorengeführt, zumal in Anbetracht einer Inflationsrate, dieüber 2 Prozent liegt; die Rentenerhöhung hat also nochnicht einmal die Inflation ausgeglichen.

(Patrick Döring [FDP]: Das ist ein unzulässi-ger Vergleich!)

Es wird ein Riesenbuhei um Steuerentlastungen ge-macht, aber es kommt wohl nur ein Mäuschen heraus:eine Entlastung um 20 Euro, kaum der Rede wert. Indiesem Haus und im Vermittlungsausschuss ist monate-lang über 5 Euro mehr für Hartz-IV-Empfängerinnenund -Empfänger diskutiert worden.

(Patrick Döring [FDP]: Aber wir arbeiten!)

Das war eine unwürdige Debatte.

(Beifall bei der LINKEN)

(B)

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Dr. Dagmar Enkelmann

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Jetzt feiern Sie sich schon dafür, dass Langzeitarbeits-lose ab dem nächsten Jahr, ab 2012, möglicherweise10 Euro mehr erhalten sollen.

Herr Altmaier, Herr van Essen, Herr Oppermann, ma-chen wir es doch einmal konkret – warum haben Sie ei-gentlich die Zahlen nicht genannt? –: Ab 2012 soll jederAbgeordnete monatlich 292 Euro mehr erhalten, ab 2013noch einmal 292 Euro mehr; das ist eine Steigerung umfast 600 Euro innerhalb von zwei Jahren. Das ist unver-schämt. Ich frage mich: Warum schämen Sie sich nichtdafür?

(Beifall bei der LINKEN – Jörg van Essen[FDP]: Wenn Sie zugehört hätten, wüssten Siedie Gründe!)

Angesichts der mageren Zuwachsraten, die es bei Be-schäftigten, Rentnerinnen und Rentnern und Langzeitar-beitslosen gibt, ist dieser Zuwachs bei Abgeordneten ab-solut unangemessen. Um die Erhöhung durchzusetzen,reicht Ihnen nun eine Beratungszeit von gerade einmaleiner Woche;

(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Schämen Sie sich Ihres Gehalts, Frau Enkelmann?)

innerhalb einer Woche wollen Sie das hier durchziehen.

Um uns das Ganze schmackhaft zu machen, haben Sienun angekündigt, eine Kommission zur Neuregelung derAltersversorgung einzurichten. Eine solche Neuregelungfür den Bundestag ist längst überfällig, denn es ist nichthinnehmbar, dass Abgeordnete des Bundestages – imÜbrigen auch des Europaparlaments und eines Teils derLandtage – nichts für ihre Altersversorgung einzahlen.

Die Linke legt Ihnen heute einen Antrag vor. Es gehtuns um die Neuregelung der Altersversorgung. Wir wol-len, dass Abgeordnete in die gesetzliche Rentenversiche-rung einzahlen. Das ist unser Vorschlag. Uns reicht dasaber nicht aus. Wir sagen: Wenn wir an das Abgeordne-tengesetz herangehen, dann geht es um mehr Fragen.Dann geht es auch um die Frage, ob die Kostenpauschaleauf den Prüfstand gehört und ob Abgeordnete in Sozial-versicherungssysteme einzahlen sollen. Sie haben einenKollegen aus Ihrer Partei als Beispiel genannt.

(Jörg van Essen [FDP]: Nein, nicht aus meiner Partei!)

Es gibt auch bei uns Kollegen, die zum Beispiel 2002aus dem Bundestag ausgeschieden sind und die, weil wirnicht in die Arbeitslosenversicherung einzahlen, keinArbeitslosengeld bekommen und keinen Anspruch aufQualifizierung etc. haben. Insofern schlagen wir Ihnenvor, dass auch Abgeordnete in die Arbeitslosenversiche-rung einzahlen. Warum nicht?

(Beifall bei der LINKEN)

Wir wollen auch mehr Transparenz bei den Nebentä-tigkeiten und den Nebeneinkünften. Diesbezüglich füh-ren wir zwar eine Diskussion in der Rechtsstellungskom-mission, aber wir kommen auch an dieser Stelle nichtweiter. Sie beschränken sich auf einen kräftigen Schluckaus der Diätenpulle und eine vage Ankündigung in Sa-chen Pension. Das ist der Linken zu wenig.

Danke.

(Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Ach, Sie hätten gerne mehr!)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Volker Beck für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin

schon erstaunt, dass es nach den Vorstellungen der Lin-ken mehr geben soll als die von uns vorgeschlagene An-passung an R 6, also an das, was die obersten Bundes-richter bekommen.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Dasist ein bisschen billig! Sie haben mich schonverstanden!)

Frau Kollegin Enkelmann, ich finde, Sie haben recht:Wir brauchen kein Mitleid.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Rich-tig!)

Das hat auch niemand in der Debatte für uns eingefor-dert. Ich glaube, wir haben ein sehr gutes Einkommen,um das uns viele in der Bevölkerung beneiden, auch die-jenigen, die schwer arbeiten müssen und teilweise er-bärmliche Gehälter bekommen. Wir können im Rahmender Diskussion über die Angemessenheit der Abgeord-netenentschädigung nicht die Debatte über unsere So-zialversicherungssysteme, Mindestlöhne und alles mög-liche andere führen. Diesbezüglich haben wir ganzandere Auffassungen als die Damen und Herren von derKoalition, und wir finden, auch da muss etwas gesche-hen. Das entbindet uns aber nicht von der Aufgabe, zuentscheiden, was die angemessene Entschädigung undVersorgung von Abgeordneten ist.

(Jörg van Essen [FDP]: Exakt!)

Natürlich kann man die anderen beschimpfen. Sprü-che wie „Ein gehöriger Schluck aus der Pulle!“ kommenin bestimmten Medien immer gut an. Das wird von vie-len Menschen falsch verstanden, auch deswegen, weil esihnen schlecht geht und sie unsere Situation aus einer an-deren Perspektive betrachten. Das nehme ich ernst undverstehe das.

Sie schreiben in Ihrem Antrag lapidar:

Der Orientierungsmaßstab der monatlichen Abge-ordnetenentschädigung ist kritisch zu überprüfen.

Ihrem Antrag entnehme ich aber keine Kriterien für diekritische Überprüfung. Ich finde, wer die anderen für ei-nen konkreten Vorschlag kritisiert, der auf Heller undPfennig genau durchgerechnet ist, muss selber Flaggezeigen und seinen Vorschlag konkretisieren.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Hauptsache Kritik! Keine Lö-sung! – Jörg van Essen [FDP]: Genau! Völligrichtig!)

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Volker Beck (Köln)

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Unsere Partei hat früher einmal gesagt: Facharbeiter-gehalt. Das kann man vertreten. Was man vorschlagenwill, hängt von der politischen Kultur ab. Ich finde, mansollte das aufschreiben und sich nicht um die entschei-dende Frage, die in dieser Debatte beantwortet werdensoll, herumdrücken.

Das Bundesverfassungsgericht – das wird auch in derBegründung des Gesetzentwurfs deutlich – hat die Be-deutung der angemessenen Entschädigung für die Unab-hängigkeit des Mandats betont. Mir geht es weniger umdas Geld, um Heller und Pfennig, sondern um unsereverfassungsrechtliche Position als Abgeordnete. Das Ge-richt hat gesagt, „die reguläre Entschädigung von Zeit zuZeit den steigenden Lebenshaltungskosten anzupassen“sei notwendig, um das zu erreichen; „auch dadurch, dassdie Entschädigung im Gefolge der wirtschaftlichen Ent-wicklung allmählich die Grenze der Angemessenheit un-terschreitet, wird die Freiheit des Mandats gefährdet.“Das ist ein wichtiger Rechtsgrundsatz.

Dann ist die Frage: Was ist die angemessene Ver-gleichsgröße? Darüber kann man streiten, aber manmuss konkrete Vorschläge machen. Das Abgeordneten-gesetz nennt eine konkrete Bemessungsgrenze. Es be-sagt, dass sich die Entschädigung von Bundestagsabge-ordneten an den Bezügen oberster Bundesrichter odervon Bürgermeistern mittlerer und kleinerer Gemeindenorientiert. Daran orientiert sich der vorliegende Vor-schlag. Ich finde das angemessen und vertretbar. Ich binaber gerne bereit, auch über andere Vorschläge zur An-gemessenheit zu reden; sie müssen nur so konkret sein,dass ich sie beurteilen kann. Das ist bei diesem Antragnicht der Fall.

Sie als Linke müssten ein Interesse an der histori-schen Entwicklung der Entschädigung der Abgeordnetenhaben. Es war auch für die Arbeiterbewegung eine großesoziale Emanzipation, dass wir – anders als 1871 – nichtmehr die Situation hatten, dass man für sein Mandatnichts bekommt. Zuvor musste man sozusagen Geld mit-bringen und hat sich dann durch die Art seiner politi-schen Tätigkeit wirtschaftliche Vorteile zulasten der All-gemeinheit organisiert, statt dafür bezahlt zu werden,dass man für das Allgemeinwohl politisch tätig ist.

Max Weber hat es in seiner Schrift Politik als Berufsehr treffend – ich glaube, treffender kann man es nichtbeschreiben – zusammengefasst:

Die Leitung eines Staates oder einer Partei durchLeute, welche (im ökonomischen Sinn des Wortes)ausschließlich für die Politik und nicht von derPolitik leben, bedeutet notwendig eine „plutokrati-sche“ Rekrutierung der politisch führenden Schich-ten. Damit ist freilich nicht auch das Umgekehrtegesagt: dass eine solche plutokratische Leitungauch zugleich bedeutete, dass die politisch herr-schende Schicht nicht auch „von“ der Politik zu Le-ben trachtete, also ihre politische Herrschaft nichtauch für ihre privaten ökonomischen Interessenauszunutzen pflegte.

Diese Art von politischer Rekrutierung und politi-scher Führung wollen wir ausdrücklich nicht. Deshalb

haben wir gesagt, dass wir uns dem Gesetzentwurf deranderen Fraktionen anschließen, der sich an einem Be-messungsrahmen orientiert, der nachvollziehbar ist. Diesist übrigens auch beim Parteiengesetz so, an dem Sieseltsamerweise wenig Kritik üben, obwohl sie daraus dieGehälter Ihrer Parteivorsitzenden, Herrn Ernst und FrauLötzsch, finanzieren.

Ich finde, in beiden Fällen ist es richtig, dass wir unsan Urteile des Bundesverfassungsgerichtes und an ge-setzliche Vorgaben halten. Das ist vertretbar. Ich finde,wir sollten – bei aller Zurückhaltung und bei allem Re-spekt gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, die we-sentlich weniger haben als wir – den Mut haben, dasnach außen zu vertreten und zu erklären. Für mich alsAbgeordneter ist das auch ein Aufruf, mich im Bereichder sozialen Sicherung und der Mindestlöhne für dieMenschen, die arm sind, die von Hartz IV leben müssenoder einen geringen Lohn haben, zu engagieren.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Dannmuss sich aber hier die Politik ändern! Dannhaben wir es verdient!)

Aber das bleibt anderen Debattenpunkten hier im Deut-schen Bundestag vorbehalten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Stefan Müller für die

Unionsfraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Eine starke Demokratie braucht aktive Parteien. Das ha-ben die Mütter und Väter des Grundgesetzes seinerzeitzu Recht erkannt; sie haben ja auch die besondere Auf-gabe der politischen Parteien im Grundgesetz festge-schrieben. Dem folgt auch die Tatsache, dass wir inDeutschland eine staatliche Parteienfinanzierung haben,dass wir uns als politische Parteien in Deutschland ebennicht ausschließlich über Spenden finanzieren, wie es invielen anderen Ländern der Fall ist.

Es ist wichtig, festzuhalten, dass der Staat die Partei-enfinanzierung nicht einfach nach Gutdünken organi-siert, sondern dass die Parteienfinanzierung klaren Re-geln folgt. Letztlich unterstützt der Staat die Parteien indem Maße, wie die Bürger sie wählen und unterstützen,also nach Maßgabe von Stimmen bei Wahlen, von Spen-den und von Mitgliedsbeiträgen, die politische Parteienerhalten.

Das Parteiengesetz schreibt seit 2002 eine Ober-grenze vor. Das Parteiengesetz sieht auch vor, dass dieseObergrenze jährlich angepasst wird und sich an parteity-pischen Ausgaben orientiert. Heute bleibt festzustellen– das ist schon angedeutet worden –, dass diese Ober-grenze seitdem zwar jährlich immer wieder neu ermittelt

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Stefan Müller (Erlangen)

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worden ist, aber aus ganz unterschiedlichen Gründen zukeinem Zeitpunkt angepasst wurde. Deswegen habenwir bei der Parteienfinanzierung heute einen erheblichenRückstand gegenüber dem, was der Gesetzgeber 2002für angemessen gehalten hat. Daraus wollen wir dieKonsequenz ziehen. Die Obergrenze soll nun schritt-weise erhöht werden, und in den Folgejahren sorgen wirdann für eine regelmäßige Anpassung im Rahmen einesgeregelten Verfahrens.

Ich sage noch einmal: Eine starke Demokratiebraucht, um dem grundgesetzlichen Auftrag nachzu-kommen, aktive und starke Parteien. Deswegen brau-chen Parteien auch eine angemessene Finanzierung.

Was die Entschädigung der Abgeordneten angeht, ha-ben wir natürlich ein ähnliches Problem. Der Richtwertfür die Entschädigung ist zu einem bestimmten Zeit-punkt festgelegt worden. Es ist immer eine subjektiveEntscheidung, wie dieser Richtwert aussieht. Das ist vorallem deswegen so, weil man nun einmal die Tätigkeiteines Abgeordneten nur wenig mit vielen anderen Tätig-keiten vergleichen kann. Man kann sie zugegebenerma-ßen nicht wirklich mit der Tätigkeit eines Kommunalbe-amten vergleichen. Genauso wenig ist sie mit derTätigkeit eines Bundesrichters zu vergleichen – und erstrecht nicht mit der von freiberuflich Tätigen, Arbeitneh-mern und vielen anderen. Deswegen ist die Entschei-dung, die getroffen worden ist, eine subjektive und poli-tische Entscheidung gewesen, indem man festgelegt hat:Die Entschädigung der Bundestagsabgeordneten orien-tiert sich an der Vergütung von Bundesrichtern oder ander von Oberbürgermeistern mittelgroßer Städte.

Das Grundgesetz hat uns ausdrücklich den Auftragmitgegeben, dafür zu sorgen, dass Abgeordnete eine an-gemessene Vergütung bekommen, die ihre Unabhängig-keit sichert. Das Bundesverfassungsgericht hat dies nocheinmal in dem Sinne konkretisiert, dass es gesagt hat:Die Entschädigung bzw. die Vergütung der Abgeordne-ten muss der Bedeutung des Amtes im Verfassungsge-füge gerecht werden. Sie muss auch die Verantwortungund die Belastung der Abgeordneten entsprechend undausreichend berücksichtigen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Vor allem soll es öffentlich disku-tiert werden!)

– Vor allem soll es öffentlich diskutiert werden. Auchdies hat das Bundesverfassungsgericht seinerzeit klarge-stellt. Ich gehe einmal davon aus, dass sich der Tatbe-stand einer öffentlichen Diskussion, Herr Ströbele, nichtdanach richtet, wie viele Zuhörerinnen und Zuhörer wirhaben. Es stellt vielmehr schon eine öffentliche Diskus-sion dar, wenn wir hier in einer öffentlichen Sitzung da-rüber diskutieren. Letztlich ist die Öffentlichkeit auchschon dadurch hergestellt, dass selbstverständlich auchdie Medien, wie es in dieser Woche bereits geschehenist, Kenntnis davon erhalten und darüber berichten.

Schon 1990 hat ein Rat von unabhängigen Persön-lichkeiten in einem Bericht an die damalige Präsidentindes Deutschen Bundestages festgestellt – ich darf hier zi-tieren –:

Legt man diesen Maßstab zugrunde, so weist schondie Tatsache, dass Abgeordnete als Vertreter desganzen Volkes das einzig unmittelbar demokratischlegitimierte Verfassungsorgan darstellen, auf denhohen Rang dieses Amtes und seine fundamentaleBedeutung für die Demokratie hin. Nimmt man ne-ben der gesteigerten „politischen“ Verantwortungnoch die starken Belastungen hinzu, denen Abge-ordnete ausgesetzt sind, dann müssen alle Verglei-che mit ähnlichen Berufen in Staat und Wirtschaftbei Spitzenpositionen ansetzen.

Ich glaube, in diesem Sinne sollten wir mit dem nöti-gen Selbstbewusstsein die Entscheidungen, die wirselbst zu treffen haben, auch in der Öffentlichkeit vertre-ten. Deswegen bitte ich alle um eine entsprechend kon-struktive Begleitung des weiteren Verfahrens.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Eduard Oswald:Nächster Redner in unserer Debatte ist für die sozial-

demokratische Fraktion unser Kollege Dr. DieterWiefelspütz.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Das Paket aus Änderung des Abgeordnetengesetzesund der Parteienfinanzierung ist von den Parlamentari-schen Geschäftsführern Altmaier, Beck, Oppermann undvan Essen erarbeitet worden. Frau Enkelmann war,denke ich, informiert, ist aber anderer Auffassung. Ichdenke, das Paket, das die Parlamentarischen Geschäfts-führer erarbeitet haben, ist – auch in den Details – klug,grundsolide und überzeugend.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Vor allen Dingen überzeugt esuns, die davon profitieren!)

Weil das so ist, ist die öffentliche Reaktion auch entspre-chend.

Wir als Abgeordnete werden ordentlich bezahlt. Esgibt überhaupt keinen Grund, uns zu beklagen. Wir wer-den in unserem Amt nicht reich – das muss auch nichtsein –, aber wir haben ein ordentliches Gehalt, das si-cherlich höher ist als das der weitaus meisten Menschenin den Wahlkreisen, die uns wählen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die uns den Auftrag geben!)

Die uns den Auftrag geben, Herr Ströbele, völlig rich-tig.

Ich denke, dass die gesetzliche Regelung, die jetztvorgeschlagen wird – pro Jahr in dieser Wahlperiodeknapp 2 Prozent Zuwachs beim Gehalt der Abgeordne-ten –, in Ordnung ist. Sie ist überzeugend und eignet sichnicht ansatzweise für irgendeine Art von Skandalisie-rung. Deswegen sage ich: Das passt; das ist in Ordnung.Dieses Konzept wird in der zweiten und dritten Lesungeine breite Zustimmung bekommen. Auch Sie, HerrStröbele, werden dann zustimmen, weil Sie finden, dassdas in Ordnung ist.

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Dr. Dieter Wiefelspütz

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Ich will noch zwei, drei Sätze zur Parteienfinanzie-rung sagen. Wir haben den Fehler gemacht, die Parteien-finanzierung, die eine große Errungenschaft des Verfas-sungsstaates Deutschland ist, neun Jahre lang zu deckelnund nicht zu verändern. Die Kostensteigerungen, die vorallen Dingen bei den Gehältern unserer Mitarbeiter zuverzeichnen waren, nicht aufzufangen und einfach einenDeckel darauf zu machen, ist nichts anderes als eine– Herr Altmaier hat darauf hingewiesen – strukturelleVerschlechterung der Arbeit der politischen Parteien. Esist richtig, dass wir die Kostensteigerungen, nachholendin zwei Schritten, einbauen und das Ganze dann indexie-ren, damit solche Fehler nicht noch einmal gemacht wer-den.

Parteien sind in unserer Demokratie nicht alles, abersie sind doch ein wichtiger Teil einer parlamentarischenDemokratie. In Deutschland gibt es keine totale Staatsfi-nanzierung, sondern nur eine auf das Notwendigste be-schränkte Teilfinanzierung der politischen Parteien. Dasist ein Vorzug unseres Landes, weil es die politischenParteien nicht abhängig macht, beispielsweise von dergroßen Kapitalkraft privater Spender. Das ist ein sehrausgewogenes Konzept. Wir sollten jetzt damit Schlussmachen, einen Deckel darauf zu machen, was zu einerstrukturellen Verschlechterung der Arbeit der politischenParteien führt. Die Kostensteigerungen, die auch durchdie Inflationsrate und die Tarifsteigerungen begründetsind, in einen Index einzubauen, ist klug. Das hätte unsschon früher einfallen sollen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Das wird jetzt gemacht. Dies verschafft uns eine klugeund zukunftsweisende Regelung.

Ein letzter Wunsch. Es gibt den Satz: Wenn man nichtmehr weiterweiß, gründet man einen Arbeitskreis. –Viele sagen, das würde nichts bringen. Ich habe einenkleinen Hinweis zu geben: Die beste und klügste Diäten-regelung, die es in Deutschland gibt, ist die des LandesBayern. Von Bayern kann man an der einen oder anderenStelle durchaus lernen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Norbert Geis [CDU/CSU]: Bravo! – Jörg vanEssen [FDP]: Da regiert eben Schwarz-Gelb!)

In Bayern wird am Anfang einer jeden Wahlperiode einIndex erstellt, Norbert Geis, in den die gesamte Bevölke-rung einbezogen wird: Rentner, Landwirte, Freiberuflerund Arbeitnehmer. Dann rechnet das Landesamt für Sta-tistik aus, wie hoch die Einkommenssteigerungen sind.Daraufhin leitet es einen Vorschlag an den Landtag wei-ter, und der Landtag entscheidet. Das ist gerecht. DieAbgeordneten haben dann an der allgemeinen Einkom-mensentwicklung teil. Wir wollen, was die Einkommens-entwicklung angeht, schließlich nicht mehr als das Volk.An die Adresse der Parlamentarischen Geschäftsführersage ich: Diese Regelung sollte man sich noch einmalgenauer anschauen. Sie ist zukunftsweisend.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das Paket, das Sie erarbeitet haben, ist eine runde Sa-che. Das ist uns in der Vergangenheit nicht immer so gut

gelungen. Es verdient wirklich eine breite Zustimmungdieses Parlaments.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell

wird Überweisung der Vorlagen auf den Druck-sachen 17/6291 und 17/6305 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über-weisungen so beschlossen.

Bevor ich den Tagesordnungspunkt 14 aufrufe, darfich Ihnen bekannt geben – ich glaube, das ist eines natio-nalen Parlamentes würdig –, dass unsere Frauenfußball-nationalmannschaft zum gegenwärtigen Zeitpunkt 1 : 0führt.

(Beifall)

Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten KirstenLühmann, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Barrierefreie Mobilität und barrierefreiesWohnen – Voraussetzungen für Teilhabe undGleichberechtigung

– Drucksache 17/6295 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für TourismusHaushaltsausschuss

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) –Sie alle sind damit einverstanden. Die Namen der Kolle-ginnen und Kollegen liegen uns vor, sodass ich sie nichteinzeln verlesen muss.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/6295 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-verstanden. Somit ist diese Überweisung beschlossen.

Interfraktionell ist vereinbart, dass wir jetzt zumZusatzpunkt 11 kommen. Dadurch gibt es zwei Änderun-gen im Ablauf. Der Tagesordnungspunkt 11 wird nachTagesordnungspunkt 16 aufgerufen, und der Tagesor-dnungspunkt 15 wird nach Tagesordnungspunkt 18 auf-gerufen. – Ich sehe, Sie sind mit dieser Vereinbarung ein-verstanden. Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist das sobeschlossen.

1) Anlage 17

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Vizepräsident Eduard Oswald

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Ich rufe die Zusatzpunkte 11 a und b auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachtenEntwurfs eines Neunundzwanzigsten Gesetzeszur Änderung des Abgeordnetengesetzes –Einführung eines Ordnungsgeldes

– Drucksache 17/5471 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-ordnung (1. Ausschuss)

– Drucksache 17/6309 –

Berichterstattung:Abgeordnete Bernhard KasterChristian Lange (Backnang)Jörg van EssenDr. Dagmar EnkelmannVolker Beck (Köln)

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Geschäftsordnungsausschusses

Änderung der Geschäftsordnung des Deut-schen Bundestages

hier: Einführung eines Ordnungsgeldes(§§ 36 bis 39 GO-BT)

– Drucksache 17/6309 –

Berichterstattung:Abgeordnete Bernhard KasterChristian Lange (Backnang)Jörg van EssenDr. Dagmar EnkelmannVolker Beck (Köln)

Zum Gesetzentwurf und zur Beschlussempfehlungliegen je zwei Änderungsanträge der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Es wider-spricht niemand. Dann ist das so beschlossen.

Erster Redner dieser Debatte ist unser KollegeBernhard Kaster. Ich darf Ihnen das Wort geben. Bitteschön, Kollege Bernhard Kaster.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Bernhard Kaster (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Die heutige Debatte hätten wir uns ei-gentlich gern erspart. Über Jahrzehnte ist dieses Hausohne ein Ordnungsgeld in der Geschäftsordnung vorzu-sehen ausgekommen. Noch in der letzten Legislaturpe-riode haben wir uns dagegen gesträubt, eine solche Re-gelung einzuführen, obwohl es auch da schon eine Reihevon Vorkommnissen vonseiten einer einzigen Fraktiongegeben hat. Aber die neuen Eskalationen in dieser Le-gislaturperiode haben auch bei uns zu dem Entschlussgeführt, einem Ordnungsgeld letztlich zuzustimmen.

Es bleibt inakzeptabel, dass eine einzige Fraktion,und zwar die Nachfolgerpartei der kommunistischenSED

(Zurufe von der LINKEN: Oje!)

– das stimmt doch; oder ist das nur die SprachregelungIhrer Schatzmeister? –,

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wirkommen doch im Ausschuss so gut miteinan-der klar!)

immer und immer wieder die Geschäftsordnung, dasheißt die Spielregeln der Demokratie, missachtet. Das istein Beleg dafür, dass Sie in der Demokratie noch nichtangekommen sind.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Der Deutsche Bundestag ist der Ort der parlamentari-schen Auseinandersetzung. Er ist der Ort der Debatte,auch der hitzigen und emotionalen Debatte. Er ist aberkein Ort für Klamauk, Störung und Demonstrationen.Spruchbänder oder Masken haben hier schlichtwegnichts zu suchen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Man kann doch mal ein T-Shirttragen!)

Die Linksfraktion spricht dabei immer gern verharmlo-send von „angeblichen Störaktionen“. Nein, verehrteKolleginnen und Kollegen, das sind keine „angeblichenStöraktionen“. Es sind schwerwiegende Verletzungender parlamentarischen Ordnung.

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ge-zielte Provokationen!)

Es sind schwerwiegende Störungen, wie sie im Übrigenin dieser und ähnlicher Form immer und immer wiedervon Extremisten jeglicher Couleur in demokratischenParlamenten praktiziert wurden und werden.

(Jörg van Essen [FDP]: Leider auch in Landes-parlamenten!)

Da sogar die Führung der Fraktion Die Linke solcheAktionen, wie Sie es nennen, öffentlich gutheißt, stim-men wir nun der zusätzlichen Einführung eines Ord-nungsgeldes in Höhe von 1 000 Euro, im Wiederho-lungsfalle von 2 000 Euro, zu. Das ist eine Regelung, dieihren Niederschlag im Abgeordnetengesetz und in derGeschäftsordnung finden muss.

Der Geschäftsordnungsausschuss hat sich ausgespro-chen intensiv mit der Frage befasst, wie die neue Rege-lung im Einzelnen auszugestalten ist. Die aus Art. 40Grundgesetz hervorgehende Parlamentsautonomie be-rechtigt zur Verhängung von Ordnungsmaßnahmen aufder Grundlage der Geschäftsordnung; das war auch bis-her der Fall. Mit der Einführung eines Ordnungsgeldeswerden aber auch Statusrechte berührt, sodass auch eineVerankerung im Abgeordnetengesetz notwendig wird.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Die müssen unterschiedlich hochsein, nach Einkommen!)

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Bernhard Kaster

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In den Beratungen haben wir eine sehr übersichtlicheund für die Handhabung klare Regelung getroffen. ImWortlaut und in der Systematik haben wir nun für Ord-nungsmaßnahmen klare Eskalationsstufen definiert. Inden §§ 36 bis 38 der Geschäftsordnung finden wir nun-mehr den Ruf zur Sache, den Ordnungsruf, die Wortent-ziehung und – jetzt neu – das Ordnungsgeld sowie denschon immer geregelten Sitzungsausschluss. Diese klareGliederung mit den unterschiedlich definierten Störun-gen ist auch der Grund dafür, als Ordnungsgeld einenFestbetrag vorzusehen. Das Ordnungsgeld muss im di-rekten Zusammenhang mit anderen Ordnungsmaßnah-men gesehen werden.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das gerichtlich überprüft?)

Was wir in keinem Falle wollen, ist, Unsinn, Klamaukund Störungen auch noch zu katalogisieren. Das wolltenwir nicht.

Es ist bedauerlich, dass sich die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen von ihrer anfänglich signalisierten Zustim-mung zur Einführung eines Ordnungsgeldes wieder ver-abschiedet hat. Bei allen Beratungen war förmlich spür-bar, wie Sie fast krampfhaft versucht haben, ein Vehikelzu finden, um beim Ordnungsgeld die Gemeinsamkeitzu verlassen und damit letztlich – das ist der wahreGrund – für einige wenige in Ihrer Fraktion noch einHintertürchen für Klamauk im Plenum offenzuhalten.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Wann hatten wir denn das letzteMal Klamauk?)

– Ein Hintertürchen wollen Sie offenhalten. Sonst wärenSie ja von dem Weg nicht abgegangen.

Dafür kommen Sie nun mit juristischen Spitzfindig-keiten und stoßen sich am Begriff der Würde des Deut-schen Bundestages. Was Sie an diesem Begriff und vorallem an der Einhaltung dieser Würde zu kritisieren ha-ben, wird in Deutschland ein Normalbürger überhauptnicht nachvollziehen können. So wie wir auch in der Ge-richtsverfassung den Begriff der Würde des Gerichteskennen, wird auch jeder amtierende Bundestagspräsi-dent hiermit überhaupt keine Probleme haben. Im Ge-genteil, gerade bei Ordnungsmaßnahmen wird das einezusätzliche Hilfe sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowiebei Abgeordneten der SPD – Hans-ChristianStröbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seitwann sind Bundestagspräsidenten Richter?)

Im Übrigen hat sich das Landesverfassungsgericht inMecklenburg-Vorpommern sehr ausführlich mit diesemBegriff auseinandergesetzt und noch einmal klargestellt,dass ein Parlament selbstverständlich die Einhaltung derWürde einfordern und dafür auch Sanktionen vorsehenkann.

Mit den heutigen Änderungsanträgen gehen Sie abernoch einen Schritt weiter. Sie wollen nunmehr, wie auchdie Fraktion Die Linke, den schon jahrzehntelang ein-vernehmlich bestehenden Sitzungsausschluss infragestellen. Ich erinnere an dieser Stelle daran, dass wir bei

unseren Beratungen unterschiedlichste politische Kon-stellationen mit einbezogen haben, die wir bedauerli-cherweise auch für die Bundesversammlung – hier giltebenso die Geschäftsordnung – befürchten müssen oderdie wir in Landtagen schon haben. In den Landtagen gabes da von Ihnen, von der Linksfraktion, keinen Wider-spruch dazu.

Ich betone heute nochmals: Es geht ausschließlich umdie Neueinführung eines Ordnungsgeldes. Alle anderenOrdnungsmaßnahmen bleiben bestehen, wie sie sind. Esbleibt dabei: Beim Sitzungsausschluss sehen wir keinenÄnderungsbedarf. Im Übrigen beraten wir auch nicht aufder Grundlage von Briefen, die uns noch nicht einmalzugegangen sind.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die notwendigeEinführung eines Ordnungsgeldes ist wirklich kein Ruh-mesblatt für unser Parlament. Wir hätten uns das gerneerspart. Aber ich appelliere an Sie, vor allem an dieLinksfraktion: Ersparen Sie uns dann zumindest die An-wendung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Vizepräsident Eduard Oswald:Nächster Redner in unserer Debatte ist der Kollege

Christian Lange für die Fraktion der Sozialdemokraten.Bitte schön, lieber Kollege Lange.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jörg van Essen [FDP])

Christian Lange (Backnang) (SPD):Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! In der Tat, wir leben in einer Mediendemokratie, inder Bilder häufig mehr zählen als Worte. Alles drängt insFernsehen,

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)

und das prägt die Art und Weise unseres Miteinanders.Politik wird zu Unterhaltungszwecken gebraucht undmanchmal auch missbraucht. Inhalte bleiben dabei häu-fig auf der Strecke. Dabei haben sich unsere gesamteKultur und unsere politische Kommunikation verändert,auch hier bei uns im Deutschen Bundestag, in diesemHohen Hause.

Wir haben auch schon einige Auswüchse davon erlei-den dürfen, zum Beispiel die protestierenden Abgeord-neten der Fraktion Die Linke mit Transparenten oder garmit Masken. Letztlich zerstören wir aber mit einer sol-chen Form der Auseinandersetzung die ernsthafte politi-sche Auseinandersetzung, den ernsthaften politischenDiskurs. Das dürfen wir nicht tolerieren. Wir müssen dieWürde des Hauses schützen.

Die Würde des Hauses zu schützen, das ist in der Tateine Aufgabe, die unsere Geschäftsordnung und amEnde auch das Abgeordnetengesetz zu tragen haben. DerKollege Kaster hat bereits darauf hingewiesen: Das

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Christian Lange (Backnang)

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Urteil des Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vor-pommern hat dies entsprechend bestätigt. Deshalbmöchte ich es an dieser Stelle – mit Genehmigung desHerrn Präsidenten – einmal zitieren.

(Jörg van Essen [FDP]: Das wäre sehr gut!)

Dort heißt es:

Der Begriff der parlamentarischen Ordnung kanndabei nicht allein auf den äußeren Ablauf der Ple-narsitzung und unmittelbare Störungen der Bera-tungen und der politischen Diskussion im Parla-ment begrenzt werden. Vielmehr sind weitergehendauch die Werte und Verhaltensweisen zu berück-sichtigen, die sich in der demokratischen und vomRepräsentationsgedanken getragenen parlamentari-schen Praxis entwickelt haben und die durch diehistorische und politische Entwicklung geformtworden sind. Das Parlament ist berechtigt, seineMitglieder durch Verhaltensregeln auch auf dieWahrung der Würde des Landtages

– Mecklenburg-Vorpommern –

im Sinne eines von gegenseitigem Respekt getrage-nen Diskurses zu verpflichten.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Wer bestimmt, was Würde ist? –Gegenruf des Abg. Jörg van Essen [FDP]: Un-bestimmte Rechtsbegriffe gehören doch auchimmer zur Rechtsordnung!)

Es darf deshalb Verstöße sanktionieren, wo es dieseWürde gefährdet oder verletzt sieht, etwa weil dasVerhalten eines Abgeordneten erkennen lässt, dasser den für eine sachbezogene Arbeit notwendigenRespekt gegenüber den übrigen Parlamentariernoder der Sitzungsleitung vermissen lässt und damitzwangsläufig auch das Ansehen des Hauses nachaußen beschädigt.

Ich meine, es ist in einer wunderbaren Form darge-stellt,

(Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!)

warum die Würde des Hauses schützenswert ist. DerDeutsche Bundestag sollte deshalb nicht davor zurück-schrecken.

Die SPD-Bundestagsfraktion lehnt deshalb auch dieÄnderungsanträge der Grünen ab, die den Begriff„Würde des Bundestages“ gestrichen haben wollen. Ob-wohl Bündnis 90/Die Grünen zu Beginn der Beratungenfür die Einführung eines Ordnungsgeldes war, versuchenSie nun leider, über die Kritik an diesem Begriff Sandins Getriebe zu streuen.

(Jörg van Essen [FDP]: Richtig, ja!)

Wir müssen mit gutem Beispiel vorangehen und hierim Plenum des Deutschen Bundestages eine neue Ernst-haftigkeit praktizieren und dürfen nicht versuchen, denTalkshows Konkurrenz zu machen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Dann müssen wir das Fernsehenabschaffen!)

Wir wollen hier Argumente austauschen und nicht nurpolitische Debatten simulieren. So ein Verhalten lehneich ab, weil dadurch letztlich die Glaubwürdigkeit vonuns allen untergraben wird.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber grinsen darf man noch!)

Ich bin überzeugt davon, dass es in der Bevölkerung einetiefe Sehnsucht nach Ernsthaftigkeit gibt, und von denVolksvertretern darf dies zu Recht auch erwartet werden.Deshalb brauchen wir diese Änderungen.

Wir haben die Einführung eines Ordnungsgeldesschon lange verlangt. Leider konnten wir uns damit inder Großen Koalition noch nicht durchsetzen, heute istes aber in der Tat so weit. Wer in Zukunft anstatt miternsthaft geführten Debatten durch despektierliches Auf-treten und Verhalten in Erscheinung tritt, muss mit einerOrdnungsstrafe in Höhe von 1 000 Euro und im Wieder-holungsfall von 2 000 Euro rechnen. Damit sorgen wirübrigens auch dafür, dass sogenannte Wiederholungstä-ter angemessen und unter dem Gesichtspunkt der Ver-hältnismäßigkeit mit einer Ordnungsstrafe belegt werdenkönnen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Strafe ist das, ja!)

Mit diesem Sanktionsinstrument schaffen wir ein Mit-tel, durch das die Verhältnismäßigkeit gewahrt wird,wenn es darum geht, ungebührliches und unwürdigesVerhalten im Parlament zu ahnden. Die bisherigen Mög-lichkeiten, dagegen vorzugehen, waren entweder zu lax –eine Rüge wurde häufig nicht einmal zur Kenntnis ge-nommen,

(Jörg van Essen [FDP]: Richtig!)

andere haben sie auch gerne gesammelt –, oder der Aus-schluss von Mitgliedern des Bundestages von Beratun-gen durch den Bundestagspräsidenten war ein zu schwe-res Geschütz. Durch die Einführung eines Ordnungs-geldes für ungebührliches und ein der Würde des Hausesunangemessenes Verhalten wollen wir sicherstellen, dasses hier im Bundestag ausschließlich zum sachlichenAustausch von Argumenten kommen kann.

Wir dulden also keinen Krawall um des Krawalls wil-len und keine Provokation um der Provokation willen.Hochgehaltene Transparente entsprechen nicht dem Dis-kussionsstil eines Parlamentes. Dies wollen wir auch inZukunft so halten.

(Zuruf von der LINKEN: Das sieht die Verfas-sung anders!)

Die Möglichkeit des Sitzungsausschlusses wird hierzwar zum ersten Mal gesetzlich geregelt, ist aber in derTat nicht neu, sondern war zuvor nur in der Geschäfts-ordnung geregelt. Sie bestand seit Konstituierung desDeutschen Bundestages. Wir haben keinen Anlass, daranetwas zu ändern – im Gegenteil. Durch das Ordnungs-geld wird für eine bessere und verhältnismäßigere Hand-

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Christian Lange (Backnang)

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habung der Ordnungsmaßnahmen gesorgt; denn zwi-schen Rüge und Sitzungsausschluss wird es in Zukunftein milderes Mittel, das Ordnungsgeld, geben.

An die Grünen gerichtet:

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)

Vergessen Sie bitte nicht: Manche von Ihnen haben ihrepolitische Karriere erst mit einem Sitzungsausschlussbegonnen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Wer denn?)

Meine Damen und Herren, der Bundestag ist der Ortdes Argumentes, nicht der Ort der Aktion. So soll esauch bleiben. Deshalb bitte ich um Zustimmung.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und derFDP – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Ich bin noch nie ausgeschlossenworden! – Hans-Christian Ströbele [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich auch nicht! Ichhabe noch nicht einmal eine Rüge bekom-men!)

Vizepräsident Eduard Oswald:Nächster Redner in unserer Debatte ist unser Kollege

Jörg van Essen für die Fraktion der FDP.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Ist er überhaupt schon einmal ge-rügt worden?)

Jörg van Essen (FDP):Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Ich staune schon sehr: Ich höre von denGrünen, „Würde“ sei ein unbestimmter Rechtsbegriffund deshalb nicht tauglich, in die Bestimmung aufge-nommen zu werden. „Die Würde des Menschen ist un-antastbar“, sagt Art. 1 des Grundgesetzes. Auch hier ha-ben wir einen unbestimmten Rechtsbegriff. Ich kenneaber niemanden, der eine entsprechende Änderung desArt. 1 des Grundgesetzes verlangen würde. Schon daranzeigt sich, wie schwach die Argumente der Grünen sind.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das ist ja auch kein Strafrecht,Herr Kollege!)

Wie wichtig es ist, dass wir uns mit dem ThemaWürde befassen – auch mit der Würde des Parlaments –,hat sich, glaube ich, in der ersten deutschen Demokratiegezeigt. In der Weimarer Republik wurde von Extremis-ten von links und rechts ständig versucht, genau dieseWürde des Parlaments, der parlamentarischen Vertre-tung, mit Füßen zu treten. Daran ist dann auch die De-mokratie gescheitert.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Wir haben jetzt über 60 JahreBundestag!)

Deshalb haben wir eine ganz besondere Verantwortungdafür, dass so etwas in unserem Land nicht wieder ge-schieht.

Dass Anlass zur Sorge besteht, sehen wir in denLandtagen von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern.Der Kollege Lange hat ein entsprechendes Urteil desLandesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommerngerade zitiert. Auch das, was wir hier im DeutschenBundestag von der Linksfraktion erlebt haben,

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber, aber!)

ist nicht erträglich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Jeder Abgeordnete hat jedes Recht der Welt, sich zu je-dem Thema zu Wort zu melden. Deshalb bedarf es alldieser Aktionen natürlich nicht. Das Parlament ist einOrt des Wortes und kein Ort für Kasperleaktionen, diedann natürlich den Weg ins Fernsehen finden und unteranderem deshalb veranstaltet werden.

Ich weiß nicht, wie es den Kollegen gegangen ist, diezum Teil an den Entscheidungen über Ordnungsmaßnah-men beteiligt waren. Ich hatte immer ein schlechtes Ge-fühl, wenn ein Sitzungsausschluss entschieden wurde.Aber dies war notwendig, weil das Instrumentariumnicht breit genug war. Zu einem Rechtsstaat – die Bun-desrepublik Deutschland ist ein Rechtsstaat – gehört im-mer der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Ich bin dem Kollegen Lange, der gerade vor mir gere-det hat, ganz außerordentlich – das will ich hier aus-drücklich sagen – dankbar. Er war es nämlich, der dieInitiative ergriffen hat. Am Anfang hat er Widerspruchbekommen. Ich habe ihn unterstützt, weil mir das vonAnfang an ein richtiger Weg zu sein schien. Er hat sichnicht beirren lassen und weiter für seine Idee geworben.Ich bin ihm dafür ganz außerordentlich dankbar, weil ichdenke, dass wir hier einen richtigen Schritt machen. Deramtierende Präsident hat nun die Möglichkeit, angemes-sen zu reagieren.

Das Ordnungsgeld, das wir vorsehen, ist wie alle an-deren Ordnungsgelder, die es in anderen Bestimmungengibt, auf einen bestimmten Betrag festgesetzt. So wieman weiß, dass dann, wenn man im Auto 20 Stundenkilo-meter schneller als erlaubt gefahren ist, eine bestimmteGeldbuße, die im Bußgeldkatalog festgelegt ist, zu zah-len ist, so gibt es das jetzt auch bei entsprechenden Ver-stößen. Auch bei der Wiederholung ist klar, welchesBußgeld jeweils fällig wird. Auch da haben wir uns andie allgemeinen Regeln gehalten. Es war gut und richtig,das so zu tun.

Ich verstehe die Bedenken, die jetzt plötzlich von denGrünen hinsichtlich des Ausschlusses vorgetragen wer-den, nicht.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Von einem Grü-nen!)

Der Ausschluss als Disziplinarmaßnahme, die dem Prä-sidenten zur Verfügung steht, hat eine unglaublich langeTradition in allen deutschen Parlamenten. Das haben wir

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Jörg van Essen

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nicht jetzt erfunden, sondern diese Möglichkeit hat esschon immer gegeben, nicht nur im Bundestag, sondernauch in allen Landtagen. Ich sehe deshalb überhaupt kei-nen Anlass, davon abzusehen. Aber ich bin sehr froh,dass jetzt deutlich wird, dass das in Zukunft nur bei ganzschweren Verstößen ein Mittel der Wahl ist, weil ein an-deres, weniger schwer eingreifendes Mittel, nämlich dasOrdnungsgeld, zur Verfügung steht.

Ich will nicht verschweigen, dass ich das Gefühlhabe, dass dann, wenn jemand „blechen“ muss, viel-leicht die Entscheidung, ob man zu all den Mitteln greift,zu denen hier insbesondere die Linksfraktion gegriffenhat, ein Stück schwerer wird. Wenn es ans Portemonnaiegeht, dann überlegt man noch ein zweites oder drittesMal, ob man das dann tatsächlich tut.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Die kriegen ja jetzt die Diätener-höhung!)

Das Ganze kommt dann der Würde dieses Parlamentszugute. Dieses Ergebnis wünsche ich mir.

Am meisten wünsche ich mir – das haben auch schondie Vorredner gesagt –, dass diese neue Bestimmung niezur Anwendung kommt. Diese Verantwortung haben wiralle. Jeder hat dazu beizutragen. Ich hoffe, dass diejeni-gen, die in Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern un-angenehm auffallen, was immer wieder zu Reaktionenführt, hier bei uns gar nicht auftauchen. Ich hoffe, dasssich die Fraktion, die in der Vergangenheit zu solchenMitteln gegriffen hat, in Zukunft darauf beschränkt, ihreArgumente vorzutragen. Je besser sie sind, desto mehrhören zu.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist der Weg, den wir alle gehen sollten. Unsere Frak-tion unterstützt jedenfalls den Vorschlag. Nochmalsherzlichen Dank an den Kollegen Lange für seine Initia-tive.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Eduard Oswald:Nächste Rednerin in unserer Debatte ist für die Frak-

tion Die Linke unsere Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE):Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich stelle fest: Eine Mehrheit des Hauses siehtdie Würde des Bundestages bedroht. Nun stellt sich dieFrage, wodurch Sie sich bedroht fühlen. Sie fühlen sichzum Beispiel durch Abgeordnete bedroht, die sich miteinem T-Shirt zum Protest gegen Stuttgart 21 bekennen.Es war von schwerwiegender Störung und Eskalation dieRede.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Klamauk!)

Herr Kaster, machen Sie sich nicht lächerlich.

(Beifall bei der LINKEN – Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Sie machen sich lächerlich!)

Eine Mehrheit fühlt sich auch dadurch bedroht, dassAbgeordnete der Linksfraktion im Plenum Bilder vonKunduz-Opfern gezeigt haben und Sie alle an die deut-sche Verantwortung erinnert haben, und zwar nachdemein Gedenken an die Opfer von Kunduz im Bundestagvon den anderen Fraktionen abgelehnt worden ist. Daswar unsere Form des Gedenkens an diese Opfer.

(Jörg van Essen [FDP]: Es ist aber interessant,dass Sie das jetzt alles verteidigen! Im Ältes-tenrat haben Sie das nicht gut gefunden!)

Ist das eine Verletzung der Ordnung und Würde desBundestages? Ich kann das nicht erkennen, und ich ver-teidige das ausdrücklich, Herr Kollege van Essen.

(Beifall bei der LINKEN – Jörg van Essen[FDP]: Im Ältestenrat haben Sie es nicht gutgefunden, und jetzt verteidigen Sie es!)

Wissen Sie, wodurch ich die Würde des Bundestagesverletzt sehe? Ich sehe sie verletzt, wenn in diesem Hauspolitische Entscheidungen getroffen werden, die auch et-was mit Art. 1 Grundgesetz zu tun haben, nämlich mitder Würde des Menschen. Das ist zum Beispiel dann derFall, wenn Menschen in ihrer Würde verletzt werden, diearbeitslos sind. Die ganze Hartz-IV-Gesetzgebung indiesem Hause war ein würdeloses Verfahren.

(Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Lesen Sie noch einmalüber Demokratie und Mehrheiten nach!)

Regelungen, die Flüchtlinge betreffen, oder wenn dieLebensleistung von Menschen im Osten ignoriert wird –all das ist würdelos in diesem Parlament.

(Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist grober Unsinn,was Sie hier erzählen!)

Wie oft haben wir hier Debatten erlebt, die mit derWürde des Bundestages herzlich wenig zu tun hatten.Werfen Sie einen Blick in die Protokolle und lesen Siedie Zwischenrufe: Das hat mit der Würde des Hausesüberhaupt nichts zu tun.

Nein, Sie wollen die Linke disziplinieren. Das habenwir schon gemerkt. Dass Sie dabei verfassungsrechtlichhöchst bedenkliche Wege gehen, beeindruckt Sie wenig.Sie wollen jetzt unter anderem den Sitzungsausschlussbis zu 30 Tagen gesetzlich regeln.

(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Das sind beste-hende Regelungen!)

Das beschränkt das Rede- und Stimmrecht frei gewählterAbgeordneter. Das heißt, das Rede- und Stimmrecht vonAbgeordneten wird sozusagen zur Verfügungsmasse ei-ner Mehrheit in diesem Haus. Das ist wahrlich eine ver-fassungsrechtlich genehme Regelung.

Es ist ein Verstoß gegen das im Grundgesetz aus-drücklich verankerte freie Mandat der Abgeordneten.Das trifft auch auf das Ordnungsgeld zu. Unter welchenVoraussetzungen, aus welchen Gründen und in welcher

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Dr. Dagmar Enkelmann

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Höhe Ordnungsgeld verhängt wird, bleibt offen, und esist damit ein willkürliches Instrument.

Es besteht kein angemessener Rechtsschutz. Sieschließen zum Beispiel die Möglichkeit der Anhörungdes Betroffenen aus. Sie findet in keiner Weise statt.

(Zuruf von der LINKEN: Rechtsstaatlichkeit!)

In einem Rechtsstaat ist ein solches Verfahren eigentlichundenkbar. Im Bundestag ist es möglich.

Der Berichterstatter des Verfassungsgerichts, HerrProfessor Broß, teilt unsere rechtlichen Bedenken andieser Stelle. Aber einer Klärung im Ausschuss, wie vonuns vorgeschlagen, zum Beispiel mit einer Anhörung, ander auch Professor Broß teilnehmen würde, haben Siesich verweigert. Wer nicht hören will, muss fühlen:Dann klären wir das eben vor dem Verfassungsgericht.

Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Nächster Redner in dieser Debatte ist für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Volker Beck.Bitte schön, Kollege Volker Beck.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und

Herren! Ich fand es richtig, dass wir nach den Aktionendie Diskussion über das Ordnungsgeld begonnen haben;denn ich finde, wir brauchen ein milderes Mittel als denSitzungsausschluss, um auf grobe Störungen der Ord-nung des Hauses zu reagieren, die ein Verhandeln imSinne eines Parlamentes – parlare bedeutet sprechen; esheißt nicht: Aktionen machen – unmöglich machen.Wenn andere Kolleginnen und Kollegen einen diskursi-ven Austausch der Argumente verhindern, indem sie mitAktionen den Ablauf stören, dann muss das nicht hinge-nommen werden. Da bin ich ganz bei der Koalition undder SPD gewesen. Deshalb haben wir uns am Anfang anden Beratungen beteiligt.

Ich finde aber, dass man auf die Verletzung der Ord-nung und nicht auf die Verletzung der Würde des Hausesabheben sollte. Auf die Verletzung der Würde des Hau-ses wurde in dieser Wahlperiode in unserem Parlamentschon bei allen möglichen Angelegenheiten verwiesen.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Kra-watten!)

Wir haben verordnet, dass die Schriftführer und der Prä-sident Krawatten tragen müssen, soweit sie Männer sind.Ansonsten würde dies die Würde des Hauses verletzten.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist albern!)

So kann man es im Protokoll des Ältestenrates nachle-sen. Kollegen, die nicht bereit waren, eine Krawatte zutragen, wurden vom Sitzungsdienst ausgeschlossen. Dasist eine Albernheit und zeigt, auf welches Glatteis Siesich unnötigerweise mit dieser Formulierung begeben.Der Hitler-Gruß eines NPD-Mitglieds der Bundesver-

sammlung – dieses von Ihnen im Ausschuss genannteBeispiel ist durchaus ernst zu nehmen – ist eine Straftat.Jede Straftat stellt selbstverständlich eine Verletzung derOrdnung des Hauses dar und kann deshalb zu Recht ge-ahndet werden,

(Beifall bei der LINKEN)

ohne dass man auf die Würde des Hauses abheben muss.Wir sind dafür, die Verletzung der Würde des Hauses alsTatbestand zu streichen.

Ein anderer Punkt, der uns zu denken gibt, ist etwas,das schon länger in der Geschäftsordnung steht – da-rüber hatte ich zuvor noch nie nachgedacht –, nämlichder pönalisierende Sitzungsausschluss von bis zu 30 Ta-gen. Dieser kann nicht gerechtfertigt werden wie der ein-malige Ausschluss in einer laufenden Sitzung, in dersich der Präsident nicht anders zu helfen weiß, als dieBetreffenden hinauszuwerfen, um den parlamentari-schen Ablauf zu sichern. Der pönalisierende Sitzungs-ausschluss von bis zu 30 Tagen ist nicht als Sicherungdes parlamentarischen Ablaufs zu rechtfertigen.

(Zuruf von der LINKEN: Strafe!)

Er stellt vielmehr eine reine Strafe dar. Als solche wirder vom Bundesverfassungsgericht kritisch gesehen. Ichhätte gerne mit Verfassungsrechtlern erörtert, ob dieseArt des Sitzungsausschlusses gar nicht möglich ist oderob ein anderes Verfahren notwendig ist.

(Jörg van Essen [FDP]: Niemand hindert Sie daran! Sprechen Sie doch mit denen!)

Aber so wie dieser Tatbestand in der Geschäftsordnungformuliert ist und so wie wir ihn vorbehaltlos im Abge-ordnetengesetz verankern, geht es nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Berichterstatter Broß, der den Fall der Stuttgart-21-Aktionisten von der Linksfraktion, gegen die ein pönali-sierender Sitzungsausschluss verhängt wurde, zu beur-teilen hatte, hat den Verfahrensbevollmächtigten bei-der Seiten geschrieben – Sie können gerne beimPräsidium nachfragen und sich den Schriftsatz genausobesorgen wie ich –: Im Extremfall könnte der Aus-schluss von Abgeordneten erheblichen Einfluss auf dieWillensbildung im Parlament entfalten, und Stimmver-hältnisse wären durch Fehlgebrauch des Instruments Sit-zungsausschluss gar gezielt manipulierbar. – Weiterheißt es in dem Schreiben des Bundesverfassungsge-richts: Der bisherige Verlauf dieses Verfahrens seit demSitzungsausschluss erscheint mir vor dem Hintergrunddes § 38 Abs. 1 und Abs. 2 der Geschäftsordnung desDeutschen Bundestages einer eingehenden verfassungs-rechtlichen Klärung bedürftig – das haben wir im Aus-schuss verlangt –, weil ein Ausschluss auch die Mehr-heitsverhältnisse im Deutschen Bundestag inrechtserheblicher Weise beeinflussen kann. Im Hinblickdarauf rege ich an, dass der Antragsgegner noch einmalseine jetzt bestehende Auffassung zur Verfahrenslageüberdenkt und auch die hier umstrittene Handhabung derGeschäftsordnung in Bezug auf effektive Rechtsschutz-möglichkeiten überprüft. Allerdings könnte sich bei nä-herer Betrachtung auch ergeben, dass der Ausschluss

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Volker Beck (Köln)

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von Abgeordneten des Deutschen Bundestages von zu-künftigen Sitzungstagen – also pönalisierend –, sich un-ter dem Gesichtspunkt der Geeignetheit, der Erforder-lichkeit und der Sachgerechtheit nicht von vornhereinerschließt.

Es ist doch das Mindeste, dass wir uns, wenn wireinen solchen Hinweis bekommen und uns mit der glei-chen Rechtsmaterie hier im Haus befassen, im Aus-schuss damit seriös befassen und eine Auseinanderset-zung mit Verfassungsrechtlern führen, bevor wir dasPräsidium, den Präsidenten und die Vizepräsidenten, indie Lage bringen, von einer Sanktion Gebrauch zu ma-chen, über die das Bundesverfassungsgericht zuvor ge-sagt hat, dass sie nicht verfassungskonform ist. Wir ge-ben dem Präsidium nicht die Möglichkeit, auf einerverfassungsrechtlich unbedenklichen Grundlage zu han-deln. Ich finde es eine Zumutung, was wir mit dem Prä-sidium des Deutschen Bundestages machen. Deshalbbeantrage ich am Ende dieser Debatte die Rücküberwei-sung der Vorlagen zu diesem Tagesordnungspunkt anden Geschäftsordnungsausschuss mit dem Auftrag, eineAnhörung mit Verfassungsrechtlern zu dieser entschei-denden Frage durchzuführen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)

Meines Erachtens können wir uns eine Blamage vor demBundesverfassungsgericht ersparen. Ich empfinde es alskomisch, wie wir hier in der Diskussion mit diesem Tat-bestand umgehen; denn wir haben so deutliche Hinweiseund kümmern uns nicht um Karlsruhe. Aber das habenwir beim Wahlrecht auch schon nicht getan. Insofern istdas Handeln dieser Koalition konsequent.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der LINKEN – Jörg van Essen [FDP]:Der Präsident hat Ihnen heute im Ältestenratdoch das Notwendige dazu gesagt, nämlichdass Sie danebenliegen!)

Vizepräsident Eduard Oswald:Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion

der CDU/CSU unser Kollege Thomas Strobl.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU):Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Die Fraktionen der CDU/CSU, FDP und SPD haben sichin breiter Einmütigkeit auf dieses Ordnungsgeld geei-nigt, weil es einerseits eine spürbare Sanktion darstellt,andererseits aber in parlamentarische Rechte von Abge-ordneten nicht eingreift und öffentlichkeitswirksameKonfrontationen, wie zum Beispiel bei einer zwangswei-sen Entfernung aus dem Plenarsaal, vermeiden kann.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso denn?)

Im Übrigen muss ich darauf hinweisen, dass wir dasbestehende und bewährte Instrumentarium der Ord-nungsmittel und damit übrigens auch den verfassungs-rechtlich nicht zu beanstandenden Sitzungsausschluss

unverändert gelassen haben. Der Sitzungsausschluss warnicht Thema der Beratungen gewesen, wir haben darannichts geändert. Herr Kollege Beck, es gibt ihn seit über60 Jahren.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Sie haben das neu ins Abgeordne-tengesetz aufgenommen!)

Es ist schon mit Interesse zu beobachten, dass Sie dieseVerfassungswidrigkeit von der einen Sekunde auf die an-dere entdeckt haben.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Durch Hinweis des Bundesverfas-sungsgerichts!)

Leider hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, diebei der Frage der grundsätzlichen Notwendigkeit einerVerschärfung der Ordnungsmittel durchaus unserer Mei-nung ist, die Neuregelung nicht mitgetragen. Die Frak-tion Die Linke wird im Übrigen wissen, warum sie Ord-nungsstörungen im Hause nicht ahnden will.

Neu ist weiter die Einbeziehung der Würde des Bun-destages in den Kreis der geschützten Rechtsgüter. Dieslag uns bei der Neuregelung besonders am Herzen. Es istmir völlig unverständlich, warum es im Hause Kollegin-nen und Kollegen gibt, die diesen Schutz nicht wollen.

Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil es 60 Jahre ohne ging!)

Herr Kollege Beck, in § 7 der Geschäftsordnung heißtes in Abs. 1:

Der Präsident vertritt den Bundestag und regeltseine Geschäfte. Er wahrt die Würde und dieRechte des Bundestages, fördert seine Arbeiten, lei-tet die Verhandlungen …

„Er wahrt die Würde und die Rechte des Bundes-tages …“. Wenn das ein unbestimmter Rechtsbegriff ist,mit dem man nichts anfangen kann, dürfte das so nichtdarin stehen. Wenn aber die Geschäftsordnung von demPräsidenten verlangt, dass er die Würde des Hauseswahrt und die Aufrechterhaltung der Würde des Hausessicherstellt, dann ist es doch nur logisch, dass wir dasauch bei den Sanktionsmitteln sozusagen spiegelbildlicheinbeziehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Eduard Oswald:Kollege Thomas Strobl, gestatten Sie eine Zwischen-

frage unseres Kollegen Volker Beck?

Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU):Sehr gerne, selbstverständlich.

Vizepräsident Eduard Oswald:Bitte schön.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Kollege, würden Sie konzedieren, dass es in die-

ser Bestimmung, in der in der Tat der Begriff der Würde

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Volker Beck (Köln)

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vorkommt, im Wesentlichen darum geht, dass der Präsi-dent des Deutschen Bundestages sich vor den Bundestagund seine Abgeordneten stellt und ihre Rechte verteidigt,und zwar gegen Angriffe von außen und nicht gegen dieMitglieder des Bundestages selbst?

Das ist die bisherige Auslegung der Norm. Wenn Siesich die Kommentierung der Geschäftsordnung zu die-sem Punkt anschauen – das habe ich zur Vorbereitungbereits unserer Diskussion im Ausschuss gemacht und esIhnen auch vorgetragen –, dann stellen Sie eindeutigfest, dass es bei dieser Bestimmung um einen Schutz derBundestagsabgeordneten vor unberechtigtem Angriffvon außen geht, egal ob er sich auf ein Mitglied beziehtoder auf die Gesamtheit der Mitglieder des Hauses, nichtaber darum, dass der Bundestag vor seinen Abgeordne-ten selbst geschützt werden soll.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU):Herr Kollege Beck, mit Verlaub, Sie liegen falsch.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Nein, lesen Sie die Kommentie-rung!)

Sie liegen falsch.

(Jörg van Essen [FDP]: So sind die dilettieren-den Hobbyjuristen!)

Ich lese die Vorschrift gerne komplett vor. § 7 Abs. 1Satz 2 lautet:

Er wahrt die Würde und die Rechte des Bundesta-ges, fördert seine Arbeiten, leitet die Verhandlun-gen gerecht und unparteiisch und wahrt die Ord-nung im Hause.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, eben!)

Die Worte „… leitet die Verhandlungen gerecht und un-parteiisch und wahrt die Ordnung im Hause.“ beziehensich in diesem Zusammenhang genau auf den Ablauf derBundestagssitzungen. Deswegen liegen Sie mit Ihrer In-terpretation falsch. Wenn wir dem Präsidenten einen sol-chen Auftrag geben, dann ist es auch nur richtig, dasspiegelbildlich mit einer entsprechenden Sanktion zuversehen.

Ich weise noch einmal darauf hin – auch das lässt IhreArgumentation wirklich zusammenbrechen –, dass erstim Januar dieses Jahres ein Landesverfassungsgerichtausdrücklich bestätigt hat, dass es eine schützenswerteWürde des Parlamentes gibt. Mit Erlaubnis des HerrnPräsidenten zitiere ich dies nochmals:

Das Parlament ist berechtigt, seine Mitgliederdurch Verhaltensregeln auch auf die Wahrung derWürde des Landtages im Sinne eines von gegensei-tigem Respekt getragenen Diskurses zu verpflich-ten. Es darf deshalb Verstöße sanktionieren, wo esdiese Würde gefährdet oder verletzt sieht, etwa weildas Verhalten eines Abgeordneten erkennen lässt,

dass er den für eine sachbezogene Arbeit notwendi-gen Respekt gegenüber den übrigen Parlamentari-ern oder der Sitzungsleitung vermissen lässt unddamit zwangsläufig auch das Ansehen des Hausesnach außen beschädigt …

Die genannte Gerichtsentscheidung basiert auf derSanktionierung einer Würdeverletzung durch einenNPD-Abgeordneten im Landtag von Mecklenburg-Vor-pommern.

Was die Linksfraktion jedenfalls angeht, bin ich mirsicher, dass sie am lautesten nach Ordnungsmaßnahmenschreien würde, wenn sich die NPD einmal, was Gottverhüten möge, in das Hohe Haus verirren sollte.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das müssen Demokraten verhindern!)

Aber auch die Bedenken der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen kann ich nicht nachvollziehen. Wir haben etwa,Herr Kollege Beck, mehrfach ausdrücklich – das ist inden Beratungsprotokollen auch vermerkt – klargemacht,dass bloße Fragen einer Kleiderordnung nicht als Verlet-zung der Würde des Hauses angesehen werden können.

Ich habe eine lange Zeit eine gewisse Zurückhaltunggegenüber den Ordnungsmaßnahmen geübt, weil es mirinnerlich widerstrebt, dass Abgeordnete über Abgeord-nete ein Ordnungsgeld verhängen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das Gefühl hätten Sie konservie-ren sollen!)

Es war in der Tat einer gewissen Hartnäckigkeit des Kol-legen Lange, wie Kollege van Essen ausgeführt hat, zuverdanken, dass wir an diesem Thema immer wiederdrangeblieben sind und es jedenfalls mit großer Gründ-lichkeit beraten haben. Ich bin nach wie vor der Ansicht,dass es unter Demokraten eigentlich möglich sein sollte,die Argumente der politisch Andersdenkenden zu ertra-gen, ohne zu Mitteln der Störung und des Klamauks zugreifen und damit nicht nur die Arbeit der anderen Abge-ordneten zu stören, sondern auch das Ansehen des Bun-destages in den Augen der Öffentlichkeit zu schädigen.Bei manchen aus dem links- und rechtsextremistischenBereich habe ich indessen den Eindruck, dass es genaudarum geht: um die Verächtlichmachung des Parlaments.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg van Essen [FDP]: Genau das!)

Hier müssen wir deutlich machen, dass unsere Demokra-tie eine wehrhafte Demokratie darstellt, und das Ord-nungsgeld soll ein Beitrag dazu sein, dass diese Demo-kratie nicht verächtlich gemacht werden kann, sondernsich im Zweifel auch wehrt.

Besten Dank fürs Zuhören.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Eduard Oswald:Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die

Aussprache.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13531

Vizepräsident Eduard Oswald

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(D)(B)

Zu diesem Tagesordnungspunkt liegt eine persönlicheErklärung nach § 31 der Geschäftsordnung unseres Kol-legen Wolfgang Nešković vor.1)

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat beantragt,den Gesetzentwurf zur Änderung des Abgeordnetenge-setzes sowie die Beschlussempfehlung des Ausschussesfür Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zurÄnderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundes-tages zur weiteren Beratung an den Ausschuss zurückzu-überweisen. Es ist vereinbart, über diesen Antrag jetztabzustimmen. Wer stimmt für den Antrag auf Rücküber-weisung? – Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen und die Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? – Dassind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der So-zialdemokraten. Enthaltungen? – Keine. Somit ist derAntrag abgelehnt worden.

Wir kommen zur Abstimmung – Zusatzpunkt 11 a –über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD undFDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Ände-rung des Abgeordnetengesetzes – Einführung eines Ord-nungsgeldes. Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immuni-tät und Geschäftsordnung empfiehlt unter Buchstabe aseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6309,den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPDund FDP auf Drucksache 17/5471 anzunehmen.

Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor, über die wir zuerst abstim-men.

Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache17/6352? – Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen und die Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? – Dassind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der So-zialdemokraten. Stimmenhaltungen? – Keine. Der Ände-rungsantrag ist abgelehnt.

Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck-sache 17/6353? – Das sind die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Dassind die Koalitionsfraktionen und die sozialdemokrati-sche Fraktion. Enthaltungen? – Keine. Der Änderungs-antrag ist abgelehnt.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind dieKoalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Werstimmt dagegen? – Bündnis 90/Die Grünen und Links-fraktion. Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf istdamit in zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemo-kraten. Wer stimmt dagegen? – Bündnis 90/Die Grünenund Linksfraktion. Enthaltungen? – Keine. Der Gesetz-entwurf ist somit angenommen.

Zusatzpunkt 11 b. Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord-

1) Anlage 14

nung zur Änderung der Geschäftsordnung des DeutschenBundestages, hier: Einführung eines Ordnungsgeldes,§§ 36 bis 39 der Geschäftsordnung des Deutschen Bun-destages, auf Drucksache 17/6309. Unter Buchstabe bempfiehlt der Ausschuss die Änderung der §§ 36 bis 39der Geschäftsordnung. Hierzu liegen zwei Änderungsan-träge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über diewir zuerst abstimmen.

Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck-sache 17/6354? – Das sind die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Dassind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten.Enthaltungen? – Keine. Der Änderungsantrag ist abge-lehnt.

Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck-sache 17/6355? – Das sind Bündnis 90/Die Grünen undLinksfraktion. Wer stimmt dagegen? – Koalitionsfraktio-nen und Sozialdemokraten. Enthaltungen? – Keine. DerÄnderungsantrag ist abgelehnt.

Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Das sinddie Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialde-mokraten. Gegenprobe! – Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen und Linksfraktion. Enthaltungen? – Keine. Die Be-schlussempfehlung ist angenommen.

Bevor ich den Tagesordnungspunkt 16 sowie denZusatzpunkt 10 aufrufe, darf ich bekannt geben, dass dieFrauenfußballnationalmannschaft ihr Spiel gegen Nige-ria 1 : 0 gewonnen hat.

(Beifall)

Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 16 sowie denZusatzpunkt 10 auf:

16 Beratung des Antrags der Abgeordneten MichaelSchlecht, Sabine Leidig, Dr. Barbara Höll, wei-tere Abgeordnete und der Fraktion DIE LINKE

Keine zusätzlichen finanziellen Mittel desBundes oder der Bahn AG für Stuttgart 21

– Drucksache 17/6129 –

ZP 10 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms, StephanKühn, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Stuttgart 21 – Kein Weiterbau ohne Nachweisder Leistungsfähigkeit und ohne Klärung derKosten und Risiken

– Drucksache 17/6320 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich muss dennoch darauf hinweisen, dass der einzigebei mir gemeldete Redner der Kollege Michael Schlechtvon der Fraktion Die Linke ist, da alle anderen Kollegin-nen und Kollegen ihre Reden zu Protokoll geben.2)

2) Anlage 19

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Vizepräsident Eduard Oswald

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Somit rufe ich jetzt den Kollegen Michael Schlechtvon der Fraktion Die Linke ans Rednerpult. Bitte schön,Herr Kollege Michael Schlecht.

(Beifall bei der LINKEN)

Michael Schlecht (DIE LINKE):Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Im

Zusammenhang mit Stuttgart 21 steht eine große Zahlim Raum: 4,5 Milliarden Euro. Das soll die Obergrenzefür dieses Bahnprojekt sein. Wir halten diesen Betrag fürviel zu hoch, zumal alternativ der Kopfbahnhof eine sehrgute und ausbaufähige Leistungsfähigkeit hat. Die Ab-fertigung von mehr als 50, ja zum Teil 60 Zügen in derStunde ist dort möglich. Entscheidend ist unserer Auf-fassung nach vor allen Dingen, dass mit dem Kopfbahn-hof ein moderner Taktverkehr problemlos realisierbarist. Bei S 21 mit nur acht Gleisen ist das alles – das wirdam Ende auch noch der Stresstest ergeben – nicht gesi-chert.

Unter dem Strich ist für uns vor diesem Hintergrundvollkommen klar: Der Kopfbahnhof ist das zukunftsfähi-gere Modell. Das gilt auch, wenn man berücksichtigt,dass man in dieses Projekt natürlich Modernisierungs-mittel hineinstecken müsste.

(Widerspruch des Abg. Ulrich Petzold [CDU/CSU])

– Wenn Sie mir einen Vogel zeigen, dann finde ich dasnicht der Würde des Hauses entsprechend, Herr Kollege;aber das nur nebenbei.

Die Kosten bei diesem ganzen Projekt sind schon sehrwichtig. Man hat manchmal das Gefühl, dass diejenigen,die sonst immer für große Sparsamkeit sind, beiStuttgart 21, wenn es ums Geld geht, ziemlich in die Vol-len gehen. Die Kosten sind deshalb wichtig, weil es auchin einer Stadt wie Stuttgart natürlich viele soziale Män-gel gibt und all das Geld, das für dieses Projekt ausgege-ben werden soll, für andere Dinge viel dringender ge-braucht würde: Beseitigung von Kinderarmut, Kitaplätzeusw.

Es besteht zudem die Gefahr, dass das Projekt S 21viel teurer wird, dass es nicht bei der Summe von4,5 Milliarden Euro bleibt, die immer im Raum steht. Esgibt Schätzungen, dass sich die Kosten des ganzen Pro-jekts zwischen 5 und 6 Milliarden Euro bewegen dürf-ten, ganz unabhängig davon, dass bei solchen Projektennatürlich immer noch Preissteigerungen, Kostensteige-rungen zu erwarten sind.

Vor dem Hintergrund ist es aus unserer Sicht ein ein-deutiger Fortschritt, dass in der Koalitionsvereinbarungder neuen baden-württembergischen Koalition zumin-dest festgelegt ist, dass die neue Landesregierung keineweiteren Landesmittel in dieses Projekt stecken wird,wenn die Grenze von 4,5 Milliarden Euro überschrittenwerden sollte, was eine reale Gefahr ist.

Die spannende Frage ist nur, ob dann, wenn dieseGrenze von 4,5 Milliarden Euro überschritten wird – dasist durchaus möglich –, nicht die Gefahr besteht, dass an-

dere, zum Beispiel Bund und/oder Bahn, auf Teufelkomm raus Mehrkosten übernehmen, weil sie aus ganzbestimmten Gründen an diesem Projekt festhalten. Ausmeiner Sicht wäre es vollkommener Wahnsinn, wennman dies machen würde.

Das Misstrauen, nämlich dass dort etwas Derartiges imBusch sein könnte, dass noch durch andere Stellen, durchBund oder Bahn, eine zusätzliche Finanzierung erfolgenkönnte, ist gewachsen, als ich erfahren habe, dass im Rah-men der Koalitionsverhandlungen in Baden-Württembergdie Grünen ursprünglich durchsetzen wollten, dass bei Kos-ten von über 4,5 Milliarden Euro das Projekt beerdigt wird.Diese Regelung ist in den Koalitionsverhandlungen von derSPD abgelehnt worden. Die SPD hat gesagt: Da machenwir nicht mit. – Also ist der jetzt mehrfach benannte Kom-promiss dabei herausgekommen.

Was uns umtreibt, ist, jetzt abzusichern oder zumin-dest abzuklären, ob mein Misstrauen berechtigt oder un-berechtigt ist. Mit dem Antrag, den wir eingebracht ha-ben, wäre das möglich. Mit diesem Antrag wäremöglich, klarzustellen, dass weder Bund noch Bahn beientsprechender Kostenüberschreitung für dieses Projektzusätzliche Mittel geben. Deswegen dieser Antrag!

Wenn Sie meinem Misstrauen entgegentreten wollen,müsste das gesamte Hohe Haus, müssten alle Fraktionendiesem Antrag problemlos zustimmen können. Ich freuemich schon darauf.

Guten Abend!

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle

anderen gemeldeten Rednerinnen und Redner haben ihreRede zu Protokoll gegeben.

(Jörg van Essen [FDP]: Auch dieser Redehätte es gutgetan, wenn sie zu Protokoll gege-ben worden wäre!)

Somit schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktion Die Linke auf Drucksache 17/6129 mit dem Ti-tel „Keine zusätzlichen finanziellen Mittel des Bundesoder der Deutschen Bahn AG für Stuttgart 21“. Werstimmt für diesen Antrag? – Das sind die Fraktion DieLinke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Werstimmt dagegen? – Das sind die Koalitionsfraktionenund die Fraktion der Sozialdemokraten. Enthaltungen? –Keine. Der Antrag ist abgelehnt.

Zusatzpunkt 10. Abstimmung über den Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6320mit dem Titel „Stuttgart 21 – Kein Weiterbau ohneNachweis der Leistungsfähigkeit und ohne Klärung derKosten und Risiken“. Wer stimmt für diesen Antrag? –Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und dieLinksfraktion. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Ko-alitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Enthaltun-gen? – Keine. Der Antrag ist abgelehnt.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13533

Vizepräsident Eduard Oswald

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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Übertragung ehebezogener Regelungen imöffentlichen Dienstrecht auf Lebenspartner-schaften

– Drucksache 17/3972 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Volker Beck (Köln), Dr. Konstantin vonNotz, Birgitt Bender, weiteren Abgeordneten undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gleich-stellung der eingetragenen Lebenspartner-schaften mit der Ehe im Bundesbeamtengesetzund in weiteren Gesetzen

– Drucksache 17/906 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses (4. Ausschuss)

– Drucksache 17/6359 –

Berichterstattung:Abgeordnte Armin Schuster (Weil amRhein)Michael Hartmann (Wackernheim)Dr. Stefan RuppertFrank TempelDr. Konstantin von Notz

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) –Sie sind alle damit einverstanden. Ich brauche auch dieNamen der Kolleginnen und Kollegen nicht zu verlesen.Sie liegen bei uns vor.

Somit kommen wir gleich zur Abstimmung. Der In-nenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/6359, den Gesetz-entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3972anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind dieKoalitionsfraktionen und die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen. Wer stimmt dagegen? – Sozialdemokraten.Stimmenthaltungen? – Linksfraktion. Der Gesetzentwurfist damit in zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist derGesetzentwurf bei gleichem Stimmverhalten entspre-chend angenommen worden.

Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe b sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6359, denGesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 17/906 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Das sind die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen,Sozialdemokraten und die Linksfraktion. Wer stimmt da-gegen? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltun-

1) Anlage 15

gen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratungabgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsord-nung die weitere Beratung.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten SylviaKotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Krista Sager, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Moratorium jetzt – Dringliche Klärung vonFragen zu Mehrkosten des ITER-Projekts

– Drucksache 17/6321 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Siesind sicher alle damit einverstanden.2) – Die Namen derKolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/6321 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP

Effektive Regulierung der Finanzmärkte nachder Finanzkrise

Drucksache 17/6313 – Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben3). –Ich sehe, Sie sind auch damit einverstanden. Die Namender Kolleginnen und Kollegen liegen hier vor.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/6313 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind alle damit ein-verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 sowie den Zu-satzpunkt 12 auf:

19 Beratung des Antrags der Abgeordneten WolfgangBörnsen (Bönstrup), Christoph Poland, DorotheeBär, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten Reiner

2) Anlage 203) Anlage 18

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Vizepräsident Eduard Oswald

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Deutschmann, Patrick Kurth (Kyffhäuser), SebastianBlumenthal, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDP

Ratifizierung der UNESCO-Konvention zumimmateriellen Kulturerbe vorantreiben

– Drucksache 17/6314 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)Auswärtiger AusschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für TourismusHaushaltsausschuss

ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaSchmidt (Aachen), Siegmund Ehrmann, MartinDörmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD sowie der Abgeordneten AgnesKrumwiede, Claudia Roth (Augsburg), EkinDeligöz, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Ratifizierung des UNESCO-Übereinkommenszur Bewahrung des immateriellen Kulturerbesvorbereiten und unverzüglich umsetzen

– Drucksache 17/6301 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)Auswärtiger AusschussAusschuss für Tourismus

Wie in der Tagesordnung bereits ausgewiesen, wer-den die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen derKolleginnen und Kollegen liegen hier vor. Insofern sindalle damit einverstanden, dass wir so verfahren.

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Deutschland kann seit wenigen Tagen auf die Aner-

kennung von insgesamt 35 Weltkulturerbestätten verwei-sen. Der deutsche Buchenwald und das Fagus-Werk so-wie das Hamburger Wattenmeer wurden in dieser Wochevon der UNESCO auch zum Weltkulturerbe erklärt. Da-mit stellt die Bundesrepublik die fünftmeisten Welterbe-stätten weltweit. Das ist gut für das Kulturland Deutsch-land und für den Kulturtourismus.

Gut 70 Millionen Menschen besuchen jährlich dieseKulturdenkmäler. Der Status dieser materiellen Kultur-stätten ist ein großer Erfolg für die Kultur wie für denTourismus in unserem Land und als solcher auch aner-kannt.

Über das immaterielle Kulturerbe hingegen gibt esbisher nur eine Expertendiskussion, obwohl bereits134 der UNESCO-Konvention zum immateriellen Kul-turerbe beigetreten sind.

Die immateriellen Kulturgüter sind nicht in Stein ge-meißelte Bauten wie Paläste oder Kathedralen, sondernPraktiken, Bräuche und Handwerkstechniken. Auch diedamit verbundenen Instrumente, Objekte und Artefaktegehören dazu.

Ziel des UNESCO-Übereinkommens zur Bewahrungdes immateriellen Kulturerbes ist es, diese Kulturformenzu erhalten und zu bewahren. Denn sie sind zunehmenddurch Vergessen bedroht.

Ein wichtiger Anlass für die Entstehung dieser Kon-vention ist, dass die materiellen Welterbestätten zu einergeografischen Dominanz von Europa geführt haben.Hier gibt es aus historischen Gründen zahlreiche bedeu-tende Bauten wie Kirchen und Museen. Afrikanische undasiatische Länder hingegen können, was diese materiel-len Kulturstätten betrifft, nicht im gleichen Maße mit-halten. Es ist also eine Gerechtigkeitsfrage gegenüberaußereuropäischen Ländern, dass auch immaterielleKulturgüter zum Weltkulturerbe werden können. Das im-materielle Kulturerbe ist somit die logische Ergänzungzu den Welterbestätten. Beide sind auf Augenhöhe mit-einander.

Zur „Repräsentativen Liste des immateriellen Kultur-erbes der Menschheit“ gehören unter anderem dieugandische Rindentuchherstellung, die chinesische Aku-punktur, die französische Kochkunst oder der argentini-sche Tango. Voraussetzung dafür, dass auch deutscheKulturgüter zum UNESCO-Kulturerbe werden, ist, dassdie Bundesrepublik das UNESCO-Übereinkommen zumSchutz des immateriellen Kulturerbes ratifiziert.

Warum ist ein Beitritt Deutschlands zu dieser Kon-vention nach Auffassung der Union, die diese Initiativeauf den Weg gebracht hat, angemessen und sinnvoll?Wir sollten ein fundamentales Interesse daran haben,dass unsere über Generationen überlieferten Kennt-nisse, unsere kulturellen Besonderheiten, unsere Aus-drucksweisen, Bräuche und Praktiken bewahrt undweiterentwickelt werden, weil auch sie ein Teil unsererkulturellen Identität ausmachen.

Gerade „körperlose“ Kulturgüter bedürfen eines be-sonderen Schutzes, da sie vergänglicher sind als stoffli-che Monumente. Es steht zu befürchten, dass traditio-nelle Fertigkeiten, Bräuche und Riten aussterben, wennsie nicht ausreichend geschützt werden. Ein Beispiel da-für bietet der „Sprachentod“. Pro Woche sterben auf derErde zwei Sprachen, gehen unwiederbringlich verloren.In zwei bis drei Jahrzehnten wird es nicht mehr circa7 000 Sprachen in der Welt geben, sondern nur noch3 000, befürchten die Experten der UNESCO. Bereitsjetzt stehen die niederdeutsche Sprache, Friesisch undSorbisch auf der „roten Liste“.

Durch einen Beitritt Deutschlands zu diesem interna-tionalen Übereinkommen können wir helfen, das imma-terielle Kulturerbe zu bewahren und das Bewusstsein fürdie Bedeutung des immateriellen Kulturerbes zu för-dern.

Zahlreiche große Verbände und gesellschaftlicheGruppen wie der Bund Heimat und Umwelt, BHU, derZentralverband des Deutschen Handwerks, der Zentral-verband des Deutschen Bäckerhandwerks und der Deut-sche Schaustellerbund, um nur einige zu nennen, habensich für eine Ratifizierung der UNESCO-Konventionausgesprochen. Auch die Enquete-Kommission „Kultur

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13535

Wolfgang Börnsen (Bönstrup)

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in Deutschland“ hatte empfohlen, dem Abkommen bei-zutreten.

Ironie und Spott, wie sie einige gegenüber diesen In-stitutionen äußern, sind völlig fehl am Platze.

Da die Zahl der Interessierten groß ist, schlagen wirdie Prüfung einer öffentlichen Anhörung zum Thema„UNESCO-Konvention zur Bewahrung des immateriel-len Kulturerbes“ vor. Die Verbände und gesellschaftli-chen Gruppen sollten an der Umsetzung der Konventionbeteiligt werden.

Zur Diskussion in unserem Land:

Zunächst wollten die Bundesregierung und besondersdie für die Kultur zuständigen Länder verständlicher-weise erst eine genaue juristische Prüfung vornehmen,bevor die Konvention ratifiziert werden sollte. Man hatzuerst abgewartet, wie sich das Instrument in der Praxisbewährt. Erst einmal musste klar werden, nach welchenKriterien immaterielle Kulturgüter ausgewählt werdensollten. Auch über mögliche zusätzliche Kosten mussteEinverständnis mit den Ländern hergestellt werden. InDeutschland leistet man bereits so viel wie kaum in ei-nem anderen Land für den Schutz seines kulturellen Er-bes. Deshalb war es vertretbar, mit der Ratifizierung derKonvention erst einmal zu warten.

Inzwischen sind die juristische Prüfung und die Dis-kussion mit den Ländern vorangeschritten. Auch habenunsere europäischen Nachbarstaaten wie Österreichund die Schweiz praktikable Wege zur nationalen Um-setzung der Konvention aufgezeigt, an denen man sichorientieren kann.

Die 16 Länder haben eine Machbarkeitsstudie in Auf-trag gegeben, die praktikable Vorschläge für die institu-tionelle Ausgestaltung und administrative Umsetzungder Vorgaben der Konvention gemacht hat.

Aufgezeigt wird darin auch, wie die finanziellen undbürokratischen Kosten für Bund und Länder gering ge-halten werden können: Bei der Umsetzung kann aufbestehende Institutionen der UNESCO-Kommission inDeutschland zurückgegriffen werden, die auch für diemateriellen Welterbestätten verantwortlich sind.

Es ist daher begrüßenswert, dass die Bundesregie-rung nun Gespräche mit den Ländern aufgenommen hat,um den Ratifizierungsprozess einzuleiten.

Diese Bereitschaft der Bundesregierung sowie derLänder wollen wir mit unserem Antrag unterstützen unddamit das Signal senden, dass für uns die Bewahrungkultureller Traditionen wie zum Beispiel deutscherMärchen, Trachten oder Volkslieder oder auch der Vor-schläge aus den Reihen der Verbände als „Rohstoffe“unserer kulturellen Identität unverzichtbar ist.

Wir haben ein fundamentales Interesse daran, dassunser über die Generationen überliefertes Wissen, un-sere Sprache einschließlich der Regionalsprachen oderdie Vielfalt traditioneller Kunstformen gesichert wer-den.

Die Konvention sollte deshalb zügig umgesetzt wer-den. Zu diesem Zweck wäre es hilfreich, wenn Bund und

Länder die Einrichtung einer nationalen Datenbank zurInventarisierung des immateriellen Kulturerbes prüfensowie interessierte und betroffene Verbände wie Organi-sationen zügig zu einem Forum „Immaterielles Kultur-erbe“ gemeinsam mit den Ländern einladen. Vor allemder Bund Heimat und Umwelt, der Zentralverband desDeutschen Bäckerhandwerks, der Zentralverband desDeutschen Handwerks, das Deutsche Institut für ReinesBier und der Deutsche Schaustellerbund sollten dabeiberücksichtigt werden.

Unser Land ist eine Kulturnation. Eine aktive Beteili-gung Deutschlands an der europäischen und internatio-nalen Zusammenarbeit zur Bewahrung des immateriel-len Kulturerbes sollte das Gebot der Stunde sein; dasheißt für die UNESCO-Konvention, noch in diesem Jahrdie Ampel auf Grün zu stellen.

Herbert Frankenhauser (CDU/CSU): Nunmehr 134 Länder – beinahe alle Nachbarn in Eu-

ropa – haben das Übereinkommen zur Bewahrung desimmateriellen Kulturerbes der UNESCO ratifiziert. Sieschützen damit nicht nur die Vielfalt kultureller Aus-drucksformen wie Sprachen, Bräuche, Feste und Hand-werkstechniken in besonderem Maße, sondern rückendamit über Jahrhunderte überlieferte Traditionen in denweltweiten Blickpunkt.

Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beitritt zudem Abkommen bisher verweigert, und zwar zum einenwegen grundsätzlicher Bedenken aufgrund der Möglich-keit extremistischen Missbrauchs, zum anderen wegenkonkreter juristischer Bedenken. Ich bin froh, dass diesenun aus dem Weg geräumt werden konnten und eine er-neute Initiative zur Ratifizierung ergriffen wird. Zudemhoffe ich und bin mir sicher, dass nun auch die Bundes-länder diese Initiative konstruktiv unterstützen werden.

Weit über 200 kulturelle Ausdrucksformen aus allenWeltregionen wurden inzwischen in die „RepräsentativeListe des immateriellen Kulturerbes“ der UNESCO auf-genommen. Dies ist ein beindruckendes Zeichen welt-weiter kultureller Vielfalt, dem sich Deutschland bisherentzieht.

Mir persönlich ist es ein Anliegen, für ein besonderes,weltweit einmaliges Kulturgut zu werben: das Reinheits-gebot für deutsches Bier. Auch wenn die Aufnahme in dieUNESCO-Liste in den Händen einer zwischenstaatlichenKommission liegt – und nicht einfach von diesem HohenHaus beschlossen werden kann –, steht das deutscheReinheitsgebot beispielhaft für eine über Jahrhunderteüberlieferte Handwerkstradition und eben noch für vielmehr: Das deutsche Reinheitsgebot ist als direkte Nach-folgeregelung des Bayerischen Reinheitsgebotes von1516 die älteste noch geltende landesweite lebensmittel-rechtliche Vorschrift der Welt und garantiert seit Jahr-hunderten die hohe Qualität des deutschen Bieres. Bierist in Deutschland ein anerkanntes Kulturgut, dessen in-ternationaler Stellenwert sich im hohen Ansehen desdeutschen Reinheitsgebotes weltweit manifestiert.

An diesem Beispiel wird ganz deutlich: Die Bewah-rung immaterieller Kulturgüter ist viel mehr, als etwas

Zu Protokoll gegebene Reden

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13536 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Herbert Frankenhauser

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Altes oder Vergangenes museal zu konservieren. Es zeigtvielmehr, dass Altes, Überliefertes nach wie vor einenlebendigen Bezug zum Hier und Jetzt haben kann. Ebengelebte Tradition!

Wie auch schon die Kollegen aus der Enquete-Kom-mission „Kultur in Deutschland“ im Jahre 2007 sprecheich mich nachdrücklich dafür aus, dass Deutschlandmöglichst zügig das Abkommen zur UNESCO-Konven-tion zum immateriellen Kulturerbe ratifiziert.

Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Warum ist es wichtig und wirklich an der Zeit, dass

Deutschland das UNESCO-Übereinkommen zum imma-teriellen Kulturerbe ratifiziert? Was bedeutet das Über-einkommen für Deutschland? Was bedeutet es interna-tional?

In den Debatten der letzten Legislaturperiode gab esStimmen, dass das Übereinkommen zum immateriellenKulturerbe zu konservativ ausgerichtet sei oder dass dieErstellung einer Liste einen bürokratischen Akt dar-stelle. Dies ist gerade nicht so. Dies ist ein Missver-ständnis.

Es geht beim Übereinkommen zum immateriellenKulturerbe darum, lebendige Alltagskultur in den Mit-telpunkt zu stellen. Es geht um Anerkennung und Förde-rung aktiver kultureller Betätigung wie in der Laienkul-tur, um regionale und überregionale Identitäten, um dienationale Identität und den Austausch darüber und umdie Vielfalt der gelebten Kulturen in den Ländern, inDeutschland und international. Sie sollen nicht einge-froren, sondern erhalten bleiben. Wir wissen mittler-weile aus den Erfahrungen zum Beispiel in Österreich,dass die Auseinandersetzung mit gelebter Alltagskulturdazu führen kann, aktuellen Themen neue Facetten zugeben, wenn zum Beispiel lokales Erfahrungswissenaufgewertet wird.

Dem Übereinkommen zum immateriellen Kulturerbeliegt ein weiter Kulturbegriff zugrunde: mündliche Tra-ditionen wie Sprache, darstellende Künste, Bräuche, Ri-tuale und Feste, aber auch Wissen um traditionelleHandwerkstechniken oder Wissen im Umgang mit Naturund Universum gehören dazu. Ich finde, dieser weite Be-griff eignet sich gut, sich der komplexen Alltagskulturanzunähern und auch Kulturgüter zu entdecken, die viel-leicht lokal verborgen oder allgemein nicht so bekanntsind. Ich denke da an Heilpraktiken, die man ergänzendzur Schulmedizin anwenden kann. Eine bekannte Vari-ante davon sind die deutschen Kneippkuren. Oder: Diegute mediterrane Küche steht auf der Liste desUNESCO-Erbes, warum nicht auch gute regionale deut-sche Kochkunst?

Die Aufnahme des Kulturerbes in die UNESCO-Listeist kein bürokratischer Akt, sondern vielmehr eine Be-standsaufnahme im Sinne von Wissensorganisation. Wirwollen uns selbst vergewissern, welche immateriellenSchätze unser Land oder auch andere Länder zu bietenhaben.

Die Ratifizierung des Übereinkommens zum immate-riellen Kulturerbe hat auch eine internationale, eine au-

ßenpolitische Bedeutung, wiederum im Sinne nationalerIdentitäten und des Kulturaustausches, aber auch alsUnterstützung für Länder mit einem reichen immateriel-len Kulturerbe, das zum Beispiel durch die UNESCO-Welterbekonvention keine Berücksichtigung findet.

136 Staaten haben das Übereinkommen mittlerweileratifiziert, darunter mehrere unserer Nachbarländer. Ichsehe nicht, warum Deutschland länger warten sollte.

Ich begrüße den Antrag der Union und der FDP. Aberer muss schon konkreter werden. Der Antrag der SPDund der Grünen weist im Gegensatz dazu konkreteSchritte und einen Zeitrahmen auf, um eine möglichstschnelle Ratifikation des Übereinkommens voranzutrei-ben und unverzüglich umzusetzen.

Wir fordern die Bundesregierung auf, so rasch wiemöglich die notwendige Abstimmung gemeinsam mitLändern und Kommunen durchzuführen, bis Ende 2011einen Bericht vorzulegen und das Übereinkommen zumimmateriellen Kulturerbe bis Ende 2012 zu ratifizieren.Wir brauchen dazu eine qualitätssichernde Methodik zurErstellung von Bestandsaufnahmen, die Einrichtung ei-nes gemeinsamen Forums mit fachlicher Legitimität, einbundesweit einheitliches Verfahren und klare Kriterienfür eine nationale Liste und ein Konzept für einen ange-messenen Schutz der ausgewählten immateriellen Kul-turgüter. Wir fordern die Bundesregierung auf, zivilge-sellschaftliche Akteure in den Abstimmungsprozesseinzubeziehen, die notwendigen jährlichen Kosten fürdie Ratifizierung und die Umsetzung des Übereinkom-mens zu ermitteln und zu überprüfen, ob ein Vertragsge-setz und ein Umsetzungsgesetz erforderlich sind. Diesalles sind ganz konkrete und sinnvolle Forderungen,wenn man wirklich vorankommen möchte.

Ich meine, wir sind uns einig, dass das UNESCO-Übereinkommen für das immaterielle Kulturerbe fürDeutschland und auch international einen hohen Werthat. Ich bitte Sie, dass wir gemeinsam dafür sorgen, dassdas Übereinkommen zum immateriellen Kulturerbe rati-fiziert wird.

Reiner Deutschmann (FDP): Mit dem heute von Union und FDP vorgelegten An-

trag betritt Deutschland Neuland im Bereich des Schut-zes und der Förderung von Kunst und Kultur. Mit derRatifizierung des UNESCO-Übereinkommens zur Be-wahrung des immateriellen Kulturerbes, das 2003 be-schlossen wurde und 2006 in Kraft trat, wird eine Lückeim Schutzgeflecht der UNESCO-Konventionen ge-schlossen. Dem UNESCO-Welterbe-Übereinkommenvon 1972, das Kultur- und Naturstätten von außerge-wöhnlicher Bedeutung für die Weltgemeinschaft schützt,wird der „vergeistigte“ Bruder zur Seite gestellt.

Damit trägt die Regierungskoalition dem FaktumRechnung, dass es mehr gibt als die verstofflichte Kulturin Form von Bauwerken, Gebäudeensembles oder Na-turräumen. Kultur findet sich auch in Tänzen, darstel-lender Kunst, mündlichen Überlieferungen und Tradi-tionen. Sie ist Bestandteil unseres gesellschaftlichenLebens. Darum ist es nur folgerichtig, auch besondere

Zu Protokoll gegebene Reden

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Reiner Deutschmann

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„Leuchttürme“ des immateriellen Kulturgutes im Rah-men eines UNESCO-Übereinkommens einem besonde-ren Schutz zuzuführen.

Für Deutschland bedeutet dies, dass fortan die Wert-schätzung für nationales immaterielles Kulturerbe eineneue Qualität erhalten kann. Dem im Alltag oft verkann-ten identitätsstiftenden Wert von Traditionen und Über-lieferungen werden so eine besondere Aufmerksamkeitund damit auch die Verpflichtung zu einem besonderenSchutz dieser Kulturleistungen zuteil. Um es mit anderenWorten zu sagen: Deutschland ist mehr als die Summeseiner Schlösser, Burgen und Parkanlagen. Mit dem Ein-trag in die UNESCO-Liste des immateriellen Kultur-erbes schützen wir diese Kulturleistung nicht nur, son-dern wecken auch die Neugier der anderen Länder, sichmit unseren Kulturleistungen auseinanderzusetzen bzw.diese selbst zu erleben und zu genießen.

Was die Wirkung dieses Übereinkommens angeht, istes wichtig, auch über den nationalen Tellerrand bzw.den der industrialisierten Welt hinwegzusehen. DasUNESCO-Übereinkommen bietet gerade denjenigenLändern, die nicht über eine Vielzahl von herausragen-den Kulturstätten und gestalteten Naturräumen verfü-gen, die Möglichkeit, ihrerseits einen Teil der identitäts-stiftenden Kulturtraditionen zu schützen. In vielenLändern wird die nationale Kultur oder die einer Volks-gruppe gerade durch die Überlieferung von Gebräu-chen, Handwerkstechniken und Wissensüberlieferungengesichert. Diese gilt es ebenso zu schützen wie eine Ka-thedrale oder ein Gebäudeensemble. Schließlich musses unser Ziel sein, in einer gemeinsamen Welt eine Viel-zahl von Kulturen vorfinden und erleben zu können. „InVielfalt geeint“, dieses Motto der Europäischen Unionsollte auch für die UNESCO-Mitgliedstaaten Anwen-dung finden dürfen. Das UNESCO-Übereinkommen zumSchutz des immateriellen Kulturerbes ist ein notwendi-ger und richtiger Schritt zum Erreichen dieses Ziels.

Deutschland hat sich zunächst etwas schwer getanmit dem UNESCO-Übereinkommen zum Schutz des im-materiellen Kulturguts. Es wurde nach den Konsequen-zen einer Ratifizierung gefragt. Finanzielle Auswirkun-gen wurden als unkalkulierbare Risiken beschrieben. Dawenig bis gar keine Erfahrungen mit solchen Welterbe-listen und dem in der Konsequenz zuzubilligendenSchutz für diese kulturellen Errungenschaften bekanntwaren, mussten zunächst unterschiedlichste Bedenkenausgeräumt werden. Diese Befürchtungen konnten aberdurch die positiven Erfahrungen, die unsere Nachbar-länder Österreich und Schweiz mit dem Schutz des im-materiellen Kulturgutes machen konnten, ausgeräumtwerden. Unsere Nachbarn haben ein kluges und würdi-ges Verfahren gefunden, die herausragenden Leucht-türme kultureller Überlieferungen oder Tradition imAntragsverfahren herauszufiltern, um diese nach Auf-nahme in eine nationale Liste später auch der UNESCOvorschlagen zu können. Folgt Deutschland dem positi-ven Beispiel der beiden Alpenländer, dann sehe ich keineSchwierigkeiten, warum der Schutz immateriellen Kul-turgutes nicht auch in Deutschland gelingen sollte. Einewichtige Voraussetzung dafür ist das gute Zusammen-wirken mit den Bundesländern in dieser Frage.

Wenn ich den Antrag der Fraktionen von SPD undBündnis90/Die Grünen betrachte, stelle ich fest, dasswir in der grundsätzlichen Entscheidung, die Ratifizie-rung des UNESCO-Übereinkommens weiter voranzu-treiben, einig sind. Der Ausschuss für Kultur und Me-dien des Deutschen Bundestages ist daher genau dasrichtige Gremium, um mit den Kolleginnen und Kolle-gen der anderen Fraktionen zu beraten, wie wir die Ra-tifizierung des UNESCO-Übereinkommens zum Schutzdes immateriellen Kulturerbes am besten begleiten kön-nen. Ich freue mich auf die konstruktiven Gespräche dernächsten Wochen.

Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Was ist eigentlich Kultur? Was sind schützenswerte

Kulturgüter? Sind es nur materielle Güter, sind esSchlösser, historische Stadtensembles, Gärten, Land-schaften? Oder sollten wir auch die immaterielle Kultur,überkommene Bräuche und lebendige Ausdrucksformenin der Lebensweise verschiedener Gruppen und Ge-meinschaften dazuzählen und als bewahrenswert begrei-fen?

Die UNESCO hat in den letzten Jahrzehnten viel dazubeigetragen, unser Verständnis von Kultur zu erweiternund für die dynamischen Kulturprozesse der Gegenwartzu öffnen. Erinnert sei nur an die UNESCO-Kulturkon-ferenz von Mexiko 1982, seit der international eine ananthropologischen und ethnologischen Begrifflichkeitenangelehnte Definition von Kultur benutzt wird, in der dieKultur als Gesamtheit der unverwechselbaren geistigen,materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigen-schaften angesehen wird, die eine Gesellschaft oder einesoziale Gruppe kennzeichnen, und die über Kunst undLiteratur hinaus auch Lebensformen, Formen des Zu-sammenlebens, Wertesysteme, Traditionen und Überzeu-gungen umfasst.

Dieser weite Ansatz wurde 2005 in der Definition desBegriffs der kulturellen Vielfalt im „Übereinkommenüber den Schutz und die Förderung der Vielfalt kulturel-ler Ausdrucksformen“ bekräftigt. Im Sinne dieses Kul-turverständnisses war es nur konsequent, dass dieUNESCO über das Natur- und Kulturerbe hinaus – sieheWelterbekonvention von 1972 – mit ihrem Übereinkom-men von 2003 auch das immaterielle Kulturerbe unterSchutz gestellt sehen wollte und damit das erste völker-rechtlich verbindliche Instrument zur Bewahrung desimmateriellen Kulturerbes schuf.

Wir als Linke teilen dieses Kulturverständnis und se-hen die Notwendigkeit, überlieferte Traditionen undAusdrucksformen, so auch die Sprachen, die verschiede-nen Formen der Künste, gesellschaftliche Praktiken, Ri-tuale und Feste, Wissen und Praktiken im Umgang mitder Natur oder auch traditionelle Handwerkstechniken,zu schützen. Viele dieser Kulturformen gehen weltweitdurch die Globalisierung verloren, und zwar in einer un-heilvollen Geschwindigkeit.

Insofern halten wir es für notwendig, dass Deutsch-land das UNESCO-Übereinkommen zur Bewahrung desimmateriellen Kulturerbes baldmöglichst ratifiziert. DieEnquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ hat sich

Zu Protokoll gegebene Reden

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Dr. Lukrezia Jochimsen

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2007 mit einer Handlungsempfehlung dafür ausgespro-chen. Seitdem hat sich nicht viel getan. Daher ist es zubegrüßen, wenn jetzt hier im Bundestag zwei Anträge zudiesem Thema vorliegen. Allerdings sind diese unter-schiedlich weitgehend und konkret.

Der Antrag der Koalition verbleibt, was den zeitli-chen Horizont, die konkrete Zielstellung und die inhalt-lichen Punkte der Gespräche und notwendigen Verein-barungen mit den Ländern betrifft, im Unverbindlichen.Anders der Antrag von SPD und Bündnis 90/DieGrünen. Ziel ist, das Übereinkommen bis Ende 2012 zuratifizieren, sich mit den Ländern über eine qualitäts-sichernde Methode zur Erstellung von Bestandsaufnah-men und über die Einrichtung eines gemeinsamen Fo-rums mit fachlicher Legitimität – ähnlich wie in derSchweiz bzw. Österreich – zu verständigen und ein bun-desweit einheitliches Verfahren und klare Entschei-dungskriterien für eine Anmeldung und Auswahl für einenationale Inventarliste zu erreichen. Das ist weitauskonkreter und zielführender. Diese wie auch die folgen-den Punkte des Antrags von SPD und Grünen sollten ineinen überarbeiteten Antrag eingehen, der nach unsererVorstellung ein gemeinsamer Antrag aller Parteien seinsollte. Wir als Linke stehen jedenfalls für eine Zusam-menarbeit bereit. Das Anliegen ist es wert, dem Bundes-tag einen gemeinsamen Antrag vorzulegen. Die Empfeh-lung der Enquete-Kommission war eine aller Parteien,auch mit unseren Stimmen. Es gibt keinen überzeugen-den Grund, warum eine parteiübergreifende Zusammen-arbeit in dieser Angelegenheit nicht auch jetzt möglichsein sollte.

Die Bundesregierung hat als Grund für ihre bisherabwartende Haltung vor allem die Unklarheit darüberangeführt, nach welchen Kriterien immaterielle Kultur-güter ausgewählt werden sollten. Zudem sei durch Ex-perten auf die Gefahr hingewiesen worden, dass es auf-grund der fehlenden Kriterien zu Missbrauch fürökonomische oder ideologische Interessen kommenkönne. Nun wird aber im Koalitionsantrag selbst festge-stellt, dass diese Bedenken durch die Umsetzungspraxisanderer Länder, zum Beispiel Österreichs und derSchweiz, ausgeräumt werden konnten.

Das internationale Fachgespräch zur Umsetzung desUNESCO-Übereinkommens am 25. März 2009 im Kul-turausschuss kam zu dem gleichen Ergebnis und be-stärkte auch uns, dieses Thema nachdrücklich weiterzu-verfolgen. Allerdings ist zwingend, die Kriterien zurAuswahl klar zu definieren und dazu ein gemeinsamesForum mit fachlicher Kompetenz einzurichten, um denProzess der Ratifizierung vorzubereiten und die Umset-zungspraxis zu begleiten. In diesen Abstimmungsprozesssollten zivilgesellschaftliche Akteure einbezogen wer-den.

Das Wichtigste ist, im Prozess der Vorbereitung undUmsetzung der Konvention eine breite innergesell-schaftliche Debatte darüber zu führen, was auf Basis derschon im Übereinkommen formulierten Begriffsbestim-mungen zum immateriellen Kulturerbe zu zählen ist undwas wir von deutscher Seite für die Aufnahme in dieListe des immateriellen Kulturerbes der Menschheit vor-

schlagen. Da Deutschland bisher nicht ratifiziert hat,sind ja noch keine deutschen Titel in die Liste aufgenom-men worden. Diese grundsätzliche Debatte steht unsnoch bevor.

So wird auch in Deutschland über die kulinarischeKultur diskutiert. Diese Diskussion über eine regionalgeprägte Küche mit ihren typischen Gerichten und ihrerPraxis entwickelt sich derzeit zu einer Art Gegenbewe-gung und Gegenkultur zum globalisierten Fastfood. Sogibt es in Thüringen eine Initiative zur Rettung der Thü-ringer Klöße. „Der Kloß soll für Deutschland stehen,die UNESCO soll ihn als immaterielles Kulturerbe ab-segnen“ – so die Vorstellung von Sylk Schneider, Chefdes Thüringer Kloßmusems in Heichelheim bei Weimar,der sich seit 2007 dafür einsetzt, die Thüringer Leib-speise zu bewahren. Über diese Idee wurde viel gelacht,aber eine Unterschriftenliste von Tausenden Bürgerin-nen und Bürgern aus Politik und Gesellschaft, auch ausden Reihen des Bundestages, zeigt, wie viel Unterstüt-zung es für diese Idee gibt. Nun möchte ich nicht, dassder Bundestag darüber abstimmt, dass Thüringer Klößezum Welterbe erklärt werden. Aber ich möchte schon,dass wir dieses Ansinnen nicht als lächerlich abtun, son-dern uns auch hier im Hause ernsthaft damit beschäfti-gen, was denn die Kriterien für immaterielles Weltkul-turerbe sein könnten. Wir sollten die Ratifizierung desAbkommens zügig auf den Weg bringen.

Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im Jahr 2003 hat die UNESCO das Übereinkommen

zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes verab-schiedet. In Kombination mit der UNESCO-Konventionzu Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Aus-drucksformen sowie zum Schutz des Kultur- und Natur-erbes der Welt ist das Übereinkommen zur Bewahrungdes immateriellen Kulturerbes die logische Ergänzung.Seit 2006 haben weltweit 134 Staaten das Übereinkom-men ratifiziert. Die Aktivitäten zur Umsetzung sind invollem Gange. Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregie-rung dem Vorbild Asiens und zahlreicher europäischerLänder folgt und nun endlich den Ratifizierungsprozessin Deutschland in Gang bringen möchte.

Die Nominierung immaterieller Kulturgüter ist weit-aus komplizierter als jene substanzieller Güter wie bei-spielsweise von Gebäuden, der Artenvielfalt oder einzig-artigen Naturlandschaften.

Denn immaterielle Kulturgüter sind nicht nur hap-tisch, sondern insbesondere auch definitorisch schwergreifbar. Stetige Veränderung und kulturelle Interaktiongehören ebenso zu ihren Merkmalen wie die Verwurze-lung ihrer Tradition unter gesellschaftlichen Gruppenoder in der gesamten Gesellschaft. Immaterielle Kultur-güter wie Märchen, alte deutsche Volkslieder oder Tra-ditionsfeste – um einige exemplarische Beispiele zu nen-nen – sind untrennbar mit unserer Identität verknüpft.Als Fundament unserer kulturellen Vielfalt benötigenimmaterielle Kulturgüter Wertschätzung und Schutzdurch Anerkennung im Rahmen des UNESCO-Überein-kommens.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Agnes Krumwiede

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Deutschtümelei und Ausgrenzungstendenzen bei derSuche nach schützenswerten immateriellen Kulturgüternin Deutschland sind unbedingt zu vermeiden: Es ent-spricht dem Wesen von Kunst und Kultur, von unter-schiedlichsten Einflüssen geprägt zu sein und sich unab-lässig weiterzuentwickeln. Immaterielle Kulturgütersymbolisieren die Transformationsprozesse unserer Kul-tur und Gesellschaft.

Bei der Auswahl schützenswerter immaterieller Kul-turgüter muss einem ökonomischen, ideologischen undpolitischer Missbrauch vorgebeugt werden. Dies betontauch die Koalition im Feststellungsteil Ihres Antrags,entwickelt jedoch aus dieser Erkenntnis keine entspre-chenden Schlussfolgerungen, wozu auch die Erstellungeines nationalen Kriterienkatalogs gehört. Wir fordernin unserem gemeinsamen Antrag mit der SPD ein bun-desweit einheitliches Verfahren und klare Entschei-dungskriterien, auf deren Grundlage die Anmeldung undAuswahl für die nationale Inventarliste erfolgen sollte.

Kontraproduktiv wäre es, immaterielle Kulturgüterunter dem Schutz des UNESCO-Übereinkommens zukommerzialisieren. Vielmehr sollte es darum gehen,diese Kulturgüter und Traditionen qualitativ zu erhalten,weiterzuentwickeln und die Zugangsmöglichkeiten zuverbessern. Angesichts der Komplexität des Themas istes notwendig, konkrete politische Rahmenbedingungenfestzulegen, sowohl für die Methodik der Nominierungals auch für den weiteren Umgang zur Bewahrung derausgewählten immateriellen Kulturgüter. Wie kann bei-spielsweise der theoretische Schutz alter Volkslieder imRahmen des UNESCO-Übereinkommens gewährleistetwerden, wenn an vielen Schulen musische Fächer ge-kürzt und somit auch das Singen immer weniger geför-dert wird zugunsten der sogenannten MINT-Fächer?

In unserem Antrag mit der SPD fordern wir ein Kon-zept zur Methodik der Nominierung und zum Schutz derausgewählten immateriellen Kulturgüter. Diese Aspektebleiben im vorliegenden Antrag der Koalition völlig un-berücksichtigt.

Als Vorbild kann uns das Auswahlverfahren derSchweiz dienen. Dort wurde ein allen Bürgerinnen undBürgern offenstehendes Forum für das immaterielleKulturerbe eingerichtet, um den Prozess der Ratifikationund die Umsetzungspraxis der Konvention zu begleiten.Wir brauchen in Deutschland ein adäquat basisdemo-kratisches Auswahlverfahren, um die Sichtweisen undInteressen unterschiedlicher kultureller und gesell-schaftlicher Gruppen umfassend zu berücksichtigen.Das gesamte Spektrum unseres Reichtums an immateri-ellen Kulturgütern muss zur Disposition stehen: Diedeutsche Theater- und Operntraditionen und das Pup-penspiel ebenso wie jüngere Kunstformen, beispiels-weise die Phänomene der Jugendkultur – Rap, Hip-Hopoder Poetry-Slam. Die Techniken der Pigmentmischun-gen in der Malerei ebenso wie das Kunsthandwerk mitunterschiedlichen Materialien der Bildhauerei, der Töp-ferei oder des Holzschnitts. Qualitative Unterteilungenin „Hoch“- und „Subkultur“ dürfen genauso wenig eineRolle spielen wie Präferenzen einzelner Kunst- und Kul-tursparten. Im Bereich des Brauchtums sollten nicht nur

Trachtenfeste zur Auswahl stehen, sondern beispiels-weise auch der Christopher-Street-Day, welcher mittler-weile in Deutschland zur Tradition geworden ist. Dastraditionsreiche Kulturgut der deutschen Minderheiten– zum Beispiel der Sorben oder der deutschen Sinti undRoma – muss gleichermaßen in die Überlegungen zurSchutzbedürftigkeit miteinfließen wie die kulturelle Di-mension des Internets.

Die Palette immaterieller Kulturgüter in Deutschlandist facettenreich und bunt. Wenn Bürgerinnen und Bür-ger die Chance erhalten, mitzubestimmen, welche imma-teriellen Kulturgüter ihnen am Herzen liegen, kann da-durch auch das Bewusstsein für den Wert unsererkulturellen immateriellen Güter gestärkt werden. Dieseneue Wertschätzung wäre eine Bereicherung für unsereGesellschaft. Deshalb müssen wir Konzepte finden,möglichst viele Bürgerinnen und Bürger, Organisatio-nen und Interessenverbände bei der Erstellung vonInventarlisten zur Unterschutzstellung durch dasUNESCO-Übereinkommen zu beteiligen. Nicht die Poli-tik, sondern Bürgerinnen und Bürger müssen darüberentscheiden, welche immateriellen Kulturgüter Deutsch-land für das UNESCO-Übereinkommen nominierenwird.

Vizepräsident Eduard Oswald:Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/6314 und 17/6301 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sindalle damit einverstanden? – Das ist der Fall. Somit ist dieÜberweisung beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 sowie Zusatz-punkt 13 auf:

21 Beratung des Antrags der Abgeordneten WolfgangGunkel, Heinz-Joachim Barchmann, GabrieleFograscher, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD

Übermittlung von Fluggastdaten nur nach eu-ropäischen Grundrechts- und Datenschutz-maßstäben

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4EUZBBG zum RichtlinienvorschlagKOM(2011) 32 endg.

– Drucksache 17/6293 – Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)RechtsausschussAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 13 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Konstantin von Notz, Wolfgang Wieland,Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gutachten über die geplanten EU-Fluggastda-tenabkommen mit den USA und Australien

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13540 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Vizepräsident Eduard Oswald

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beim Gerichtshof der Europäischen Union ein-holen

– Drucksache 17/6331 – Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)Auswärtiger AusschussRechtsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) –Es sind alle Kolleginnen und Kollegen damit einverstan-den. Die Namen liegen uns hier vor.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufDrucksachen 17/6293 und 17/6331 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Allesind damit einverstanden. Somit ist die Überweisung sobeschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieNeuordnung des Geräte- und Produktsiche-rungsrechts

– Drucksache 17/6276 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-ginnen und Kollegen liegen hier vor. Sie sind einverstan-den, dass wir so verfahren.

Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Dass die Frage nach der Sicherheit von technischen

Geräten in einem europäischen Kontext beantwortetwird, war in den letzten Dekaden mitnichten eine tra-dierte Selbstverständlichkeit. Sie stellte sich erst mitdem freien Warenverkehr in der Europäischen Gemein-schaft. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde sie – wenn über-haupt – nationalstaatlich beantwortet. Dies führte in derTendenz eher dazu, dass aufgrund unterschiedlichertechnischer Anforderungen an die ProduktsicherheitHandelshemmnisse aufgebaut wurden, anstatt sie abzu-bauen. Das ist alles nicht neu. Mein geschätzter KollegeMierscheid als eine der großen Koryphäen auf dem Ge-biet der Produktsicherheit hat darauf hingewiesen. Icherinnere nur daran, dass er sich erst kürzlich mit den Ei-genschaften des Ruder-Achters befasst hat, auch und ge-rade unter dem Gesichtspunkt der Produkt- und Geräte-sicherheit.

Gerätesicherheit wird mittlerweile nicht mehr isoliertnationalstaatlich definiert, sondern innerhalb der Euro-päischen Union miteinander abgestimmt. Mit dem Ge-räte- und Produktsicherheitsgesetz wurde ab 1. Mai

1) Anlage 21

2004 die europäische Richtlinie über die allgemeineProduktsicherheit in Deutschland in nationales Rechtumgesetzt. Es regelt unter anderem das Inverkehrbrin-gen von technischen Arbeitsmitteln, aber auch von kom-plexen Anlagen und stellt somit auch eine Grundlage füreinen funktionierenden Arbeitsschutz dar. Kurzum bietetes eine Rechtsgrundlage, um unsichere Produkte vomWarenverkehr auszuschließen. Es trägt damit zur Ver-meidung von Wettbewerbsverzerrungen bei, weshalbihm eine umfassende wirtschafts- und damit auch ar-beitsmarktpolitische Bedeutung zukommt.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf über die Neu-ordnung des Geräte- und Produktsicherheitsrechts wirdunter anderem die Geräte- und Produktsicherheit euro-parechtlich harmonisiert. Diese Harmonisierung er-leichtert den Warenaustausch auf dem europäischenMarkt, soll aber in erster Linie den Verbraucher- undArbeitsschutz EU-weit auf hohem Niveau sichern. Mitdem Produktsicherheitsgesetz wird auch die Zusammen-arbeit von Marktüberwachung und Zoll gestärkt werden,um die „Einreise“ unsicherer Produkte möglichst früh-zeitig erkennen und verhindern zu können. Mit dem Ge-setzentwurf verweisen wir ausdrücklich auf die Pflichtzur Zusammenarbeit zwischen Zoll- und Marktüberwa-chungsbehörden. Dabei sollen die Zollbehörden insbe-sondere berechtigt und verpflichtet werden, alle für wei-tere Maßnahmen erforderlichen Informationen an diezuständige Marktüberwachungsbehörde weiterzugeben.Hierzu zählen zum Beispiel Informationen wie Nameund Anschrift des Empfängers und des Absenders, Ver-sendungsland, Ursprungsland etc. Dies ermöglicht einEingreifen der Marktüberwachungsbehörden zu einemmöglichst frühen Zeitpunkt, aber auch die Informations-gewinnung über Produkte aus Drittländern, die sich be-reits auf dem Gemeinschaftsmarkt befinden. Dadurchwird eine Erhöhung der Effektivität der Marktüberwa-chungsbehörden erreicht.

Ebenso wollen wir das GS-Zeichen für „geprüfte Si-cherheit“ nachhaltig stärken, um Missbrauch zu er-schweren; denn mit einem gefälschtem GS-Zeichen wirdnicht nur der betroffenen GS-Stelle ein wirtschaftlicherSchaden zugefügt, sondern die Zuverlässigkeit der mitdem GS-Zeichen verbundenen Aussage insgesamt inZweifel gezogen. Daher werden die GS-Stellen künftigverpflichtet, gegen Hersteller, die ihr GS-Zeichen uner-laubterweise verwenden, vorzugehen. Die GS-Stellewird geeignete Maßnahmen zu treffen haben, wie zumBeispiel die Abmahnung eines widerrechtlichen Verwen-ders, die Aufforderung zur Abgabe von Unterlassungs-erklärungen, das Einschalten der Wettbewerbszentraleoder die Durchsetzung von Unterlassungsansprüchenim Klagewege vor den örtlichen Gerichten. Die anderenGS-Stellen sind in diesen Fällen zu unterrichten, danicht auszuschließen ist, dass auch andere GS-Zeichenvon diesem Hersteller unerlaubterweise verwendet wer-den. Die Hersteller werden verpflichtet, Informationenzu Fälschungen ihres GS-Zeichens zu veröffentlichen.Damit wird die Grundlage für eine „Liste schwarzerSchafe“ gelegt, die letztlich potenzielle Fälscher ab-schrecken soll.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13541

Dr. Matthias Zimmer

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All das klingt sehr technisch. In der Quintessenz abergeht es darum, den Konsumenten- und Arbeitsschutzüber die Geräte- und Produktsicherheit auf einem hohenNiveau sicherzustellen und einen fairen Wettbewerb umqualitativ hochwertige Produkte zu wahren.

Paul Lehrieder (CDU/CSU): Der Gesetzentwurf der Bundesregierung über die

Neuordnung des Geräte- und Produktsicherheitsrechts,über den wir heute in erster Lesung beraten, stellt eineAnpassung an die seit dem 1. Januar 2010 geltende EG-Verordnung zur Akkreditierung und Marktüberwachungim Zusammenhang mit der Vermarktung von Produktendar.

Insgesamt sieht der Gesetzentwurf umfangreichesprachliche und systematische Verbesserungen vor. Da-rüber hinaus berücksichtigt der Entwurf Vorschläge desBundesrates sowie der Ad-hoc-Bund-Länder-Arbeits-gruppe zur Verbesserung und Stärkung der Marktüber-wachung und setzt weitere EG-Richtlinien um.

Gerade im Hinblick auf die enorme wirtschaftlicheBedeutung des Exports für Deutschland ist es wichtig,einheitliche europäische Rahmenbedingungen zu schaf-fen. Erst einheitliche Standards sorgen für einen fairenWettbewerb und stärken weiterhin das Vertrauen in un-sere Produkte.

Das Produktsicherheitsgesetz gilt gemäß § 1 dann,wenn im Rahmen einer Geschäftstätigkeit Produkte aufdem Markt bereitgestellt, ausgestellt oder erstmals ver-wendet werden und darüber hinaus für die Errichtungund den Betrieb überwachungsbedürftiger Anlagen, diegewerblichen oder wirtschaftlichen Zwecken dienenoder durch die Beschäftigte gefährdet werden können.

Aus diesem breiten Anwendungsspektrum geht her-vor, dass der Gesetzentwurf umfangreiche Änderungenin verschiedensten Gesetzen, wie beispielsweise demProduktsicherheitsgesetz, der Betriebssicherheitsver-ordnung, dem Bundes-Immissionsschutzgesetz, dem Me-dizinproduktegesetz, dem Atomgesetz und der Fahrzeug-verordnung vorsieht.

Hervorzuheben ist hier die besondere Bedeutung derim Gesetzentwurf vorgenommenen Verbesserungen fürdie Maschinenrichtlinie und die Niederspannungsricht-linie. Da diese insbesondere unsere wichtigen BranchenMaschinenbau und Elektrotechnik betreffen, sind sie fürden Wirtschaftsstandort Deutschland von herausragen-der Bedeutung.

Ziel des Gesetzes ist es, zu gewährleisten, dass alleauf dem Markt angebotenen Produkte nur in den Ver-kehr gebracht werden, wenn sie so beschaffen sind, dassbei bestimmungsgemäßer Verwendung oder vorherseh-barer Fehlanwendung Sicherheit und Gesundheit vonVerwendern oder Dritten nicht gefährdet werden.

Rückrufaktionen sind heute nicht selten geworden.Da viele Produktmängel häufig erst nach der Ausliefe-rung zutage treten, ist es wichtig, wirkungsvolle Rege-lungen zur frühzeitigen Identifizierung von Mängelnaufzustellen.

Gerade in der heutigen Zeit, in der technisch hoch-entwickelte Produkte auf dem Markt sind, deren Funk-tionsweise der Konsument nicht ohne Weiteres nachvoll-ziehen kann, ist es wichtig, auf einen wirkungsvollenMarktregulierungsmechanismus vertrauen zu können.

Dies unterstreicht auch eine aktuelle Statistik desKraftfahrt-Bundesamtes. Daraus geht hervor, dass sichbeispielsweise die Anzahl der Rückrufaktionen aus derAutomobilbranche in Deutschland von 2009 auf 2010von 140 auf 185 erhöhte. Das Gesetz sorgt nun für bes-seren Schutz der Verbraucher und für klare Regeln fürRückrufaktionen.

Ferner schreibt das Gesetz umfassende Informations-und Identifikationspflichten für Hersteller und Händlervor. So muss eine eindeutige Zuordnung aller Produktezu ihrem Hersteller möglich sein. Der Verbraucher mussüber alle möglichen Gefahren aus dem Gebrauch einesProdukts oder auch über vorhersehbare Fehlanwendun-gen hinreichend aufgeklärt werden. Gefährdet ein Pro-dukt Sicherheit und Gesundheit der Konsument, müssenHersteller, Bevollmächtigte und auch Importeure unver-züglich die zuständigen Behörden unterrichten und mitihnen kooperieren.

Sollte die Sicherheit eines Produkts nicht gewährleis-tet sein und Mängel festgestellt werden, so müssen Pro-dukte vom Markt genommen werden. Hierzu ist esnotwendig, dass Unternehmen Rückruf-Management-systeme installieren. Zudem sind im Gesetz Sanktionenverankert, die die Einhaltung der Regelungen gewähr-leisten sollen. Diese liegen je nach Einstufung der Vor-hersehbarkeit des Mangels durch den Hersteller bei biszu 10 000 Euro oder in gravierenden Fällen auch bei ei-nem Bußgeld von maximal 50 000 Euro.

Der Gesetzentwurf sieht folgende weitere konkreteAnpassungen vor: So soll die Marktüberwachung durcheine bessere Zusammenarbeit mit dem Zoll verbessertwerden. Dadurch sollen möglichst frühzeitig gefährlicheProdukte identifiziert und vom Markt genommen werdenkönnen.

Nach Abschluss der Beratungen im Ausschuss für Ar-beit und Soziales ist vorgesehen, über den Gesetzentwurfim September dieses Jahres abzustimmen. Hier hoffe ichauf die Unterstützung der Fraktionen, um durch den vor-liegenden Gesetzentwurf eine wichtige Verbesserung derMarktüberwachung und der Produktsicherheit erreichenzu können.

Josip Juratovic (SPD): Arbeits- und Gesundheitsschutz ist ein Thema, das

viel zu wenig Aufmerksamkeit erhält. Dabei müssen wiruns alle fragen: Wie gestalten wir unsere Arbeitswelt so,dass wir nicht durch unsere Arbeit krank werden? Le-bensbedrohliche Unfälle an Arbeitsplätzen werden zumGlück immer weniger. Dafür gibt es neue Berufskrank-heiten. Vor allem psychische Erkrankungen und Muskel-Skelett-Erkrankungen, insbesondere im Rückenbereich,nehmen stetig zu.

Den psychischen Belastungen am Arbeitsplatz müs-sen wir uns politisch und gesellschaftlich deutlich stär-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Josip Juratovic

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ker widmen. Von vielen Arbeitnehmern werden psychi-sche Erkrankungen noch als persönliche Schwächewahrgenommen. Hier müssen wir handeln; denn die Zu-nahme von psychischen Erkrankungen ist meistens denveränderten Arbeitsbedingungen geschuldet. Ich kennedies aus der Arbeitswelt am Fließband, wo ein knallhar-ter Wettbewerb besteht und die Arbeitnehmer zu dauern-der Leistungsoptimierung verpflichtet sind. Wir könnennoch gar nicht vorhersehen, wie sich die psychischenErkrankungen in Zukunft entwickeln werden; denn un-sere Arbeitswelt wird sich immer mehr beschleunigen.Daher müssen wir heute handeln, um für die Zukunft Lö-sungen zu haben. Wir brauchen betriebliche Maßnah-men zur Vermeidung von psychischen Belastungen wieeine Verringerung der Arbeitsintensität, mehr Pausenund eine abwechslungsreiche Arbeitsplatzgestaltung.Hier müssen wir die Gewerkschaften vor Ort unterstüt-zen.

Eine zweite große Aufgabe des Arbeits- und Gesund-heitsschutzes sind die Arbeitsbedingungen für ältere Ar-beitnehmer. Wenn wir hier im Bundestag über die Erhö-hung des Renteneintrittsalters debattieren, spielt derArbeits- und Gesundheitsschutz dabei eine zu geringeRolle. Dabei ist dies so entscheidend dafür, dass dieMenschen eine Chance bekommen, erstens tatsächlichbis 67 arbeiten zu können und zweitens gesund in Rentegehen zu können, damit sie diese dann auch genießenkönnen. Dazu müssen in den Betrieben angemessene Ar-beitsplätze eingerichtet werden, um die sinkende Kör-perkraft auszugleichen und die steigende Sozialkompe-tenz und Erfahrung älterer Arbeitnehmer zu nutzen.Dazu brauchen wir eine verstärkte Prävention, Schon-arbeitsplätze, einen Belastungsmix, ergonomische Lö-sungen und flexible Arbeits- und Pausenzeiten. In Ta-rifverträgen und Betriebsvereinbarungen findenaltersgerechte Arbeitsbedingungen bisher noch zu we-nig Widerhall – auch hier müssen wir mit Gewerkschaf-ten und Betrieben vor Ort zusammenarbeiten und siepolitisch unterstützen. Deshalb müssen wir hier überFörder- und Zuschussregelungen für betriebliches Ge-sundheitsmanagement diskutieren. Wir müssen uns da-rüber unterhalten, wie und ob wir altersgerechte Ar-beitsplätze fördern können, in Form eines Bonus für dieUnternehmen oder in Form von Lohnzuschüssen.

Ein wichtiger Punkt, der mich auch zum Gesetzent-wurf bringt, den wir heute diskutieren, ist die Kontroll-möglichkeit der staatlichen Gewerbeaufsicht und derBetriebsräte. In den allermeisten Ländern wurden dieGewerbeaufsicht und andere Aufsichtsämter jedoch inden letzten Jahren deutlich personell ausgedünnt. Viel-fach ist vor Ort keine ausreichende Kontrolle mehr mög-lich. Auch die Überprüfung der neuen Aufgaben aus derGemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie kannderzeit kaum geleistet werden. Wir alle wissen aber:Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Gerade in einemsensiblen und hoch spezialisierten und technisierten Be-reich wie der Geräte- und Produktsicherheit ist eine so-lide Kontrolle notwendig. Arbeitsmittel und Anlagenmüssen auch weiterhin geprüft werden. Daher appel-liere ich, dass wir im Bereich der Gewerbeaufsicht aus-

reichend Personal für die gewachsenen Aufgaben zurVerfügung stellen.

Eine weitere Frage, die sich mir bei der Anpassungunserer Gesetzeslage an die Verordnung sowie bei derUmsetzung der zahlreichen Richtlinien stellt, ist dieHöhe der Sanktionen. Wir haben diese Frage bereits beider Umsetzung der Richtlinie zu den Europäischen Be-triebsräten diskutiert. Bei den Europäischen Betriebsrä-ten hatte die EU-Richtlinie wirksame, angemessene undabschreckende Sanktionen für Verstöße gefordert. DieHöhe der Verstöße muss national festgelegt werden. DasGesetz zu den Euro-Betriebsräten sieht dafür 15 000Euro vor – und nicht nur ich, sondern auch viele betrieb-liche und gesellschaftliche Akteure haben gesagt, dassdavon kein Unternehmen abgeschreckt wird. Wenn einUnternehmen am Europäischen Betriebsrat vorbei agie-ren will, zahlt es diese 15 000 Euro zur Not aus der Por-tokasse. Die gleiche Diskussion können wir nun hier beider Geräte- und Produktsicherheit führen. Art. 41 derVerordnung (EG) 765/2008 fordert Sanktionen, die„spürbar, verhältnismäßig und abschreckend“ sind.Auch hier halte ich 50 000 Euro, wie von der Regierungvorgeschlagen, nicht für ausreichend. Ich unterstützedaher ausdrücklich die Empfehlungen der Bundesrats-ausschüsse, die die Sanktionen in einem Änderungsan-trag deutlich erhöhen wollen. Meine Damen und Herrenvon der Bundesregierung, ich fordere Sie dazu auf, dieseVorschläge der Bundesländer in Ihren Gesetzentwurfaufzunehmen.

Auch die anderen Änderungsvorschläge der Bundes-länder müssen wohlwollend geprüft werden. Darunterist auch der Hinweis, dass die im Gesetz angesprochene„Fehlanwendung“ in der EU-Rechtsetzung nicht be-kannt sei. Hier ist – wenn das Gesetz schon rechtssyste-matisch geordnet wird – eine Klarstellung wichtig. Auchhalte ich eine Klarstellung der Kompetenzen im Bereichdes Zolls für notwendig.

Zudem halte ich es beim Arbeits- und Gesundheits-schutz für wichtig, dass drittschützende Regelungen imBereich des Arbeitsschutzes und damit in der Zuständig-keit des BMAS verbleiben. Lassen Sie mich dazu ein ein-faches Beispiel anführen: Der Schutz für den Monteur,der eine Rolltreppe wartet, liegt in der Zuständigkeit desBMAS. Sollte der Drittschutz ausgegliedert werden, wä-ren Frau und Kind, die diese Rolltreppe nutzen, in derZuständigkeit eines anderen Ministeriums. Das wäre ab-surd. Der Drittschutz muss daher im Arbeitsschutzrechtverbleiben.

Ich freue mich auf die weitere Beratung des Gesetz-entwurfs. Wir müssen hierbei bei jedem Schritt überden-ken: Was bringen die Umsetzung der Richtlinien und dieAnpassung des Gesetzes an die angesprochene Verord-nung für die Arbeitnehmer? Wie können wir dafür sor-gen, dass der Arbeitsschutz auch auf der technischenEbene, über die wir heute sprechen, verbessert wird?Und die weiteren Aufgaben im Bereich Arbeits- und Ge-sundheitsschutz, die ich angesprochen habe, dürfen wirdabei nicht aus den Augen verlieren: Wir müssen unsereArbeitswelt so gestalten, dass berufsbedingte, insbeson-dere psychische Erkrankungen nicht immer weiter zu-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Josip Juratovic

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nehmen und dass die Menschen eine realistische Chancedarauf haben, länger zu arbeiten und dann gesund inRente zu gehen.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Kernelement des Entwurfs ist die Anpassung des Ge-

räte- und Produktsicherheitsrechts an die seit 1. Januar2010 geltende Verordnung (EG) Nr. 765/2008 zur Akkre-ditierung und Marktüberwachung im Zusammenhangmit der Vermarktung von Produkten. Außerdem greiftder Entwurf Vorschläge des Bundesrates zur Verbesse-rung der Marktüberwachung sowie der Ad-hoc-Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Stärkung der Marktüberwa-chung auf. Zudem setzt das Gesetz die Richtlinie überMaschinen zur Ausbringung von Pestiziden sowie Teileder Richtlinie über die Sicherung von Spielzeug um.

Das vorliegende Gesetz wird zukünftig die zentraleRechtsvorschrift für die Vermarktung von Produkten inDeutschland sein. Aufgrund des erheblichen Änderungs-umfangs wurde das Gesetz komplett neu gefasst, wo-durch auch an einigen Stellen überfällige Rechtsklarheitgeschaffen wurde. Durch die Zusammenfassung sindkeine umständlichen neuen Gesetzesnormen geschaffenworden, vielmehr wurden die bestehenden Regelungenerheblich verschlankt.

Gerade in der Marktüberwachung haben wir den zu-ständigen Behörden den Handlungsspielraum gegeben,der notwendig ist, ein hohes Sicherheitsniveau zu ge-währleisten und einen fairen Wettbewerb zwischen deneinzelnen Unternehmen zu sichern. Dies wird unter an-derem durch die intensivierte Zusammenarbeit zwischenMarktüberwachung und Zoll erreicht. Dadurch könnengefährliche Produkte möglichst frühzeitig aufgespürtund aus dem Verkehr gezogen werden. Durch die Erstre-ckung der Marktüberwachungsbestimmungen auf alledem Gesetz unterfallenden Produkte wird die beste-hende Einheitlichkeit der Marktüberwachung gewahrt.

Gerade für Liberale ist der beste Weg im Verbrau-cherschutz, Transparenz zu schaffen und somit den Ver-braucher durch Informationen in seiner freien Konsum-entscheidung unterstützen. Dies schafft ein Zeichen inDeutschland besser als alles andere: Das GS-Zeichen,„geprüfte Sicherheit“, steht für Sicherheit und Verläss-lichkeit bei Produkten und Geräten. Es ist neben demCE-Zeichen das einzige gesetzlich geregelte Prüfzeichenfür Produktsicherheit in Europa. Verbraucher erhaltenüber das GS-Zeichen die Information, dass ein Produkt,das sie erworben haben, sicher ist. Und durch neue,noch strengere Regelungen wird das Vertrauen der Ver-braucher in das GS-Zeichen bestätigt und vertieft. Sokann noch besser als bisher Missbrauch bekämpft wer-den. Durch die Zusammenführung der Bestimmungenzum GS-Zeichen wird auch dem Verbraucher der Über-blick über die entsprechenden Regelungen erleichtert.

Dieser vorliegende Gesetzentwurf ist ein weitererSchritt, um die Europäische Union sicherer und für denVerbraucher transparenter zu machen. Daher würde ichmich freuen, wenn auch in diesem Hohen Hause über dieParteigrenzen hinweg diese Regelungen Zustimmungfinden würden.

Jutta Krellmann (DIE LINKE): Das Gesetz ist überwiegend eine Umsetzung von EU-

Verordnungen in deutsches Recht. Deshalb sind dieSpielräume, gestalterisch tätig zu werden, durchaus be-grenzt. Aber: Besser geht immer!

Wichtig ist das Gesetz, da wir in weiten Teilen unseresPrivat- und Arbeitslebens mit Geräten und Produkten zutun haben. Wer will nicht, dass diese sicher sind! Viel zuoft sind schädliche Produkte und veraltete Maschinen inUmlauf und Gebrauch. Hier muss konsequent zumSchutze der Menschen gehandelt werden.

Mit dem vorliegenden Gesetz lässt die Bundesregie-rung ohne Not große Lücken im Arbeits- und Verbrau-cherschutz. Die Linke sieht deutlichen Verbesserungsbe-darf:

Erstens wurde im Gesetzentwurf beim Verbraucher-schutz geschludert. Mehr als 2 200 gefährliche Produktesind im vergangenen Jahr dem Schnellwarnsystem derEU, RAPEX, gemeldet worden; das ist eine Steigerungum 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr 2009. Nach Klei-dung belegte Kinderspielzeug den zweiten Platz der ammeisten gefährlichen Produktgruppen. 25 Prozent derWarnungen betreffen Kinderspielzeug. Stiftung Waren-test deckte in ihren letzten Berichten auf, dass die meis-ten Produkte für Kinder, zum Beispiel Fahrradanhängeroder Kinderspielzeug, extrem schadstoffbelastet sind;das betrifft auch teure deutsche Markenprodukte.

Am Schlimmsten ist deshalb: Der Gesetzentwurf ent-hält keine Aussage zu den Grenzwerten bei sogenanntenPAK-Stoffen und sonstigen krebserzeugenden Stoffen inKinderspielzeug.

Die Linke kritisiert des Weiteren: Die CE-Kennzeich-nung bleibt weiterhin eine große Verbrauchertäu-schung: Sie wird von den Herstellern der Produkte ver-geben, als Nachweis dafür, dass die gesetzlichenBestimmungen bei diesem Produkt eingehalten wurden.Sie erfolgt ohne Prüfung durch eine unabhängige Ein-richtung wie zum Beispiel den TÜV. Eine Prüfungerfolgt nur per Stichprobe und größtenteils durch dieunterbesetzten Marktüberwachungsbehörden oder wennbereits etwas passiert ist.

Die Linke fordert:

Verbraucher brauchen eine zentrale Anlaufstelle, beider sie gefährliche Produkte melden können. Je nachHerstellungsort und Produktgruppe sind unterschiedli-che Behörden zuständig. Das ist nicht hinnehmbar!

Kinderspielzeug darf nicht ungeprüft auf den Marktkommen.

Die Schadstoffgrenzwerte für Kinderspielzeug undsonstige kindernahe Produkte müssen nach dem Prinzip„so gering wie möglich“ festgelegt werden.

Zweitens droht im Arbeitsschutz sogar eine Ver-schlechterung. Im neuen Gesetz entfällt für ein Unterneh-men die Prüfung, ob ein gebraucht gekauftes technischesGerät bereits einmal im europäischen Wirtschaftsraum inVerkehr gebracht wurde. Es müssen stattdessen nur noch

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Zu Protokoll gegebene Reden

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Jutta Krellmann

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allgemeine Anforderungen erfüllt sein; die Betriebs-sicherheitsverordnung ist nun allein entscheidend.

Die Betriebssicherheitsverordnung, die die Bedin-gungen der Betriebssicherheit von Geräten letztlich fest-schreibt, ist aber ebenfalls in der Überarbeitung. Es istein Skandal, dass hier ein Gesetz zur Diskussion steht,dessen letztendliche Haltelinie für den Arbeitsschutz ineiner Verordnung liegt, die noch überarbeitet wird.

Dass veraltete Geräte nicht durch Geräte mit einemhöheren Standard ersetzt werden müssen, wenn diese aufden Markt kommen, wird im Gesetz ausdrücklich nichtals Gefährdung der Sicherheit bezeichnet. Hier mussnachgebessert werden!

Die Linke fordert: Bei jedem alten Gerät muss ge-kennzeichnet sein, wo und in welchem Maße sie nichtmehr den neuesten Standards entspricht. Nur so kann si-chergestellt sein, dass Achtsamkeit und Gefahrenbe-wusstsein zumindest geschärft werden. Des Weiterenfordern wir, dass festgestellte Mängel an Geräten undProdukten konsequent öffentlich gemacht werden. Eskann nicht sein, dass der Schutz des Unternehmens vornegativer Presse wichtiger sein soll als der Arbeits- undVerbraucherschutz. Ein Gesetz, das die Einwilligung desbetroffenen Unternehmens vorsieht, ist ein zahnloser Ti-ger.

Drittens ist die Frage der Kontrolle ungeklärt: DieBundesregierung erlässt ein Gesetz, welches die Länderin ihren Kontrollbehörden umsetzen müssen. Diese sindfinanziell und personell schlecht ausgestattet, und ihnenwerden hier keine zusätzlichen Mittel in Aussicht ge-stellt. Nach dem Willen der Bundesregierung werden diePrüfungen also weiterhin von unterbesetzten Markt-überwachungsbehörden und nur per Stichprobe erfol-gen. Das ist zu wenig!

Die Linke fordert:

Die CE-Kennzeichnung muss Vertrauen geben, des-halb darf sie nur mit Prüfung vergeben werden. Die ver-pflichtende Kontrolle bedarf der Kostenübernahmedurch die Unternehmen.

Auch hier steht die Linke konsequent für den Grund-satz: Menschen vor Profite! Dieses Gesetz entsprichtdiesem strengen Kriterium jedenfalls nur in Ansätzen.

Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Wir begrüßen, dass das Geräte- und Produktsicher-heitsgesetz (GPSG) klarer strukturiert sowie verständ-licher gefasst und die Marktüberwachung im euro-päischen Verbund besser abgestimmt wird. Durch dieAnpassung deutscher Gesetze an europäische Richtli-nien wird auch ein wichtiger Beitrag zum Schutz der Be-schäftigten und der Verbraucher geleistet. Der Sachver-halt, der mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geregeltwerden soll, betrifft dabei in besonderem Maße den Ar-beitsschutz. Bei den Produkten im Sinne des bisherigenGPSG handelt es sich neben Verbraucherprodukten umtechnische Arbeitsmittel. Es liegt im Interesse der Ar-beitnehmenden wie auch der Betriebe, dass eine Gefähr-

dung von Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigtendurch Arbeitsmittel verhindert wird. Dazu bedarf es ge-eigneter Prüf- und Kontrollmethoden.

Die Intensivierung der Zusammenarbeit zwischenMarktüberwachung und Zoll, damit gefährliche Pro-dukte früher aufgespürt werden können, ist ein Schritt indie richtige Richtung. Dadurch könnte ein höheresSicherheitsniveau der Produkte erreicht und zu einemfaireren Wettbewerb zwischen den Herstellern beigetra-gen werden.

Bessere gesetzliche Bestimmungen sind allerdingsnur dann wirksam, wenn sie mit Nachdruck durchgesetztund Verstöße angemessen und zeitnah sanktioniert wer-den. Deswegen muss sich erst noch zeigen, ob die jetzigeGesetzesnovelle zu besseren und sichereren Produktenführt. Letztlich wird sich dies in den Bundesländern ent-scheiden, die für die Marktaufsichtsbehörden und derenMittelausstattung zuständig sind. Genau hier liegt dasProblem, da die zuständigen Behörden in den meistenBundesländern schon heute über zu wenig Mittel ver-fügen. Sie sind in der Regel weder personell nochmateriell in der Lage, die zunehmenden Aufgaben zubewältigen. Zersplitterung und Unterdeckung derMarktaufsicht wirken auch beim zeitnahen Entfernenunsicherer Produkte aus den Verkaufsregalen oder beiWarnhinweisen in der Information der Öffentlichkeithemmend.

Für neue Aufgaben, wie die Ermittlung von Mängel-schwerpunkten oder von Warenströmen, wäre zusätzli-ches Personal erforderlich. Es bleibt zu hoffen, dass dieLänder dem von der Bundesregierung erkannten „er-höhten Vollzugsaufwand“ für die MarktüberwachungTaten folgen lassen und zudem die Bereitschaft zum wei-teren Ausbau zeigen. Sie müssen regelmäßig die Funk-tionsweise ihrer Überwachungstätigkeiten überprüfen,bewerten und Mängel beseitigen. Wir hätten uns zudemauch gewünscht, dass die Evaluation nicht nur intern imArbeitsausschuss Marktüberwachung, AAMÜ, erfolgt,sondern auch der Ausschuss für technische Arbeitsmittelund Verbraucherprodukte, ATAV, also der neue Aus-schuss für Produktsicherheit, beteiligt wird.

Für die Transparenz ist positiv, dass der Öffentlich-keit Informationen über die von Produkten ausgehendenRisiken für Sicherheit und Gesundheit der Verwenderzur Verfügung gestellt werden sollen. Für diese Rechts-grundlage haben wir Grüne schon im Jahr 2004 gesorgt.Das ist positiv für die Beschäftigten und für die Verbrau-cher. Problematisch sind allerdings die im Gesetz in § 31stehenden Ausnahmen. So dürfen Informationen nichtzugänglich gemacht werden, wenn der Schutz des geisti-gen Eigentums dem Informationsanspruch entgegen-steht oder die Informationen als Betriebs- oder Ge-schäftsgeheimnis gekennzeichnet sind. Dies könnte dazuführen, dass der Informationsanspruch der Öffentlich-keit ausgehöhlt oder zumindest deutlich erschwert wird.

Aus Verbrauchersicht wäre zudem ein verlässlichesSiegel sinnvoll, das eine unabhängige Drittprüfung vor-schreibt. Für die Produktsicherheit wäre zudem eine Zu-ständigkeit aus einer Hand von Vorteil. Die Aufteilungauf drei Bundesministerien ist weder angemessen noch

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13545

Beate Müller-Gemmeke

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effizient. Das sollte in der parlamentarischen Beratungüberprüft werden.

Vizepräsident Eduard Oswald:Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-

wurfes auf Drucksache 17/6276 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Allesind damit einverstanden. Somit ist die Überweisung sobeschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:

Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Besonderheiten der nationalen Finanzmärktebei Umsetzung von Basel III berücksichtigen

– Drucksache 17/6294 – Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) –Alle sind damit einverstanden. Die Namen der Kollegin-nen und Kollegen liegen hier im Präsidium vor.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/6294 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Widerspruch erhebtsich nicht. Somit ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-zung der Richtlinie 2010/78/EU vom 24. No-vember 2010 im Hinblick auf die Errichtungdes Europäischen Finanzaufsichtssystems

– Drucksache 17/6255 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)InnenausschussRechtsausschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-ginnen und Kollegen liegen hier bei uns vor.

Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Mit der heutigen Lesung des Gesetzes zur Umsetzung

der EU-Richtlinie 2010/78/EU vom 24. November 2010im Hinblick auf die Errichtung des Europäischen Fi-nanzaufsichtssystems, der sogenannten Omnibus-I-Richtlinie, setzen wir weitere Eckpunkte für bessere undsicherere Finanzmärkte. Nach Umsetzung dieser Richt-linie wird die Finanzaufsicht auf nationaler und euro-päischer Ebene wesentlich enger miteinander verzahntsein. Wir sind davon überzeugt, dass wir damit eine si-gnifikante Verbesserung der Qualität der Aufsicht errei-chen werden.

1) Anlage 22

Im Zuge der Finanzkrise ist deutlich geworden, dassauch die Aufsicht über die Finanzinstitute, insbesonderedie grenzüberschreitende Zusammenarbeit und Koordi-nation zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden undmit den europäischen Instanzen, erhebliches Verbesse-rungspotenzial hat. Als Folge dessen wurde das europäi-sche Finanzaufsichtssystem grundlegend reformiert. Eswurden drei europäische Aufsichtsbehörden – die Euro-päische Bankaufsichtsbehörde, EBA, die EuropäischeWertpapieraufsichtsbehörde, ESMA, und die Europäi-sche Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen unddie betriebliche Altersversorgung, EIOPA, – sowie derEuropäische Ausschuss für Systemrisiken und der be-hördenübergreifende Ausschuss der Europäischen Auf-sichtsbehörden mittels fünf EU-Verordnungen zu Beginndieses Jahres gegründet. Insgesamt bilden diese neu ge-gründeten Behörden und Ausschüsse das reformierteeuropäische Finanzaufsichtssystem.

Mit der Omnibus-I-Richtlinie wurden die EU-Finanz-richtlinien an dieses neue Aufsichtssystem angepasst.Der vorliegende Gesetzentwurf setzt diese Anpassungennunmehr in nationales Recht um.

Was bedeutet das? Zum einen bedeutet es, dass un-sere nationale Aufsichtsbehörde, die Bundesanstalt fürFinanzdienstleistungsaufsicht, kurz: BaFin, stärker indas europäische Aufsichtssystem eingebunden wird. Dasheißt, dass die BaFin mit den europäischen Instanzen in-tensiver und verpflichtender zusammenarbeiten wird. Eswird die Grundlage dafür geschaffen, dass die BaFinalle Informationen zur Verfügung stellen wird, die die je-weilige europäische Behörde zur Ausübung ihrer Tätig-keit benötigt. Aus diesem Grund bestehen für die BaFinzukünftig verschiedene Mitteilungs- und Unterrich-tungspflichten gegenüber den europäischen Aufsichtsin-stanzen, die es einzuhalten gilt. Dazu zählt zum Beispieldie Information der jeweiligen zuständigen europäi-schen Finanzaufsichtsbehörde, welchem Unternehmendie Betriebserlaubnis erteilt oder entzogen wurde.

Darüber hinaus ist es in einem europäischen Systemnatürlich nicht auszuschließen, dass es Meinungsver-schiedenheiten zwischen den nationalen Aufsichtsbehör-den gibt – insbesondere in den Fällen, in denen Finanz-institute europaweit arbeiten und verschiedenennationalen Aufsichten unterliegen. Für diese Fälle wur-den Verfahren zur Einbeziehung der europäischen Fi-nanzaufsichtsbehörden definiert – Verfahren, in denendie europäischen Behörden, soweit sich die nationalenAufseher nicht einigen können, streitschlichtend eigeneEntscheidungen treffen und die nationale Aufsicht über-stimmen können. Diese Schlichtungsbefugnis können dieeuropäischen Aufsichtsbehörden allerdings nur in Berei-chen wahrnehmen, die in den Finanzsektorrichtlinien imEinzelnen definiert sind, im Bankenbereich zum Beispieldie Risikobewertung auf Gruppenebene.

Nun könnte man – nicht ganz zu unrecht – meinen:Das vorliegende Gesetz ist lediglich ein europäischesUmsetzungsgesetz ohne großen Spielraum für die natio-nalen Parlamente. Ich möchte Ihnen dieses Gesetz abertrotzdem ans Herz legen:

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13546 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Ralph Brinkhaus

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Es ist unbestritten, dass es mehr als notwendig war,neue europäische Finanzaufsichtsstrukturen zu schaffen.Dagegen kann man angesichts der immer weiter fort-schreitenden Internationalisierung der Finanzmarktakti-vitäten keine ernsthaften Gegenargumente vorbringen.Wir wissen mittlerweile sehr gut, dass viele Finanzinsti-tute einen unglaublichen Vernetztheitsgrad aufweisen.Wir wissen, dass sie verstärkt länderübergreifend tätigsind und im Ausland mit Niederlassungen, Tochterban-ken und Zweckgesellschaften zum Teil sehr komplexeRechtsstrukturen aufgebaut haben. Das erhöht die Viel-schichtigkeit der Anforderungen an die Aufsicht unge-mein. Dieser Trend wird sich auch in Zukunft fortsetzen.Gerade aus diesem Grund ist es enorm wichtig, dass dieKommunikation und der Austausch zwischen den Auf-sichtsinstanzen gestärkt werden. Daher sind Bestrebun-gen, die einen schnelleren und effizienteren Informa-tionsaustausch ermöglichen, Kompetenzen klarer regelnund bestehende Lücken schließen, schon lange überfäl-lig.

Nun mag der eine oder andere möglicherweise Kritikan der damit einhergehenden fortschreitenden Europäi-sierung üben und zu bedenken geben, dass unsere natio-nalen Behörden durch die neuen europäischen Aufsichts-instanzen vielleicht zu viel Verantwortung abgeben –dass wir insgesamt wieder einmal einen Teil unserer na-tionalen Souveränität an Europa abgeben. Ja, das istrichtig – und aus den oben genannten Gründen auchnotwendig. Es geht aber eben nicht darum, die nationa-len Aufsichten komplett zu ersetzen oder zu schwächen.Das ist nicht gewollt, und darüber sprechen wir hierauch nicht. Die nationalen Aufsichtsbehörden bleibenzentral, und keine europäische Instanz kann und soll dieArbeit der BaFin und der Bundesbank ersetzen. Aber esist unerlässlich, dass die grenzüberschreitenden Aktivi-täten von Finanzinstituten, die zunehmend an Komplexi-tät gewinnen, von europäischen Aufsichtsinstanzen ko-ordiniert und der Informationsaustausch zwischen dennationalen Behörden verbessert werden.

Darüber hinaus ist es natürlich wichtig, die nationa-len Aufsichtsbehörden weiter zu stärken und zu verbes-sern. Die Bundesregierung ist auf dem Weg, das Eck-punktepapier zur Reform der nationalen Aufsicht,welches von uns, den Koalitionsfraktionen, verabschie-det wurde, umzusetzen. Wir werden damit die Qualitätder nationalen Aufsichtsstrukturen signifikant erhöhen.

Ich würde mir allerdings wünschen, dass Aufsicht– auch europäische Aufsicht – grundsätzlich mehr un-terscheidet. Damit meine ich, dass sie mehr differenziertzwischen mittelständischen regionalen Banken und dengroßen grenzüberschreitend tätigen Banken. Ich be-obachte mit großer Sorge, wie kleine und mittelgroßePrivatbanken, wie Sparkassen und Volksbanken mit derRegulierungsdichte insgesamt und mit der Art undWeise, mit der diese Regulierung überwacht wird, zukämpfen haben. Wir sollten daher dringend hinterfra-gen, inwieweit speziell bei kleineren Instituten Regulie-rung und Aufsicht vor dem Hintergrund des jeweiligenRisikoprofils angemessen sind.

Dies ist die erste Lesung zu dem Gesetzentwurf derBundesregierung. Wir werden nun in den Fachausschüs-sen unter Berücksichtigung der Stellungnahmen der Ver-bände und Experten am Gesetzentwurf arbeiten. Wirfreuen uns auf die fachliche Diskussion und den kon-struktiven Austausch mit den Ministerien und den Oppo-sitionsfraktionen und werden das Gesetz dann im viertenQuartal zu einem erfolgreichen Abschluss bringen.

Manfred Zöllmer (SPD): Das Bundesfinanzministerium hat das Gesetz zur

Umsetzung der Richtlinie vom 24. November 2010 imHinblick auf die Errichtung des Europäischen Finanz-aufsichtssystems vorgelegt.

Damit sollen die nationalen Finanzaufsichtsgesetzean die neue europäische Finanzaufsichtsstruktur ange-passt werden, wie sie seit Januar dieses Jahres besteht.Das Gesetz ermöglicht und konkretisiert dabei insbeson-dere die Zusammenarbeit der Bundesanstalt für Finanz-dienstleistungsaufsicht, BaFin, mit dem neugestalteteneuropäischen Aufsichtssystem.

Dies ist notwendig, und so werden eine Reihe von na-tionalen Gesetzen zum Banken- und Finanzaufsichts-recht geändert, so unter anderem das Kreditwesenge-setz, KWG, das Versicherungsaufsichtsgesetz, VAG, dasWertpapierhandelsgesetz, WpHG, das Wertpapierpros-pektgesetz, WpPG, und die Gewerbeordnung, GewO.Die Änderungen dieser Gesetze resultieren letztlich ausder Umsetzung der entsprechenden Omnibusrichtlinie.

Im Hinblick auf die EU-Verordnungen zur Errichtungder Europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde, derEuropean Securities and Markets Authority, ESMA, sollenin den deutschen Aufsichtsgesetzen Änderungen vorge-nommen werden, die der Klarstellung dienen oder derenRegelungen den EU-Verordnungen bisher entgegenste-hen.

Dazu wird in den deutschen Aufsichtsgesetzen Fol-gendes neu geregelt: die Einbindung der BaFin in dasEuropäische Finanzaufsichtssystem, die Mitteilungs-und Unterrichtungspflichten der BaFin gegenüber deneuropäischen Finanzaufsichtsbehörden, Anpassungender Verschwiegenheitspflichten der Beschäftigten derBaFin und vergleichbaren Personengruppen sowie dieEinbeziehung der europäischen Finanzaufsichtsbehör-den bei Meinungsverschiedenheiten oder mangelnderZusammenarbeit der nationalen Aufsichtsbehörden.

Die Finanzkrise, die bis heute nachwirkt, hat erhebli-che Schwachstellen bei der Aufsicht auf Makroebene of-fengelegt. Im Rahmen des neuen Aufsichtssystems müs-sen wir die Risiken für die Systemstabilität besserermitteln und mit einem effizienten Warnsystem verhin-dern, dass eine vergleichbare Krise sich wiederholt. Diebestehende Aufsicht auf Makroebene war und ist zustark fragmentiert und muss daher dringend reformiertwerden.

Die Omnibusrichtlinie I hilft mit, die Aufsichtsstruk-tur europaweit zu verbessern. Die nationalen Aufsichts-behörden werden mit den europäischen Finanzaufsichts-behörden besser zusammenarbeiten und diesen nach

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13547

Manfred Zöllmer

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Maßgabe der EU-Verordnungen zur Errichtung derEuropäischen Finanzaufsichtsbehörden alle für die Aus-führung ihrer Aufgaben erforderlichen Informationenzur Verfügung stellen müssen.

Hierzu werden die genannten nationalen Gesetze ge-ändert, damit die Verpflichtung der BaFin zur Zusam-menarbeit mit den europäischen Finanzaufsichtsbehör-den und zur Weitergabe von Informationen gesetzlichfestgelegt ist.

Die Konkretisierung der Mitteilungs- und Unterrich-tungspflichten der nationalen Aufsichtsbehörden gegen-über den europäischen Finanzaufsichtsbehörden ist ei-nes der Kernelemente der Umsetzung zur Verbesserungeiner Finanzaufsichtsstruktur in Europa. Mitteilungs-und Unterrichtungspflichten, die bisher gegenüber derEuropäischen Kommission bestanden, werden nunmehrauf die europäischen Finanzaufsichtsbehörden ausge-weitet bzw. werden durch Mitteilungspflichten gegen-über den europäischen Finanzaufsichtsbehörden ersetzt.Beispielsweise muss die BaFin melden, wenn einem In-stitut oder Unternehmen die Erlaubnis zum Geschäfts-betrieb erteilt wurde oder diese aufgehoben wurde.

Korrespondierend zu diesen Verpflichtungen der na-tionalen Aufsichtsbehörden wurden in Art. 35 der EU-Verordnungen zur Errichtung der Europäischen Finanz-aufsichtsbehörden und in Art. 15 der EU-Verordnung zurErrichtung des ESRB den europäischen Finanzauf-sichtsbehörden und dem ESRB Informationsansprücheauch gegenüber den nationalen Aufsichtsbehörden ein-geräumt.

Damit die BaFin diese Informationsansprüche nachMaßgabe der EU-Verordnungen erfüllen kann, müssenihre Beschäftigten und vergleichbare Personengruppenin den deutschen Aufsichtsgesetzen von ihrer Verschwie-genheitspflicht befreit werden.

Aus diesem Grund sollen der ESRB und die europäi-schen Finanzaufsichtsbehörden in den deutschen Auf-sichtsgesetzen in den Katalog der Stellen aufgenommenwerden, an die auch geheimhaltungsbedürftige Informa-tionen weitergegeben werden dürfen, soweit diese Infor-mationen zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigt werden.

Daran knüpft auch die Kritik des Bundesrates im Be-schluss vom 17. Juni 2011 an. Der Bundesrat bittet, imweiteren Gesetzgebungsverfahren zu prüfen, inwieweitin § 11 a Abs. 7 Satz 2 GewO-E klargestellt werdenkann, welche Aufgaben der Europäischen Aufsichtsbe-hörde für das Versicherungswesen und die betrieblicheAltersversorgung die Übermittlung von Informationen,vor allem von personenbezogenen Daten, durch die na-tionalen Behörden bedingen.

§ 11 a Abs. 7 GewO regelt in seiner bisherigen Fas-sung, dass bestimmte zuständige, nationale Behördeneinander Informationen einschließlich personenbezoge-ner Daten übermitteln dürfen, soweit dies zur Erfüllungihrer jeweiligen Aufgaben bezogen auf Versicherungs-vermittler und Versicherungsberater erforderlich ist. Imneuen Satz 2 des Abs. 11 a wird nun eine Pflicht zur In-formationsübermittlung auf Verlangen an eine europäi-sche Stelle festgeschrieben.

Nicht alle diese Aufgaben erfordern jedoch eine Ab-frage zum Beispiel personenbezogener Daten bei natio-nalen Stellen. Daher erscheint es dem Bundesrat sinn-voll, zur Erleichterung der Rechtsanwendung und deszügigen Vollzugs durch die betroffenen Stellen, direkt in§ 11 a GewO konkrete Aufgaben, etwa durch eine nichtabschließende „Insbesondere“-Aufzählung, zu benen-nen. Dieser Vorschlag erscheint durchaus sinnvoll undsollte im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens geprüftwerden.

Die Zusammenarbeit von nationalen und europäi-schen Aufsichtsbehörden muss reibungslos funktionie-ren. Wir begrüßen deshalb, dass zur Gewährleistungeiner effizienten und wirksamen Aufsicht und einer aus-gewogenen Berücksichtigung der Positionen der natio-nalen Aufsichtsbehörden die europäischen Finanzauf-sichtsbehörden Differenzen zwischen den nationalenAufsichtsbehörden, auch in den Aufsichtskollegien, ver-bindlich – in definierten Bereichen – schlichten können,wenn die nationalen Aufseher keine Einigung finden.

Der europäische Gesetzgeber hat dabei Bereiche imBlick, in denen die Richtlinien Kooperation, Koordina-tion oder gemeinsame Entscheidungen der nationalenAufsichtsbehörden vorsehen. Eine erste Festlegung derBereiche ist in der Omnibusrichtlinie I erfolgt. Danachsind Maßnahmen, die Gegenstand von Entscheidungenzur Streitbeilegung sein können, im Bankenbereich zumBeispiel die Einstufung von Zweigniederlassungen, dieAnerkennung interner Modelle und die Risikobewertungauf Gruppenebene.

Des Weiteren würden die in der Omnibusrichtlinie Ivorgeschriebenen Verfahren in die deutschen Aufsichts-gesetze umgesetzt, nach denen die BaFin handeln muss,wenn sie als konsolidierende Aufsichtsbehörde an einemsolchen Streit beteiligt ist.

Im Übrigen werden eine Reihe redaktioneller Anpas-sungen in den deutschen Aufsichtsgesetzen vorgenom-men.

Die Finanzkrise vom Oktober 2008 hat eine Reihevon Schwachstellen bei der Einzel- und Systemaufsichtoffengelegt. Diese wurde insbesondere mithilfe desLarosière-Berichts analysiert, und Handlungsoptionenund Verbesserungen wurden empfohlen. Insgesamt wirddie Aufsicht auf europäischer Ebene gestärkt. Wir sinddamit auf einem guten Weg, die notwendigen aufsichts-rechtlichen Konsequenzen aus der Finanzmarktkrise zuziehen.

Holger Krestel (FDP): Seit dem Ausbruch der Finanzkrise wurde viel für die

Regulierung der Finanzbranche auf europäischer Ebenegetan. Zahlreiche neue Institutionen wurden ins Lebengerufen, um die Aufsicht besser zu verzahnen und effek-tiver zu gestalten. Es wurden klare Konsequenzen ausder Krise gezogen. Nun gilt es, dass wir diese Fort-schritte auch auf nationaler Ebene im Gesetz verankern.

Bereits zum 1. Januar 2011 wurde das EuropäischeFinanzaufsichtssystem ESFS, European System of Fi-nancial Supervision, etabliert. Dieses sorgt mit den drei

Zu Protokoll gegebene Reden

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Holger Krestel

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zuständigen Aufsichtsbehörden im Banken-, Versiche-rungs- und Wertpapiersektor in Form von EBA, Euro-pean Banking Authority, EIOPA, European Insuranceand Occupational Pensions Authority, und ESMA, Euro-pean Securities and Markets Authority, gemeinsam mitdem Europäischen Ausschuss für Systemrisiken ESRB,European Systematic Risk Board, sowie einem behör-denübergreifenden Gemeinsamen Ausschuss der Euro-päischen Aufsichtsbehörden, Joint Committee, für eineflächendeckende Aufsicht mit Kooperationen und Kom-munikation über nationale Grenzen hinweg. Es reichtaber nicht, nur neue Zuständigkeiten und Institutionenzu schaffen. Viel wichtiger ist, dass sich nun auch die na-tionalen Aufsichtsbehörden unter klaren Regeln unter-einander austauschen und so flächendeckende oder auseinem Land ausgelagerte Probleme schon früher undzielgenauer identifizieren können. Eine gute und koordi-nierte Zusammenarbeit bietet zudem die Chance, mehr-fach ausgeführte Vorgänge zu eliminieren und so effi-zienter zu arbeiten.

Der Datenschutz darf bei diesem Austausch aller-dings keinesfalls vernachlässigt werden. Ich halte es fürimmens wichtig, dass wir und unsere Kollegen in denParlamenten der EU ein stetes Auge auf das Hantierenmit diesen Daten haben und in den entsprechenden Be-hörden strikte Regeln für einen verantwortungsvollenUmgang damit durchgesetzt werden. Das Zusammen-führen und Koordinieren so vieler verschiedener Institu-tionen und Datensätze birgt immer das Risiko einesMissbrauchs, der erheblichen Schaden anrichten und zugroßen Vertrauensverlusten führen kann. Gerade des-halb müssen hohe datenschutzrechtliche Standards undeine ständige Überprüfung von deren Einhaltung eta-bliert werden.

Ich begrüße es auch sehr, dass in der Haushaltspolitikdie nationale Souveränität der einzelnen Mitgliedstaa-ten ausdrücklich unangetastet bleibt. Für ein respektvol-les Miteinander in einer so eng verknüpften Gemein-schaft wie der Europäischen Union sind klareZuständigkeitsschranken ein hohes Gut, welches ge-wahrt werden muss. Alles andere käme einer Bevormun-dung von Mitgliedstaaten gleich, und eine Union wie dieEU kann nur auf Augenhöhe funktionieren, wie sie diesin ihrer Geschichte schon oft erfolgreich gezeigt hat.

Die EU hat hier ein eng strukturiertes Regelwerk vor-gelegt. Ich wünsche mir nun, dass sich unsere deutscheBundesregierung dafür einsetzt, dass die Vorschriftennicht in solcher Form überhandnehmen, dass sie Be-standteil der sprichwörtlichen EU-Bürokratie werden.Das Sprichwort soll hier Sprichwort bleiben und nichtRealität werden. Das würde Europa lähmen.

Zuletzt erwarte ich, dass grundlegende Entscheidun-gen auch weiter in den von der Bevölkerung gewähltenParlamenten gefällt werden und die Aufsichts- und Ver-waltungsorgane sich primär auf die technischen Vor-gänge konzentrieren, wofür sie schließlich geschaffenwurden.

Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Da es sich bei diesem Gesetzentwurf nur um die Um-

setzung einer Verordnung handelt, die politische Verant-wortung somit in Brüssel liegt, nehme ich direkt zureuropäischen Finanzaufsicht Stellung. In Deutschlandsoll die Finanzaufsicht zwischen BaFin und Bundesbankohnehin neu geregelt werden. Vor diesem Hintergrundwird die europäische Ebene mitzudenken sein.

Die Finanzaufsicht hat vor und während der Finanz-krise an entscheidenden Stellen versagt. Die nationalenFinanzaufsichtsbehörden waren vollkommen überfor-dert, da die Finanzinstitute in vollem Umfang die Freihei-ten des europäischen Binnenmarkts ausnutzten – und zu-sätzlich in Schattenfinanzplätzen agierten. Entsprechendist die Einrichtung dreier europäischer Aufsichtsbehör-den für Banken, Wertpapierhandel und Versicherungenund des Europäischen Ausschusses für Systemrisiken,ESRB, zu begrüßen. Bereits jetzt zeichnen sich dabeiaber große Probleme ab:

Zunächst sind die Kompetenzen nach wie vor zwi-schen den Aufsichtsbehörden in Europa unzureichendgeregelt. Dadurch drohen zum einen Friktionen, welchedie Effizienz der Behörden beschneiden. Zum anderenfehlen den europäischen Aufsichtsbehörden aber auchschlicht die Durchgriffsrechte, um im Problemfallschnell und entschieden einschreiten zu können. DieKompetenzen hierfür sind viel zu restriktiv angelegt.

In der Praxis werden die neuen europäischen Behör-den den nationalen Behörden erst Vorschriften machenkönnen, wenn der Notfall unmittelbar bevorsteht oderschon eingetreten ist. Die Vorschriften können selbstdann wieder durch die nationalen Parlamente gekipptwerden, sollten sie eine unerwünschte Bürde für die na-tionalen Haushalte darstellen. Die innereuropäischeRegulierungsarbitrage, von der etwa Irland lange pro-fitierte, lässt sich auf diese Weise jedenfalls nicht unter-binden.

Was auch fehlt, sind zusätzliche Fachabteilungenoder Einrichtungen für bestimmte Spezialbereiche. Ichdenke dabei etwa an eine eigene Aufsicht für Warenter-mingeschäfte, die mit eigenen Instrumenten ausgestattetgegen Preiskapriolen und -blasen an den Rohstoffmärk-ten vorgehen kann.

Ähnliche Kompetenzprobleme wie bei den drei Auf-sichtsbehörden gelten für das ESRB: Das Gremium willim Problemfall warnen, wird aber nicht in der Lage sein,zu handeln – etwa wenn sich spekulative Blasen bilden.Im nationalen Hickhack droht somit ein Eingreifen ver-zögert oder komplett verschlafen zu werden. Von denZentralbanken ist wenig Hilfestellung zu erwarten, so-lange sich diese allein dem Dogma der Preisstabilitätverpflichtet und bei Spekulationsorgien nicht zuständigfühlen. Umso mehr besteht ein erkennbares Defizit beider Überwachung der Stabilität des Finanzsystems. Hierfehlt nach wie vor eine verantwortliche europäischestaatliche Institution.

Weiterhin ist zu bezweifeln, dass die Aufsichtsbehör-den personell und materiell mit den notwendigen Res-sourcen ausgestattet sind, um im Zweifelsfall kompetent

Zu Protokoll gegebene Reden

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Dr. Axel Troost

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und selbstbewusst gegenüber der schlagkräftigenFinanzlobby und auch gegenüber den nationalen Aufse-hern und Regierungen auftreten zu können.

Vier zahnlose Tiger sind vielleicht besser als gar keinTiger. Doch niemand sollte sich von den neuen Institu-tionen vor einer neuen Finanzkrise geschützt wähnen.

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Das neue Europäische Finanzaufsichtssystem ist ein

erster wichtiger Schritt hin zu einer echten europäischenFinanzaufsicht, die angesichts eines bereits sehr hohenMaßes an integrierten – also europaweit agierenden –Finanzmärkten und -instituten auch dringend erforder-lich ist.

Insbesondere das Mandat der neuen Bankenauf-sichtsbehörde EBA, für eine einheitliche Entwicklungund Anwendung des EU-Aufsichtsrechts zu sorgen unddies auch durchzusetzen, wird hoffentlich dazu beitra-gen, dass künftig kurzsichtige „Race-to-the-Bottom“-Strategien in der Finanzmarktregulierung nicht mehrmöglich sind: In Irland haben wir gesehen, wie unglaub-lich teuer und riskant solche Strategien letztlich sind, umden eigenen Finanzplatz zu fördern – und zwar teuerund riskant nicht nur für die Iren, sondern für die Ge-samtheit der europäischen Steuerzahlerinnen und Steu-erzahler. Dass die EBA diese neuen Kompetenzen über-haupt hat, sich im Zweifel also auch gegen nationaleAufsichten durchsetzen und Regulierungsarbitragekünftig verhindern kann, ist unseren Kolleginnen undKollegen im Europaparlament zu verdanken. Die EU-Parlamentarier haben sich hier in zähen Verhandlungenauch gegen die lange und hartnäckige Blockade derschwarz-gelben Bundesregierung durchgesetzt, dieechte Durchgriffsrechte der neuen EU-Aufsichtsbehör-den aller Lehren aus der Krise zum Trotz lange verhin-dern wollte.

Auch, dass die neue WertpapieraufsichtsbehördeESMA weitreichende Befugnisse hat, um den Handel mitgefährlichen Finanzprodukten auszusetzen, etwa bei un-gedeckten Leerverkäufen, ist eine gute Nachricht undein echter Fortschritt. Allerdings weist die neue europäi-sche Finanzaufsichtsarchitektur auch viele Schwächenauf, die es gilt, in nächster Zeit zu beheben. Dazu ge-hört:

Erstens. Im Fall von ernsten Bankenschieflagen istdie EBA nicht wirklich handlungsfähig. Zwar darf sie imKrisenfall – den jedoch nicht sie selbst, sondern der Ratfeststellt – nationale Aufsichten und Institute zu be-stimmten Krisenmaßnahmen verpflichten und das Kri-senmanagement koordinieren – allerdings nur, wennhierbei nicht in die haushaltspolitische Kompetenz derMitgliedstaaten eingegriffen wird. Im Zweifel wird da-mit also doch alles beim Alten bleiben: Statt einer kos-tenminimierenden Koordination des Krisenmanage-ments über Ländergrenzen hinweg, wird es im Ernstfallweiter wie bisher – wie zum Beispiel im Fall Fortis zubeobachten war – ein unkoordiniertes, an nationalenGrenzen aufgehängtes und so potenziell krisenverschär-fendes und damit teurer als nötiges Eingreifen geben.Was wir hier dringend brauchen, ist eine europäische

Bankenabgabe und ein europäischer Bankenrettungs-fonds, um die EBA zu einem echten und schlagkräftigenKrisenmanager weiterentwickeln zu können. Das EU-Vorhaben zur Entwicklung eines Bankenabwicklungsre-gimes bietet hier Gelegenheit zur institutionellen undrechtlichen Fortentwicklung. Diese Gelegenheit müssenwir nutzen.

Zweitens. Die Krise hat gezeigt, dass der Analyse undBeobachtung sogenannter makroprudentieller Risikenbisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. DieGründung des European Systemic Risk Boards, ESRB,das solche Risiken künftig im Auge behalten soll, ist vordiesem Hintergrund eine richtige Entscheidung undwichtige aufsichtliche Ergänzung. Allerdings wirft Fra-gen auf, dass sich Europa derzeit in einer sehr ernsten,ja existenziellen Staatsschuldenkrise befindet, das ESRBallerdings noch kein einziges Mal zu diesem Systemri-siko erheblicher Relevanz vernehmbar Stellung bezogenhat. Das zeigt: Ein wesentlicher Teil des neuen Europäi-schen Aufsichtssystems ist ein halbes Jahr nach demStartschuss entweder noch nicht arbeitsfähig, oder dieGovernance-Strukturen dieses Gremiums verhinderneine klare Positionierung in dieser Frage. Beides wäreäußerst bedenklich und gibt Anlass zur Sorge.

Drittens. Die ressourcenmäßige Ausstattung derneuen EU-Aufsichtsbehörden ist ausbaufähig, um essehr freundlich auszudrücken. Wie soll es der ESMA miteinem Personalkörper von gerade einmal 60 Personenschaffen können, all ihren Aufgaben gerecht zu werden?Allein für eine echte Aufsicht über die Ratingagenturen– und das ist nur eine kleine Teilaufgabe der ESMA –wäre nahezu der gesamte Personalbestand nötig. DieEBA soll sogar mit nur 45 Mitarbeitern auskommen –bei einem Aufgabenkatalog, der nicht kleiner als jenerder ESMA ist. Hinsichtlich der Personalausstattungenmuss also noch deutlich nachgelegt werden, wenn dieneuen Behörden nicht schnell den zweifelhaften Ruf ei-nes zahnlosen Tigers erhalten sollen und die nächsteKrise verhindert werden soll.

Viertens. Die Zersplitterung der drei neuen Aufsichts-behörden ESMA, EBA und EIOPA über die drei Stand-orte Paris, London und Frankfurt am Main ist unlo-gisch, kurzsichtig und nationalen Eitelkeiten geschuldet.Effizienz- und Reibungsverluste sind hier bereits vorpro-grammiert. Mittelfristig wird es darum gehen müssen,die drei Institutionen an einem Standort zusammenzu-führen, um eine optimale Zusammenarbeit zu ermögli-chen.

Insgesamt muss es nach meiner Überzeugung in dermittleren Perspektive bei dem EU-Aufsichtssystem da-rum gehen, die komplette laufende Bankenaufsicht übergrenzüberschreitend aktive Institute auf EU-Ebene zuverlagern. Dafür sollten die nationalen Aufsichtsbehör-den für national und regional agierende Banken zustän-dig sein. Denn es gibt ja zu Recht Klagen, dass die EBAsich wenig um die Besonderheiten regionaler Institute inDeutschland kümmert. Lassen Sie uns gemeinsam in die-sem Sinne das europäische Aufsichtssystem weiterentwi-ckeln.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Vizepräsident Eduard Oswald:Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-

wurfes auf Drucksache 17/6255 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Allesind mit dieser Form einverstanden. Somit ist die Über-weisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten HeikeHänsel, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Für eine gerechte und entwicklungsförderlicheinternationale Rohstoffpolitik

– Drucksache 17/6153 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f)Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-ginnen und Kollegen liegen hier vor.

Jürgen Klimke (CDU/CSU): Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag be-

reits im Titel eine gerechte und entwicklungsförderlicheRohstoffpolitik. Schaut man sich diesen Antrag jedochnäher an, liest er sich vor allem als ein Manifest gegendie Rohstoffstrategie der Bundesregierung und den ver-meintlichen Einfluss der Industrie auf diese Strategie. Sofordert die Linke zum Beispiel, die Bundesregierungsolle die Rohstoffstrategie zurückziehen und sich gegendie Einflussnahme von Lobbyverbänden der Industrieauf die europäische Handels- und Rohstoffpolitik ver-wahren.

Diese Beispiele mögen genügen, die eigentliche In-tention des Antrags zu zeigen: Es geht nicht um Gerech-tigkeit für die Entwicklungsländer, es geht darum, diebösen Konzerne und die noch böseren Lobbyisten anzu-prangern, die vermeintlich die gesamte Politik Deutsch-lands und der EU nach Gutdünken diktieren. Insofernpasst dieser Antrag hervorragend in das politische Ge-samtportfolio der Linken, das von der Zerschlagung vonGroßkonzernen bis zur Reichensteuer und zum Aufbla-sen der sozialen Wohltaten reicht.

Die deutsche Industrie hat ein berechtigtes Interessean der sicheren und kostengünstigen Versorgung mitRohstoffen. Es ist legitim, wenn der BDI diese Interessennachdrücklich vertritt. Es ist auch legitim, wenn dieBundesregierung einen Teil dieser Interessen für ihreRohstoffstrategie aufgreift: Wir beziehen schließlich ei-nen Großteil unseres Wohlstandes aus unserer wettbe-werbsfähigen Industrie und können deshalb nicht wol-len, wenn durch Marktregulierungen oder politischmotivierte Maßnahmen Deutschland als rohstoffarmesLand Wettbewerbsnachteile erleidet. Rohstoffpolitikheißt eben auf nationaler Ebene vor allem Sicherung der

Rohstoffbelieferung unserer heimischen Wirtschaft. Dasist auch Ausgangspunkt der Rohstoffstrategie der Bun-desregierung, und das sollte es auch sein. Vor diesemHintergrund ist es absurd, wenn Sie eine andere Roh-stoffstrategie fordern, die – ich zitiere – „nicht den Zu-griff der deutschen und europäischen Industrie auf nochmehr Rohstoffe … zum Ziel hat.“

Ich würde mich freuen, zu erfahren, wie Sie diesenGutmenschenansatz den Arbeitern in der Metall-, Che-mie- oder Elektroindustrie erklären wollen. Denn Siegefährden mit Ihren Ideen die Grundlagen unserer In-dustrieproduktion und damit Arbeitsplätze. Das ist un-verantwortlich.

Ich halte die Versorgungssicherheit unseres Landesmit Rohstoffen für durchaus vereinbar mit unseren ent-wicklungspolitischen Zielen. Rohstoffsicherheit und Ent-wicklungspolitik gehen Hand in Hand. Es geht uns ebennicht um die Ausbeutung von Entwicklungsländern, son-dern darum, den Reichtum dieser Länder auch für dieseLänder zu nutzen. Der Rohstoffreichtum von Entwick-lungsländern kann – richtig genutzt – zum Aufbau eige-ner Wertschöpfungsketten und zu wachsendem Wohl-stand in der Bevölkerung führen. Leider passiert das beiweitem nicht überall.

Über 50 Prozent der wichtigen Rohstoffvorkommenliegen in Ländern mit einem Pro-Kopf-Einkommen vonunter 10 US-Dollar pro Tag. Dieses zunächst erstaun-liche Paradoxon der Armut trotz reicher Rohstoffvor-kommen lässt sich durch makroökonomische und poli-tisch-institutionelle Defizite erklären. Im politischenSektor ist das Stichwort „Bad Governance“, das Versa-gen der politischen Institutionen, Fehlen von sozialenund ökologischen Mindeststandards, kennzeichnend.Ökonomisch beschreibt der Begriff „Dutch Disease“,warum es für eine Wirtschaft mit hohen Handelsbilanz-überschüssen aus Rohstoffexporten schwierig ist, an-dere Wirtschaftszweige zu entwickeln.

Ein weiteres Problem besteht in der Unsicherheit die-ser Länder. Mehr als die Hälfte der weltweiten Rohstoff-produktion erfolgt in Ländern, die nach Auffassung derWeltbank politisch instabil oder sehr instabil sind. ImAntrag der Linken wird ja auch auf die sozialen Verwer-fungen und Konflikte in rohstoffreichen Staaten hinge-wiesen. Auf die wesentlichen Ursachen dafür, wie zumBeispiel schlechte Regierungsführung, Korruption, un-zureichende staatliche Strukturen, geht der Antrag je-doch nicht weiter ein.

Diese Ausführungen zeigen deutlich, dass man einegerechte und entwicklungsfördernde Rohstoffpolitik, wiees in Ihrem Antrag heißt, nicht dadurch erreicht, dassman Interessen der Rohstoffversorgung zurückstellt, denEinfluss der Wirtschaft ausbremst und auf Manipulatio-nen der Rohstoffmärkte durch die Förderländer setzt.

Der Ansatz muss zuerst entwicklungspolitisch seinund sich vor allem in der Unterstützung der Förderlän-der zeigen. Es geht darum, Good Governance zu stär-ken, Korruption zu bekämpfen, illegalen Abbau vonRohstoffen zu verhindern. Das kann durch internatio-nale Initiativen wie die Extractive Industries Trans-

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parency Initiative, EITI, durch konkrete Entwicklungs-projekte vor Ort aber selbstverständlich auch durchInitiativen der Unternehmen geschehen.

Lassen Sie mich zunächst auf den ersten Aspekt ein-gehen. EITI ist eine beispielhafte Transparenzinitiative,die Zahlungsströme von rohstofffördernden Unterneh-men als Abgaben an den Staat sowie deren Verwendungtransparent macht und veröffentlicht. Das wirkt Korrup-tion entgegen und stärkt Good Governance. Bei allerKritik, dass dieses Instrument bei weitem nicht aus-reicht, ist EITI doch ein richtiger und vielversprechen-der Ansatz, ähnlich wie der sogenannte mineralischeFingerabdruck dem illegalen Abbau Vorschub leistenkann. An diese internationalen Ansätze gilt es anzuknüp-fen.

Da die akuten Probleme aber gerade in den Förder-ländern und auch in deren Verantwortung liegen, setzenwir auch hier ganz konkret mit unserer bilateralen Ent-wicklungszusammenarbeit an. Unser Ziel ist es, soweitals möglich einen stabilen und leistungsfähigen Roh-stoffsektor aufzubauen, der nachhaltige lokale Wert-schöpfung ermöglicht. Das ist leider bisher häufig nochnicht gelungen. Dieser Punkt sollte daher im Fokus un-serer zukünftigen Entwicklungszusammenarbeit stehen.

Gleichwohl gibt es bereits hervorragende Projekte.Zu erwähnen sind besonders die Beiträge gegen illegaleRessourcenausbeutung in der Region Große Seen inAfrika. Hier sind wir unter anderem im Bereich der Zer-tifizierung von Handelsketten mineralischer Rohstoffe inRuanda sowie bei der Entwicklung und Anwendung ei-nes staatlichen Finanzierungssystems für mineralischeRohstoffe in der Demokratischen Republik Kongo aktiv.In Kongo unterstützen wir zudem die transparente, effi-ziente und entwicklungsorientierte Verwendung vonRohstoffeinnahmen. Gerade diese beiden Projekte sindvorbildlich, weil sie an mehreren neuralgischen Punktenansetzen und insbesondere den Aspekt der Good Gover-nance einbeziehen.

Grundsätzlich ist natürlich im Bereich der Nutzungvon Rohstoffen für die eigene Bevölkerung ganz beson-ders Bildung wichtig, gerade auch über die Grundbil-dung hinaus. Sie ist Voraussetzung und Basis für denAufbau von lokalen Wertschöpfungsketten sowohl imDienstleistungsbereich um den Bergbau als auch bei derWeiterverarbeitung von Rohstoffen. Hier kann und wirdDeutschland gute Beiträge leisten, zum Beispiel auchdurch das duale System der Berufsausbildung, das einAlleinstellungsmerkmal deutscher Bildungspolitik dar-stellt.

In diesem Zusammenhang begrüße ich die Ankündi-gung des BMZ, die Investitionen im Bildungsbereich ge-rade in Afrika, wo es sowohl viele rohstoffreiche alsauch unzureichend entwickelte Staaten gibt, von68,5 Millionen Euro im Jahr 2009 bis 2013 auf 137 Mil-lionen Euro zu verdoppeln.

Sie sehen also, dass wir durchaus im Rohstoffbereichentwicklungspolitisch aktiv sind; nur besteht unsereStrategie zuallererst darin, Verbesserungen in den Ab-bauländern herbeizuführen. Das zeigen auch die von Ih-

nen kritisierten Rohstoffpartnerschaften, die sowohl dieEntwicklung des Landes durch die Modernisierung desRohstoffsektors als auch mehr Transparenz bei den Han-delsketten und Finanzströmen zum Ziel haben. Zudembeinhalten sie die Unterstützung von Umwelt- und So-zialstandards. Insofern wäre ein Fallenlassen des Kon-zepts der Rohstoffpartnerschaften, wie die Linke es for-dert, ein klarer Rückschritt.

Wenn wir unsere Rohstoffpolitik in ihrer Gesamtheitbewerten, dann sollten wir auch den Vergleich mit Chinain unsere Aktivitäten einbeziehen: China investiert un-endlich viel Geld in die Umsetzung seiner strategischenZiele und die Sicherung seiner Rohstoffversorgung. BeiChinas Erschließungs- und Infrastrukturprojekten vorOrt bleibt dann jedoch jeder Nachhaltigkeitsgedankeaußen vor: Es wird weder auf die Bedürfnisse und Sen-sibilitäten in den Förderländern Rücksicht genommen,noch wird dort Wertschöpfung oder gar eine Entwick-lung des Landes angestrebt. Im Gegenteil: Die Chine-sen rücken sogar mit eigenen Arbeitern an, die auch vonA bis Z aus China versorgt werden. Eine solche Politikhat die Interessen der rohstoffreichen Länder, ganz zuschweigen von den rohstoffarmen Länder, überhauptnicht im Blick.

Natürlich darf man in einem ganzheitlichen Ansatzder Entwicklungszusammenarbeit auch die Förderun-ternehmen sowie die verarbeitenden Unternehmen nichtaußen vor lassen. Hier haben wir ja neben den bereitserwähnten Transparenzinitiativen durchaus auch Er-folge auf internationaler Ebene vorzuweisen. Ich möchtehier nur an die Leitlinien der Vereinten Nationen fürmenschenrechtlich verantwortliches unternehmerischesHandeln sowie an die ebenfalls jüngst überarbeitetenOECD-Leitlinien erinnern.

Es ist aber keineswegs so, dass die Unternehmen keinInteresse an sozial und ökologisch nachhaltigem Roh-stoffabbau haben, wie es die Linke offenbar immer nochglaubt.

Je wichtiger den Konsumenten nachhaltig erzeugteProdukte sind, je langfristiger Unternehmen auch mitihren Niederlassungen in Entwicklungsländern planen,desto stärker wird verantwortliches Handeln Teil derFirmenphilosophie.

Das zeigt sich zum Beispiel in der Stärkung der Cor-porate Social Responsibility, CSR, vieler Unternehmen.Handelte es sich früher häufig nur um ein Feigenblatt,so sind inzwischen viele Unternehmen ernsthaft darumbemüht, bei ihrer Produktion, aber auch bei Zulieferernökologische und soziale Nachhaltigkeit sicherzustellen.

Lassen Sie mich ein positives Beispiel hervorheben,weil es ganz aktuell ist. Ich habe es dem vergangeneWoche erschienenen Corporate-Responsibility-Bericht2010 der Evonik Industries AG entnommen. Hier hatEvonik unter der Überschrift „Verantwortung in derLieferkette“ Umwelt- und Sozialstandards in seine kon-zernweite Beschaffungsrichtlinie aufgenommen und inden Allgemeinen Einkaufsbedingungen verbindlich fest-geschrieben. Evonik legt fest, dass Lieferanten dieGrundsätze des UN Global Compact und die Standards

Zu Protokoll gegebene Reden

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der ILO zu achten haben. In einem weiteren Feld veran-kert Evonik Corporate Responsibility bereits in der Aus-bildung – das nenne ich wahrhaft nachhaltig.

Dieses wahllos herausgegriffene positive Beispielzeigt, dass auch im Bereich der Unternehmensverant-wortung marktwirtschaftliche Mechanismen wirksamsein können, auch wenn dies die Politik nicht von ihrerAufgabe entbindet, internationale Normen für Unter-nehmen zu erreichen und deren Durchsetzung zu über-wachen.

Lassen Sie mich zum Schluss noch auf ein anderesThema kommen: auf das Verständnis, das die Linkspar-tei Marktabschottungen und Exportzöllen der Expor-teure auf dem Rohstoffsektor entgegenbringt.

Bei allem Verständnis für den Finanzierungsbedarfder Entwicklungsländer – unser Ideal darf keine Weltmit Handelshemmnissen sein, wir sehen einen umge-kehrten Weg hin zu mehr Freihandel und natürlich auchzur Öffnung der Europäischen Union für die Produkteder Entwicklungsländer. Davon würden wir alle un-gleich mehr profitieren. Deshalb sehen wir Handelsbe-schränkungen und dauerhafte Exportzölle als problema-tisch an. Es muss vielmehr um die Integration derEntwicklungsländer in die soziale Marktwirtschaft ge-hen.

Weiterhin besteht aus meiner Sicht das vorrangigeProblem nicht in einer Unterbezahlung der Rohstoff-exporte, es besteht vielmehr in Schwierigkeiten, aus demRohstoffreichtum höheren gesamtgesellschaftlichenNutzen zu erzielen und den Aufbau einer Industriepro-duktion sowie eines Dienstleistungssektors zu befördern.Hier benötigen die Staaten unsere Unterstützung, undhier leistet die deutsche Entwicklungszusammenarbeiteinen wichtigen Beitrag.

Dr. Sascha Raabe (SPD): Extraktive Rohstoffe sind ein knappes und endliches

Gut. Sind Staaten wie die Bundesrepublik, die wenig bisgar keine extraktiven Rohstoffvorkommen aufweisen,auf die externe Versorgung mit solchen Gütern angewie-sen, dienen ausgewogene Rohstoffabkommen für dienotwendige und kontinuierliche Lieferung der angefor-derten Rohstoffe, um die heimische Industrie am Laufenzu halten. Das ist für den Standort Deutschland gut. Wasaber nicht gut ist, ist die Art und Weise, wie die Bundes-regierung und die Europäischen Union ihre Rohstoffpo-litik verstehen. Hier sollen deutsche Rohstoffinteressenauch zulasten der ärmsten Menschen durchgeboxt wer-den – selbst von militärischer Absicherung der Rohstoff-versorgung war die Rede. Für mich ein unglaublicherund inakzeptabler Vorgang.

Rohstoffpolitik ist ein sensibles Feld. Die Verfügbar-keit über knappe Ressourcen birgt starke Interessens-konflikte und weckt Begehrlichkeiten auf vielen Statio-nen einer langen Rohstofflieferkette. Ob Kupfer ausChile, Zink aus Peru oder Kobalt aus der Demokrati-schen Republik Kongo. Bis der Rohstoff von der Gewin-nung aus Minen zur endgültigen Veredelung seinen Platzin einem deutschen Volkswagen oder Opel findet, wan-

dert er entlang einer teils intransparenten Interessen-kette, bei der viele Beteiligte auch ein großes Stück vomRohstoffkuchen naschen wollen. Doch wer zu vielnascht, der bekommt nicht nur einen unübersehbarenWohlstandsbauch, sondern der futtert anderen das ei-gentlich zugesprochene Stück Kuchen auch noch weg.

Das Ergebnis ist frappierend. Für die meisten Men-schen in den Entwicklungsländern bereitet der eigent-lich vorhandene Rohstoffreichtum den Weg in die nichtenden wollende Armutsspirale. Denn anstatt von demkostbaren Gut, das in der Erde schlummert, zu profitie-ren, sind die vorhandenen Rohstoffe für viele dieser Län-der eher Fluch als Segen. Das ist so paradox wie estraurige Gewissheit ist.

Zwangsvertreibungen und unzureichende Entschädi-gungen ignorieren beispielsweise bestehende Land-rechte indigener Völker und treten das Recht auf Nah-rung mit Füßen. Skrupellose international agierendeUnternehmen, Korruption, Vetternwirtschaft und unge-nügende Rechtsgrundlagen im Bereich von Menschrech-ten und Umwelt- und Sozialstandards sind dafür verant-wortlich, dass die Einnahmen aus dem Rohstoffhandeloftmals auf undurchsichtigen Wegen versickern, die Ar-beiter in den Rohstoffminen keine fairen Löhne erhalten,zu menschenverachtenden Konditionen ihre Arbeit leis-ten, die Umwelt bei der Förderung bestimmter Rohstoffeextremen Schaden nimmt und nicht selten schlimme Aus-wirkungen auf die Gesundheit der Menschen vor Ort ha-ben.

Natürlich werden viele sagen, dann müssen die jewei-ligen Staaten eigenständig dafür sorgen, dass Steuerein-nahmen generiert werden, die Gelder in den öffentlichenHaushalt fließen und wichtige Umwelt- und Sozialstan-dards rechtlich verankert werden. Diese Einschätzungteile ich nur eingeschränkt. Sicherlich müssen die jewei-ligen Regierungen in den Entwicklungsländern dafürSorge tragen, dass die Einnahmen aus dem Rohstoff-reichtum ihres Landes auch gerecht verteilt bzw. zumWohl der Gesellschaft verwendet werden. In diesenStaaten Good Governance zu fördern ist daher richtig –aber nicht ausreichend. Es ist auch unsere Aufgabe alsIndustrienation dafür zu sorgen, dass der Rohstoffhan-del zu transparenten und fairen Bedingungen abläuft.Sowohl die am Handel beteiligten Unternehmen alsauch die Regierungen der importorientierten Ländermüssen hier ihrer Verantwortung gerecht werden. Dabeidarf die Rohstoffsicherung nicht auf Kosten von Armuts-bekämpfung durchgesetzt werden. Beides gilt es mit-einander in Einklang zu bringen. Notfalls auch um denVerzicht auf Rohstoffe aus fragilen Ländern.

Es kann jedenfalls nicht sein, dass einerseits derMangel an vorhandenen Schutzregelungen für Menschund Umwelt und transparenten und fairen Steuerrege-lungen moniert wird, aber gleichzeitig nicht davor zu-rückschreckt wird, diesen Mangel zum eignen Vorteil zunutzen, indem in der Förderregion ansässige Bergbau-gesellschaften – die meist Tochterunternehmen westli-cher Unternehmen sind – viel zu niedrige oder teils garkeine Steuern zahlen. Daher lautet mein Appell an diedeutsche Wirtschaft hier mit unternehmerischer Verant-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13553

Dr. Sascha Raabe

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wortung vorbildhaft voranzugehen und selbst einen fai-ren Rohstoffhandel einzufordern.

Fairer Handel bedeutet für die SPD-Bundestagsfrak-tion, dass alle an der Handelskette Partizipierendenauch vom Handel profitieren. Das setzt die Einhaltungsozialer, wie beispielswiese den ILO-Kernarbeitsnor-men, und ökologischer Mindeststandards sowie derMenschenrechte voraus. Eine durch Transparenz undklare Regelungen geschaffene Kontrollmöglichkeit istunabdingbar. Im Gegensatz zur Bundesregierung sindwir der Meinung, dass der Rohstoffhandel nicht alleineder Privatwirtschaft überlassen werden kann. Darumbrauchen wir zukunftsorientierte Strategien, die allenBeteiligten gerecht werden und international verankertwerden. Ziel ist ein weltweites Rohstoffregime mit trans-parenten Regeln und fairen Bedingungen für Anbieterund Abnehmer. Das haben wir in unserem Antrag „Fai-ren Rohstoffhandel sichern – Handel mit Seltenen Erdenoffen halten“ (Drucksache 17/4553) eindringlich gefor-dert.

Uns ist dabei besonders wichtig, dass Rohstoffpart-nerschaftsabkommen mit Entwicklungsländern der Ent-wicklung des Landes und der dort lebenden Bevölkerungdienen. Bei der Förderung von Rohstoffen in Entwick-lungsländern muss deshalb darauf geachtet werden,dass die lokal betroffene Bevölkerung frühzeitig in denProzess eines solchen Abkommens eingebunden wirdund Transparenz bei der Verteilung der Gewinne imSinne der Extractive Industries Transparency Initiative,EITI, aus der Rohstoffpartnerschaft hergestellt wird.Über Transparenz hinaus muss eine gerechte Verteilungder Gewinne durchgesetzt werden. Eine Zertifizierungder Handelsketten flankiert diese Forderung. Dabeimuss klar sein, dass Rohstoffpartnerschaftsabkommenkeinen Einfluss auf die Auswahl unserer Länder haben,mit denen wir Entwicklungszusammenarbeit betreiben.Wir werden der Bundesregerung bei der zukünftigenAuswahl der Partnerländer ganz genau auf die Fingerschauen.

Beim Thema fairen Rohstoffhandel, sind uns die Ame-rikaner einen Schritt voraus. Dort trat im Sommer 2010die Cardin-Lugar Novelle als Teil der Dodd-Frank WallStreet Reform in Kraft. Die Novelle verlangt von allenRohstoffunternehmen, die an der US-Börse Rohstoffehandeln wollen, sämtliche Zahlungen an die U.S. undandere Regierungen in Verbindung mit der Extraktionvon Öl, Gas und Mineralien offenzulegen. Alle bei derWertpapieraufsichtsbehörde SEC, U.S. Securities & Ex-change Commission, geführten Unternehmen sind vondem Gesetz betroffen, egal in welchem Land sie ihrenSitz haben. Die Zahlungsströme müssen im jährlichenBericht an die SEC offengelegt werden und zur Informa-tion online zur Verfügung gestellt werden. Sukzessivewerden jetzt 16 Hauptartikel und mehr als 500 Einzel-artikel umgesetzt.

Mit diesem Gesetz wird mehr Transparenz hergestelltund Korruption verringert. Nichtregierungsorganisatio-nen wie ONE sehen dieses Gesetz und die damit verbun-denen Entwicklungen sehr positiv. Wir unterstützen dasund werden diesen Prozess aktiv begleiten. Die Bundes-

regierung muss sich auf europäischer Ebene für die Ein-führung eines solchen adäquaten Gesetzes einsetzen.

Joachim Günther (Plauen) (FDP): In der Rohstoffstrategie der Bundesregierung heißt

es: „Rohstoffsicherung kann keine Einbahnstraße sein.Es geht darum, die Interessen sowohl der rohstoffför-dernden als auch der rohstoffimportierenden Länder wieDeutschland zu berücksichtigen, sinnvoll in Ausgleichzu bringen und im Sinne gemeinsamer Vorteile fortzu-entwickeln.“

Wenn man die Anträge der Linken liest, und ganz be-sonders auch den uns jetzt vorliegenden, könnte manmeinen, es wäre regelrecht unanständig, wenn Deutsch-land eigene Interessen hat und diese auch nach außenvertritt. Dabei ist das völlig legitim und genau das, wasder Wähler vom Abgeordneten erwarten kann und muss.Er will, dass seine Steuergelder gut angelegt werden.Für die Entwicklungshilfe bedeutet das: in sinnvollen,nachhaltigen Projekten, die dem betroffenen Land hel-fen und gleichzeitig Deutschland nutzen. Es ist demSteuerzahler weder zu vermitteln noch zuzumuten, dassDeutschland Milliarden für Entwicklungshilfe ausgibt,ohne davon in irgendeiner Weise auch zu profitieren.

Zu den Besonderheiten von Rohstoffen gehört, dass In-teressen der Entwicklungsländer und der Industrieländerzusammenkommen. Der Rohstoffsektor ist mit den we-sentlichen entwicklungspolitisch relevanten Themen wieArmutsbekämpfung, Förderung von guter Regierungsfüh-rung, Umwelt- und Ressourcenschutz, Krisenprävention,ländliche Entwicklung und nachhaltige Wirtschaftsent-wicklung unmittelbar verknüpft. Er kann finanzielle Stützeder in diesem Bereich formulierten Ziele der Entwick-lungsländer sein. Dabei sind Industrie- wie Entwick-lungsländer auf die sichere und auf die auf den Grundsät-zen des freien und fairen Marktes basierende Lieferungvon Rohstoffen angewiesen.

Das deutsche Entwicklungszusammenarbeit-Engage-ment im Rohstoffsektor verfolgt in den Partnerländernein ganzheitliches Konzept, das im „Entwicklungspoliti-schen Strategiepapier Extraktive Rohstoffe“ niederge-legt ist. Die wichtigsten Ziele sind, den Rohstoffsektorfür Aufbau und Stärkung der Wirtschaft in den Partner-ländern zu nutzen, leistungsfähige Strukturen im Roh-stoffsektor aufzubauen, Transparenz zu verwirklichen,ökologische und soziale Mindeststandards zu verwirkli-chen, Rohstoffkonflikte einzudämmen und Ressourcen-nutzung zu verbessern.

Rohstoffeinnahmen bieten rohstoffreichen Ländernein erhebliches Potenzial für deren nachhaltige Wirt-schaftsentwicklung. Diese Einnahmen müssen in Steu-ern, in ein eigenes Finanzsystem der Entwicklungsländerfließen und dürfen nicht außer Landes geschafft werden.Hierfür ist eine gute Regierungsführung unerlässlich.Transparenz bei Waren- und Zahlungsströmen ist eineVoraussetzung, um Korruption und einer ungerechtenEinnahmenverteilung entgegenzuwirken. Die deutscheEntwicklungspolitik unterstützt dies unter anderem überdie Extractive Industries Transparency Initiative, EITI.

Zu Protokoll gegebene Reden

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13554 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Joachim Günther (Plauen)

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Hinsichtlich der sich verändernden Situation auf denRohstoffmärkten beabsichtigt die Bundesregierung,auch Maßnahmen der Wirtschaft zur Diversifizierungvon Rohstoffbezugsquellen durch Rohstoffpartnerschaf-ten zu unterstützen. Darin soll auch die Entwicklungszu-sammenarbeit zum Tragen kommen. In ausgewähltenrohstoffreichen Entwicklungs- und Schwellenländernsollen Außenpolitik, Entwicklungszusammenarbeit unddie Außenwirtschaftsinstrumente des BMWi die Bemü-hungen der Wirtschaft zur Rohstoffsicherung flankieren.Dabei bleibt die EZ der Bundesregierung dem Ziel einerWelt ohne Armut, gewaltsame Konflikte und ökologischeZerstörung verpflichtet.

Auch bei den Rohstoffpartnerschaften liegt der Ak-zent auf der Gegenseitigkeit. Es geht nicht einseitig da-rum, sich Bezugsquellen zu sichern, sondern es werdenauf der anderen Seite zum Beispiel durch die verarbei-tende Industrie Arbeitsplätze geschaffen und damit dieArmut bekämpft. Armut schafft man nicht durch reineTransferleistungen aus der Welt! Das hat die rote Ent-wicklungspolitik vergangener Jahrzehnte deutlich ge-zeigt.

Und vor allem die Linken meinen, sich auch in derEntwicklungshilfepolitik als Gutmenschen profilieren zumüssen. Schade nur, dass sie sich überall da, wo sieselbst in der Regierungsverantwortung stehen, als dasglatte Gegenteil davon erweisen. Ob im kommunisti-schen China, in Nordkorea oder in Kuba, von der Wah-rung der Menschenrechte, die in dem Antrag angemahntwird, keine Spur! Vielleicht sollten die Linken erst malbei ihren Gesinnungsgenossen dafür sorgen, dass Men-schenrechtsstandards eingehalten werden, bevor sie an-fangen, der Bundesregierung in dieser Frage wegwei-sende Hinweise zu geben. Die FDP-Bundestagsfraktionlehnt diesen Antrag ab.

Heike Hänsel (DIE LINKE): In der Rohstoffanhörung des Entwicklungsausschus-

ses vor vier Wochen haben wir gehört, wie in den Län-dern des Südens die europäischen Rohstoffinteressen ge-gen die Lebensinteressen der lokalen Bevölkerungdurchgesetzt werden. Der Sachverständige NouhoumKeita hat uns eindrucksvoll vom Kampf der Bewohne-rinnen und Bewohner von Falea in Mali gegen europäi-sche Rohstoffunternehmen berichtet, die ihre Gemeindeumpflügen wollen, um Uran zu fördern. Die Arbeitsbe-dingungen in den Uranminen sind für viele TausendMenschen tödlich durch das Einatmen hochgiftigenUranstaubs. Solche Beispiele gibt es überall auf derWelt. Und auch das wurde in der Anhörung deutlich:Diese Beispiele werden nicht seltener werden. Die Euro-päische Union und die Bundesregierung haben zur glo-balen Jagd nach Rohstoffen geblasen, überwiegendnach solchen, die in Entwicklungs- und Schwellenlän-dern lagern. Sie folgen damit den „Empfehlungen“ derGroßindustrie. Zwischen der Veröffentlichung der Roh-stoffstrategie des BDI und der der Bundesregierung la-gen gerade einmal vier Monate. Die Bundesregierungfolgt den BDI-Vorgaben fast aufs Wort. Auch bei derEntwicklung der EU-Rohstoffinitiative nahmen dieLobbyverbände erheblichen Einfluss. Entsprechend sind

die Strategien ausgerichtet, nämlich auf den uneinge-schränkten Zugriff auf die Rohstoffe in Drittländern.

Investitionsbeschränkungen in den Rohstoffländernsollen beseitigt werden. Exportzölle bei der Ausfuhr vonRohstoffen sollen fallen, Quoten sollen verboten werden.Dabei legt die Bundesregierung eine erstaunliche Kalt-schnäuzigkeit an den Tag. In Brüssel setzt sie sich beider Reform der EU-Handelspräferenzen dafür ein, dassnur noch solche Entwicklungsländer in das Präferenz-system aufgenommen werden, die bereit sind, den Roh-stoffhandel zu liberalisieren. Das Schlimme ist: Im Mo-ment sieht es so aus, als ob sich die Bundesregierung mitdiesem Standpunkt durchsetzt. Der Vorschlag der Kom-mission zur Reform geht leider in diese Richtung. Wirwerden uns damit nicht abfinden und viele Regierungen,Aktivistinnen und Aktivisten im Süden auch nicht.

Sie werden sich zunehmend Gehör verschaffen: weilsich Bürgerinnen und Bürger betroffener Regionen weh-ren, wie in Falea, und weil Regierungen, die mit der EUüber Handels- und Investitionsschutzabkommen verhan-deln, zunehmend selbstbewusster werden. Genau daswill die Bundesregierung trotz anderslautender Aussa-gen verhindern; deshalb versucht sie es nun mit Erpres-sung über ihre Handelspolitik.

Wenn nötig, wird der Zugriff auf Ressourcen mitKrieg erzwungen. Wir erleben das gerade in Libyen. DieNATO will dort kriegerisch einen Regime-Change her-beiführen. Wir haben die Bundesregierung dabei unter-stützt, dass sie sich bisher nicht am Krieg beteiligt hat.Noch besser wäre, sich aktiv für ein Ende der Bombar-dierungen einzusetzen, anstatt nun doch Bombenteile fürden Krieg zu liefern. Doch auch wenn die Bundesregie-rung in diesem Fall nicht direkt Krieg führt, der Bundes-verteidigungsminister hat es im Mai mit der Präsenta-tion der Verteidigungspolitischen Richtlinien ganzdeutlich gemacht: Die Sicherung des Zugriffs, des Han-dels und Transports von Rohstoffen soll künftig ganzselbstverständlich zu den Aufgaben der Bundeswehr ge-hören.

Der Rohstoffansatz der Bundesregierung ist in impe-rialer Manier eine einzige Drohung an die Länder desSüdens: Gebt eure Rohstoffe freiwillig her oder wir drü-cken euch wirtschaftlich die Luft ab. Oder: Es gibtKrieg. – Wir müssen uns aber an den Gedanken gewöh-nen: Es sind nicht „unsere“ Rohstoffe, die einfach in denfalschen Ländern lagern. Wir brauchen deshalb einenganz anderen Ansatz: Rohstoffhandel nur zu gerechtenPreisen und sozialökologischen Bedingungen, die nichtzulasten der Bevölkerung gehen. Zuallererst sind aberdie westlichen Industriestaaten aufgefordert, insgesamteine Verringerung des Rohstoffumsatzes zu erzielen, an-statt den Zugriff auf immer mehr Rohstoffe militärischabzusichern.

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist doch paradox: Gegenwärtig leben drei Viertel

der armen Bevölkerung in rohstoffreichen Entwick-lungsländern. Dabei verfügen diese Länder mit ihrenRohstoffvorkommen eigentlich über viel Entwicklungs-potenzial.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13555

Ute Koczy

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Die Frage, die uns umtreibt, ist: Warum gelingt es soselten, dieses Potenzial auch zu nutzen und den Roh-stoffreichtum in politische und sozioökonomische Ent-wicklungsprozesse für alle zu überführen?

Um dieses Parodox zu überwinden, muss sehr vielmehr geschehen. Vor allem aber wird eine gerechte undentwicklungsförderliche internationale Rohstoffpolitikgebraucht. Ziel: Rohstoffreiche Länder müssen ihrPotenzial nutzen. Und sie müssen es auch nutzen kön-nen.

Wir stellen fest, dass die aktuelle Rohstoffpolitik derBundesregierung den Handlungs- und Gestaltungsspiel-raum der Förderländer einschränkt. Im Vordergrundstehen Forderungen nach dem Abbau von Handels-hemmnissen und Wettbewerbsverzerrungen. Doch wirwissen aus der Erfahrung, dass eine solche Liberalisie-rung Entwicklungsländer auch der Möglichkeit beraubt,Rohstoffexporte und Investitionen im Rohstoffsektor imSinne der Entwicklung ihres Landes zu steuern. Diesesfundamentale Problem wird auch durch die begleitendenentwicklungspolitischen Maßnahmen, welche in derRohstoffstrategie ja ebenfalls genannt werden, nicht ab-gemildert. Schwarz-Gelb setzt in der Rohstoffpolitik ein-seitig auf Rohstoffsicherung, Wirtschaftsinteressen wer-den gegen nachhaltige Entwicklung ausgespielt.

Damit steht der Ansatz der Bundesregierung in fun-damentalem Widerspruch zu den Leitlinien unserer Roh-stoffpolitik: Wir setzen auf Gerechtigkeit und Entwick-lungschancen für die Förderländer. Das heißt für unseinerseits: Wir müssen unseren Rohstoffverbrauch dras-tisch reduzieren und auf eine nachhaltige, effiziente undinnovative Grundlage stellen. Andererseits zielt unserAnsatz auf eine nachhaltige Rohstoffgovernance. Wirwollen Länder dabei unterstützen, ihr Potenzial zu nut-zen. Der Aufbau von Kapazitäten ist hierfür entschei-dend: Rohstoffreiche Länder müssen in die Lage versetztwerden, transparente Verträge im Interesse des Landesauszuhandeln. Verbindliche und substanzielle Standardsfür Abbau, Weiterverarbeitung und Export müssen im-plementiert und ihre Einhaltung überwacht werden. DerAufbau von Wertschöpfungsketten birgt außerdem dieChance, dass zunehmend Wertschöpfung in den Abbau-ländern stattfindet.

Zum Antrag der Linken: Viele dieser Punkte findensich auch in Ihrem Antrag wieder. So zeigen Sie diehochproblematischen Auswirkungen des aktuellen An-satzes von Schwarz-Gelb und der EU auf rohstoffreicheEntwicklungsländer auf. Hier teilen wir Ihre Analyse inweiten Teilen. Denn im Hinblick auf die berechtigten In-teressen der Entwicklungsländer gilt sowohl für dieStrategie der Bundesregierung als auch der EU: Fehl-anzeige! Die Perspektive der Menschen vor Ort bleibtaußen vor.

Auch wir setzen auf die Unabhängigkeit von fossilenEnergieträgern und auf eine dezentrale und verbrau-chernahe Gewinnung regenerativer Energien. Auch wirsetzen in der Rohstoffpolitik auf einen inklusiven Pro-zess, auf die Einbeziehung der Partnerinnen und Part-ner in den Entwicklungsländern sowie der Zivilgesell-

schaft vor Ort und hier bei uns in Deutschland. Dassteht außer Frage.

Nach konkreten Lösungsvorschlägen oder Alternati-ven sucht man in Ihrem Antrag allerdings vergebens. Soplädieren Sie dafür, das Konzept der Rohstoffpartner-schaften fallen zu lassen und die Rohstoffstrategie zu-rückzuziehen. Da machen Sie es sich aber zu einfach.Solche Forderungen lassen sich leicht aufstellen, aberohne ein Alternativkonzept ist das nicht hilfreich. Dennrichtig gehandhabt, also als gleichberechtigte Partner-schaft auf Augenhöhe, ließen sich Rohstoffpartnerschaf-ten beispielsweise zur Unterstützung für den Aufbau ei-nes funktionierenden Staatswesens, einer nachhaltigenInfrastruktur und eines guten Sozial- und Bildungssys-tems nutzen.

Außerdem ignorieren Sie den aktuellen Stand derRohstoffdebatte: Weder der Dodd-Frank-Act aus denUSA für mehr Transparenz und Kontrolle noch Forde-rungen nach Vertragstransparenz finden sich in IhremAntrag wieder. Auch auf die wichtige Rolle der Rohstoff-unternehmen und deren Verantwortung gehen Sie mitkeinem Wort ein.

Weit auseinander liegen wir im Hinblick auf IhreAnalyse zu den Kriegen im Irak, in Afghanistan und inLibyen. Diese als reine Rohstoffkriege zu deklarieren, istzu kurz gedacht und schlichtweg falsch.

Aus all diesen Gründen lehnen wir Ihren Antrag ab.Wir wollen eine substanzielle Diskussion, und wir wol-len machbare Ansätze diskutieren. Leider greifen ihreVorschläge hier zu kurz.

Vizepräsident Eduard Oswald:Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/6153 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Alle sind damiteinverstanden; Widerspruch erhebt sich nicht. Dann istdie Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Um-setzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Än-derung steuerlicher Vorschriften (Beitreibungs-richtlinie-Umsetzungsgesetz – BeitrRLUmsG)

– Drucksache 17/6263 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-ginnen und Kollegen liegen hier bei uns vor. Damit ist esso vereinbart.

Olav Gutting (CDU/CSU): Wir beraten heute in erster Lesung das Beitreibungs-

richtlinie-Umsetzungsgesetz. Mit dem vorliegenden Ge-setzentwurf soll zuallererst die EU-Richtlinie über die

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13556 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Olav Gutting

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Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezugauf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnah-men in unser nationales Recht transformiert werden.Die Neuerungen durch die Beitreibungsrichtlinie hebtdie bisherigen Begrenzungen im Anwendungsbereichder Amtshilfeersuchen auf und erweitert diese.

Um das System der Amtshilfe effektiver zu gestalten,wird der Geltungsbereich der Amtshilfe erweitert. Ne-ben einer Verbesserung des Informationsaustauschswird das Zustellungsverfahren vereinfacht und ein wirk-sameres Beitreibungs- und Sicherungsverfahrens ge-schaffen. Neben der europarechtlich vorgeschriebenenUmsetzungspflicht der Beitreibungsrichtlinie soll mitdem vorliegenden Gesetz gleichzeitig auch notwendigerund unaufschiebbarer steuerlicher Änderungsbedarf ineinigen Bereichen des Steuerrechts umgesetzt werden.

Die steuerrechtlich notwendigen Änderungsmaßnah-men betreffen neben der bedeutsamen Ablösung der ein-führenden Vorschriften zur Bildung und Anwendung derelektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale, ELStAM,eine Vielzahl von steuerlichen Regelungsbereichen, so-dass man bereits von einem abgespeckten Jahressteuer-gesetz sprechen kann. Bedeutsam ist, dass wir mit demvorliegenden Gesetz eine Steuerfreiheit für Sozialver-sicherungsrenten für Verfolgte der nationalsozialis-tischen Gewaltherrschaft einführen wollen. Mit dieserRegelung schaffen wir eine Kompensation für entstan-dene Nachteile für die Verfolgten in der Alterssicherung.

Auch bei der Riester-Förderung gibt es Nachbesse-rungsbedarf. Wir wollen künftig ungewollte Rückerstat-tungsfälle – wie in der jüngsten Vergangenheit aufgrundeines Wechsels des Zulagestatus geschehen – vermeiden.Um zukünftig wenigstens mittelbar zulagenberechtigt zusein, muss der mittelbar Zulagenberechtigte einen eige-nen jährlichen Mindestbeitrags von 60 Euro zahlen.

Besonders hervorzuheben ist ebenfalls, dass wir einautomatisiertes Verfahren für den Kirchensteuerabzugbei abgeltend besteuerten Kapitalerträgen einführenwollen. Bisher gab es ein Wahlrecht, ob die Kirchensteu-erbeträge durch die Kreditinstitute einbehalten oder imVeranlagungsverfahren festgesetzt werden. Nunmehrsollen die Kreditinstitute den Kirchensteuereinbehaltstets selbst vornehmen und somit die Kirchensteuer zeit-nah erfassen und sichern. Anschließend werden diese di-rekt monatlich an das zuständige Finanzamt abgeführt,welches die Kirchensteuer an die betreffende Religions-gemeinschaften zuweist.

Ein wesentliches Element des vorliegenden Gesetzesist die ab dem Jahr 2012 flächendeckende Anwendungder elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale. Wirstellen damit endgültig die Weichen für eine umfassendeModernisierung des Lohsteuerabzugsverfahrens. JederBürger hat es Anfang 2011 gemerkt: Seit diesem Jahrstellen die Gemeinden keine Lohnsteuerkarten mehraus. Die Einführung der elektronischen Lohnsteuer-merkmale und der damit verbundene Wegfall von circa40 Millionen Papierlohnsteuerkarten führt nicht nur zueiner bürokratischen Entlastung beim Bürger, sondernauch in der Finanzverwaltung.

Ab diesem Jahr ist alleine die Finanzverwaltung mitder Bildung der Lohnsteuerabzugsmerkmale und die Be-reitstellung für den Abruf durch den Arbeitgeber zustän-dig. Zukünftig können entweder der Arbeitnehmer oderim Regelfall der Arbeitgeber die erstmalige Bildung derLohnsteuerabzugsmerkmale durch Anfrage beim Fi-nanzamt veranlassen. Dem Arbeitgeber steht dabei einelektronisches Verfahren zur Verfügung. Die Neufassungder Regelungen zu den elektronischen Lohnsteuerab-zugsmerkmalen vermeidet unnötige Schnittstellen undsomit Fehlerquellen zwischen den Übertragungsmedienund trägt bedeutend zur Entbürokratisierung bei.

Während die längst bei Arbeitgebern und Finanzäm-tern elektronisch gespeicherten lohnsteuerlichen Datenauf die Papierlohnsteuerkarte eingetragen werdenmussten, können diese nunmehr maschinell verwertbarzum Lohnsteuerabzug zur Verfügung gestellt werden. Al-lerdings wurden hinsichtlich der elektronischen Lohn-steuerabzugsmerkmale bereits bei den Beratungen zumJahressteuergesetz 2008 vielfach datenschutzrechtlicheBedenken geäußert. Wir sollten daher das Authentifizie-rungsverfahren der Arbeitgeber bei den zukünftigen Be-ratungen nochmals einer Prüfung unterziehen. Die Bür-ger haben einen Anspruch darauf, dass ihre Daten nurberechtigten Personen zur Verfügung gestellt werden.Dies werden wir sicherstellen.

Ich freue mich auf gute Beratungen.

Antje Tillmann (CDU/CSU): Da es in diesem Jahr kein Jahressteuergesetz geben

wird, nutzen wir das Umsetzungsgesetz zur Beitrei-bungsrichtlinie, um notwendig gewordene Änderungendes Steuerrechts vorzunehmen und an der einen oder an-deren Stelle neu zu justieren.

Erstes Beispiel: ELStAM. Das Steuervereinfachungsge-setz wurde in der vergangenen Sitzungswoche beschlos-sen. Wir hatten angekündigt, mit der Steuervereinfachungnahtlos weiterzumachen. Mit dem Umsetzungsgesetz zurBeitreibungsrichtlinie folgt nun der zweite Schritt.

Ein Beispiel ist das Verfahren der elektronischenLohnsteuerabzugsmerkmale, ELStAM. Die letzten Lohn-steuerkarten aus Pappe tragen das Jahr 2010.

Bereits mit dem Jahressteuergesetz 2008 wurdebeschlossen, die elektronischen Lohnsteuerabzugs-merkmale einzuführen und damit die Erhebung derLohnsteuer künftig nur noch im Rahmen eines automa-tionsgestützten Steuerabzugsverfahrens durchzuführen.Damit haben wir einen nicht unerheblichen Umstel-lungsprozess in Gang gesetzt. Seit diesem Jahr bei-spielsweise sind nicht mehr die Kommunen, sondern dieWohnsitzfinanzämter der Arbeitnehmer für die lohnsteu-erlichen Abzugsmerkmale zuständig.

Wir gehen damit einen entscheidenden Schritt weiterauf dem Pfad des Bürokratieabbaus. Mit dem heutigenGesetzgebungsverfahren wird das Lohnsteuerabzugs-verfahren künftig bedeutend einfacher sowohl auf Ar-beitgeber- als auch auf Arbeitnehmerseite und für dieFinanzverwaltung. Medienbrüche bei der Übertragungelektronisch gespeicherter Daten auf die Lohnsteuer-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13557

Antje Tillmann

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karte wird es nicht mehr geben, Lohnsteuerabzugsmerk-male und deren Änderungen wird die Verwaltung Arbeit-gebern elektronisch übermitteln. Für den Arbeitnehmerwird es einfacher, weil in steuerlichen Fragen künftigausschließlich das zuständige Finanzamt sein Ansprech-partner sein wird.

Zu einer Steuervereinfachung gehört für uns aberauch, dass der Steuerberater oder Lohnsteuerhilfevereinauf die in der ELStAM-Datenbank gespeicherten Datenseines Mandanten zugreifen kann. Es geht darum, denBeratern, die den Arbeitnehmer in vielen Fällen ganz-jährig nicht nur bei der Einkommensteuererklärung be-gleiten, den gleichen Zugang zu den Arbeitnehmerdatenzu gewähren wie dem Arbeitgeber. Zu einer qualifizier-ten Beratung in Steuerfragen gehört auch die Kontrolleder für die Beratung erheblichen Daten des Steuer-pflichtigen. Dies sollte dann aber nicht an der techni-schen Umsetzbarkeit scheitern. Wie hier noch Verbesse-rungen möglich sind, werden wir in der kommendenAnhörung beraten.

Zweites Beispiel: Kirchensteuerabzug. Wir vereinfa-chen das Verfahren des Kirchensteuerabzugs bei Kapi-talerträgen. Hierdurch verbessert sich für die Kirchendie Situation enorm. Das Kreditinstitut fragt künftigbeim Bundeszentralamt für Steuern den Kirchensteuer-satz des Steuerpflichtigen ab und führt die Kirchensteuerzusammen mit der Abgeltungsteuer an das Finanzamtab. Das Steueraufkommen der Kirchen wird durch die-ses automatische Verfahren zeitnah erfasst und gesi-chert. Je nach Bundesland zahlen die Kirchen für die zü-gige Bearbeitung und Weitergabe der Kirchensteuer unddie damit genutzte staatliche Infrastruktur seit jeher Ge-bühren in Höhe von 2 bis 4 Prozent ihres Steueraufkom-mens an den Fiskus.

Für den Steuerbürger hat das Verfahren den Vorteil,dass das Kreditinstitut zur Abführung der Kirchensteuerdie Religionszugehörigkeit nicht mehr abfragen muss.Dadurch entfällt in vielen Fällen der Ärger, mangels An-gabe der Religionszugehörigkeit oder wegen nichtrechtzeitiger Angabe vor Beginn des Veranlagungszeit-raums abgeltend besteuerte Kapitaleinkünfte später un-ter erheblichem Zeitaufwand doch in der Steuererklä-rung angeben zu müssen. Darüber hinaus besteht auchkeine Veranlassung für das Kreditinstitut, die konkreteReligionszugehörigkeit des Steuerpflichtigen zu erfah-ren.

Drittes Beispiel: Kindergeld beim Bundesfreiwilli-gendienst. Im Rahmen von Kinderfreibeträgen und Kin-dergeld wird im Gesetzentwurf der Katalog der Freiwil-ligendienste um den in diesem Jahr gestartetenInternationalen Freiwilligendienst erweitert. Rückwir-kend ab Januar können Teilnehmer an diesen Freiwilli-gendiensten bei Vorliegen der übrigen gesetzlichen Vo-raussetzungen wie während des Freiwilligen Sozialenoder Ökologischen Jahres Kindergeld erhalten. Eineentsprechende Regelung für Teilnehmer des neuen, abmorgen geltenden Bundesfreiwilligendienstes ist im Re-gierungsentwurf bislang noch nicht vorgesehen, von denKoalitionsfraktionen aber gewünscht. Deshalb werdenwir einen Änderungsantrag einbringen, der die Zahlung

von Kindergeld ab Juli ermöglichen wird. Die Finanz-verwaltung hat bereits klargestellt, dass Teilnehmerndes Bundesfreiwilligendienstes unter 25 Jahren bis zurSchaffung einer endgültigen rechtlichen Grundlage aufunbürokratischem Weg vorläufig Kindergeld ausgezahltwird.

Viertes Beispiel: Verlängerung der Ist-Besteuerung.Am 31. Dezember dieses Jahres droht eine Erleichte-rung auszulaufen, die als Folge der weltweiten Finanz-und Wirtschaftskrise mittelständischen Unternehmenbundesweit gewährt worden ist und einen signifikantenBeitrag zur Liquiditätssicherung leistet: Die Möglich-keit der Ist-Besteuerung würde ab 2012 vielen mittel-ständischen Unternehmen nicht mehr zur Verfügung ste-hen. Mit der Ist-Besteuerung haben Unternehmen dieMöglichkeit, die Umsatzsteuer erst nach Begleichungder Rechnung durch den Leistungsempfänger ans Fi-nanzamt abzuführen. Liefe die jetzige Regelung aus,würde die Grenze bundesweit von 500 000 Euro auf250 000 Euro zurückfallen. Bei der dann geltenden Soll-Besteuerung erhält das Finanzamt die Steuer bereits beiLeistungserbringung. Der Unternehmer muss also inVorleistung treten und riskiert dabei seine gerade beikleinen Unternehmen oft lebenswichtige Liquidität.

Es ist sehr erfreulich, dass sich die Bundesregierungentsprechend dem Hinweis des Bundesrats positionierthat und die dauerhafte Verlängerung der geltenden Um-satzgrenze über das Jahr 2011 hinaus befürwortet. An-dernfalls wäre die 2007 erfolgte Anhebung der Grenzeder Buchführungspflicht auf einen Umsatz von mehr als500 000 Euro Makulatur. Die dadurch erreichten Ein-sparungen an Bürokratiekosten in den Unternehmenwürden in ihr Gegenteil verkehrt, wenn die Unterneh-men wegen einer Absenkung der Ist-Besteuerungsgrenzebei der Umsatzsteuer doch gezwungen wären, eineBuchführung zu installieren.

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird in ihrer ers-ten Sitzung nach der Sommerpause einen entsprechen-den Vorstoß erarbeiten, sodass sichergestellt ist, dassdas Gesetzgebungsverfahren rechtzeitig vor Ende 2011abgeschlossen sein wird.

Fünftes Beispiel: Insolvenzordnung/Aufrechnung. Zubegrüßen ist die Stellungnahme des Bundesrats zum In-solvenzrecht, mit der eine Klarstellung im Gesetz ange-regt wird. Bislang war eine Aufrechnung zwischen Vor-steuerforderungen und Umsatzsteuerzahllasten einesinsolventen Unternehmens möglich. Durch eine aktuelleRechtsprechungsänderung wird dies nun infrage ge-stellt. Das hätte zum Ergebnis, dass ein Insolvenzver-walter mit dem Vorteil, Vorsteuer geltend machen zukönnen, Umsatzsteuer aber nicht abführen zu müssen,Waren und Dienstleistungen 19 Prozent billiger als eingesundes Konkurrenzunternehmen anbieten könnte.Eine Gesundung auf dem Rücken von Wettbewerbernkann aber nicht gewollt sein und würde schlimmstenfallszu einer wirtschaftlichen Bedrängnis des gesunden Un-ternehmens führen. Auch die Sanierung von Unterneh-men muss unter fairen Wettbewerbsbedingungen gesche-hen.

Zu Protokoll gegebene Reden

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13558 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Antje Tillmann

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Neben diesen näher beschriebenen Veränderungenwird es auch beim Bewertungsverfahren, bei der Arbeit-nehmersparzulage und bei der steuerlich gefördertenAltersvorsorge Diskussionen geben. Die noch zu be-schließende Anhörung wird sicherlich noch zu Verände-rungen des jetzigen Gesetzentwurfs führen.

Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Wir beraten heute in erster Lesung einen Entwurf der

Bundesregierung für ein Gesetz zur Umsetzung der Bei-treibungsrichtlinie und zur Änderung steuerlicher Vor-schriften. Der Titel des Regierungsentwurfs verschleiert,dass wir genau genommen eigentlich zwei Gesetze de-battieren, die inhaltlich auf den ersten Blick wenig mit-einander zu tun haben – auf den zweiten übrigens auchnicht.

Das Umsetzungsgesetz zur Anpassung der bestehen-den Regelungen zur Amtshilfe zwischen Finanzverwal-tungsbehörden innerhalb der EU bei Fragen der Beitrei-bung von Steuern und Abgaben umfasst Art. 1 desGesetzentwurfs; der Rest von Art. 2 bis Art. 22 ist quasiein Jahressteuergesetz 2011 in Verkleidung, das zahlrei-che Änderungen in unterschiedlichen Bereichen desSteuerrechts zusammenfasst und dabei auf europarecht-liche und innerstaatliche Entwicklungen, Entscheidun-gen der Finanzgerichtsbarkeit oder Anregungen aus derFinanzverwaltung eingeht und Anpassungen an sich än-dernde Rechtslagen vornimmt.

Angesichts des frühen Stadiums unserer Auseinan-dersetzung mit der Vielzahl der steuerrechtlichen undverwaltungsbezogenen Änderungen weise ich zunächstauf einige Sachverhalte und Fragen hin, die wir im Zu-sammenwirken mit Sachverständigen und den Fachbe-amten aus den Bundes- und Landesministerien genauprüfen werden.

Art. 1 des vorliegenden Gesetzes setzt die Richtlinieüber Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen inBezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstigeMaßnahmen, RL 2010/24/EU, in nationales Recht um.Die Richtlinie schafft auf mitgliedstaatlicher Ebene dieRechtsgrundlage für „alle für die Geltendmachung undEintreibung einer Forderung notwendigen Maßnahmen,insbesondere die Auskunftserteilung durch die ersuchteBehörde, die Zustellung aller relevanten Dokumente anden Forderungsschuldner, die Beitreibung der Forde-rung und das Ergreifen von Sicherungsmaßnahmen.“

Die neuen gesetzlichen Vorschriften sollen sicherstel-len, dass Amtshilfeverfahren zwischen Steuerverwaltun-gen aus unterschiedlichen EU-Mitgliedstaaten nicht anmangelnder Koordinierung zwischen Behörden und un-terschiedlichen Beitreibungsverfahren scheitern. Damitsoll es einfacher und schneller gehen, ausstehendeSchulden aus Steuern und Abgaben von Steuerpflichti-gen einzutreiben, die im Ausland wohnen. Oder andersausgedrückt: Die Frage, wo jemand in der Europäi-schen Union wohnt bzw. wo sein Einkommen entsteht,darf nicht darüber entscheiden, ob er seine Steuerschuldin Deutschland pünktlich und vollständig begleicht. Lü-cken im Steuervollzug, von denen einige profitieren, ge-hen zulasten aller anderen Steuerzahler – ein wichtiger

Bewertungsmaßstab, wenn es um die Gerechtigkeit undAkzeptanz unseres Steuersystems geht.

Die Regelungen gehen dabei über die bisherigeRechtslage des EG-Beitreibungsgesetzes hinaus und sol-len den Informationsaustausch zwischen den beteiligtenBehörden verbessern, das Zustellungsverfahren verein-fachen und ein wirksameres Beitreibungs- und Siche-rungsverfahren einrichten.

Der bislang eingeschränkte Anwendungsbereich derAmtshilfe wird erweitert. Künftig soll bei allen Steuernund Abgaben sowie bei Nebenforderungen, das heißtZinsforderungen, Gebühren, Geldbußen und Kosten, diedamit verbunden sind, Amtshilfe geleistet werden.Ebenso werden alle juristischen und natürlichen Perso-nen erfasst. Ausgenommen bleiben lediglich Sozialversi-cherungsbeiträge und vertragliche Gebühren.

Das Umsetzungsgesetz schafft die Rechtsgrundlagefür den Auskunftsaustausch zu Steuererstattungen ohneErsuchen; wir denken an dieser Stelle an die Weiterent-wicklung der europäischen Zinsbesteuerungsrichtlinie,die Erweiterung des sachlichen und personenbezogenenAnwendungsbereichs und insbesondere an den Über-gang zum automatischen Informationsaustausch zwi-schen Steuerbehörden – wichtige Forderungen, die da-bei helfen, die Besteuerungsgrundlagen zu sichern undweitere Steuerschlupflöcher in grenzüberschreitendenZusammenhängen zu schließen, und die ohne die Ar-beiten der ehemaligen Finanzminister Steinbrück undEichel nicht denkbar wären.

In diese Richtung wirken auch weitere Regelungendes neuen Umsetzungsgesetzes, etwa die Möglichkeitzur Teilnahme ausländischer Finanzverwaltungen anbehördlichen Ermittlungen und die Verpflichtung zurErteilung von Auskünften, die für die Beitreibung vo-raussichtlich erforderlich sind. Mit der Umsetzung derentsprechenden Regelung des Art. 26 des OECD-Mus-terabkommens zum Informationsaustausch in Besteue-rungsverfahren wird es für unsere Finanzverwaltungwesentlich einfacher, ihre Auskunftsersuchen gegenüberanderen Behörden im Ausland zu begründen und rechts-sicher auszugestalten. Ein Amtshilfeersuchen darf künf-tig schon dann gestellt werden, wenn das inländischeBeitreibungsverfahren noch nicht ausgeschöpft ist, dasheißt nicht erst als Ultima Ratio am Ende einer zeitauf-wendigen Kette von Beitreibungsversuchen.

Die technische und administrative Ausgestaltung derzwischenstaatlichen Amtshilfe wirft einige Fragen auf.Dazu gehört etwa die Übertragung der zentralen Zu-ständigkeit für die Verteilung auswärtiger Amtshilfeer-suchen auf die jeweiligen Länderfinanzverwaltungen,auf das Bundesfinanzministerium ebenso wie für Aus-kunftsersuchen inländischer Behörden gegenüber ande-ren Mitgliedstaaten. Dazu gehören die Einrichtung undEinhaltung europaweit einheitlicher Rechtsschutzrege-lungen für die betroffenen Steuerpflichtigen. Außerdemgehören dazu die Praktikabilität der angestrebten Ver-einfachung der Datenkommunikation zwischen den Be-hörden durch die elektronische Übermittlung von stan-dardisierten Formblättern und die Einführung eines

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13559

Lothar Binding (Heidelberg)

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einheitlichen Vollstreckungstitels im Zusammenhang mitoffenen Forderungen.

Der zweite, umfangreichere Teil des Gesetzes enthältsteuerrechtliche Regelungen aus unterschiedlichen Be-reichen. Ich will mich in meinen Betrachtungen auf dreiAspekte konzentrieren.

Die Regelungen des elektronischen Lohnsteuerab-zugsverfahrens werden überarbeitet; an die Stelle dereinführenden Vorschriften zur Bildung und Anwendungder elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale tretendie Regelungen für das dauerhafte Verfahren. Im Rah-men der parlamentarischen Beratungen haben wir hof-fentlich die Gelegenheit, datenschutzrechtliche Aspektedes Aufbaus und der Nutzung der Datenbank, der Aus-gestaltung des Verfahrens beim Datenabruf und Arbeits-platzwechsel sowie Fragen nach den Auswirkungen desÜbergangs der Zuständigkeit von der Wohnortgemeindeauf das Finanzamt zu erörtern. Insbesondere der letztge-nannte Aspekt bereitet vielen Steuerberatern und Lohn-steuerhelfern Kopfzerbrechen, da die Einsichtnahme inpersönliche Daten künftig nur noch dem Steuerpflichti-gen selbst auf elektronischem Weg möglich sein soll,nicht allerdings den steuerberatenden Berufen – eineRegelung, die ihnen die Arbeit erschwert und sich fürden Steuerpflichtigen als Nachteil herausstellen kann.

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht im Be-reich der staatlichen geförderten privaten Alters-vorsorge vor, dass bisher mittelbar zulageberechtigtePersonen, die etwa wegen Berücksichtigung von Kin-dererziehungszeiten unmittelbar zulageberechtigt wer-den, künftig für jedes Beitragsjahr den Mindestbeitragleisten, der für den Erhalt der ungekürzten Zulage erfor-derlich ist. Diese Regelung soll ab dem Beitragsjahr2012 gelten. Damit soll sichergestellt werden, dass künf-tig Rückforderungen zu Unrecht erhaltener Altersvor-sorgezulagen, die aufgrund eines Wechsel des Zulagen-status ausbezahlt worden waren und im Zuge einerÜberprüfung der Erfüllung der Fördervoraussetzungenaufgedeckt werden, vermieden werden können. Die Re-gierung greift dabei Fälle auf, in denen Personen, diewährend Kindererziehungszeiten der gesetzlichen Ren-tenversicherungspflicht unterliegen, in den ersten dreiLebensjahren des Kindes unmittelbar zulageberechtigtwurden und aus Unkenntnis über die Auswirkungen inihrem Zulagenstatus keine eigenen Beiträge entrichtethaben.

Wir werden in den Ausschussberatungen im Finanz-ausschuss die Konstruktion der einzurichtenden vo-rübergehenden, auf zwei Jahre begrenzten, Nachent-richtungsmöglichkeit genauer prüfen; insbesondere, obdurch die rückwirkende Leistung von Altersvorsorgebei-trägen zur Sicherung bereits erhaltener Zulagen starkefinanzielle Belastungen des Anlegers induziert werden,die aus der Kumulation von Nachentrichtungsbeiträgenfür mehrere Jahre entstehen können.

Schließlich führt der Gesetzentwurf der Bundesregie-rung – in Reaktion auf eine Entscheidung des Europäi-schen Gerichtshofs – im Erbschaft- und Schenkungsteu-errecht ein Antragsrecht für Personen ein, die imAusland leben und daher nur der beschränkten Steuer-

pflicht unterliegen. Wenn sie eine Erbschaft oder Schen-kung in Deutschland erhalten, etwa ein Grundstück oderAnteile an einem Unternehmen, können sie den Antragstellen, dass der Vermögensanfall nach den Regeln derunbeschränkten Steuerpflicht erfasst wird. Ihr Vorteil:Der Freibetrag auf die Steuerbemessungsgrundlage er-höht sich deutlich von 2 000 Euro – für beschränkt Steu-erpflichtige – auf zwischen 20 000 Euro – Steuerklasse IIund III – und 500 000 Euro – Ehegatten und Lebenspart-ner –, und zwar in Abhängigkeit vom Verwandtschafts-grad zwischen Erblasser und Erbe bzw. Schenker undBeschenktem.

Um steuergestalterische „Rosinenpickerei“ zu unter-binden, gilt das Antragsrecht nicht allein für den Frei-betrag. Vielmehr unterliegt dann der gesamte in- undausländische Erwerb nach dem Welteinkommensprinzipder unbeschränkten Steuerpflicht in Deutschland, undnicht nur der begrenzte Teil mit qualifiziertem Inlands-bezug – das übertragene Grundstück, das vererbte Be-triebsvermögen, die Anteile an Kapitalgesellschaften –,wie es das Erbschaftsteuerrecht eigentlich für be-schränkt Steuerpflichtige vorsieht. Künftig gehen dannbeispielsweise auch Bankguthaben, Wertgegenständeoder nicht grundpfandrechtlich besicherte Forderungenin die Bemessungsgrundlage ein.

Die Gewährung höherer Freibeträge soll also durcheine Erweiterung der Bemessungsgrundlage und desAnwendungsbereichs kompensiert werden, um eineSchlechterstellung unbeschränkt Steuerpflichtiger ge-genüber beschränkt Steuerpflichtigen zu verhindern.Ohne diese Regelung käme es in den meisten Fällen be-schränkter Steuerpflicht dazu, dass der erheblich höhereFreibetrag angesichts des deutlich geringeren Vermö-gensumfangs den gesamten Erwerb steuerfrei stellenwürde. Zur Vermeidung von Gestaltungen – Stückelungder Schenkung – soll eine Zusammenrechnung von Er-werben innerhalb von zehn Jahren vor und nach demVermögensanfall erfolgen.

Angesichts des nachlässigen Umgangs der Bundesre-gierung mit Problemen im Bereich der Steuergestaltun-gen, etwa der Abgrenzung von Betriebs- und Verwal-tungsvermögen, und angesichts der Tatsache, dass dieBundesländer zur Haushaltskonsolidierung eigentlichauf die Einnahmen aus der Erbschaft- und Schenkung-steuer dringend angewiesen sind, können die Ausschuss-beratungen hoffentlich Aufschluss über die Zahl der zuerwartenden Fälle, die fiskalischen Auswirkungen undinsbesondere die Angemessenheit der Schutzvorkehrun-gen gegen missbräuchliche Gestaltungsmöglichkeitengeben.

Wir vertrauen auf die Expertise von Sachverständi-gen und Ministerialbürokratie und die Kooperationsbe-reitschaft der Koalitionsfraktionen, um zu guten steuer-rechtlichen Regelungen zu kommen.

Frank Schäffler (FDP): Das Bundesfinanzministerium hat den Entwurf eines

Gesetzes zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie vor-gelegt. Dabei handelt es sich um ein Artikelgesetz, dasim Wesentlichen drei Regelungsbereiche umfasst.

Zu Protokoll gegebene Reden

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13560 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Frank Schäffler

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Zum einen wird die europäische Richtlinie 2010/24/EU über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forde-rungen in Bezug auf bestimmte Steuern und Abgabendurch ein nationales Gesetz umgesetzt. Die Richtlinie istgemäß Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie vor dem 31. Dezem-ber 2011 umzusetzen. Sie verbessert die Möglichkeitender Mitgliedstaaten, Amtshilfe bei der Beitreibung vonForderungen in Bezug auf Steuern und Abgaben zu er-langen. Zum anderen will das Finanzministerium ein„völlig unbürokratisches“ Verfahren schaffen, mit demRiester-Anlegern geholfen wird, die ohne böse Absichtstaatliche Zulagen erhalten haben, ohne die Anspruchs-voraussetzungen zu erfüllen. Schließlich wird das Lohn-steuerabzugsverfahren neu geregelt, um den Anforde-rungen an die Erhebung der Lohnsteuer mithilfe derelektronischen Lohnsteuerkarte nachzukommen.

Schon aus Gründen der Entlastung der Bürger vonunnötiger Bürokratie ist die Einführung der elektroni-schen Lohnsteuerabzugsmerkmale zu begrüßen. Unnö-tige Fehlerquellen zwischen den Übertragungsmedienwerden so vermieden. Nachzubessern ist jedoch beimDatenschutz. Die vorangegangene Einführung der Steu-eridentifikationsnummer ermöglicht einen automati-schen Datenaustausch zwischen den Arbeitgebern unddem Bundeszentralamt für Steuern. Der Steuerzahler er-hält weder Informationen darüber, wer welche Datenüber ihn abruft oder übermittelt, noch ist bisher konkretgeregelt, wie sichergestellt werden soll, dass keine Un-befugten die Daten erhalten. Eine Überarbeitung desAuthentifizierungsverfahrens der Arbeitgeber zum Abrufder elektronischen Lohnsteuermerkmale hält der Bundder Steuerzahler für unvermeidlich. Ebenso wie der Fi-nanzausschuss des Bundesrates in seiner Stellungnahmezum Jahressteuergesetz 2008 erachtet der Bund derSteuerzahler die Wirtschaftsidentifikationsnummer desArbeitgebers und die Steueridentifikationsnummer so-wie das Geburtsdatum des Arbeitnehmers zur Authenti-fizierung des Datentransfers für unzureichend.

Nachzubessern ist auch beim Entwurf des § 39 cAbs. 1 EStG. Solange keine elektronischen Lohnsteuer-abzugsmerkmale vorliegen, soll längstens für die Zeitvon drei Monaten trotzdem eine Besteuerung nach denvoraussichtlichen Lohnsteuerabzugsmerkmalen undnicht pauschal nach der Lohnsteuerklasse VI erfolgen.Sollte es Probleme bei der Einführung geben, so träfedies die Arbeitnehmer, die wegen einer falschen Steuer-klasse zu viel Steuern bezahlen müssten. Das würde kor-rigiert werden müssen, sobald die richtige Einstufungvorliegt. Die kurze Frist produziert nur übermäßige Bü-rokratie. Eine Verlängerung der Frist würde diese besei-tigen und nicht einmal zu Steuerausfällen führen.

Richtig ist der Wunsch des Bundesfinanzministe-riums, bei der Problematik von ungerechtfertigt ausge-zahlten Zulagen zur Riester-Rente eine unbürokratischeLösung zu suchen. Das Ministerium erklärt, betroffeneRiester-Sparer müssten lediglich die für die Vergangen-heit fälligen Beiträge nachzahlen und ihrem AnbieterBescheid geben, für welche Jahre diese Zahlungen be-stimmt seien. Um alles andere kümmere sich der Anbie-ter und die Zulagenstelle. Die Zulagenstelle werde dannautomatisch eine zwischenzeitlich zurückgeforderte Zu-

lage auf den Riester-Vertrag des Betroffenen zurückzah-len.

Der Wunsch des Ministeriums nach einer unbürokra-tischen Lösung ist richtig. Der Koalitionsvertrag siehtnichts anderes vor. Die Koalition hat dort vereinbart, diesteuerliche Förderung der Altersvorsorge zu entbüro-kratisieren und zu flexibilisieren. Alles andere als eineunbürokratische Lösung widerspräche dem. Für die be-troffenen Riester-Sparer wird dieses Ziel einer unbüro-kratischen Lösung auch wunderbar erreicht. Jedochmuss noch einmal geprüft werden, ob das auch auf derAnbieterseite der Fall ist. Auf den ersten Blick erscheintes fraglich, ob die Versicherungsbranche tatsächlich da-für ausgestattet ist, für mehrere Jahre rückwirkendeNachzahlungen von Altersvorsorgebeiträgen zu erhe-ben. Die Anbieter müssten geänderte Meldungen an dieZulagenstelle schicken. Erforderlich wäre wohl zudemeine Änderung der Datenverarbeitungssoftware. DieProblematik verschärft sich, da es bislang nur um feh-lende Eigenbeiträge in den Jahren von 2005 bis 2007geht. Wie sich das Problem in Bezug auf die Jahre 2008bis 2010 darstellt, ist noch offen.

Die jetzige Ausgestaltung bringt zwar eine unbüro-kratische Lösung aufseiten der Riester-Sparer, doch ver-schiebt sie die Bürokratielasten auf die Anbieterseite.Der bürokratische Aufwand ist kostenträchtig. Es ist si-cher möglich, einen Weg für eine nicht nur einseitig,sondern insgesamt unbürokratische Lösung zu finden.

Das im Koalitionsvertrag vereinbarte Ziel einer Fle-xibilisierung und Entbürokratisierung der Riester-Rentesollten wir im Hinblick auf das hier angegangene spezi-fische Problem nicht aus den Augen verlieren. Es gilt,den anspruchsberechtigten Personenkreis und die för-derbare Produktpalette zu erweitern. Deswegen ist esweiterhin unser Ziel, die Riester-Rente für Selbststän-dige zu öffnen. Auf Produktseite sollten Berufsunfähig-keitsversicherungen zulagefähig werden. Die Zulagesollte auch fürs Bildungssparen eingesetzt werden dür-fen. Wir können nicht wissen, welche Absicherungswün-sche in den jeweiligen Haushalten im Vordergrund ste-hen. Wir wissen aber, dass niemand besser darüberentscheiden kann als die Betroffenen. Diese sollten ei-genverantwortlich tätig werden und das jeweils opti-male Produkt auswählen dürfen. Das müssen wir er-möglichen.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Mit dem uns vorliegenden Gesetzentwurf der

Bundesregierung soll die EU-Richtlinie 2010/24/EUvom 16. März 2010 bis spätestens Ende 2012 in natio-nales Recht umgesetzt werden und das EG-Beitreibungsgesetz vom 13. Dezember 2007 ablösen.Der Gesetzentwurf sieht zahlreiche Änderungen in vie-len Bereichen wie dem Einkommensteuergesetz, demKörperschaftsteuergesetz, dem Bewertungsgesetz undauch im Erbschaftsteuer- und Schenkungsgesetz vor,jedoch hat eine Vielzahl der Regelungen mit derBeitreibung nichts zu tun.

Ein Ziel ist die gegenseitige Eintreibung von Steuernzwischen den EU-Mitgliedstaaten. In dem Gesetzent-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13561

Dr. Barbara Höll

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wurf sind auch einige interessante Passagen eingearbei-tet worden, beispielsweise die der Aufhebung der Sanie-rungsklausel.

Der Bundesrat hat sich ebenfalls umfassend zudiesem Gesetzentwurf geäußert und etlichen Korrektur-bedarf angemeldet. Im Rahmen der laufenden Beratun-gen, abschließende Beratung ist am 30. September 2011,werden wir uns noch auf zahlreiche Änderungen einstel-len müssen. Nun komme ich kurz zu einigen Punkten desGesetzentwurfes:

Ein erster Punkt, die Abschaffung derSanierungsklausel. Diese wurde im Rahmen desBürgerentlastungsgesetzes eingeführt und im Rahmendes Wachstumsbeschleunigungsgesetzes entfristet. Sieführte dazu, dass der Mantelkauf – Unternehmen kaufenandere Unternehmen auf, um mit deren Verlust sofort dieeigene Steuerlast für künftige Jahre zu reduzieren –wieder genutzt wurde. Die Kriterien zum Mantelkaufhielten wir aber schon damals nicht für streng genug,denn viele der aufgekauften Unternehmen wurden nichtweitergeführt. Obendrein, und das kritisierteletztendlich die EU-Kommission, wurde die Regelungentfristet. Sie leitete daraufhin ein Verfahren gegenDeutschland ein, mit der Konsequenz, das dieSanierungsklausel ab Mai 2010 nicht mehr angewendetwurde. Im Januar 2011 entschied die EU-Kommission,dass die Sanierungsklausel nicht im Einklang mit denRegeln für staatliche Beihilfen stehe.

Nun soll sie im Rahmen dieses Gesetzes wiederabgeschafft werden. Allerdings plant die Bundes-regierung parallel eine Nichtigkeitsklage gegen denBeschluss der EU-Kommission zu erheben. Im Falleeines Stattgebens der Klage würde das bedeuten, dasdie Sanierungsklausel für die Veranlagungszeiträume2008 bis 2010 wieder Anwendung finden würde, eineSteuervereinfachungsmaßnahme wäre das übrigensnicht. Des Weiteren forderte die EU-Kommission vonder Bundesregierung eine Liste der Begünstigten, die sieüber den Gesamtbetrag an zurückfordernder Beihilfe in-formiert. Nachdem uns die Bundesregierung sehrzögerlich Informationen gab, ist es mehr als fraglich, obdie Sanierungsklausel ihr eigentliches Ziel erfüllt, dennsie wurde kaum genutzt.

Ein zweiter Punkt, die Riester-Rente. Sie wollen mitder Regelung in Art. 2 Nr. 3 des Gesetzentwurfesverhindern, dass, wenn etwaige Statusveränderungenauftreten, die Zulageberechtigung für die Riester-Rentenicht wegfällt, indem Sie in § 10 a Abs. 3 Satz 2 des Ein-kommensteuergesetzes einen Mindestbetrag von 60 Euroeinfügen wollen. Praxisprobleme bestehen aber weiter-hin bei Sparern, die nicht rechtzeitig ihre Beitragsleis-tung anpassen können. Der Bundesrat weist darauf inseiner Stellungnahme hin und schlägt eine konkrete Än-derung vor. Hier müssen Sie noch korrigieren.

Ein dritter Punkt, das in Art. 11 des Gesetzentwurfesvorgesehene Wahlrecht bei der Erbschaftsteuer.Demnach will die Bundesregierung ein Antragsrechteinführen, wodurch beschränkt steuerpflichtigeErwerber, also diejenigen, die weder ihren Wohnsitznoch gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben,

aber dennoch Einkünfte aus dem Katalog der inländi-schen Einkünfte vorweisen können, sich durch Antragwie ein unbeschränkt Steuerpflichtiger behandeln lassenkönnen. Dadurch wären dann auch die deutlich höherenFreibeträge anwendbar, was bei einem Erbe oder einerSchenkung zu geringeren Steuern führen würde.

Diesen Vorschlag lehnen wir ab, denn er birgtUngerechtigkeiten in sich. Dadurch wird dieMöglichkeit eröffnet, dass sich die Erben die für siegünstigste Variante zurecht rechnen können, bei der sieam wenigsten Steuern zahlen. Auch zeigt dieser Vor-schlag wieder einmal, dass die Bundesregierung, wieder EuGH die Kapitalverkehrsfreiheit überbetonen, wel-che als Begründung vorgeschoben wird.

Neben diesen Punkten ließen sich weitere aufzählen.Im laufenden Beratungsverfahren wird sich noch einigesan Änderungen geben.

Meine Damen und Herren, viele Regelungen hättenSie auch in das Jahressteuergesetz packen können, aberdies, so scheint mir, wollen Sie durch künftige Steuerver-einfachungsgesetze ersetzen. Dieses Gesetz ist einRiesen-Omnibusgesetz, viele Regelungen haben mit demThema Beitreibung rein gar nichts zu tun. Sie nutzen dasGesetz einfach, um Ihre Dinge unterzubringen, dieeigentlich in ein Jahressteuergesetz gehören. Und daskann wohl kaum Sinn und Zweck sein.

Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Wir Grüne begrüßen vom Grundsatz her die Umset-zung der Beitreibungsrichtlinie. Die Erweiterung derAmtshilfe innerhalb der EU auf alle Steuern und Abga-ben ist sinnvoll und notwendig. Auch die Verbesserungdes Informationsaustausches zwischen den Steuerbe-diensteten in den einzelnen Mitgliedstaaten, die Vereinfa-chung des Zustellungsverfahrens und die Schaffung eineswirksameren Beitreibungs- und Sicherungsverfahrens istfür die Sicherung der Steuereinnahmen in Deutschlandwie auch bei den europäischen Partnern wichtig.

Wir sehen jedoch Verbesserungsbedarf in der prakti-schen Umsetzung in der Bundesrepublik im Bereich derZusammenarbeit europäischer Steuerbehörden. Sowurde 2010 ein Drittel aller Amtshilfeersuchen im Be-reich der Umsatzsteuer von den deutschen Behörden au-ßerhalb der vorgegebenen Dreimonatsfrist beantwortet.Die Bundesregierung ist also aufgefordert, auch ohneAnstoß der EU für weitere Verbesserungen im Bereichder gemeinschaftlichen Steuerbeitreibung zu sorgen undmit gutem Beispiel voranzugehen.

Das Gesetz enthält neben der Umsetzung der Beitrei-bungsrichtlinie eine Reihe weiterer steuerlicher Ände-rungen:

So nimmt die Bundesregierung die sogenannte Sanie-rungsklausel mit diesem Gesetz zurück. Anfang des Jah-res hatte die EU-Kommission die Sanierungsklausel fürunvereinbar mit den EU-Beihilferegeln erklärt. Die Sa-nierungsklausel besagt, dass eine Körperschaft trotz Be-teiligungserwerb zum Verlustvortrag berechtigt seinkann, wenn sie zum Zweck einer Sanierung erfolgt. Mit

Zu Protokoll gegebene Reden

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13562 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Dr. Thomas Gambke

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dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz Ende 2009 hattedie schwarz-gelbe Bundesregierung diese für die Krisekonzipierte Maßnahme entfristet und die Kommissions-entscheidung provoziert.

Wir Grüne hatten schon bei der Einführung der Sa-nierungsklausel im Juli 2009 kritisiert, dass die Beibe-haltung von Arbeitsplätzen nicht als zwingende Voraus-setzung für die Inanspruchnahme der Klausel enthaltenist. Dies muss jedoch ein wichtiges Motiv sein, um in Sa-nierungsfällen eine staatliche Unterstützung zu geben.Denn wenn im Wettbewerb Unternehmen scheitern,kann und darf der Staat im Prinzip nicht eingreifen.Deutschland hat im Übrigen hervorragende Instru-mente, vor allem die Regelungen zur Kurzarbeit, die esUnternehmen erlauben, Schwächephasen zu überstehen.

Laut Angaben der Bundesregierung wurde die Sanie-rungsklausel bisher auch eher in geringem Maße in An-spruch genommen: Für den Geltungszeitraum 2007 bis2009 gab es 40 Begünstigte mit einem Gesamtvolumenvon 1,78 Millionen Euro, heißt es in einer Antwort aufeine Kleine Anfrage der Linken. Das spricht für eineeher begrenzte Wirkung der Sanierungsklausel. Gleich-zeitig verspricht sich die Bundesregierung durch die Ab-schaffung der Sanierungsklausel steuerliche Mehrein-nahmen von 445 Millionen Euro pro Jahr. Bei dieserDiskrepanz der Zahlen muss das Bundesfinanzministe-rium dringend Aufklärungsarbeit leisten.

Es ist richtig, dass die Sanierungsklausel aus demUnternehmensteuerrecht gestrichen wird. Wir Grünenteilen die Bedenken der EU-Kommission, dass diese Re-gelung eine ungerechtfertigte Subvention ist. Dieschwarz-gelbe Bundesregierung trägt die Verantwor-tung dafür, dass die betroffenen Unternehmen jetzt kurz-fristig Steuern zurückzahlen müssen.

Lassen Sie mich aber einen bedeutenden Gesichtspunkthinzufügen: Wichtig für die Zukunft bei der Frage des Ver-lustübertrages im Sanierungsfall ist es – auch im Hinblickauf die Regelungen zum Mantelkauf –, eine angemesseneRegelung für die Übernahme von Technologie-unternehmen zu finden. Typischerweise haben technolo-gieorientierte Unternehmen eine lange Entwicklungszeit,in der erhebliche Verluste kumuliert werden. Dies führtdann häufig zu einem Wechsel der Eigentümer, die mit fri-schem Geld und neuen Unternehmenskonzepten einer Ge-schäftsidee zum Durchbruch verhelfen. In diesen Fällenmuss ein Untergehen der in der Entwicklungsphase aufge-laufenen Verluste vermieden werden. Ich denke, dass wiruns mit diesem Thema noch einmal intensiver befassenmüssen.

Die Bundesregierung könnte jedoch bereits in diesemGesetz aktiv etwas für die kleinen und mittleren Unter-nehmen tun. Es wäre eine gute Gelegenheit, um endlichdie Grenze der Ist-Besteuerung bei der Umsatzsteuervon 500 000 Euro zu entfristen. Nach geltender Geset-zeslage würde die Grenze ab nächstem Jahr auf250 000 Euro sinken. Auch der Bundesrat hat sich be-reits für eine Verlängerung im Rahmen dieses Gesetzesausgesprochen. Diese Maßnahme wäre aus drei Grün-den eine erhebliche Entlastung für die mittelständischeWirtschaft:

Erstens werden dadurch gerade kleine Unternehmenvor Liquiditätsengpässen bewahrt. Sie sind so wenigerdurch eine schlechte Zahlungsmoral ihrer Kunden be-einträchtigt. Bei der Soll-Besteuerung müssen Unter-nehmen bei Zahlungsverzug durch den Kunden nebendem finanziellen Nachteil durch die verzögerte Zahlungauch die nicht durch eine Kundenzahlung gedeckte Um-satzsteuer an den Fiskus vorschießen.

Zweitens könnten der Bürokratieabbau und die Har-monisierung gefördert werden. Nach dem Bilanzrechts-modernisierungsgesetz besteht für Unternehmen mit ei-nem Umsatz bis zu 500 000 Euro keine zwingendeBuchführungspflicht. So wäre die Beibehaltung der be-fristeten Grenze im Umsatzsteuergesetz für die Harmo-nisierung von Vorschriften sinnvoll. Außerdem müsstenbetroffene Unternehmen und Finanzämter ihre derzei-tige Praxis nicht wieder verändern.

Drittens würde die Betrugsbekämpfung verbessert.Mit einer Kopplung des Zeitpunktes der Möglichkeitzum Vorsteuerabzug an die Zahlung der Rechnungkönnte auch der Umsatzsteuerbetrug eingeschränktwerden.

Es ist wichtig, dass für die Unternehmen und die Ver-waltung zeitnah Planungssicherheit geschaffen wird.Wir Grünen haben die Beibehaltung der 500 000-Euro-Grenze schon im Steuervereinfachungsgesetz im Früh-ling dieses Jahres gefordert. Dies hat Schwarz-Gelb da-mals leider abgelehnt. Nun wird es allerhöchste Zeit,diese sinnvolle steuerliche Maßnahme auch für die Zu-kunft zu bewahren.

Zu guter Letzt führt diese steuerliche Maßnahmeauch nicht zu dauerhaften Steuerausfällen, da sich nurder Zeitpunkt der Umsatzsteuerzahlung verschiebt. Daszeigt: Die Bundesregierung könnte durchaus mit intelli-genten Maßnahmen die Rahmenbedingungen für diekleinen und mittleren Unternehmen verbessern, ohneden Haushalt zu belasten. Da braucht es keine riesenSteuergeschenke auf Pump à la FDP.

Vizepräsident Eduard Oswald:Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-

fes auf Drucksache 17/6263 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Alle sind ein-verstanden. Somit ist die Überweisung beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten OliverKrischer, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Transparenz und Kontrolle bei der Förderungvon unkonventionellem Erdgas in Deutschland

– Drucksache 17/5573 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten JohannaVoß, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter,

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13563

Vizepräsident Eduard Oswald

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weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE

Keine Erdgasförderung auf Kosten des Trink-wassers – Fracking bei der Erdgasförderungverbieten

– Drucksache 17/6097 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-ginnen und Kollegen liegen hier im Präsidium vor.

Dr. Michael Paul (CDU/CSU): Die Förderung von sogenanntem nichtkonventionel-

lem Erdgas kann auch für die deutsche Energieversor-gung eine Chance sein, von Importen unabhängiger zuwerden. Die Diversifizierung unserer Erdgasquellenkönnte einen großen Beitrag zur Versorgungssicherheitleisten, gerade in einer Zeit, in der der Ausbau von Gas-kraftwerken in Deutschland forciert werden soll. Aller-dings bestehen auch Risiken, die wir berücksichtigenmüssen.

Zu den nichtkonventionellen Erdgasvorkommen zäh-len solche Vorkommen, bei denen das Gas einer Förder-bohrung nicht ohne weitere technische Maßnahmen inausreichender Menge dem Bohrloch zuströmt, weil esentweder nicht in freier Gasphase im Gestein vorkommtoder das Speichergestein nicht ausreichend durchlässigist. Neben Schiefergas (Erdgas aus Tonstein, Shale Gas)zählen Kohleflözgas (CBM, Coalbed Methane) und Erd-gas aus dichtem Sand- oder Kalkstein, Tight Gas, zumunkonventionellen Erdgas.

Die Förderung von nichtkonventionellem Erdgas istimmer mit umfangreichen technischen Maßnahmen ver-bunden. Bei Erdgas in dichten Gesteinen (Tight Gas,Shale Gas) ist die Durchlässigkeit der Speichergesteinesehr gering. Daher müssen für die Gewinnung zusätzlichbessere Wegsamkeiten für den Austritt des Gases ge-schaffen werden. Dazu wird das Gestein über zunächstvertikale und dann in der Tiefe horizontale Bohrungenmit hohem hydraulischem Druck aufgebrochen („ge-frackt“). Das gezielte Aufbrechen des Gesteins durchhohen Druck wird bereits seit den 1950er-Jahren ange-wendet.

Beim Fracking wird eine Flüssigkeit (oder Frack-Fluid) unter hohem Druck (bis zu 1 000 Bar) in das Ge-stein gepresst. Dieses besteht aus einem Gemisch ausWasser, Quarzsand und chemischen Additiven. In derFolge des hohen hydraulischen Drucks werden Klüfte imGestein aufgebrochen und die gewünschten Wegsamkei-ten für einen besseren Gasfluss geschaffen. Nach demFracking wird das eingepresste Frack-Fluid fast voll-ständig zurückgepumpt, wobei ein großer Teil desQuarzsandes in den Rissen verbleibt, um diese offenzu-halten. Danach strömt das in der Lagerstätte vorhan-dene Gas dem Bohrloch zu und kann – oft über Jahr-zehnte – gefördert werden.

In Deutschland ist das gasführende Schiefergesteinmeist in einem Tiefenbereich von 1 000 Metern und tie-fer zu finden. Seit 1977 werden in Niedersachsen solcheBohrungen durchgeführt. Insgesamt wurden über160 Frack-Behandlungen durchgeführt. In Nordrhein-Westfalen hat die zuständige Bergbehörde 19 Erlaub-nisse zu gewerblichen Zwecken erteilt, die auf die Aufsu-chung – das heißt Erkundung, jedoch noch nicht Gewin-nung – von Erdgas in unkonventionellen Lagerstättengerichtet sind.

Bereits nach geltendem Recht muss bei allen Erdgas-erkundungen zu jeder Zeit gewährleistet sein, dass beiden technischen Prozessen keine Substanzen oder Ver-fahren zum Einsatz kommen, die negative Auswirkungenauf die Grundwasserbeschaffenheit befürchten lassenoder die die Trinkwassergewinnung beeinträchtigenkönnen. Deutschland hat durch die verschiedenen Ge-nehmigungsverfahren auf Bundes- und auf Länderebeneein hohes Schutzniveau sowohl für das Grundwasser alsauch für den Boden. Dies muss auch in Zukunft uneinge-schränkt so erhalten bleiben.

Für die Aufsuchung der unkonventionellen Erdgas-reserven, das heißt für Maßnahmen zur Erkundung undzur Feststellung der Ausdehnung der vermuteten Lager-stätte, bedarf es nach dem Bundesberggesetz einer Er-laubnis und für die Gewinnung einer Bewilligung oderdes Bergwerkseigentums. Zuständig sind die Bergbehör-den der Länder. Soweit es sich um ein Vorhaben in derExplorationsphase oder um Erdgasförderungen vonweniger als 500 000 Kubikmetern täglich handelt, isteine Umweltverträglichkeitsprüfungs-Verordnung Berg-bau nicht zwingend.

Trotzdem wird immer auch geprüft, ob das Vorhabendem Grundwasser schaden könnte. Bei jeder Bohrungprüfen die zuständigen Ländergenehmigungsbehörden,ob eine Benutzung des Grundwassers im Sinne von § 9Wasserhaushaltsgesetz, WHG, vorliegt. Wird dieseFrage bejaht, so schließt sich ein wasserrechtliches Ge-nehmigungsverfahren für die Erteilung einer wasser-rechtlichen Erlaubnis an. Das Wasserhaushaltsgesetzverlangt mit § 48, dass eine Erlaubnis für eine Grund-wasserbenutzung nur dann erteilt werden darf, wennkeine nachteilige Veränderung der Grundwasserbe-schaffenheit zu besorgen ist. Diese wasserrechtlichenund bergrechtlichen Prüfungen werden von den Länderneigenverantwortlich vollzogen, weil auch nur die Behör-den vor Ort über die notwendigen Detailkenntnisse ver-fügen und eine ausreichende Sachverhaltsermittlungund fundierte Bewertung durchführen können.

Auch der Schutz der Schichten, die die Barrieren überund unter den grundwasserführenden Schichten bilden,sind bei der „Hydraulic Fracturing“-Technologie zu be-achten. Weiterhin sind das bei der Bohrung an die Tages-oberfläche gespülte Bohrgut und die dabei eingesetztenZusatzstoffe im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungenzum Schutz von Boden und Gewässer zu beseitigen bzw.zu lagern. Auch hierfür bietet das geltende Wasserhaus-haltsgesetz in § 48 die entsprechenden Rechtsgrundla-gen.

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Dr. Michael Paul

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Beim Fracking wird das Gestein der Lagerstätte auf-gebrochen. Das ist erwünscht. Nicht auszuschließen istjedoch die Erzeugung weiterführender Klüfte über dieZielformation hinaus sowie die Verbindung mit natürli-chen Kluft- und Risssystemen. Hierdurch können unkon-trollierte Wege für Gase und eingepresste Flüssigkeitenin die darüberliegenden Grundwasserschichten entste-hen. Folgen treten meist erst mit erheblichen zeitlichenVerzögerungen und teilweise mit räumlichen Verschie-bungen auf. Wenn erst Schadstoffeinträge im Grundwas-ser festgestellt werden, besteht kaum noch die Möglich-keit, eine Reinigung herbeizuführen. Es ist deshalb zujedem Zeitpunkt sicherzustellen, dass im Bereich derTrinkwassergewinnung und insbesondere in Wasser-schutzgebieten keine bergrechtlichen Erkundungs- undGewinnungsmaßnahmen erfolgen, die das Grundwassergefährden könnten. Auch sollte die Fracking-Techniknur dort zugelassen werden, wo nachweislich geologi-sche Schutzbarrieren vorhanden sind.

Die Einführung einer Umweltverträglichkeitsprüfungfür alle Erdgaserkundungs- und -fördervorhaben, diesich des Fracking-Verfahrens bedienen, halte ich fürrichtig. Zurzeit ist eine UVP nur bei Erdgasfördervorha-ben mit einem Volumen von über 500 000 Kubikmeterntäglich vorgeschrieben. Bei einer vorgeschriebenen Um-weltverträglichkeitsprüfung wird die Öffentlichkeit um-fassend beteiligt, und auch die betroffenen Gemeindenund Kommunen werden zu jedem Zeitpunkt des Bewilli-gungsverfahrens über auf ihrem Gebiet stattfindendeFracking-Bohrungen Bescheid wissen. Dies wäre für dieTransparenz der vor Ort durchgeführten Maßnahmenund somit auch für die Akzeptanz in der Bevölkerunghilfreich.

Abschließend möchte ich noch einmal zusammenfas-sen: Eine Erschließung der unkonventionellen Erdgas-quellen in Deutschland darf aus energiewirtschaftlicherSicht nicht verhindert werden. Entscheidend ist, dass so-wohl die Erkundung als auch die spätere Förderungumweltfreundlich und nachhaltig erfolgen und dass ins-besondere die Langzeitwirkungen geklärt sind. Die In-formation der Öffentlichkeit und der örtlichen Kommu-nen über die vor Ort geplanten Fracking-Bohrungen istnotwendig, um Transparenz zu schaffen, Sorgen zu neh-men und offene Fragen mit der Bevölkerung zu klären.Nur so kann Akzeptanz erreicht werden.

Gerd Bollmann (SPD): Die aktuell vorliegenden Gesetzentwürfe von Bünd-

nis 90/Die Grünen und der Linken greifen eine Proble-matik auf, die in den letzten Monaten speziell in meinemBundesland Nordrhein-Westfalen thematisiert wurde.Hintergrund ist, dass das höchst umstrittene Verfahrendes sogenannten Frackings bereits eingesetzt wird, ohnedass Behörden und Bevölkerung hinreichend über dieRisiken und Probleme informiert werden, geschweigedenn ein Mitspracherecht eingeräumt bekommen hätten.

Beim Fracking handelt es sich um eine Methode zurFörderung von unkonventionellem Erdgas. Das ist Erd-gas, das nicht mit herkömmlichen Methoden aus norma-len Gasfeldern gefördert werden kann. Hierbei handelt

es sich um Erdgas, das in den unterschiedlichstenSchichten dieser Erde eingelagert ist und erst durch Auf-sprengen dieser Bodenstrukturen zu Tage gebracht wer-den kann. Hierfür wird ein bis dato undefiniertes Ge-misch aus Wasser, Sand und Chemikalien in den Bodenverpresst, um durch Druck Risse im Untergrund herbei-zuführen und die Risse auch vor baldigem Verschlusswieder zu schützen. Was das für Chemikalien sind, wel-che Risiken genau sie bergen und ob sie gar wasserge-fährdend sind, wissen wir nicht.

Womit wir bereits beim ersten und meines Erachtensnach größten Problem des Frackings wären: der poten-ziellen Gefährdung von Grund- und Trinkwasser. Aktuellwird für Genehmigungen ausschließlich das schwächereBergrecht, nicht aber das wesentlich schärfere Wasser-recht angewendet. Da mit den Erkundungs- und gegebe-nenfalls auch Fördermethoden eine Gewässerbenutzungverbunden ist, bedarf es aber zusätzlich einer entspre-chenden Prüfung und wasserrechtlichen Erlaubnisdurch die Landeswasserbehörden. Selbst dem Bun-desumweltministerium ist bisher nicht bekannt, welcheChemikalien in den Boden gelangen. Mit dieser Unwis-senheit wäre es aber endgültig vorbei, würde das Was-serrecht angewandt. Bis in den Promillebereich müsstendie bohrenden Firmen alles offenlegen. Das Einbringenwassergefährdender Flüssigkeiten wäre somit unmög-lich. Die Tatsache, dass – wie die Erfahrungen aus demAusland zeigen – Stoffe mit toxischer, karzinogener undmutagener Wirkung eingesetzt werden könnten, ist ziem-lich beruhigend, wie ich finde.

Weil bisher ausschließlich das besagte Bergrechtgreift und niemand so recht zu wissen scheint, was wirk-lich in den Boden gepumpt wird, hat NRW ein Mora-torium erlassen, das so lange gilt, bis eine wissenschaft-liche Studie die Risiken der Fracking-Technologieerforscht hat. Erst wenn diese Studie zu dem Ergebnisder Gewässerunbedenklichkeit und noch einigen ande-ren positiven Ergebnissen kommt, können wieder Geneh-migungen erteilt werden. Das macht NRW so, das for-dern die lieben Kollegen von den Grünen, und dasfordern wir als SPD.

Eine ähnliche Problematik liegt bei der Abwasserent-sorgung vor, denn der Wasserverbrauch pro Bohrung istunglaublich hoch. Firmen würden das Wasser gerne inden Bohrungen verpressen, aber wir fordern eine ord-nungsgemäße Entsorgung. Traurig, dass das keineSelbstverständlichkeit zu sein scheint.

Ein anderer Aspekt, der mir in der Debatte deutlichzu kurz zu kommen scheint, ist die Frage, ob wir unkon-ventionelles Erdgas wirklich fördern müssen, um unse-ren Energiehunger zu befriedigen. Aktuell ist dem si-cherlich nicht so, die Gasversorgung ist gesichert. Undselbst, wenn sich eines fernen Tages eine Schere zwi-schen Bedarf und Vorräten abzeichnet, ist es nicht zuspät, mit der Förderung unkonventionellen Erdgases zubeginnen. Von daher besteht nicht der geringste Anlass,Dinge zu überstürzen und das Land in Claims zu unter-teilen.

Ich gehe davon aus, dass wir die Energiewende voll-zogen haben werden, bevor der Bedarf nach unkonven-

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Gerd Bollmann

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tionellem Erdgas kommt. Dennoch wollen wir die Sucheund mögliche Förderung nicht vollständig unterbinden.Aber, wie gesagt, wir haben Zeit: Zeit für gründliche,wissenschaftliche Untersuchungen. Außer den Erdgas-firmen drängt ohnehin keiner, und denen sollten wirnicht so einfach nachgeben.

Wenn denn aber diese Studie eine vollkommene Un-bedenklichkeit bescheinigt, dann ist es an der Zeit, einengeeigneten Rechtsrahmen für die Erkundung und Förde-rung unkonventionellen Erdgases zu schaffen. Diesersollte unter anderem die Haftungsfrage so regeln, dassdas Risiko von Schäden, die entgegen aller wissen-schaftlichen Gutachten vielleicht doch auftreten, zu100 Prozent durch die Firmen getragen wird, die auchim Erfolgsfall die Gewinne einfahren. Die üblichen For-derungen, Gewinne bleiben bei den Firmen, Verlusteund andere Risiken werden sozialisiert, sind mit unsnicht zu machen. Denkbar ist hier zum Beispiel die Bil-dung von Rücklagen. Das müsste zu gegebener Zeit dis-kutiert werden.

Um nicht dieselben Fehler zu wiederholen, die Öffent-lichkeit angemessen zu beteiligen und Transparenz zu ge-währleisten, bedarf es einer Reform des Bundesberg-rechts und der Umweltverträglichkeitsprüfung. Schonbei der Antragstellung auf die Vergabe von Aufsuchungs-lizenzen sind die Öffentlichkeit, Wasserbehörden, Städteund Kommunen umfassend zu informieren.

Klaus Breil (FDP): Die Anträge der Linken und der Grünen wollen die

Förderung der heimischen Energiereserve Schiefergasin Deutschland verbieten. Für mich ist das keine wirkli-che Überraschung. Aber erst heute Vormittag hat diebreite Mehrheit dieses Hohen Hauses über einen schnel-leren Ausstieg aus der Kernenergie abgestimmt.

Gleichzeitig sind wir aber so rational, dass wir wis-sen, dass wir nicht aussteigen können, ohne in etwas an-deres einzusteigen. Wer A sagt, muss auch B sagen. Er-neuerbare Energien sollen perspektivisch diese Lückeschließen. Aber sie können es derzeit noch nicht alleineschaffen. Wir brauchen Leistung, die flexibel auf dieEinspeisung von Wind und Sonne reagieren kann. Dafürkommen nur hocheffiziente Kohle- und Gaskraftwerkenach dem neusten Stand der Technik infrage. Und da ge-rade die antragstellenden Parteien den Neubau vonKohlekraftwerken nach Kräften behindern und verhin-dern, ist das wieder einmal die bekannte rot-grüne Dop-pelzüngigkeit.

Bleiben uns also noch die Gaskraftwerke. 10 Giga-watt, hocheffizient und flexibel, benötigen wir bis 2013.Wie diese finanziert werden sollen und wer diese bauenwird, steht auf einem anderen Blatt; es ist jedenfalls der-zeit noch nicht geklärt.

Der Bedarf an Stabilisierung unserer Stromversor-gung durch fossile Kapazitäten steigt, solange wir keineeffizienten Speicher zur Marktreife bringen. Wenn esnach Ihnen geht, soll das Gas für die Gaskraftwerkeüber Jahrzehnte zementiert aus russischen Quellen undrussischen Handelshäusern kommen. Im Jahr 2010 wa-

ren es schon 32 Prozent, und es sollen noch mehr wer-den. Dafür ist der erste Strang von Nord Stream fertigzusammengeschweißt.

Für uns wichtige und verlässliche Lieferanten sindund bleiben Norwegen und die Niederlande.

Das Anlanden von Flüssiggas ist in Deutschland lei-der großtechnisch noch nicht möglich. Aber wir hegenweiterhin die Hoffnung, dass im Jade-Weser-Port in Wil-helmshaven ein vollwertiges LNG-Terminal entstehenwird. Damit könnten wir unsere Gasbezugsquellen di-versifizieren, beispielsweise aus Katar, und damit dieVersorgungslage unabhängiger als bisher sichern.

Als eine realistische Alternative sehen wir insbeson-dere den Ausbau der heimischen Förderung von Gas.Diese trägt derzeit circa 15 Prozent zur heimischen Gas-versorgung bei. Durch die Exploration von Schiefergaskönnte dieser Anteil unter Bedingungen ausgebaut wer-den. Dass die von Ihnen angeklagte Technologie zurFörderung des Shale- oder Schiefergases möglich ist,beweist die Industrie weltweit schon seit 60 Jahren. Fra-cking oder Hydraulic Fracturing ist die angewandteTechnologie, und das ist keine Zauberei. Es ist Inge-nieurskunst, die unsere Anerkennung verdient. Mehr als1 Million Mal sind damit schon Explorationen stimuliertworden.

Ich selbst bin bei der Bundesanstalt für Geowissen-schaften und Rohstoffe gewesen. Vor Ort in Hannoverhabe ich mich von dieser nun wirklich unbefangenen Be-hörde von der Verlässlichkeit und den Voraussetzungenfür den Einsatz dieser Technologie auch in Deutschlandüberzeugen können. Die trinkwasserführenden Schich-ten, deren Gefährdung in den Anträgen immer angespro-chen wird, werden sehr wohl vor der Frack-Flüssigkeitgeschützt. Spezielle Bohrungen, das heißt ein einzemen-tiertes Verbundsystem aus Stahlrohren, verhindern Le-ckagen. Außerdem verhindert ein Deckgebirge aus Ton-oder Salzschichten, die mehrere Hundert Meter mächtigsind, dass aus den gasführenden Schichten Gas oder to-xische Flüssigkeiten in Wasserreservoire eindringenkönnen. Dass eine solche geologische Barriere eine ab-dichtende Wirkung gewährleistet, wurde schon übergeologische Zeiträume unter Beweis gestellt.

Im Übrigen hat auch unsere Fraktion einen Antrag zudiesem Thema in Vorbereitung. Diesen werden wir nachder Sommerpause mit Ihnen diskutieren.

Horst Meierhofer (FDP): Grüne und Linke wollen mit ihren Anträgen die För-

derung von Schiefergas unmöglich machen bzw. verbie-ten. Beide Anträge vermitteln dabei den Eindruck, eineandere Entscheidung wäre unter dem Gesichtspunkt desUmweltschutzes nicht vertretbar.

Einige Bedenken, die in dem Antrag der Grünen arti-kuliert werden, teile ich. Fracking ist eine Fördertech-nologie, bei der unter Einpressen eines Wasser-Sand-Chemikalien-Gemisches unter hohem Druck Risse imGestein erzeugt werden. Dies erfolgt zwar regelmäßig inTiefen, in denen sich kein für die Trinkwassergewinnungbenötigtes Grundwasser befindet, aber dennoch: Durch

Zu Protokoll gegebene Reden

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Horst Meierhofer

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die Festschreibung einer geologischen Barriere wollenwir hier die bereits bestehende Sicherheit für die Um-welt und das Grundwasser noch einmal deutlich erhö-hen. Wir sehen hier durchaus Verbesserungspotenzial.

Die Grünen unterstellen in ihrem Antrag der Bundes-regierung, sich dieses Themas zu verweigern. Dies istschlichtweg falsch. In den letzten Monaten haben sichsowohl die Fraktionen intern als auch zusammen mitden Ministerien beraten und das weitere Vorgehen abge-sprochen.

Nach Einschätzung der Situation ist vonseiten desBundes allerdings keine Hektik erforderlich, sondern inallererster Linie ein sauberer und solider Rechtsrah-men, der auch aufgrund der Versäumnisse in der Ver-gangenheit so nicht besteht. Man sollte an dieser Stellenicht vergessen, dass die Förderung von unkonventio-nellem Erdgas auch in Deutschland auf eine jahrzehnte-lange Historie zurückblickt, insbesondere bei sogenann-ten Tight-Gas-Lagerstätten.

Überdies – und das sollte man nicht vergessen – gibtdie Bundespolitik zwar einen rechtlichen Rahmen vor.Allerdings haben die Länder und deren Behörden bereitsjetzt eine Vielzahl an Instrumenten, um Genehmigungenvor Ort durch strenge Auflagen an tatsächliche Gefah-ren anzupassen oder auch im Einzelfall zu versagen.

Es ist mir zu einfach, hier eine Totalablehnung derGasförderung bei unkonventionellem Erdgas zu fordern,und auf nichts anderes zielen hier die beiden vorliegen-den Anträge. Die Importabhängigkeit von russischemErdgas ist offenkundig. Wir haben mit der jetzt beschlos-senen Energiewende einen hohen Bedarf an Ersatzkapa-zitäten, der kurzfristig zu decken ist, und gleichzeitigKlimaschutzziele, die erreicht werden sollen. Die Grü-nen haben ambitionierte Ziele, aber bei jeder Einzel-frage klingt uns aus ihren Reihen ein dumpfes Nein ent-gegen.

Die Grünen wollen Fracking nicht zulassen, solangekeine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse überRisiken und Folgen in den USA vorliegen und jede sons-tige Gefahr sicher ausgeschlossen werden kann.

Die Schiefergasförderung in den USA ist mit der För-derung in Deutschland nicht zu vergleichen. In den USAbefinden sich gigantische Förderfelder, die mit den Vor-haben hierzulande weder hinsichtlich der angewandtenTechniken noch hinsichtlich der Menge an verwendetenChemikalien noch hinsichtlich der Größe und Folgewir-kungen etwas gemein haben. Sie stellen doch auch nichtdie Anforderung, dass die Umweltfolgen in Russlandoder Aserbaidschan erst zu evaluieren sind, bevor inDeutschland Fördermaßnahmen gestattet werden sol-len. Es geht einzig und allein darum, in Deutschland zugewährleisten, dass keine Gefahren bestehen. Über diebestehenden niedrigeren Umweltstandards in anderenLändern holen Sie sich die Rechtfertigung hier, einenAusschluss herbeizuführen. Haben die amerikanischenBehörden und Gesetze versagt, dürfen wir auch hierzu-lande nicht fördern. Das ist keine sachgerechte Argu-mentation, sondern Polemik.

Auch die Forderungen zum Bergrecht und zur Um-weltverträglichkeitsprüfung sind zu weitgehend. Nachihren Änderungswünschen müsste zukünftig jede einfa-che Erkundungsbohrung einer Umweltverträglichkeits-prüfung unterliegen. Bei einer Erkundungsbohrungkommen regelmäßig aber überhaupt keine Chemikalienzum Einsatz. Hier werden Proben genommen, nichtmehr und nicht weniger. Das Kernproblem ist Frackingund der Einsatz von potenziell wassergefährdendenChemikalien. Sie holen mit Ihrer Keule zu weit aus undgefährden dadurch energie- und umweltpolitisch sinn-volle Vorhaben.

Wir streben sachgerechte und zielführende Lösungenan: einen höheren Umweltstandard beim Fracking undder Schiefergasförderung. In Wasserschutzgebieten istFracking generell auszuschließen. Über eine geologi-sche Barriere ist sicherzustellen, dass Chemikalien nichtin das Grundwasser gelangen können. Die Transparenzvor Ort ist herzustellen. All dies sind Maßnahmen, diewir aufgreifen werden.

Wir wollen die Schiefergasförderung verantwortlichermöglichen. Sie wollen die Schiefergasförderung ver-hindern. Das ist unverantwortlich!

Wir können unter strengsten ökologischen Bedingun-gen Energie in Deutschland erzeugen. Gerade jetzt ist eswichtig, wirklich alle Potenziale auszuschöpfen. Wirwissen um mögliche Engpässe in den kommenden Mo-naten und Jahren.

Ich appelliere an die Vernunft, neue Technologien zuunterstützen. Wir setzen massiv auf neue Speichertech-nologien. Wir setzen auf Netzausbau. Wir setzen aufCCS. Wir setzen auf Schiefergas. Wir setzen auch aufstrengste Umweltmaßstäbe.

Wenn Sie ein anderes Konzept haben, nennen Sie es.Belassen Sie es nicht bei bloßer Verhinderungspolitik.Seien sie kritisch, aber positiv. Ich habe derartiges vonIhnen bisher nicht gehört. Sie machen sich einen schlan-ken Fuß, wenn Sie sich um jedes Problem drücken.

Johanna Voß (DIE LINKE): CDU/CSU und die FDP brauchten die Katastrophe

von Fukushima, um zu verstehen, dass ihre Atompolitikund ihr Gerede von der „Brückentechnologie“ falschwar. Jetzt gibt es – scheinbar – eine neue „Brückentech-nologie“: Erdgas. Besondere Hoffnung liegt auf derFörderung von heimischem unkonventionellen Erdgas.Hier spielen die großen Energiekonzerne schon wiedermit dem Feuer und werden dabei von der Regierung un-terstützt. Brauchen wir erst wieder einen Unfall, umauch hier zur Einsicht zu kommen? Die Förderung vonErdgas mithilfe von Fracking ist keine Brückentechnolo-gie, sondern eine Hochrisikotechnologie.

Wir reden über die Förderung von unkonventionellemErdgas mit der Methode des Hydraulic Fracturing,kurz: Fracking. Mit dieser – zumindest in der derzei-tigen Form – noch recht jungen Fördermethode sollenkünftig auch in Deutschland neue Erdgasquellen er-schlossen werden. Uns wird versprochen, dass wir durchdie Förderung von einheimischem Erdgas unabhängiger

Zu Protokoll gegebene Reden

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Johanna Voß

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von Gasimporten werden. Aber die Sache hat einen Ha-ken – und zwar einen gewaltigen.

Fracking ist mit hohen Risiken für die Bevölkerungund die Umwelt verbunden. Vor allem das Trinkwasserist gefährdet. Beim Fracking werden mit hohem Druckriesige Mengen Flüssigkeit in den Boden gepresst. DieFrac-Flüssigkeit ist mit hochgiftigen Chemikalien ver-setzt. Die Gaskonzerne sagen, dass das Verfahren si-cher ist und dass kein Frac-Wasser austreten kann.Die Bundesregierung verlässt sich in ihrer Bewertungauf die Werbebroschüren der Gaslobby und kommt da-mit – welch Überraschung! – auch zum Ergebnis, dassFracking sicher ist.

Aber woher wissen die das so genau? Die Bundesre-gierung musste im April im Umweltausschuss einräu-men, dass es noch keine wissenschaftlichen Studien zuden Umweltauswirkungen von Fracking in Deutschlandgibt. Das Umweltministerium hat – mit Berufung auf dasUmweltbundesamt – erst vor kurzem einen Bericht aufseine Webseite gestellt. Dort ist nachzulesen, was beimFracking alles passieren kann: Nicht nur die Bohrungendurch die trinkwasserführenden Schichten sind gefähr-lich. Auch durch die unterirdischen Sprengungen kön-nen Risse entstehen, durch die das Giftgemisch austretenkann. Und auch die Lagerung der zurückgewonnenenFlüssigkeit aus der Erdgasbohrung ist hoch gefährlich.Denn im Untergrund hat sich die giftige Flüssigkeit häu-fig auch noch mit radioaktiven Substanzen vermischt.Das klingt nach einem Horrorszenario – aber genau sosteht es auf der Webseite vom Umweltministerium. Wasbrauchen wir noch? Wir können doch nicht warten, bisunser Trinkwasser großflächig vergiftet und radioaktivverseucht ist, um die Gefahren von Fracking anzuerken-nen!

Schließlich belegen die vielen Vorfälle in den USA,dass Fracking gefährlich ist. In den USA wird Frackingschon jetzt großflächig eingesetzt. Dort gab es schon et-licheTrinkwasservergiftungen, Explosionen und Erdbe-ben. Der letzte Unfall ist noch nicht lange her: Im Bun-desstaat Pennsylvania flossen am 20. April nach einemFracking-Unfall tausende Liter giftige Flüssigkeit in ei-nen nahegelegenen Fluss. Es dauerte mehrere Tage, bisdas Austreten des Giftgemischs gestoppt werden konnte.Die Anwohner befürchten nun eine unumkehrbare Ver-giftung des Wassers. Auch in Deutschland gab es schonUnfälle bei der Erdgasförderung. Wenn Fracking nunauch hier vermehrt eingesetzt werden soll, steigen dieGefahren. Das dürfen wir nicht zulassen!

Nun heißt es immer, dass Erdgas ja umweltfreundlichist. Aber: Erdgas ist ein fossiler Energieträger, bei des-sen Verbrennung das klimaschädliche CO2 entsteht.Zwar weniger als bei Kohle, aber doch genug, um denKlimawandel zu beschleunigen. Auch Erdgas ist also einKlimakiller. Und ganz besonders das unkonventionelleErdgas, das nur mit einem riesigen energetischen Auf-wand überhaupt erschlossen werden kann. Eine Ener-giepolitik, die den Weg in das Zeitalter der erneuerbarenEnergien ebnet, erfordert deswegen zu allererst drasti-sche Einsparungen im Verbrauch von Erdgas! Erdgasmuss so schnell wie möglich durch erneuerbare Ener-

gien ersetzt werden. Jetzt auf den massiven Ausbau derErdgasförderung zu setzen, ist damit schlicht der falscheWeg!

Nehmen wir die Sorgen der betroffenen Menschenernst: Dort, wo jetzt die ersten Probebohrungen bean-tragt sind, gibt es große Proteste. Die Menschen wollenkein Fracking, weil sie Angst um ihr Trinkwasser haben.Auch in anderen Ländern gibt es Proteste. In den USAund in Kanada wurden daraufhin Moratorien beschlos-sen, um die Umweltauswirkungen genauer zu untersu-chen. In Frankreich ist die Regierung noch weiter ge-gangen. Sie hat am 9. Juni diesen Jahres ein Verbot vonFracking beschlossen. Das sollte auch hier möglichsein.

Was brauchen wir noch, damit auch die Regierungs-parteien einsehen, dass Fracking eine gefährliche Risi-kotechnologie ist? Reichen hier die vielen Unfälle in denUSA nicht schon aus? Trinkwasserverschmutzungen fürGenerationen sind dort schon Realität. Nehmen wir unsFrankreich zum Vorbild und verbieten wir auch inDeutschland die hochriskanten neuen Fracking-Metho-den in der Erdgasförderung!

Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Weltweit befinden sich Energieunternehmen auf der

Suche nach sogenanntem unkonventionelle Erdgas.„Hydraulic Frackturing“ oder „Fracking“ wird dieMethode genannt, mit welcher durch Horizontalbohrun-gen und dem Einsatz diverser Chemikalien die Erdgas-vorkommen erschlossen werden. Auch in Deutschland,hier vor allem in Niedersachsen und Nordrhein-Westfa-len, sowie in unseren Nachbarländern Frankreich undPolen wird inzwischen nach unkonventionellem Erdgasgesucht. Vor allem shalegas, das ist Erdgas aus Schie-fergestein, steht im Fokus der Unternehmen.

Da wir in Deutschland auf Erdgas in den kommendenJahrzehnten als Energieträger nicht verzichten können,klingt die Aussicht auf die Erschließung neuer heimi-scher Erdgasvorkommen nicht zuletzt unter dem Aspektder Versorgungssicherheit erst einmal verlockend. Be-trachtet man jedoch die Situation in den USA, wo dieFörderung von unkonventionellem Erdgas mittlerweileüber die Hälfte der Gesamtproduktion ausmacht, wirdschnell deutlich, dass es sich hier jedoch um einen Gold-rausch mit massiven Nebenwirkungen handelt: Trink-wasser wird durch Chemikalien und unkontrolliert ent-weichendes Methan vergiftet. Hinzu kommt ein enormerFlächenverbrauch sowie riesige Mengen an Wasser undChemikalien, die angeliefert werden müssen. Je nachTiefe der niedergebrachten Bohrung sind das bis zu500 Lkw-Ladungen und mehr, was zu einer erheblichenLärmbelästigung von Anwohnern führt, die Anfahrts-straßen ruiniert und die CO2-Bilanz von unkonventio-nellem Erdgas deutlich verschlechtert. Auch die Entsor-gung der in großen Mengen anfallenden Abwässer, diehäufig durch Schwermetalle wie Quecksilber und auchradioaktive Stoffe belastet sind, stellt ein bisher auch inden USA ungelöstes Problem dar. In Deutschland wer-den Abwässer häufig einfach in sogenannten Disposal-bohrungen versenkt.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Oliver Krischer

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Wir müssen diese Risiken und Probleme ernst neh-men, und die zuständigen Behörden sowie unabhängigeWissenschaftler müssen sie untersuchen. Wir fordern dieBundesregierung daher auf, unter Einbeziehung derFachbehörden, wie zum Beispiel das Umweltbundesamtund die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Roh-stoffe, Studien in Auftrag zu geben, mit dem Ziel, ein Mo-nitoring für die Umweltauswirkungen zu installieren, umeine Bewertung vornehmen zu können. Dabei solltenzum Beispiel auch die Bohrstellen in Deutschland unter-sucht werden, an denen das Fracking-Verfahren in derVergangenheit bereits angewendet wurde. Dazu gehörtauch die Erstellung einer nachvollziehbaren Klimabi-lanz von unkonventionellem Erdgas, denn diese fällt auf-grund des hohen Energieaufwandes sicherlich schlech-ter aus als bei konventionell gefördertem Gas.

Das Vorgehen der Energieunternehmen hat auch malwieder gezeigt, wie intransparent das deutsche Berg-recht ist. Unbemerkt von Politik und Öffentlichkeit wur-den schon vor längerer Zeit von den Bergbehörden derLänder großflächige Claims zur Exploration der vermu-teten großen Gasvorkommen an die Unternehmen ver-teilt. Dies kam erst durch ein gezieltes Nachfragen dergrünen Landtagsfraktion in NRW ans Licht. Es ist dochkein Wunder, dass sich angesichts einer solchen Praxisdie Bürgerinnen und Bürger zum Beispiel im Münster-land nicht mitgenommen fühlen. Wer befürwortet schondie Anwendung einer Technologie vor seiner Haustür,wenn das gesamte Internet voller Horrormeldungen da-rüber ist? Es gehört zu den dringenden Aufgaben staat-licher Behörden, die Interessen der Bürgerinnen undBürger zu schützen. Eine Informationspolitik an denBürgerinnen und Bürgern vorbei zugunsten von Ener-giekonzernen ist falsch und nicht mehr zeitgemäß. Wirfordern daher die Bundesregierung weiter auf, einegrundlegende Reform des antiquierten deutschen Berg-rechts einzuleiten, in deren Rahmen auch Elemente vonTransparenz und Öffentlichkeitsbeteiligung im Berg-recht verankert werden. Weiter brauchen wir einenRaumordnungsplan, der die unterschiedlichen Interes-sen an dem Untergrund berücksichtigt, um Interessen-skollisionen zu vermeiden.

Abschließend noch eine Bemerkungen zum Verhaltender Bundesregierung in den vergangenen Monaten: Seiteinem Jahr stellen wir Anfrage um Anfrage zum Themaunkonventionelles Erdgas und erhalten regelmäßig vonder Bundesregierung die gleichen nichtssagenden Ant-worten: Die Förderung von unkonventionellem Erdgassei harmlos, und es sei keine Gefährdung des Trinkwas-sers zu erwarten. Im Übrigen liege die Zuständigkeit beiden Bundesländern. – Noch im Februar bekamen wir diegleichen Antworten von der Bundesregierung in einemschriftlichen Bericht an den Umweltausschuss präsen-tiert, inklusive einem Verweis auf eindeutig interessen-geleitetes Informationsmaterial der Erdgasindustrie.Ein solches Vorgehen ist für einen Bericht einer Bundes-regierung an das Parlament schlicht unwürdig undZeugnis der beim Minister zu der Zeit offensichtlichherrschenden Ahnungslosigkeit. Die BezirksregierungArnsberg hat den gleichen Newsletter an die Kommunenin NRW versandt und ist dafür aufs Schärfste von der

NRW-CDU in einem Antrag gescholten worden. Das wa-ren Herrn Röttgens Parteifreunde! Und nur ein paarWochen später macht er hier in Berlin genau dasselbe,und versucht uns Parlamentarier mit derselben hüb-schen Werbebroschüren für dumm zu verkaufen. Das istnicht nur peinlich, das ist geradezu dreist. Doch inzwi-schen scheinen Herrn Röttgens Parteifreunde aus Nord-rhein-Westfalen, die übrigens ein flächendeckendesVerbot für Fracking in NRW fordern, ihren Landesvor-sitzenden darüber informiert zu haben, was in seinemBundesland eigentlich los ist. Anders kann man sich dieÄußerungen in einer Pressemitteilung aus dem BMU imMai nicht erklären, denn auf einmal ist dort von poten-ziellen Gefahren für das Grund- und Oberflächenwasserdurch Chemikalien die Rede. Das ist immerhin ein klei-ner Lichtblick. Es bleibt aber die Frage offen, welcheKonsequenzen Herr Röttgen aus diesem Wissen dennnun ziehen wird, denn wieder ist darin von der Zustän-digkeit der Bundesländer die Rede.

Ich fordere Sie hiermit auf, endlich Ihrer Pflichtnachzukommen und gemeinsam mit den Bundesländernklare Regeln für die Förderung von unkonventionellemErdgas zu entwickeln! Hören Sie endlich auf, sich so ausder Verantwortung zu ziehen! Eine windige Pressemit-teilung alleine reicht nicht aus, es bedarf konkreterMaßnahmen.

Vizepräsident Eduard Oswald:Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf

den Drucksachen 17/5573 und 17/6097 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist das so beschlos-sen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,Ulla Burchardt, Dr. Ernst Dieter Rossmann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPD

20 Jahre Büro für Technikfolgenabschät-zung beim Deutschen Bundestag – Ein ge-lungenes Beispiel und internationales Mo-dell für den Austausch von Wissenschaftund Politik

– zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-JosefFell, Krista Sager, Sylvia Kotting-Uhl, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Technikfolgenabschätzung im Bundestag undin der Gesellschaft stärken

– Drucksachen 17/3414, 17/3063, 17/6287 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Thomas FeistRené RöspelDr. Martin Neumann (Lausitz)

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Vizepräsident Eduard Oswald

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Dr. Petra SitteHans-Josef Fell

Die Reden werden, wie vereinbart und in der Tages-ordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen. Die Na-men der Kolleginnen und Kollegen sind bei uns bekannt.Sie sind damit einverstanden.

Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): Auch wenn wir uns in diesem Hause bereits im letzten

Jahr mit der wissenschaftlichen Politikberatung „Tech-nikfolgenabschätzung“ beschäftigt haben, soll es nochMenschen in unserem Land geben, die mit dem Büro fürTechnikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag,TAB, nichts anfangen können. Daher möchte ich die Ge-legenheit nutzen, kurz das TAB vorzustellen, bevor ichIhnen näher darlege, warum die hier zur Beratung vor-liegenden Anträge der SPD und Bündnis 90/Die Grünenaus der Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion abzu-lehnen sind.

Im November 1989 traf der Bundestag die Entschei-dung, die Technikfolgenabschätzung im Parlamentsbe-trieb zu institutionalisieren. Dazu wurde im Jahre 1990mit dem heutigen Karlsruher Institut für Technologie,KIT, die Einrichtung eines Büros für Technikfolgenab-schätzung des Deutschen Bundestags vertraglich verein-bart. Damit wurde das TAB ganz bewusst nicht in dieVerwaltung des Deutschen Bundestages integriert, son-dern es wird von einer externen Forschungseinrichtungeingerichtet und betrieben. Hierzu schließt der DeutscheBundestag einen – bislang jeweils auf fünf Jahre befris-teten – Vertrag mit dem Betreiber. Der Betreiber ist seit1991 das Institut für Technikfolgenabschätzung und Sys-temanalyse, ITAS, im Karlsruher Institut für Technolo-gie, KIT, seit 2003 in Kooperation mit dem Fraunhofer,Institut für System- und Innovationsforschung ISI. Deraktuelle, auf fünf Jahre befristete Vertrag, endet 2013.

Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-folgenabschätzung ist das politische Steuerungsgre-mium für Technikfolgenabschätzung gemäß § 56 aGOBT. Er hat vor allem die Aufgabe, Anfragen zurDurchführung von „Technikfolgenanalysen“ aus denFraktionen und Ausschüssen zu sichten, zu prüfen sowiezu entscheiden, welche der gewünschten Analysen durchdas TAB durchgeführt werden sollen. Die Themenfestle-gung erfolgt für einen längeren Zeitraum im überfrak-tionellen Konsens.

Im letzten Jahr haben wir im Deutschen Bundestaganlässlich des 20. Geburtstages über das TAB debattiertund Bilanz gezogen. Ich möchte drei Punkte aus meinerdamaligen Rede wiederholen, weil sie immer noch Gül-tigkeit haben:

Zum Ersten möchte ich mich noch einmal ganz herz-lich bei den Mitarbeitern des TAB für ihre geleistete Ar-beit bedanken.

Zum Zweiten möchte ich betonen, dass Technikfol-genabschätzung eben nicht nur das Erkennen von Ge-fahren bestimmter Technologien bedeutet, sondern auchdie Chancen und Möglichkeiten, unsere neuen Technolo-gien zu erkennen und deutlich zu machen.

Drittens: Die Förderung des kontinuierlichen Dia-logs zwischen Politik und Wissenschaft ist der Mehrwertder Institutionalisierung wissenschaftlicher Politikbera-tung. Das Büro ist unabhängig. Dennoch ist es trotzdembemüht, alle Interessen auszugleichen. Dieser Dialogverläuft nicht immer reibungslos, aber – ich denke, sokann ich für uns alle sprechen – immer erkenntnisför-dernd für beide Seiten.

Erkenntnisfördernd waren die beiden hier vorliegen-den Anträge allerdings nicht. Lediglich dem Lob für dasTAB kann ich mich anschließen.

Ganz deutlich widersprechen muss ich dem Vorwurfim Antrag der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen,dass das TAB vorwiegend kostengünstig zugängliche,wissenschaftliche Erkenntnisse aus dem Mainstream re-feriere. Dies stimmt nicht mit der fraktionsübergreifen-den Auffassung überein, dass die wissenschaftliche Qua-lität der TAB-Berichte über diesen Zweifel erhaben ist.Die interne Evaluation des TAB (Drucksache 17/3010)kommt zu dem Schluss, dass mit den vorhandenen Struk-turen und Mitteln eine qualitativ gute Arbeit geleistetwerden kann. Der Antrag der Grünen widerspricht sichgeradezu, wenn zu Beginn das TAB gelobt und ihm einegute Qualität bescheinigt wird und eine Seite weiterdoch die Qualität der wissenschaftlichen Arbeit ange-zweifelt wird. Dem ist ausdrücklich zu widersprechen,die Bilanz bescheinigt das Gegenteil.

Die in den Anträgen gestellte Forderung nach einerkontinuierlich festgeschriebenen Mittelerhöhung undeine damit verbundende Steigerung von Berichtenkönnte das TAB vor Probleme stellen; eine Überfrach-tung des Parlaments und der Abgeordneten ist dabeinicht auszuschließen. Die interne Evaluation hat es be-reits festgehalten: Das Berichterstatterprinzip läuft Ge-fahr, an seine Grenzen zu stoßen, wenn der Arbeitsauf-wand der Berichterstatter zu groß wird. Zusätzlichbesteht die Gefahr, dass es zu Überschneidungen mitdem Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundes-tages oder externen Politikberatungseinrichtungenkommt.

Die Erfahrung zeigt, dass ein Teil der Anträge durchdas TAB aufgrund der unklaren Zielsetzungen der An-tragsteller grundsätzlich schwer zu bearbeiten ist. Hierbietet sich die themengeleitete Zusammenführung vonUntersuchungswünschen an, um Ziele systemisch unddamit auch im Sinne der Nachhaltigkeit besser zu be-schreiben. Dafür spricht auch, dass das Herausarbeitenvon thematischen Gemeinsamkeiten verschiedener An-träge und das Überführen in zielorientierte fraktions-übergreifende Untersuchungsaufträge ein Kernmerkmalder parlamentarischen Technikfolgenabschätzung, TA,ist. Eine rein quantitative Erhöhung von Untersuchungs-aufträgen steht dem entgegen. Allein bei der letzten Ent-scheidungsrunde wurde zum Teil aus Untersuchungs-wünschen mehrerer Fraktionen ein gemeinsamer undbearbeitbarer Antrag formuliert. Das Wissen über be-grenzte finanzielle Ressourcen fördert sinnvolle themati-sche Antragstellung zusätzlich.

Vor diesem Hintergrund ist die geforderte Mittelerhö-hung mit einer Festlegung der Struktur des TAB über die

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Dr. Thomas Feist

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Vertragslaufzeit 2013 hinaus nicht zu akzeptieren. Damitwürde die Flexibilität des TAB wegfallen. Wenn wir unsüberfraktionell über den Stellenwert wissenschaftlicherPolitikberatung einig sind, werden wir in besonderenFällen auch flexible Lösungen zur Unterstützung dieserArbeit finden. Wir werden uns also immer wieder dieFrage stellen müssen, welche Veränderungen nötig sind,um sich aktuellen Gegebenheiten anzupassen.

Darüber hinaus darf auch nicht vergessen werden,dass die Mittel des TAB im laufenden Haushalt maßvollerhöht worden sind, um sicherzustellen, dass das TABseine Aufgaben bis 2013 verlässlich erfüllen kann. Dasist in Zeiten knapper Haushaltskassen ein wichtiges Si-gnal.

Bezüglich der Forderungen der Anträge, mehr An-strengungen zu unternehmen, um das TAB öffentlichnoch sichtbarer zu machen, möchte ich aus der Bilanzdes TAB folgendes zitieren:

Die Rezeption der Ergebnisse parlamentarischerTA geht also weit über den Bundestag hinaus: Ver-bände, Nichtregierungsorganisationen, wissen-schaftliche und Bildungseinrichtungen, die Ministe-rien des Bundes und der Länder, Schüler sowieStudenten verfolgen interessiert die Arbeit des TABund fragen deren Ergebnisse nach. Insgesamt istdas Interesse an den TAB-Aktivitäten in zahlreichenFachöffentlichkeiten, aber auch in der breiterenÖffentlichkeit, über die Jahre auf hohem Niveaustabil geblieben. Obwohl das TAB keine intensivePresse- und Öffentlichkeitsarbeit betreibt, ist auchdie Medien- und Presseresonanz erfreulich, und dieMitarbeiter des TAB werden häufig um Interviewsoder Stellungnahmen gebeten. Ein Indiz für die öf-fentliche Aufmerksamkeit, die TA beim DeutschenBundestag genießt, sind nicht zuletzt auch die re-gelmäßigen Anfragen von wissenschaftlichen, poli-tischen und Bildungseinrichtungen an das TAB,über Ergebnisse aus den TAB-Projekten auf Tagun-gen und Kongressen zu berichten. Erhebliches Inte-resse gilt auch der Organisation und der Rolle vonTechnikfolgenabschätzung beim Deutschen Bun-destag generell. Dies zeigen an das TAB gerichteteAnfragen, über Arbeitsweise und Erfahrungen mitTA beim Deutschen Bundestag zu berichten. Auchals Adresse für interessierte Besucher erfährt dasTAB Wertschätzung im In- und Ausland, wie zahl-reiche Besucher aus Politik und Wissenschaft, aberauch Studenten- und Schülergruppen belegen.

Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen. Geradeauch die Beispiele der letzen Zeit, etwa die Vorstellungdes Berichtes „Gefährdung und Verletzbarkeit modernerGesellschaften – am Beispiel eines großräumigen Aus-falls der Stromversorgung“, haben das große Interessean Berichten des TAB gezeigt. Ich finde, wir können da-mit sehr zufrieden sein. Man wird mit wissenschaftlichenThemen selbstverständlich nie die Leserzahl einer Bou-levardzeitung erreichen; man darf aber auch nicht ver-gessen, dass es sich bei den TAB-Berichten um hoch-komplexe und umfangreiche Dokumente handelt, die

nicht beliebig komprimiert und damit medientauglichgemacht werden können.

Schlussendlich: Der Antrag der Grünen stellt ausmeiner Sicht eher eine generelle Abrechnung mit der Re-gierungspolitik dar, als das er sich auf das TAB bezieht.Die Äußerungen, dass Technikfolgenabschätzung Kern-kraftwerke verhindert hätte, und die Kritik an der Erfor-schung der Kernfusion sind so nicht mitzutragen. Es istsicherlich das gute Recht der Opposition, die Koalitionzu kritisieren. Der wissenschaftlichen Arbeit des TAB istdies allerdings nicht angemessen.

Florian Hahn (CDU/CSU): Das TAB haben wir vor über 20 Jahren gegründet.

Ziel war es, eine Institution zu schaffen, die uns in denweitreichenden Themenstellungen unserer Zeit mit wis-senschaftlichem Sachverstand zur Seite steht.

Dieser Thinktank des Parlaments hat sich in den letz-ten 20 Jahren national wie international einen guten Ruferarbeitet. Mit der Arbeit des TAB haben wir als Parla-mentarier einen sehr aktiven und kreativen Partner, deruns bei unserer Mitverantwortung für den gesellschaftli-chen Wandel unterstützt.

Im Zeitalter digitaler Medien und Kommunikation er-leben wir die Potenzierung von Informationsfluten. Da-her werden insbesondere auch von uns Politikernschnelle, kompetente und lösungsorientierte Entschei-dungen erwartet. Genau deshalb müssen wir uns auchimmer wieder kritisch fragen, inwieweit das TAB seinenAufgaben noch gerecht wird.

Das TAB beschäftigt derzeit acht Wissenschaftlerin-nen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen.Im Haushaltsplan ist dafür ein Etat von bislang jährlich2 Millionen Euro enthalten. Für die institutionelle Förde-rung stehen derzeit 1,4 Millionen Euro und für die Ver-gabe von Gutachten an externe Experten 613 000 Eurozur Verfügung. Das ist, wie ich finde, eine ordentlicheSumme, mit der bisher gute Ergebnisse erzielt werdenkonnten.

Die SPD fordert in ihrem Antrag eine Erhöhung derGelder für das TAB. Bereits im laufenden Haushalt 2011hat es jedoch eine solche Erhöhung gegeben. Daherstellt sich die Frage, ob die derzeit zur Verfügung ste-henden Gelder für das Büro für Technikfolgenabschät-zung nicht doch ausreichend sind. Eine solide Haus-haltskonsolidierung darf bei der derzeitigen Lage nichtaus den Augen gelassen werden. Aus meiner Sicht ist esdaher ratsam, mithilfe einer externen Evaluierung ge-nauestens zu untersuchen, ob an dieser oder jener StelleJustierungsbedarf oder Nachsteuerungsbedarf bei derArbeit des TAB notwendig geworden ist.

Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD, for-dern in Ihrem Antrag unter anderem mehr Gelder für dieÖffentlichkeitsarbeit des TAB. Aber brauchen wir das?Ich meine, wir brauchen das nicht. Das TAB erfüllt kei-nen öffentlichen Auftrag und ist eigens zur Unterstüt-zung unserer Parlamentsarbeit geschaffen worden. Esist weder eine Art nationale Akademie noch ein Ethikrat.Es ersetzt auch nicht die zahlreichen Expertenanhörun-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Florian Hahn

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gen, die in den letzten Jahren die Arbeit der Parlamen-tarier bei Gesetzgebungsverfahren unterstützten. DasTAB betreibt auch keine sozialethische Begleitfor-schung, keine explizite Risikoforschung und ist ebensonicht Teil eines Forschungsprogramms. Dafür greifenwir auf andere Instrumente zurück.

Daher ist es eine berechtigte Frage, wie oft wir Par-lamentarier oder auch die Bundesregierung die Dienstedes TAB tatsächlich in Anspruch nehmen und wie es umdie Zufriedenheit und Umsetzung bei den Auftraggebernhinsichtlich der einzelnen Berichte steht.

Zusätzlich gilt es zu untersuchen, ob das TAB den be-vorstehenden großen Zukunftsthemen in ausreichendemMaße gewachsen ist. Nehmen wir beispielsweise diederzeitige Energiewende und den Atomausstieg – einThema, das unser Land und die Gesellschaft in den letz-ten Wochen maßgeblich geprägt und auch verändert hat.Hier sind wir mit zahlreichen Fragestellungen techni-scher, gesellschaftlicher oder auch ethischer Natur kon-frontiert. Wir als Politiker müssen diese jederzeit zufrie-denstellend und vor allem schnell beantworten können.Daher muss auch das TAB in Bezug auf seinen In- undOutput evaluiert und kritisch betrachtet werden.

Wie Sie sich sicherlich erinnern können, gaben hinund wieder TAB-Berichte auch unserer Seite Anlass zuKritik. Es kam vor, dass Vertreter einzelner Fraktionendie methodischen Grundlagen, die empirische Basisoder bestimmte Schlussfolgerungen, die im Bericht ge-zogen wurden, bemängelten. Zudem wird immer wiederkritisiert, dass die Berichte zu lange auf sich warten las-sen. Hier gilt es aus meiner Sicht, wie bei jeder Institu-tion, die schon so lange etabliert ist, die Frage zu stel-len, ob die nötigen ursprünglichen Anforderungsprofilenoch erfüllt werden oder ob nicht doch bestimmte Nach-justierungen notwendig sind. Wir werden Ihrem Antragdaher nicht zustimmen.

René Röspel (SPD): Anfang der Woche publizierte die „Süddeutsche Zei-

tung“ einen Aufsatz des Mediziners Dietrich Grönemeyer.Er schreibt darin über den menschlichen Forschungs-drang und den Begeisterungswillen der Wissenschaftle-rinnen und Wissenschaftler für ihr Fach, der viele Er-gebnisse, Technologien und Produkte erst ermöglichhat. Gleichzeitig weist Professor Grönemeyer aber da-rauf hin, dass sich diese Wissenschaftler zu selten mitden möglichen negativen Auswirken dieser neuen Tech-nologien auseinandersetzen. „Die nötigen Sicherheits-konzepte werden immer erst in der Not, kaum aber vo-rausschauend entwickelt“, so schreibt Grönemeyer.

Leider hat Professor Grönemeyer mit dieser AussageRecht. Die schlimmen Vorfälle in Fukushima haben unsdies leider wieder schmerzlich vor Augen geführt. Voreiner realistischen Abschätzung der möglichen Folgender Atomkrafttechnik wurden dort, wie leider auch hierin Deutschland, viel zu lange die Augen verschlossen.Das war und ist verantwortungslos.

Aber zum Glück gibt es viele Wissenschaftlerinnenund Wissenschaftler, die sich über die möglichen negati-

ven wie positiven Auswirkungen von Technologie Ge-danken machen. Diesen eigenen Wissenschaftszweignennt man Technikfolgenabschätzung. Ich bin sehr stolzdarauf, dass das deutsche Parlament vor über 20 Jahrenein eigenes Büro zu diesem Thema eingerichtet hat, dassogenannte TAB. Dort werden genau diese wichtigenFragen behandelt. Es freut mich auch sehr, dass die Not-wendigkeit dieses Büros mittlerweile fraktionsübergrei-fend bestätigt wird. Ich weiß, dass einige Abgeordnetedafür in ihrer Fraktionen ziemlich viel Überzeugungsar-beit verrichten mussten. Aber spätestens seit Fukushimawächst auch in den konservativen Reihen die umfas-sende Erkenntnis, dass durch eine ernsthafte und früh-zeitige Beschäftigung mit Chancen und eben auch denRisiken allen Beteiligten viel Leid und Ausgaben erspartwerden kann. Denn nur wer die Risiken realistisch ein-schätzen kann, kann sich gegen diese wappnen und da-mit die Chancen der Technologie adäquat nutzen.

Stark beeindruckt hat mich zum Beispiel einer derletzten TAB-Berichte mit dem Thema „Auswirkungen ei-nes großflächigen Stromausfalls“. Hierbei untersuchendie Verfasser im Auftrag des Bundestages, wie gut bzw.schlecht Bereiche des täglichen Lebens wie zum Beispieldie Gesundheits- und Lebensmittelversorgung auf einenStromausfall vorbereitet sind. Und das Ergebnis ist nie-derschmetternd. So schreiben die Autoren:

Die Folgeanalysen haben […] gezeigt, dass bereitsnach wenigen Tagen im betroffenen Gebiet die flä-chendeckende und bedarfsgerechte Versorgung derBevölkerung mit (lebens-)notwendigen Gütern undDienstleistungen nicht mehr sicherzustellen ist.

Hier zeigt sich, wie verletzlich und abhängig wir inunser heutigen modernen Welt doch sind. Die vielenTeilnehmer bei der öffentlichen Vorstellung des BerichtsMitte Mai zeigen uns, wie groß das Interesse dafür ist.Die Erkenntnisse des Berichts stellen nicht nur Informa-tionen für Politik und Gesellschaft zur Verfügung, son-dern können sich auch zu einem Auftrag an die Politikentwickeln: zum Beispiel dafür Sorge zu tragen und dieVoraussetzungen zu schaffen, dass beschriebene Szena-rien möglichst nicht oder wenigstens abgemildert eintre-ten. Übersetzt für diesen Bereich wären das zum Beispielpolitische Initiativen zur Umgestaltung der Energiever-sorgung hin zu mehr Autarkie und Dezentralität.

TAB-Berichte nehmen oft gesellschaftliche Diskussio-nen vorweg. Dies haben wir bei den Berichten zur Nano-technologie, der Fusionsforschung oder dem CERN ge-sehen. Das Parlament beschäftigt sich vorab alsodurchaus mit möglichen Risiken von Technologien. AmEnde liegt es aber natürlich an uns Abgeordneten, wiewir mit den Informationen umgehen. Im Fall des Be-richts Stromausfall, den ich Ihnen wirklich allen zurLektüre empfehlen kann, hoffe ich, dass unsere Kollegin-nen und Kollegen in den entsprechenden Ausschüssendaraus die nötigen Konsequenzen ziehen.

Technikfolgenabschätzung ist ein wichtiger Bestand-teil der Wissenschaft. Wir im Deutschen Bundestag sinddabei bereits gut aufgestellt. Deshalb sollte es uns ei-gentlich leichtfallen, unsere europäischen Partner da-von zu überzeugen, zum Beispiel für das europäische

Zu Protokoll gegebene Reden

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René Röspel

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8. Forschungsrahmenprogramm mehr Geld für den Be-reich der Technikfolgenabschätzung zur Verfügung zustellen. Hier ist jetzt besonders die Bundesregierung ge-fragt auf europäischer Ebene tätig zu werden.

In unserem Antrag fordern wir unter anderem mehrGeld für das TAB. Denn die Anzahl der vom Parlamenteingeforderten Berichte steigt ständig. In den nächstenMonaten erwarten wir zum Beispiel Berichte zu so span-nenden Themen wie Elektromobilität, Synthetische Bio-logie, Geoengineering oder ökologischem Landbau. Umdiese so unterschiedlichen Themen in der nötigen Tiefeund Breite bearbeiten, braucht es aber auch die entspre-chende Anzahl an Mitarbeitern. Insofern ist es nur kon-sequent, dass nach langen Jahren der Stagnation auchdie Mittel für das TAB steigen. Die diesjährige Erhö-hung war ein erster Anfang. Es müssen aber, abhängigvom Arbeitspensum, weitere folgen. Die SPD-Bundes-tagsfraktion wird an diesem Thema dranbleiben.

Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Vor jetzt mehr als 20 Jahren wurde das Büro für Tech-

nikfolgenabschätzung (TAB) beim Deutschen Bundestaggegründet und leistet seitdem einen hervorragendenBeitrag für die Arbeit des Parlaments. Besonders anzu-erkennen sind aus meiner Sicht die Qualität und diehohe Zahl der bearbeiteten TA-Untersuchungen. Dass in2010 ein neuer Höchststand von Projektvorschlägen er-reicht wurde, zeigt die Bedeutung des Beratungsbedarfs.Die Arbeit des TAB fördert sowohl das Verständnis fürpotenzielle Auswirkungen und Folgen als auch die Ent-wicklungsmöglichkeiten von Technik und Wissenschaft.Über die Jahre hinweg haben die Berichte des TAB dieAbgeordneten des Deutschen Bundestags insbesonderedabei unterstützt, wichtige Entscheidungen auf aktuellerwissenschaftlicher Erkenntnis zu treffen. Darüber hi-naus fanden die Berichte auch außerhalb der Politik imöffentlichen Raum einen bemerkenswerten Anklang undNutzen, welcher an dieser Stelle in seiner Tragweite nurschwer abzuschätzen ist.

Insofern ist es bedauerlich, dass der Antrag vonBündnis 90/Die Grünen nur in Teilen die Qualität derArbeit des TAB würdigt. Die Beurteilung der Grünen,dass der TAB vorwiegend den kostengünstigen zugäng-lichen wissenschaftlichen Mainstream wiedergebe, istaus meiner Sicht ebenso nicht nachvollziehbar, genauso-wenig wie die Kritik, dass überwiegend Hauptfor-schungsrichtungen in die Arbeit einbezogen werden.Ebenso zu kritisieren ist am Antrag von Bündnis 90/DieGrünen die Forderung nach einem automatischen Auf-wuchs der finanziellen Ausstattung nach Umfang derAnforderungen. Dies führt nach meiner Auffassungzwangsläufig zu einer Untersuchungsflut und damit zueinem deutlichen Schwund der Qualität. Vielmehr müs-sen die Haushaltsmittel die Begrenzung beibehalten, umdas sehr wirkungsvolle Instrument der Politikberatungvor Beliebigkeit und temporären Interessen zu schützen.Aus diesem Grund ist auch der von der SPD geforderteAufwuchs der zu bearbeitenden TA-Untersuchungen ab-zulehnen. Die FDP legt einen höheren Wert auf Qualitätals auf Quantität und lehnt eine reine Erhöhung der Zahlder TA-Untersuchungen ab. Inhaltliche Prioritäten sind

nach meiner Auffassung entscheidend. Der in den Anträ-gen von SPD und Grünen geforderten Aufstockung derHaushaltsmittel für das TA-Büro wurde nun, nach Jah-ren der Stagnation, für das Haushaltsjahr 2011 entspro-chen.

Mit Blick auf die Forderung von Grünen und SPD,die Bundesregierung möge sich für die Sichtbarkeit desTA auf internationaler Ebene einsetzen, weise ich daraufhin, dass das TAB nicht nur ein aktives Mitglied des„European Parliamentary Technology Assessment“-Netzwerks ist, sondern auf der letzten EPTA-Konferenzin Kopenhagen die deutsche Präsenz und Rolle überauspositiv wahrgenommen wurde. Da beide Anträge wederdem aktuellen Stand noch unserer grundlegenden Hal-tung entsprechen, stimmen wir den Anträgen nicht zu.

Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Der Radiologe Dietrich Grönemeyer hat jüngst in der

„Süddeutschen Zeitung“ zum notwendigen Umdenken inder Wissenschaft nach Fukushima gesagt, dass es dabeinicht um neue Bescheidenheit im Sinne der Begrenzungwissenschaftlicher Neugier gehen könne. Der For-schung Maulkörbe aufzuerlegen, sei nicht wirksam undgehe vor allem am Kern des Problems vorbei.

Was also ist das Problem, auf das uns menschlicheund ökologische Tragödien wie in Fukushima oder aufder Tiefseebohrinsel „Deepwater Horizon“ stoßen? DasProblem ist die einseitige Beantwortung von gesell-schaftlichen Herausforderungen durch technologischeGroßprojekte. Deren Lösungskompetenz wird alleine ander Ingenieursleistung gemessen. Zudem ist damit ausmeiner Sicht oft ein anderes Problem eng verwoben: dashäufig durchschaubare, aber nicht sichtbar gemachteökonomische Interesse einflussreicher Lobbygruppen.Technikbegeisterung und ökonomische Profite für parti-kulare Gruppen sind seit Beginn des bürgerlichen Zeit-alters mächtige Verbündete gewesen. Den Nimbus derAufklärung haben sie aber längst verloren und werdennicht erst seit heute mit Forderungen nach ökologischerNachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit konfrontiert.Trotzdem fördert diese Bundesregierung Projekte wieaus einer anderen Zeit.

Sie unterschlägt dabei gefährlich oft, dass Großpro-jekte ja große Probleme lösen wollen, weshalb eine tech-nische Lösungsmatrix nicht ohne ein entsprechendesGegenüber in der sozialen und politischen Wirklichkeitauskommt. Aus diesem Grunde hat die Linke immer dastotale Schadensrisiko und die ungelöste Endlagerfrageder Kernkraft kritisiert, das Milliarden-Euro-Grab ITERabgelehnt und ausreichende öffentliche Erforschung derRisiken der Nanotechnologien eingefordert. Aktuelle be-unruhigende Ergebnisse zur Umweltgiftigkeit von Nano-silber zeigen beispielsweise, dass auch hier eine Zeit-bombe tickt.

Was also leider zu häufig in der Politik fehlt, ist eineumfassende Technikfolgenabschätzung des Einsatzesvon unbekannten oder mit einem bekannten gewissen Ri-siko ausgestatteten Materialien, Technologien oder In-strumenten.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13573

Dr. Petra Sitte

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Ehrgeizige Projekte wie Kernkraftwerke am Meeres-ufer in Fukushima, die alles an Hochtechnologie undHightechmaterial aufbietenden Tiefseebohrinseln, aberauch die finanzmathematisch komplexen und sich aufdie Wirtschaft ganzer Staaten katastrophal auswirken-den Finanzderivate, sie alle lehren uns, dass hier wenigüber soziale und ökologische Folgeprobleme oder Kri-senvorsorge nachgedacht worden ist.

Sie lehren uns schließlich auch, dass Technologieför-derung von Glaubenssätzen getragen wird und nicht pri-mär vom wissenschaftlichen Fortschritt. Wenn die Tech-nologien zu Störfällen werden, dann im Kern häufignicht aufgrund von Technikversagen, sondern da sieohne ausreichende Vorsorge angelegt und überhauptnur eingesetzt werden, weil die politisch Verantwortli-chen die Welt einseitig betrachten und sich der rationa-len Begutachtung von sozioökologischen Risiken ver-weigern.

Nun ist wissenschaftliche Politikberatung in letzterZeit begehrt wie nie, wie die von der Regierung einge-setzte Ethik-Kommission zur Zukunft der Energie inDeutschland zeigt. Sie wird zugleich heftig angegangen.An der Stellungnahme der Akademie der NaturforscherLeopoldina zum zukunftsfähigen Energiemix in Deutsch-land und den Empfehlungen des Ethikrats für eine be-grenzte Zulassung der Präimplantationsdiagnostik ent-zündete sich eine öffentliche Debatte, ob Wissenschaftüberhaupt Politik beraten sollte. Von Entmachtung derPolitik durch ihre Verwissenschaftlichung war die Rede.Umgekehrt beklagten Forscherinnen und Forscher, dieandere Auffassungen als die aufgezeigten Studien ver-treten, eine Politisierung des Wissenschaftsbetriebs.Was beide Seiten übersehen ist, dass die genannten Ten-denzen zwar etwas über die – ja gerade gewollte – Be-deutung des einen Bereichs für den jeweils anderen sa-gen, deswegen aber noch lange nichts über dessenArbeitsweise. Wissenschaft soll unterschiedliche Blick-winkel, Deutungsmöglichkeiten jenseits von tradiertenPfaden und Verantwortung für Folgekosten aufzeigen,die alle die Meinungsbildung von Politikerinnen undPolitikern unterstützen. Sie soll aber natürlich nichtpolitische Entscheidungen ersetzen: Politisch kann manentscheiden, ein Risiko einzugehen, wenn die Gefahrenbeherrschbar und die erwarteten gesellschaftlichen Ge-winne groß erscheinen. Nur soll kein Abgeordneter undkeine Abgeordnete sagen können, er oder sie hätte esnicht anders gewusst.

Das Büro für Technikfolgenabschätzung, das im Mit-telpunkt der heute debattierten Anträge steht, kann einerDiskussion um wissenschaftliche Unabhängigkeit her-vorragend standhalten. Das liegt an seiner besonderenAnlage. Denn es wird von einem außeruniversitärenForschungsinstitut betrieben, das alleine über Perso-nalfragen entscheidet. Weder Regierung noch Bundes-tag können sich da einmischen. Den Ruf der Unabhän-gigkeit hat sich das TAB in den letzten 20 Jahrenerarbeiten und halten können. Entsprechend sind vieleseiner Stellungnahmen in die parlamentarische Bearbei-tung geflossen und auch für die Fachöffentlichkeit einebegehrte Referenz. Es hatte sichtbare Anstöße gegebendafür, Energiespeichermedien als Vorbedingung für er-

neuerbare Energien zusätzlich zu fördern, das Potenzialtransgener Pflanzen nicht zu überschätzen und Risiko-forschung zu Nanotechnologien ernsthaft anzugehen.Zudem macht das große Interesse an öffentlichen Fach-gesprächen wie zuletzt zu Perspektiven eines großflächi-gen Stromausfalls den Bundestag verstärkt zum Ort fürvorausschauende gesellschaftliche Debatten.

Vor diesem Hintergrund ist es mir völlig unverständ-lich, weshalb sich die Christdemokraten seit Jahren wei-gern, das Budget des TAB aufzustocken. Es erhält seitseiner Gründung erstmals eine kleine Erhöhung. Den-noch wird sich nicht grundsätzlich an der Tatsache et-was ändern, dass zwei Drittel der von Ausschüssen undFraktionen eingereichten Anträge vom TAB nicht bear-beitet werden können. Gerade in Zeiten multipler Krisenmüsste es über alle Fraktionsgrenzen hinweg einen Kon-sens darüber geben, dass Technikfolgenabschätzung un-sere Zukunft sichert! Wenn Politik, gerade christlich-konservative Politik, seriös sein will, sollte sie beidenAnträgen zustimmen.

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Büro für Technikfolgenabschätzung existiert

nunmehr seit über 20 Jahren. Nach langer Debatte, dieschon in den 1970er-Jahren begann, konnte das TAB1990 endlich seine Arbeit aufnehmen. Seitdem bietet esmeist qualitativ hochstehende und insbesondere inte-ressensunabhängige Beratungsgrundlagen für diesesHaus. Damit erhalten wir oft eine wertvolle Unterstüt-zung für unseren Meinungsbildungsprozess, gerade aufGebieten, die sehr komplex sind und vor allem neuartigetechnologische und sozioökonomische Sachverhalte be-treffen.

Zu den zentralen Aufgaben des TAB gehört es, die Po-tenziale neuer Technologien zu skizzieren und gleichzei-tig deren gesellschaftliche und ökologische Auswirkun-gen abzuschätzen. In dieser Aufgabe hat das TAB in denletzen Jahren viele Entscheidungsfindungen maßgeblichbeeinflusst. Als Beispiele möchte ich hier die Fälle desRaumgleiters Sänger II und die Bioethik nennen. DasSänger-II-Projekt illustriert sehr gut, wie die Untersu-chungen des TAB dazu beitragen können, unsinnige Ent-wicklungen zu verhindern. Erst durch den TAB-Berichtwurden grundlegende Fragen nach der Wirtschaftlich-keit der Entwicklung eines neuen Raumgleiters aufge-worfen. So konnten unnötige öffentliche Forschungsaus-gaben vermieden werden. Bei der Debatte um dieBioethik haben die Berichte des TAB wichtige Hilfestel-lungen für eine differenzierte Meinungsbildung gege-ben.

Die Arbeit des Parlaments deckt eine immer größereBandbreite an Themenfeldern ab. Gleichzeitig wird ausfast allen Gebieten der Fachpolitik ein erhöhter Bedarfan umfangreicher Technikfolgenabschätzung angemel-det. Leider bekommt das TAB seit nunmehr 15 Jahren ei-nen unveränderten Finanzrahmen. Das Budget lag jah-relang bei 2,045 Millionen Euro jährlich. Real sorgtedie Inflation sogar für eine sinkende finanzielle Ausstat-tung. Deshalb musste das TAB aus Kapazitätsmangel al-lein in dieser Legislaturperiode zwei Drittel der Anfra-

Zu Protokoll gegebene Reden

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gen abweisen. Immerhin gab es im Haushalt 2011 einenInflationsausgleich.

Die mangelnde finanzielle Ausstattung führt dazu,dass das TAB vorwiegend auf den wissenschaftlichenMainstream zurückgreifen kann. Wozu dies führt, konn-ten wir 2006 bei der Einschätzung des TABs zur Elektro-mobilität erleben. Der wissenschaftliche Mainstream tatdie Chancen der Elektromobilität mit Batterien als be-deutungslose Nischenanwendung ab. Das TAB kam zurgleichen Auffassung, da ihm die Mittel für alternativeUntersuchungen fehlten. Kaum sechs Monate späterwurde die Elektromobilität zum politischen Mainstream-thema. Hätte das TAB damals die Kapazitäten gehabt,auch alternative Quellen zu sichten und zu bewerten,wäre womöglich eine andere Sichtweise herausgekom-men.

Wer nun moniert, dass der Bundestag gerne die Gel-der für eigene Institutionen aufbläht, dem sei vor Augengeführt, dass das TAB eine erfolgreiche und wichtige In-stitution zur Vermeidung von Mittelverschwendung ist.Das von mir bereits angesprochene Sänger-II-Projekthätte den Steuerzahler Milliarden gekostet. Wären dieEinwände des TAB zum ITER-Projekt gehört worden,dann hätten wir auch dort Milliarden einsparen könnenfür eine Technik, die uns auf absehbare Zeit keinen ener-giepolitischen Nutzen bringen wird. Wenn es das TABschon in den 1950er-Jahren gegeben hätte, wäre viel-leicht auch die Atomkraft nie zu diesem Milliardenpro-jekt geworden, von deren finanzieller Belastung nochGenerationen betroffen sein werden und von dem wiruns erst heute, viele Jahrzehnte später, gemeinsam ver-abschieden.

Konkret wollen wir eine kontinuierliche Erhöhungder finanziellen Ausstattung des TAB, um den steigendenAnforderungen an eine erkenntnisgestützte Entschei-dungsfindung gerecht zu werden.

Wir fordern die Bundesregierung auf, die unabhän-gige Begleitforschung als festen Bestandteil in die For-schungsprogramme aufzunehmen und in besonders kri-tischen Bereichen sowie in der Projekt- und Ressort-forschung grundsätzlich fünf Prozent der Mittel für dieTechnikfolgenabschätzung zu reservieren. Die Abschät-zung von Technikfolgen kann damit zum selbstverständ-lichen Bestandteil der Forschung werden.

Auf der internationalen Ebene soll sich die Bundesre-gierung dafür einsetzen, dass die Technikfolgenabschät-zung institutionalisiert wird, besonders auf der Ebeneder Europäischen Union, der OECD und der VereintenNationen.

Das TAB bietet eine Fülle wertvoller Politikberatun-gen. Wir sollten in allen Fraktionen mehr noch als bis-her die Empfehlungen des TAB in den politischen Ent-scheidungen berücksichtigen und dem TAB die nötigefinanzielle Ausstattung geben, uns kompetent und um-fassend beraten zu können.

Vizepräsident Eduard Oswald:Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/6287, den Antrag der Fraktion der SPDauf Drucksache 17/3414 abzulehnen.

Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Dassind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Das sinddie drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? – Keine.Die Beschlussempfehlung ist angenommen.

Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnungdes Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 17/3063. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Ge-genprobe! – Das sind die drei Oppositionsfraktionen.Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung istangenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten RenéRöspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD

Polarregionen schützen – Polarforschung stär-ken

– Drucksache 17/5228 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Auswärtiger AusschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-ginnen und Kollegen liegen bei uns vor. Sie sind auchdamit einverstanden.

Ewa Klamt (CDU/CSU): Die Erforschung der Polarregionen übt seit über

200 Jahren eine ungebrochene Faszination auf dieMenschheit aus. Bereits Mitte des 18. Jahrhundert zoges Forscher in die Arktis und Antarktis. Damals warendie Motive für die waghalsigen Expeditionen im Nordendie Entdeckung neuer Landgebiete oder Wasserwege,im Süden die Erforschung des neu entdeckten Konti-nents Antarktika. Später kamen die Bezwingung dergeografischen Pole sowie neue Erkenntnisse für Geo-physik, Ozeanografie, Glaziologie, Biologie und weitereWissenschaften hinzu.

Inzwischen ist die Bedeutung der Polarforschungeine Umfassendere und für die gesamte Weltgemein-schaft Bedeutendere. Heute wissen wir, dass den Polar-regionen eine maßgebliche Bedeutung in der Entwick-lung des Weltklimas zukommt.

Für das europäische Klima spielt die Arktis eine ent-scheidende Rolle. Der Klimawandel ist eine der größtenHerausforderungen des 21. Jahrhunderts. Die Tempera-turen steigen weiterhin an. Welche Folgen beispiels-weise ein Auftauen des Permafrosts und die voraussicht-lich damit einhergehende Freisetzung großer CO2-Mengen haben wird, muss erst noch erforscht werden.

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Auch die schonende und nachhaltige Nutzung der arkti-schen Ressourcen muss Gegenstand künftiger For-schung sein.

Untersuchungen betreibt die deutsche Polarfor-schung sowohl in der Arktis als auch in der Antarktis.Seit 1980 wird sie mit großem Erfolg durch das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung koor-diniert. Als zentrales Institut für die Polarforschungleistet es heute in der Helmholtz-Gemeinschaft im Rah-men der programmorientierten Forschung interdiszipli-näre Arbeiten von hohem internationalen Stellenwert inden Polarregionen.

Auch die Deutsche Gesellschaft für Polarforschunghat sich seit ihrem Bestehen um dieses bedeutende For-schungsfeld – insbesondere im Hinblick auf die Nach-wuchsförderung – verdient gemacht. In ihr finden sichaktive Forscher aller Disziplinen vereinigt. Damit ist sieein wichtiges Instrument interdisziplinärer Koordinationund Zusammenarbeit. Kapazität und Expertise deut-scher Polarforschung finden heute internationale Aner-kennung.

Im heute zur Debatte stehenden Antrag fordert dieSPD die Bundesregierung auf, sowohl in der Bundesre-publik als auch im Rahmen des 8. Forschungsrahmen-programms der EU ein eigenes Polarforschungspro-gramm aufzunehmen.

Die Bundesregierung trägt der herausragenden Be-deutung der Polarforschung bereits heute mit einer Viel-zahl von Projekten und Programmen und InitiativenRechnung. Das Bundesministerium für Bildung undForschung fördert die Polarforschung durch das Rah-menprogramm „Forschung für nachhaltige Entwick-lung“ mit circa 10 Millionen Euro je Projektförderungan außeruniversitären Institutionen und Universitäten.Das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresfor-schung wird durch das Ministerium im Jahr 2011 mitrund 94 Millionen Euro gefördert. Dazu gehört unteranderem der Betrieb der Neumayer-Station III in derAntarktis und des Forschungsschiffes Polarstern. Au-ßerdem fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaftdie Polarforschung zusätzlich mit einem eigenenSchwerpunktprogramm „Antaktisforschung mit verglei-chenden Untersuchungen in arktischen Eisgebieten“.

Insgesamt ist seit der vergangenen Legislaturperiodedie Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchsesdurch Maßnahmen erheblich ausgebaut worden: Mitdem Pakt für Forschung und Innovation steigen die Zu-schüsse für die gemeinsam mit den Bundesländern ge-förderten Forschungseinrichtungen (Fraunhofer-Ge-sellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft, Max-Planck-Gesellschaft und Leibniz-Gemeinschaft) sowie die Deut-sche Forschungsgemeinschaft in den Jahren 2011 bis2015 jährlich um 5 Prozent – hiervon profitieren indirektauch die DFG-Programme zur Förderung des wissen-schaftlichen Nachwuchses.

Vergangenes Jahr ging die Exzellenzinitiative in diedritte Runde. Das Fördervolumen wurde um 30 Prozentauf rund 2,7 Milliarden Euro mit einer Laufzeit bis 2017gesteigert. Die Bundesregierung will mit der Fortset-

zung der Exzellenzinitiative den WissenschaftsortDeutschland nachhaltig stärken, seine internationaleWettbewerbsfähigkeit verbessern und Spitzenforschungan deutschen Hochschulen sichtbar machen.

Die Promotionsstipendien der zwölf durch das Minis-terium für Bildung und Forschung unterstützten Begab-tenförderungswerke wurden qualitativ wie quantitativausgebaut. Die Bedingungen für den wissenschaftlichenNachwuchs insgesamt sind in Deutschland daher so gutwie nie. Davon profitiert auch die Polarforschung.

Eine weitergehende Verlagerung von Kapazitätenund Mitteln zugunsten der Polarforschung könnte nurzulasten anderer wichtiger Forschungsbereiche vollzo-gen werden. Dies erscheint uns in Anbetracht der Viel-zahl bereits bestehender sowie in Planung befindlicherProgramme nicht angemessen.

Auch das Bundeswirtschaftsministerium fördert imBereich des Referates „Maritime Wirtschaft“ Verbund-vorhaben zur Entwicklung von Verfahren für eine wirt-schaftliche Nutzung des nördlichen Seeweges. Grund-lage hierfür bildet eine verlässliche Eisvorhersagesowie die Modellierung der meteorologischen und ozea-nografischen Daten. Die Daten sollen anhand eines Da-tenassimilationssystems ausgewertet und für die Schiff-routenoptimierung zugänglich gemacht werden. Fürdieses Verbundprojekt, an welchem neben Unternehmenauch das Alfred-Wegener-Institut sowie die Universitä-ten Bremen und Hamburg beteiligt sind, stellt das Minis-terium 2,3 Millionen Euro zur Verfügung.

Innerhalb der Europäischen Union ist DeutschlandMitglied des European Polar Board. Im Rahmen desERA-NET EUROPOLAR werden zahlreiche Projekte fi-nanziell unterstützt. Viele von ihnen finden unter deut-scher Beteiligung statt.

Im Zuge der Entwicklung der EU-Meerespolitik hatdie Europäische Kommission 2008 einen Aktionsplan fürdie Arktis vorgelegt, der Vorschläge für detaillierte Ent-wicklungen in der arktischen Forschung enthält. DieseEntwicklung soll in eine EU-Arktispolitik münden.

Auch der Ausbau der Infrastruktur für die Polarfor-schung wurde in den zurückliegenden Jahren durch dasBundesministerium für Bildung und Forschung finan-ziell unterstützt. Dazu gehören die Anschaffung polar-tauglicher Flugzeuge und die Ausstattung der Neu-mayer-Station III für den Pilotbetrieb. Das durch dasMinisterium geförderte modulare multidisziplinare Mee-resboden-Observatorium (MoLab) zur Erfassung physi-kalischer und biogeochemischer Prozesse im Bereich desMeeresbodens und der bodennahen Wasserschicht anKontinentalrändern schließt eine entscheidende Lückezwischen den geplanten, räumlich gebundenen verkabel-ten regionalen Observatoren und schiffsgestützten Mo-mentaufnahmen. Das System ist in allen Meeresgebieteneinsetzbar.

Mit Blick auf die Forschungsschiffe hat das Bundes-ministerium für Bildung und Forschung zugesagt, demDeutschen Bundestag eine Gesamtschiffstrategie vorzu-legen. Ich bin davon überzeugt, dass die Erkenntnissedes von der Bundesregierung selbst beim Wissenschafts-

Zu Protokoll gegebene Reden

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rat in Auftrag gegebenen Gutachtens „Empfehlungenzur zukünftigen Entwicklung der deutschen marinenForschungsflotte“ hier nach Möglichkeit Eingang fin-den werden.

Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): Wir debattieren heute einen Antrag der SPD-Fraktion

unter dem Titel „Polarregionen schützen – Polarfor-schung stärken“. Primär fordert die SPD darin ein fo-kussierendes Programm für Polarforschung – sowohl inDeutschland als auch auf der Ebene der EuropäischenUnion im 8. Forschungsrahmenprogramm.

Die Erforschung der Polargebiete steht heute noch amAnfang, die zentrale Arktis gehört zu den am wenigstenerforschten Regionen der Welt. Wissenschaft, Politik undWirtschaft sind sich aber der Bedeutung der Gebiete fürdie Erforschung der Ursachen des Klimawandels undanderer geopolitischer Entwicklungen durchaus be-wusst. Die Forderung der SPD, die Polarforschung zustärken, ist daher grundlegend zu begrüßen. Jedoch teileich nicht die Meinung der SPD-Fraktion, dass wir hier-für neue Strukturen benötigen.

Deutschland ist im internationalen Vergleich einesder Länder, das der Polarforschung die stärkste Auf-merksamkeit zukommen lässt und aufgrund der äußersterfolgreichen Forschung in diesem Bereich einen inter-national führenden Ruf genießt. Auch in dem Antrag derSPD wird dies festgestellt. Der Erfolg der deutschen Po-larforschung ist nach der Analyse des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI) zum ei-nen auf die langjährigen Forschungserfahrungen, zumanderen aber auch auf die gute Ausstattung mit wissen-schaftlichen Infrastrukturen und Großgeräten – bei-spielsweise der Forschungseisbrecher Polarstern, dieNeumeyer Station III oder das Polarflugzeug 5 – zurück-zuführen. Noch 2011 soll das Polarflugzeug Polar 6 inBetrieb gehen, über einen Nachfolger für den For-schungseisbrecher Polarstern wird momentan intensivdiskutiert.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschungfördert das Alfred-Wegener-Institut 2011 mit rund94 Millionen Euro. Darüber hinaus unterstützt dasMinisterium im Jahr 2011 die nationale Polarforschungan außeruniversitären Institutionen und Universitätenmit circa 10 Millionen Euro aus dem Rahmenprogramm„Forschung für nachhaltige Entwicklung“ (FONA).

Im Zuge der Verhandlungen zum 8. Forschungsrah-menprogramm hat die Bundesregierung das Zielverfolgt, die bisher erfolgreiche Förderung der Polar-forschung im Umweltteil des Rahmenprogramms fortzu-setzen. Des Weiteren werden auch in Zukunft diverse eu-ropäische Förderinstrumente und Verfahren genutztwerden, um die deutsche mit der europäischen Polarfor-schung zu koordinieren. Eine enge Vernetzung der natio-nalen Forschung mit den Bemühungen der internationa-len Partner ist eine Voraussetzung für deren Erfolg.

Im Moment werden durch die deutsche Polarfor-schung Untersuchungen sowohl in der Arktis als auch inder Antarktis durchgeführt. Ein Schwerpunkt liegt der-

zeit aber auf der Arktisforschung, da dort jetzt und auchin Zukunft die größten Veränderungen zu erwarten sind.Diese Einschätzung deckt sich auch mit der Meinungvon Frau Professor Karin Lochte, Direktorin des AWI,die diese Schwerpunktsetzung als durchaus gerechtfer-tigt ansieht. Das Bundesministerium für Bildung undForschung wird nun diesen Entwicklungen und Progno-sen Rechnung tragen und veröffentlicht voraussichtlichnoch in diesem Jahr eine Programmschrift „Arktisfor-schung“. Aber auch wenn zum jetzigen Zeitpunkt derFokus auf der Arktis liegt, wird die Antarktisforschungnicht in Vergessenheit geraten.

Im Rahmen der Arktisforschung soll insbesonderezwei zentralen Fragen nachgegangen werden. Für dieEntwicklung des globalen Klimas sind zum einen die Ur-sachen und Folgen der Erwärmung der Arktis und derRückgang des Land- und Meereises von großer Bedeu-tung. Zum anderen trägt die Forschung über die Chan-cen und Risiken der Nutzung der in der Arktis vorhande-nen unerschlossenen natürlichen Ressourcen zurnachhaltigen Entwicklung bei.

Neben dem Bundesministerium für Bildung und For-schung fördert auch das Bundeswirtschaftsministeriumdie deutsche Polarforschung. Das Auswärtige Amt hatim März dieses Jahres eine Konferenz unter dem Titel„Klimawandel, Völkerrecht und Arktisforschung –Rechtliche Aspekte der Meeresforschung im ArktischenOzean“ veranstaltet. Im Zuge der Konferenz wurde ge-meinsam mit den Partnernationen erörtert, unter wel-chen Bedingungen die Arktisforschung heute und in Zu-kunft betrieben werden kann.

Die Bemühungen der Bundesressorts zeigen, welcheBedeutung der Polarforschung bereits heute beigemes-sen wird. Dieses Niveau gilt es zu halten bzw. soweit esmöglich ist, zu erhöhen. Meines Erachtens benötigt diedeutsche Polarforschung hierfür aber keine neuenStrukturen.

René Röspel (SPD): Am 15. Juni ist das deutsche Forschungsschiff, „Po-

larstern“ in Richtung arktischer Ozean in See gesto-chen. Während der fast viermonatigen Reise werdenüber 130 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aussechs Ländern an drei Fahrtabschnitten teilnehmen. Da-bei untersuchen sie zum Beispiel wie sich über die Jahredie Meeresströmungen und die Tier- und Pflanzenweltzwischen Spitzbergen und Grönland verändern. Hierbeisollen zum Beispiel Rückschlüsse auf den Einfluss derpolaren Meere auf den globalen Ozean gezogen werden.In einem zweiten Fahrtabschnitt soll untersucht werden,wie Organismengemeinschaften auf die fortschreitendeOzeanerwärmung reagieren. Im letzten Fahrtabschnittwollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlerphysikalische, biologische und chemische Untersuchun-gen zur abnehmenden Meereisbedeckung unternehmen.All diese Experimente fallen unter die Polarforschung.

Wie man an diesen Beispielen exemplarisch sehr gutsieht, ist dieser Forschungszweig sehr vielfältig. Er istgrundsätzlich multidisziplinär und international aufge-stellt. An ihm beteiligt sind unter anderem Wissenschaft-

Zu Protokoll gegebene Reden

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René Röspel

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lerinnen und Wissenschaftler der Geografie, Kartografie,Geologie, Mineralogie, Geophysik, Geodäsie, Ozeano-grafie, Meteorologie, Biologie, Geoökologie, Anthropolo-gie, Ethnologie, Medizin, Physik und zahlreicher Technik-wissenschaften.

Deutschland ist seit langem ein wichtiger Akteur imBereich der Polarforschung. Die erste deutsche Nord-polarexpedition fand bereits 1868 statt. Viele Expeditio-nen scheiterten damals an der ungeeigneten Ausrüstung.So fehlten insbesondere polartaugliche Schiffe. Für dieerste deutsche Südpolarexpedition von 1901 bis 1903wurde extra ein für die polaren und eisbedeckten Mee-resgebiete spezialisiertes Forschungsschiff gebaut. Eswar damals eines der modernsten Forschungsschiffe derWelt.

Bei den ersten Polarreisen war der Drang zur Entde-ckung bis dahin unbekannter Regionen der Hauptbe-weggrund. Das änderte sich mit der Zeit. Mehr undmehr wurde den Beteiligten klar, dass die wissenschaft-lichen Ergebnisse bezüglich der Polarregionen wichtigeRückschlüsse auch für den Rest der Erde zulasen konn-ten. So hatte zum Beispiel die letzte Expedition des deut-schen Polarforschers Alfred Wegener Anfang des20. Jahrhunderts das Ziel, aus Messungen des grönlän-dischen Inlandeises Rückschlüsse auf das Klima in Mit-teleuropa zu ziehen.

Die Polargebiete spielen bei der Klimasteuerung derErde eine wichtige Rolle. Schon deshalb ist es richtig,dass Deutschland die Polarforschung substanziell un-terstützt. Zur Koordinierung und Bereitstellung einesgroßen Teils der benötigten Infrastruktur ist in Deutsch-land das Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhavenzuständig. Es unterhält zum Beispiel Polarforschungs-stationen, Polarforschungsflugzeuge und die bereits ge-nannte „Polarstern“. Darüber hinaus arbeiten Wissen-schaftlerinnen und Wissenschaftler am IFM Geomar inKiel sowie an Max-Planck-Instituten bzw. Universitätenan diesem so wichtigen Forschungsthema. Im Ganzen istDeutschland in diesem Bereich sehr gut aufgestellt.Dennoch braucht dieser Forschungszweig weiterhineine kontinuierliche finanzielle Unterstützung. Insbe-sondere die Förderung des wissenschaftlichen Nach-wuchses erscheint mir hierbei ausbaufähig.

Um in den Polargebieten zu forschen, wird besondereInfrastruktur benötigt. Die Schiffe, Flugzeuge, Unter-wassergeräte und Bodenstationen müssen extremenTemperaturen trotzen und gleichzeitig höchste Ansprü-che des wissenschaftlichen Arbeitens ermöglichen.Keine einfache Aufgabe. Aber das deutsche Know-howund die über hundertjährigen Erfahrungen zahlen sichhierbei aus. So ist zum Beispiel die „Polarstern“, trotzdieses 30-jährigen Einsatzes immer noch der einzigeForschungseisbrecher weltweit, der beide Pole befährtund ganzjährig einsetzbar ist. Für dieses „wissenschaft-liche Arbeitstier“ muss nun bald Ersatz gefunden wer-den.

Anfang des Jahres konnte man in „Nature“ lesen, dassdas „Polar Research Board“ der amerikanischen „Natio-nal Academy of Science“ in ihrem neuen Bericht dazuauffordert, die Forschung an den beiden Polen stärker zu

verzahnen. Durch mehr „bipolare“ Forschung erhoffensich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlerschnellere Ergebnisse über die Auswirkungen des Klima-wandels. Auch der deutsche Wissenschaftsrat hat in sei-ner aktuellen Stellungnahme zu den deutschen For-schungsschiffen darauf hingewiesen, dass wir zeitweisezwei eisbrechende Forschungsschiffe brauchen, um beidePolegebiete ganzjährig zu beforschen.

Meine Damen und Herren, sie sehen, unsere Forde-rung im hier vorliegenden Antrag nach mehr bipolareinsetzbarer Forschungsinfrastruktur kommt direkt ausder Wissenschaft. In Zeiten, in denen wir uns sowiesoüber einen Neubau Gedanken machen müssen, solltenwir uns diesen Überlegungen deshalb nicht verschlie-ßen. Insofern hat es mich gefreut, dass BundesministerinSchavan für die nächsten Jahre 650 Millionen Euro fürdie Erneuerung der Forschungsflotte angekündigt hat.Leider stammt dieser Satz aus dem Jahre 2008. Deshalbdie konkrete Frage, Frau Schavan: Wann genau gibt esdenn nun einen Nachfolger für die „Polarstern“?

Logisch ist, dass Deutschland die Polarforschungnicht alleine stemmen kann. Hier ist ein Mehr an euro-päischer Förderung notwendig. Leider zeigt das schein-bare Scheitern des europäischen Forschungseisbrechers„Aurora Borealis“, dass auf diesem Gebiet noch einigerVerbesserungsbedarf besteht. Immerhin hat die Bundes-republik bereits über 5 Millionen Euro in eine Machbar-keitsstudie zur „Aurora Borealis“ gesteckt. Die Bundes-regierung muss deshalb auf europäischer Ebene dafürsorgen, dass es in Zukunft verlässliche Zusagen von un-seren europäischen Partnern in diesem Bereich gibt.

Und noch eine dringende Aufgabe habe ich für dieBundesregierung. Sie muss sich verstärkt dafür einset-zen, dass die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlerin der Arktis Bewegungs- und Arbeitsfreiheiten behal-ten. Denn es besteht die ernsthafte Befürchtung, dassdurch die Erderwärmung bei den Anrainerstaaten wirt-schaftliche Interessen in den bisher eisbedeckten Gebie-ten geweckt werden, die wir sehr kritisch sehen. AlsKonsequenz erleben bereits heute Wissenschaftlerinnenund Wissenschaftler, dass ihnen der Zugang zu Teilender Polargebiete verwehrt wird. Hier muss unbedingteine internationale Lösung gefunden werden.

Die Polarforschung ist nicht nur ein sehr spannendesThema, sondern berührt elementare Fragen unseresWissens über das Klima. Eine breite Unterstützung fürdie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von uns,den Mitgliedern des Deutschen Bundestages, wäre des-halb sehr wünschenswert. Ich bitte Sie deshalb, unseremAntrag zuzustimmen.

Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP):Deutschland nimmt in der Polarforschung einen füh-

renden Platz ein, für dessen Erhalt die Wissenschaftle-rinnen und Wissenschaftler in den unterschiedlichstenEinrichtungen exzellente Forschung leisten. Neben demAlfred-Wegener-Institut für Polar- und Meereswissen-schaften, AWI, dem Leibniz-Institut für Meeresfor-schung an der Universität Kiel, IFM-GEOMAR, derBundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe,

Zu Protokoll gegebene Reden

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BGR, basiert die deutsche Polarforschung auf den zahl-reichen Universitätsinstituten und den Kooperationenuntereinander. Die deutsche Polarforschung konnte da-bei stets auf eine gute Infrastrukturausstattung zurück-greifen und sowohl in der Arktis als auch der Antarktisumfassende Untersuchungen betreiben. In Ergänzung zuden eigenen Forschungsstationen und For-schungs-schiffen stützt sich die deutsche Polarforschung auf Ko-operationen und die Koordination mit internationalenPartnern. Für eine stetige Verbesserung der Polarfor-schung hatte die FDP bereits vor vier Jahren, sehr ge-ehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, zum Inter-nationalen Polarjahr 2007/2008, einen Antrageingereicht. Wir forderten damals als zentrale Anliegendie Gewinnung und Förderung von wissenschaftlichemNachwuchs, ein Forschungsprogramm sowie eine Ver-stärkung der europäischen und internationalen Koordi-nation. Unseren Antrag haben Sie damals abgelehnt.Ein Teil unserer Forderungen hat sich dennoch in denletzten vier Jahren durchgesetzt.

Mit Ihrem Antrag wagen Sie nun eine eigene Schwer-punktsetzung. Grundsätzlich kann ich der ZielsetzungIhres Antrags nur zustimmen. Denn auch für die FDPbleibt es nach den erreichten Verbesserungen ein Anlie-gen, die Polarforschung auf hohem Niveau zu haltenund weiter zu stärken. Jedoch verirrt sich, sehr geehrteKolleginnen und Kollegen von der SPD, Ihr Antrag be-reits mit der ersten Forderung in das 8. Forschungsrah-menprogramm der EU, wo sie meines Erachtens keinenPlatz finden darf. An dieser Stelle bewirkt die Etablie-rung eines eigenständigen Polarforschungsprogrammseine Auflösung des europäischen Rahmenprogramms.Dabei ist die Förderung der Polarforschung auch inner-halb dieses europäischen Förderinstruments möglich.So werden europäische Projekte im 7. Forschungsrah-menprogramm der EU bereits innerhalb des Schwer-punktes Umwelt nach ihrem Nutzen und der Qualität ge-fördert. An anderer Stelle fordern Sie dann, sehr geehrteKolleginnen und Kollegen von der SPD, die Bundesre-gierung dazu auf, sich für internationale Vereinbarun-gen einzusetzen, die die Freiheit der Forschung verbrie-fen. Dabei scheint Ihnen entgangen zu sein, dass dieBundesregierung in der Internationalen Arktiskonferenzvon 2011 den ersten Schritt in diese Richtung bereitslängst getan hat.

Auch in der von Ihnen geforderten internationalenVernetzung, insbesondere auf europäischer Ebene, sindwir bereits sehr gut aufgestellt. Die Kooperation undKoordination funktionieren. Grundlegend aber möchteich einen für mich zentralen Punkt anfügen, der in IhrenForderungen nur eine beiläufige Erwähnung findet.Denn der Herausforderung der Nachwuchsgewinnungund der Nachwuchsförderung kann nicht mit einem Po-larforschungspreis für junge Wissenschaftlerinnen undWissenschaftler, wie Sie ihn fordern, begegnet werden.Dieses Thema verdient mehr Aufmerksamkeit, dennohne die große Anzahl an Forschenden ist die Unterhal-tung zweier Forschungsschiffe ebenso wie die Stärkungder deutschen Polarforschung nicht möglich. In IhremAntrag sind einige richtige Ansätze zu finden, die mirzeigen, dass wir zu Fragen der Polarforschung dicht

beieinanderliegen. Dennoch bleiben Ihre Forderungenaus meiner Sicht hinter dem aktuellen Stand zurück.

Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Vom Namensgeber des großen deutschen Polarfor-

schungsinstitut stammt das Zitat: „Wie gleichgültig gehtdie Natur über unsere Leistungen hinweg.“ Schaut mansich die Veränderungen in den Polarregionen an, dannkann man das Zitat getrost umdrehen: „Gleichgültig ge-hen wir mit unseren Leistungen über die Natur hinweg.“

Das ewige Eis ist nicht mehr ewig. Der Mensch, unddas ist unzweifelhaft, hat das sensible Gleichgewicht despolaren Klimas beeinflusst. Die Polarforschung erkun-det die Auswirkungen dieser klimatischen Veränderun-gen auf die Polarregionen und kann dadurch Rück-schlüsse auf das Verhalten der übrigen Teile der Erdeziehen. Die lange Tradition der deutschen Polarfor-schung begründete sich zu Alfred Wegeners Zeiten auchmit der Lust, an Orte zu gelangen, die kein Mensch vor-her betreten hatte, und die dortigen Umweltbedingungenzu erforschen. Heute fahren jedoch selbst Kreuzfahrt-schiffe in die arktischen Regionen, und Touristengrup-pen besichtigen jahrzehntealte Forschungsstationen.Die heutige Polarforschung ist weniger von Entdecker-drang getrieben als vielmehr von der Notwendigkeit,über die Abläufe des menschengemachten Klimawan-dels und deren Folgen möglichst genau Bescheid zu wis-sen.

Diese Forschungsziele sind im Antrag der Kollegin-nen und Kollegen gut beschrieben. Ebenso wird aus-führlich dargestellt, welche Forschungsausstattung diehiesigen Institute zur Verfügung haben und dass diesedurchaus globales Spitzenniveau beanspruchen kann.Wir erinnern uns nicht nur an die Begleitung einer For-schungsreise mit der „Polarstern“ durch Mitglieder desForschungsausschusses, sondern auch an die hitzigenDebatten um das Lohafex-Experiment mit Eisendün-gung im Südatlantik. Wir unterstützen die Forderung desWissenschaftsrates und der SPD-Kolleginnen und -kol-legen, diese herausragenden Infrastrukturen zu erhaltenund mit einer abgespeckten Variante eines Forschungs-eisbrechers ein zweites Polarforschungsschiff im euro-päischen Rahmen zu bauen und zu betreiben.

Uns erstaunt jedoch, dass der Antrag die großen Pro-bleme, die etwa die Präsidentin des AWI, Frau ProfessorLochte, immer wieder anspricht, vollkommen außen vorlässt: Mit dem zunehmenden Wegschmelzen der Eisde-cken wird insbesondere die Arktis immer attraktiver fürdie wirtschaftliche Erschließung. Hier wird mehr als einFünftel der unerschlossenen Öl- und Gasvorkommenvermutet. Und auch die Wege über die Nordost- und dieNordwestpassage werden mit der Eisfreiheit seit 2007für Handelsschiffe attraktiv. Dies ist der Grund, warumdie Anrainerstaaten der Arktis ihre Claims abstecken,warum sie eine restriktive Genehmigungspraxis für For-schungsanliegen aus Drittstaaten pflegen. Dies ist auchder Grund, warum die Europäische Union bisher keinegemeinsame Linie, geschweige denn eine gemeinsameForschungsstrategie für die Arktis gefunden hat. Ähn-lich wie für die Antarktis sollten der Forschung Vorrang

Zu Protokoll gegebene Reden

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Dr. Petra Sitte

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eingeräumt und die wirtschaftliche Nutzung beschränktwerden. Hier ist jedoch der blinde Fleck der Debatte:Einerseits strebt Deutschland explizit aus wirtschaftli-chen Gründen nach mehr Einfluss in der Region. Esreicht ein Blick in die einschlägigen Formulierungen desAuswärtigen Amts bzw. des Verteidigungsministeriums.Man sei auf Rohstoffe aus der Region dringend ange-wiesen. Andererseits sei die Bundesregierung, wie Au-ßenminister Westerwelle auf der letzten Arktiskonferenzseines Hauses darstellte, an nichts außer Forschungs-freiheit und dem Schutz der polaren Umwelt interessiert.Diese Positionen passen nicht zusammen und wider-sprechen sich sogar. Sie passen noch weniger, wenn manbedenkt, dass es um die Ausbeutung von fossilen Brenn-stoffreserven geht, deren Nutzung den von Forschernfestgestellten und beklagten Klimawandel weiter be-schleunigen würde.

Die Bundesregierung sollte zu einer nationalen undeuropäischen Strategie zur Erforschung und zum Schutzder kostbaren Umwelt der Polarregionen beitragen.Wenn sie in dieser Hinsicht Zielkonflikte zwischen For-schung, Umweltschutz und Rohstoffhunger abgewogenhat, dann lassen sich auch Investitionsentscheidungenwie die für ein neues europäisches Forschungsschiff aufeiner besseren Grundlage treffen. Bisher fehlt eine sol-che Strategie nicht nur der Bundesregierung, sondernauch der SPD-Fraktion. Ihr Antrag ist überschrieben:„Polarregionen schützen – Polarforschung stärken“. ImAntrag ist von Schutz leider keine Rede. Die Bemühun-gen um die Forschung können wir unterstützen.

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir begrüßen die Initiative der SPD-Kolleginnen und

-Kollegen, die Polarforschung auf die Tagesordnung desBundestages zu setzen. Arktis und Antarktis sind für dieForschung faszinierend und von großer Bedeutung;gleichzeitig sind diese Regionen hochsensibel und ge-fährdet. Angesichts der globalen Ressourcenverknap-pung wächst das wirtschaftliche Interesse an den Polar-regionen, insbesondere an der Arktis. Mit steigendenRohstoffpreisen und durch das dramatische Abschmel-zen der Eisdecke erscheint die Exploration schwer zu-gänglicher Reserven an Öl, Gas, Gold, Zink oder selte-nen Erden zunehmend rentabel. Der Wettlauf derAnrainerstaaten, ihre Ansprüche geltend zu machen, hatlängst begonnen. Für diese sensible Region müssenSchutzmechanismen gegen eine zerstörerische Ressour-cenausbeutung etabliert werden, am besten durch einenArktis-Vertrag in Anlehnung an den Antarktis-Vertragaus dem Jahre 1959. Meine Fraktion, Bündnis 90/DieGrünen, wird in Kürze dazu einen entsprechenden An-trag einbringen.

Die Möglichkeiten, Grundlagenforschung in der Ark-tis zu betreiben, müssen uneingeschränkt erhalten blei-ben; denn den Polarregionen kommt für die Klima- undErdsystemforschung eine Schlüsselrolle zu. Von allenRegionen der Erde reagieren die Polargebiete amschnellsten auf die globalen Veränderungen. Arktis undAntarktis sind die empfindlichsten Seismografen desKlimawandels, und nach Ansicht der Wissenschaft wer-den die Entwicklungen der kommenden fünf bis zehn

Jahre besonders relevant werden. Die interdisziplinäreErforschung der Polargebiete, der Polarmeere, derLandmassen und der Atmosphäre, ihr heutiger Zustandund ihre Geschichte liefern entscheidende Daten und In-formationen, um zuverlässige Klimamodelle zu erarbei-ten und in der Biodiversitätsforschung voranzukommen.

Deutschland ist mit dem Engagement des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven, des IfM-GEOMAR inKiel und etlichen weiteren außeruniversitären und uni-versitären Forschungsinstituten in der Polarforschungbislang hervorragend positioniert und hat dadurch einbeachtliches internationales Renommee. Aufgrund derGlobalität der Herausforderung Klimawandel, der ge-meinsamen Verantwortung für die Polarregionen, aberauch wegen der hohen Kosten ist die internationale Ko-operation in der Polarforschung besonders wichtig undrichtig. Auch hier kann konstatiert werden, dass diedeutsche Polarforschung gut in internationale Koopera-tionen eingebunden ist. Neben den internationalen For-schungsteams auf der „Polarstern“ möchte ich hier bei-spielsweise die Koldewey-Station in Ny-Ålesund aufSpitzbergen erwähnen, die Bestandteil der deutsch-fran-zösischen Forschungsbasis ist, oder die deutsch-russi-sche Zusammenarbeit in der Laptewsee, aus dem dasdeutsch-russische Otto-Schmidt-Labor für Polar- undMeeresforschung und ein gemeinsamer deutsch-russi-scher Masterstudiengang „Angewandte Polar- undMeereswissenschaften“ entstanden ist. Diese internatio-nalen Kooperationen sollten gestärkt und systematischweiterentwickelt werden.

Wer will, dass Deutschland bei der Erforschung desKlimawandels eine Vorreiterrolle übernimmt, muss da-für heute die richtigen forschungspolitischen Weichenstellen. Das betrifft in erster Linie die Forschungsinfra-struktur. Denn um Polarforschung auf hohem Niveau zubetreiben, ist eine leistungsstarke Infrastruktur unab-dingbar. Dazu gehören Forschungsstationen, Beobach-tungssysteme, vor allem aber eisgängige Forschungs-schiffe, ohne die weder die Forschungsstationenversorgt noch die automatischen Beobachtungssystemeeingerichtet und gewartet werden können. Aufgrund derkritischen Masse an Infrastrukturen, die für hervorra-gende Forschung notwendig sind, sollten wo immermöglich internationale Kooperationen angestrebt wer-den.

Mit dem Forschungseisbrecher „Polarstern“ verfügtdie deutsche Polarforschung über eines der leistungsfä-higsten Polarforschungsschiffe der Welt. Die „Polar-stern“ wird für die gesamte Bandbreite der Meeresfor-schung in der Arktis und Antarktis eingesetzt und dientfür die vor zwei Jahren eingeweihte AntarktisstationNeumayer III und die Koldewey-Station auf Spitzbergenals Versorgungsschiff. Die „Polarstern“ ist bereits seit1982 in Betrieb und nähert sich allmählich der Grenzefür ihre schiffbaulich und wirtschaftlich sinnvolle Nut-zung. Obwohl die „Polarstern“ nach der Generalüber-holung 1998 bis 2002 gut in Schuss ist, steigen die Repa-raturanfälligkeit und die Betriebskosten mit jedemBetriebsjahr.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Krista Sager

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Es ist dringend notwendig, den Neubau einer zeitge-mäßen Variante der „Polarstern“ auf den Weg zu brin-gen. Forschungsschiffe kann man nicht aus dem Hutzaubern; das hat lange Vorlaufzeiten. Auch die Finan-zierung ist langfristig sicherzustellen. Damit gilt es auchsich von der Illusion zu verabschieden, die „Aurora Bo-realis“ könne die „Polarstern“ ersetzen. Die „AuroraBorealis“ als gemeinsames europäisches Großprojektwird kurz- und mittelfristig nicht zu verwirklichen sein.Ihre Realisierung steht mehr denn je in den Sternen,nachdem die Kostenschätzungen explodiert sind undentscheidende mögliche Partner wie zum Beispiel Nor-wegen sich nicht beteiligen wollen.

Wenn bis 2016 das Nachfolgeschiff für die „Polar-stern“ fertiggestellt wäre und die Betriebszeit der „Po-larstern“ für drei bis fünf Jahre verlängert würde, könn-ten für eine begrenzte Zeit zwei eisbrechendeForschungsschiffe parallel zur Verfügung stehen undzeitraubende und kostenintensive Transferfahrten ver-mieden werden. So könnte an beiden Polen gleichzeitiggeforscht werden. Die Möglichkeit ganzjähriger For-schung stellt eine einmalige Chance für die Polarfor-schung dar, gerade in den Jahren, die in den Polarre-gionen für die Erforschung des Klimawandels vonentscheidender Bedeutung sind. Diese Chance solltenwir im Interesse der Polarforschung und aus Verantwor-tung für die globale Herausforderung Klimawandel er-greifen.

Vizepräsident Eduard Oswald:Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/5228 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Alle sind damiteinverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlos-sen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Verteidigungsausschusses (12. Aus-schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten IngeHöger, Herbert Behrens, Jan van Aken, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Schutz vor militärischem Fluglärm

– Drucksachen 17/5206, 17/5918 –

Berichterstattung:Abgeordnete Anita Schäfer (Saalstadt)Lars KlingbeilJoachim SpatzInge HögerAgnes Malczak

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-ginnen und Kollegen liegen bei uns vor. Sie sind folglichdamit einverstanden.

Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): In Ihrem Antrag zur Verbesserung des Schutzes vor

militärischem Fluglärm verweist die Linke auf das imKoalitionsvertrag von Union und FDP vereinbarte

gleichlautende Ziel. Dort haben wir auf Seite 32 festge-legt:

Das Fluglärmgesetz werden wir so ändern, dassAnwohner von Militärflughäfen bei den gleichenGrenzwerten Anspruch auf Erstattung von Lärm-schutzkosten haben wie an Verkehrsflughäfen.

Dieses Ziel verfolgen wir weiter, und wir werden esauch umsetzen. Die Vorbereitungen für die Gesetzesän-derung laufen. Da die Lärmschutzbereiche um Flughä-fen nach der letzten Novelle von 2007 nicht mehr durchden Bund, sondern durch die Länder festgesetzt werden,ist dafür aber einiges an Abstimmung erforderlich.Wann dies im Parlament behandelt wird, ist daher nochnicht absehbar.

Da ich selber aus der Westpfalz komme, die im Antragals eine der besonders lärmbelasteten Regionen genanntwird, habe ich noch einige weitere Anmerkungen.

Zunächst: Ja, die Belastung durch militärischenFluglärm ist ein Problem, mit dem auch ich mich ständigbefassen muss. Denn in meinem Wahlkreis liegenRamstein mit der dortigen NATO-Airbase und Landstuhlmit dem US-Militärkrankenhaus und der dazugehörigenHubschrauberbasis. Ich finde es aber bemerkenswert,dass sich die Antragsteller ausschließlich auf amerika-nische Militärstützpunkte beziehen. Natürlich sind dieUS-Streitkräfte aber nicht die einzigen Verursacher vonFluglärm in Deutschland. Der scheint hier also nur Mit-tel zum Zweck zu sein, antiamerikanische Stimmungenzu bedienen und die Bündnispolitik anzugreifen, die seitGründung der Bundesrepublik Deutschland ein Grund-stein ihrer Sicherheit gewesen ist. Es ist zwar richtig,dass etwa die Airbase Ramstein in den vergangenenJahren ausgebaut worden ist – übrigens nach gerichtli-cher Prüfung von Klagen durch Anwohner und Nach-bargemeinden bis hinauf zum OberverwaltungsgerichtKoblenz. Insofern besteht hier kein Rechtsdefizit, wiees der Antrag suggeriert. Zudem entsprechen dieLärmschutzvorgaben für den erweiterten Stützpunktbereits denen für zivile Flughäfen nach dem 2007 no-vellierten Fluglärmgesetz.

Als Beispiel für eine Ungleichbehandlung eignetsich Ramstein also schon einmal überhaupt nicht, zu-mal auch bei den hauptsächlich dort eingesetztenFlugzeugen vom Typ C-5 und C-130 zunehmend neuereVarianten mit leiseren Triebwerken zum Einsatz kom-men. Erst vor wenigen Wochen ist bei einer Expertenan-hörung im Kreistag Kaiserslautern noch einmal festge-stellt worden, dass die Messwerte in den umliegendenGemeinden unterhalb der Lärmprognose liegen, dieGrundlage für die Genehmigung des Ausbaus war. DieZahl der Nachtflüge liegt ungefähr bei einem Zwanzigs-tel dessen, was beispielsweise die Anwohner des zivilenFlughafens Köln-Bonn aushalten müssen. Demnächstwird auch der Bodenlärm in unmittelbarer Nähe desStützpunktes gemessen werden, der bei Testläufen vonTriebwerken entsteht. Abhängig vom Ergebnis wird viel-leicht noch einmal mit dem Kommando der Airbase überweitere Lärmschutzmaßnahmen zu reden sein – in gut-nachbarschaftlicher Atmosphäre, wie dies seit Jahr-zehnten der Fall ist.

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Anita Schäfer (Saalstadt)

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Gerade die Amerikaner haben sich immer sehr umdas gegenseitige Verhältnis bemüht. Sie sind gern gese-hene Gäste in der Westpfalz, zumal sie einen erheblichenBeitrag zur regionalen Wirtschaft in dieser struktur-schwachen Region leisten. Dem Ausbau einiger Stütz-punkte steht zudem eine Reduzierung der US-Streitkräftein Deutschland insgesamt gegenüber. Allein in meinemWahlkreis sind seit dem Kalten Krieg die FlugplätzeSembach und Zweibrücken geschlossen bzw. in zivileNutzung überführt worden, und während weiter nördlichSpangdahlem erweitert wurde, wurde Bitburg aufgege-ben.

Auch der Übungsbetrieb im Luftraum TRA Lauter– nicht nur durch die Amerikaner, sondern auch diedeutsche Luftwaffe und andere NATO-Partner – nimmtab. Insgesamt hat sich die Zahl der in Deutschland sta-tionierten Kampfflugzeuge allein in den letzten beidenJahren um 15 Prozent reduziert, und diese Entwicklungist noch nicht abgeschlossen. Im gleichen Maße hatauch die Zahl der Beschwerden über militärischen Flug-lärm abgenommen. Allerdings beschweren sich diejeni-gen, die es noch tun, mittlerweile häufiger. In einigenRegionen sind einzelne Bürgerinnen und Bürger für biszu 70 Prozent des Aufkommens verantwortlich. Dennselbst wenn eine Flugroute aus Lärmschutzgründen voneiner Ortschaft wegverlegt wird, gibt es meist anderswoMenschen, die stärker belastet werden als vorher. Auchdeswegen halten wir an unserer Absicht fest, das Flug-lärmgesetz nochmals anzupassen, damit mehr Anwoh-ner Anspruch auf Lärmschutzmaßnahmen haben.

Eine zunehmende Verschlechterung der Situation, wiesie der Antrag behauptet, gibt es aber einfach nicht. Erberücksichtigt zudem in keiner Weise, dass Übungsflügenotwendig sind, um die Flugzeugbesatzungen umfassendauf die Erfüllung ihres Auftrags vorzubereiten, einesAuftrags, der unser aller Sicherheit dient. Das gilt nichtnur für die im Antrag herausgepickten amerikanischenStreitkräfte, sondern auch für die deutschen und die al-ler anderen bei uns stationierten Bündnispartner.

Aber wenn man schon unbedingt über die Amerikanerreden will: Dieselben US-Hubschrauberpiloten, die beiuns üben, haben in Afghanistan mehrfach das Lebendeutscher Soldaten durch riskante Flüge gerettet – wasohne intensives Training nicht möglich gewesen wäre.Das zeigt einmal einen sehr direkten Zusammenhangzwischen Übung und Einsatz.

Es bleibt dabei: Die Koalition wird den Schutz vormilitärischem Fluglärm den zivilen Vorgaben anglei-chen, so rasch dies möglich ist. Für einseitige Attackenauf unsere Bündnispartner, um aus Stimmungen politi-sches Kapital zu schlagen, stehen wir aber nicht zur Ver-fügung. Wir lehnen diesen Antrag daher ab.

Florian Hahn (CDU/CSU): Selbstverständlich nehmen wir die Sorgen von Bür-

gern, die sich durch Fluglärm gestört fühlen, sehr ernst.

Aus diesem Grund haben wir auch im Koalitionsver-trag vereinbart, das Fluglärmgesetz zu überarbeiten.Wir wollen das Gesetz dahin gehend ändern, dass An-

wohner von Militärflughäfen bei den gleichen Grenz-werten Anspruch auf Erstattung von Lärmschutzkostenhaben wie Anwohner von zivilen Verkehrsflughäfen.

Gerade wird geprüft, wie wir das konkret umsetzenkönnen. Selbstverständlich versuchen wir dies so schnellwie möglich zum Abschluss zu bringen, doch dieser Pro-zess gestaltet sich mit Hinblick auf die Zuständigkeitender Länder momentan sehr komplex.

Wer allerdings den Antrag der Linksfraktion liest,muss nicht lange suchen, um zu erkennen, worauf er ei-gentlich abzielt. In diesem Antrag wird ausschließlichauf den Fluglärm durch US-Streitkräfte Bezug genom-men. Andere Bündnispartner oder die Bundeswehr wer-den überhaupt nicht erwähnt. Das Nachtflugverbot, dasSie fordern, soll ausschließlich für US-Militärflugplätzegelten.

Den Kollegen von der Linkspartei scheint es offenbarnicht um Fluglärm zu gehen, sondern um eine ideolo-gisch begründete Ablehnung der Militärpräsenz der Ver-einigten Staaten in der Bundesrepublik. Das ist doch derwahre Hintergrund Ihres Antrags.

Indessen scheint den Linken dann auch entgangen zusein, dass sowohl die Zahl der in Deutschland statio-nierten Truppen als auch die Zahl der Übungsflüge inden vergangenen Jahren signifikant zurückgegangen ist.Die Anzahl der hier stationierten strahlgetriebenenKampfflugzeuge hat sich allein in den vergangenen zweiJahren um rund 15 Prozent reduziert.

Diese Fakten ignorierend, sprechen Sie in Ihrem An-trag von einer „unzumutbaren Zunahme von Fluglärm“.Diese behauptete Zunahme lässt sich jedoch sachlich inkeinster Weise nachvollziehen. Ganz im Gegenteil:Durch die anstehende Bundeswehrreform ist mit einemweiteren Rückgang der Belastung durch Fluglärm zurechnen.

Man kann nicht ernsthaft in eine Debatte um militäri-schen Fluglärm einsteigen und dabei konsequent außen-und sicherheitspolitische Aspekte ausblenden. Doch ge-nau das tun Sie hier.

Die Bundesrepublik hat im Rahmen der NATO wechsel-seitige Verpflichtungen für die Schaffung von Ausbildungs-möglichkeiten mit ihren Bündnispartnern vereinbart. Diegegenseitige Bereitstellung von Ausbildungskapazitätenfür unsere Partnerstaaten ist ein wichtiger Bestandteil un-seres Engagements in internationalen Verteidigungsbünd-nissen. Diese Einsicht sucht man in Ihrem Antrag vergeb-lich.

Es ist unser erklärtes Ziel, unseren Soldaten die best-mögliche Vorbereitung auf ihren Dienst am Vaterland zugarantieren. Militärische Übungen und Manöver sindim Sinne nationaler Sicherheit und internationalerBündnisse zwingend notwendig. Es ist unsere Pflicht,Piloten, die in Auslandseinsätzen ihr Leben riskieren, sogut wie möglich auf ihre Aufgaben vorzubereiten. An ei-nem Flugsimulator lässt sich dieser Anspruch nun ein-mal nicht verwirklichen. Das wissen Sie genauso gut wiewir.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Florian Hahn

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Bei allen negativen Auswirkungen, die Fluglärmzweifelsfrei mit sich bringt, dürfen wir eines nicht ver-gessen: Wir haben eine gesamtstaatliche Verantwortunggegenüber unseren Bündnispartnern, gegenüber unse-ren Soldaten und gegenüber dem Sicherheitsbedürfnisder Bürger.

Ich bin mir darüber im Klaren, dass diese nationalenInteressen zum Teil in einem starken Spannungsfeld zudem berechtigten Interesse von Teilen der Bevölkerungnach Reduzierung der Lärmbelastung stehen. Hier mussein Konsens gefunden werden. Diesem Konsens mussaber die sachliche Abwägung von Argumenten und darfkein ideologischer Antiamerikanismus zugrunde liegen.Die freiwillige Selbstverpflichtung der Militärflugplätze,die sich in der Vergangenheit bewährt hat, halten wir fürausreichend und angemessen.

Der einseitige und engstirnige Antrag der Linkenstürzt sich in seinem Abschluss noch in wilde Spekula-tionen um angeblich unter der Hand vereinbarte Ab-sprachen zwischen Kommandanten der Flugplätze undden kommunalen Verwaltungen. Einen Beleg dafürbleibt der Antrag jedoch schuldig. Das ist in höchstemMaße unseriös.

Meine Fraktion kann und wird diesem Antrag daherunter keinen Umständen zustimmen.

Lars Klingbeil (SPD): Durch das Militär hervorgerufener Fluglärm ist Teil

der sicherheitspolitischen Realität. Wir setzen auf einegut ausgebildete Truppe, wir wollen, dass unsere Solda-tinnen und Soldaten gut ausgerüstet und bestens vorbe-reitet in den Einsatz gehen. Dies gilt auch für unserePartner, mit welchen wir in viele Einsätze gemeinsamgehen. Die USA ist einer unserer wichtigsten sicher-heitspolitischen Partner. Zu der militärischen Ausbil-dung gehört auch eine extensive Flugausbildung derPiloten. Sie ist für die Einsatzbereitschaft der Streit-kräfte notwendig und unerlässlich. Eine unzureichendeAusbildung und Weiterbildung hätte Folgen für jedenSoldaten und viele Familien. Nicht nur die Bundeswehrmuss die Möglichkeit haben, militärische Übungsflügedurchzuführen, sondern ebenso unsere Partner.

Jedoch muss die Politik dafür Sorge tragen, dass esbeim Thema „Fluglärm“ einen möglichst großen Kon-sens zwischen Gesellschaft und Militär gibt. Die Anzahlder Beschwerden zeigt, dass die Problematik Bürgerin-nen und Bürger deutschlandweit betrifft. Die Bundesre-gierung muss sich daher regelmäßig die Frage stellen,was sie den Betroffenen zumuten kann und wie hoch dieBelastung tatsächlich sein muss. Folgeschäden für dieBetroffenen müssen unter allen Umständen verhindertwerden. Es ist wichtig, dass nach Möglichkeit das ge-sellschaftlich Zumutbare mit dem militärisch Notwendi-gen übereinstimmt.

Die Zusammenarbeit mit dem US-Militär ist histo-risch gewachsen. Die USA ist nicht nur unser Partner inder NATO, sondern die USA hat sich auch um unserLand verdient gemacht. Dies bedeutet nicht, dass US-amerikanisches Handeln in Deutschland nicht hinter-

fragt und kritisiert werden darf. Aber wenn wir uns Ge-danken machen zur Problematik des durch das Militärhervorgrufenen Fluglärms, dann müssen wir dies gene-rell tun und nicht, wie im Antrag der Linken, einseitigauf unsere amerikanischen Partner abzielen.

Aus diesen Gründen können wir dem Antrag der Lin-ken nicht zustimmen. Er ist nicht durchdacht, er ist ein-seitig und nicht hilfreich.

Auch wenn wir diesem Antrag nicht zustimmen kön-nen, sehen wir als SPD jedoch dringenden Handlungs-bedarf bei der Bundesregierung. Wenn sich Bürger mitPetitionen und Beschwerden an das Parlament wenden,darf das hier nicht ignoriert werden. Die Bundesregie-rung macht es sich zu einfach, wenn sie im Verteidi-gungsausschuss mitteilt, dass die Zahl der Bürgerinnenund Bürger, die sich mit einer Beschwerde über militäri-schen Flugbetrieb an das Luftwaffenamt gewandt ha-ben, generell zurückgegangen ist, und den regionalenAnstieg mit diesem Hinweis auf „ein paar Engagierte“wegwischt. Gerade wenn sich Bürgerinnen und Bürgerimmer wieder, immer lauter und immer intensiver mel-den, muss die Bundesregierung doch handeln!

Es ist die Aufgabe des Verteidigungsministeriums,über die Begrenzungen beim durch das Militär hervor-gerufenen Fluglärm zu entscheiden. Ich erwarte daher,dass sich der Minister den erhöhten regionalen Protes-ten annimmt, diese genauestens analysiert und vor Orttätig wird. Das Bundesverteidigungsministerium mussdie Rolle des Vermittlers annehmen und auf beide Par-teien zu gehen. Ich bin der festen Überzeugung, dass miteiner vermittelnden Position vor Ort eine Lösung gefun-den werden kann.

Joachim Spatz (FDP): Um es vorweg zu sagen: Wir sind uns der im Zusam-

menhang mit militärischen Flugbewegungen entstehen-den Lärmbelastung bei den betroffenen Bürgerinnen undBürgern sehr bewusst. Daher haben wir als FDP uns ge-meinsam mit der CDU/CSU in der Koalitionsvereinba-rung darauf verständigt, das Fluglärmgesetz dahin ge-hend zu ändern, dass die Erstattungsfähigkeit vonLärmschutzkosten an Militärflughäfen bei den gleichenLärmgrenzwerten einsetzt wie bei zivilen Verkehrsflug-häfen. Zu diesem Zweck soll das Fluglärmgesetz von2007 novelliert werden. Derzeit läuft eine intensive Prü-fung, wie das von uns formulierte Ziel erreicht werdenkann. Wir werden uns dafür einsetzen, den im Koali-tionsvertrag formulierten Anspruch zeitnah umzusetzen.

Grundsätzlich obliegt dem Bundesministerium derVerteidigung die Überwachung des Luftraums überDeutschland als Maßnahme zur Erhaltung der äußerenSicherheit. Dies umfasst auch die Flugverkehrskontrollemilitärischer Flüge. Das Recht zum militärischen Flug-betrieb alliierter Streitkräfte im Luftraum über Deutsch-land basiert auf völkerrechtlichen Vereinbarungen wiezum Beispiel dem NATO-Truppenstatut und den hierzuergangenen Ausführungsgesetzen. Diese völkerrechtli-chen Verträge und gesetzlichen Vorgaben bilden dierechtlichen Rahmenbedingungen für den militärischen

Zu Protokoll gegebene Reden

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Joachim Spatz

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Flugbetrieb in Deutschland für alle militärischen Nut-zer.

Ungeachtet der berechtigten Anliegen von Anwoh-nern an Militärflughäfen muss an dieser Stelle schon da-rauf hingewiesen werden, dass die Antragsteller an kei-ner Stelle ihres Antrags auf die Notwendigkeit vonÜbungsflügen zur Erfüllung des Auftrags der Pilotenverweisen, egal ob als Angehörige der Bundeswehr oderder Streitkräfte einer alliierten Partnernation. DieseÜbungsflüge sind allerdings zwingend erforderlich undgehören genauso zur Wahrheit wie das Verständnis fürdie Betroffenheit von Anwohnern in der Nähe von militä-rischen Flugplätzen. Nun wissen wir ja alle, dass dieLinke sowohl die Einsätze der Bundeswehr sowie derNATO grundsätzlich ablehnt und sich damit schon vonvornherein einer ernsthaften Diskussion über verant-wortliche Sicherheitspolitik verweigert. Sie sind einfachnicht dazu bereit, legitime Interessen anzuerkennen, dieletztlich dem Schutz unser aller Freiheit und Sicherheitdienen.

Wer allerdings im Gegensatz dazu verantwortliche Si-cherheitspolitik betreiben will, ist darauf angewiesen,sich an gegebenen Realitäten und Bedrohungsszenarienzu orientieren. Wer sich dieser schwierigen Herausfor-derung stellt, der wird schnell zu dem Ergebnis kommen,dass der Einsatz von Soldatinnen und Soldaten – soschwer es uns als mandatserteilendem Verfassungsorganauch fallen mag – in gewissen Situationen unumgäng-lich und zwingend notwendig ist.

Vor dem Hintergrund dieser gesamtstaatlichen Ver-antwortung darf die Diskussion um militärischen Flug-lärm in meinen Augen nicht alleine auf Anflugrouten,Landeverfahren und Flughöhen reduziert werden. DerEinsatz unserer Soldatinnen und Soldaten ist oftmals miteiner hohen Gefahr für Leib und Leben verbunden undbedarf deshalb ohne Wenn und Aber einer optimalenVorbereitung. Dafür sind unter Umständen und im Ein-zelfall auch taktische Flugmanöver in der Nähe inländi-scher Stützpunkte notwendig. Sowohl die Bundeswehrals auch unsere alliierten Partner sind auf dieseÜbungsmöglichkeiten dringend angewiesen. Würdenwir sie ihnen und uns verweigern, würden wir nicht nurden Erhalt unserer äußeren Sicherheit aufs Spiel setzen,sondern letztlich auch auf Kosten der Gesundheit undder Sicherheit der Pilotinnen und Piloten handeln.

In Ihrem Antrag fordern Sie, anstatt auf die freiwil-lige Selbstbeschränkung für die allgemeine Nutzung derÜbungslufträume im Saarland, in Rheinland-Pfalz, Hes-sen, Baden-Württemberg und Bayern zu vertrauen, kon-krete Lärmschutzregelungen und Grenzwerte festzule-gen. Bereits heute erfolgt für jede Flugübung, die überdie freiwillige Selbstbeschränkung hinausgeht, eine um-fangreiche Einzelfallprüfung. Diese Übungen werdenletztlich nur in dem unbedingt notwendigen Umfang ge-nehmigt, wenn dies zum Erhalt der Einsatzbereitschaftder Luftwaffe unbedingt erforderlich ist. Im Übrigen istdas Aufkommen militärischer Luftraumbewegungen imBereich der Bundesrepublik Deutschland seit dem Jahr2003 insgesamt rückläufig. Deshalb ist es auch nicht zu-

treffend, dass es keinerlei Selbstbeschränkung gebe oderdass diese keine Wirkung entfalten würde. Insofern hal-ten wir eine über die Selbstbeschränkung hinausge-hende Regelung für unverhältnismäßig.

Zuletzt sollte nicht unerwähnt bleiben, dass verschie-dene Maßnahmen der Bundesregierung, wie die Flexibi-lisierung der Luftraumnutzung oder die stetige Optimie-rung von An- und Abflugverfahren, in den vergangenenanderthalb Jahren bereits signifikant zur Verbesserungdes Schutzes vor militärischem Fluglärm beigetragenhaben. Dennoch sind wir uns auch weiterhin der Belas-tungen bewusst und bestrebt, weitere Verbesserungen zuerzielen – ohne dabei die Einsatzbereitschaft der Bun-deswehr oder unserer Partner zu gefährden.

Herbert Behrens (DIE LINKE): „Power Run“ in der Nacht – das ist kein nächtlicher

Orientierungslauf, das ist ein Probelauf nach einerTriebwerkswartung am Flugzeug. Anwohner an Militär-flughäfen wissen das. Und sie hören das, genauso wiedas Dröhnen der Hubschrauber am Tage und in derNacht, alltags und sonntags, zum Beispiel in Ansbach-Katterbach, wo jeder fünfte Übungsflug über Wohnge-bieten in der Nacht stattfindet. 1 345 Menschen habensich im Jahr 2008 darüber beschwert, und man hat siealleingelassen.

Bewohner in der Westpfalz und im Saarland erhielteneinen Anspruch auf Schallschutzmaßnahmen erst dann,als der Dauerschallpegel 60 Dezibel (A) überstieg. Wirmüssen wissen: Laut Studie des Umweltbundesamtesaus dem Jahr 2007 leiden Menschen, die einen Dauer-schallpegel von mehr als 39 Dezibel (A) ertragen müs-sen, eher an Herz- und Kreislauferkrankungen als an-dere. Herz-Kreislauf-Erkrankungen zählen mit mehr als17 Prozent zu den häufigsten Todesursachen.

Das Problem militärischen Fluglärms nimmt zu. Ne-ben Afghanistan und dem Irak befinden sich in der Bun-desrepublik Deutschland die meisten US-Militärstütz-punkte. Die globalen Kriegseinsätze ziehen den Ausbauder Militärbasen nach sich. Das ist in Kaiserslautern so,das ist bei den Luftstützpunkten Ramstein und Spang-dahlem so, und das gibt es auch in bayrischen Standor-ten. Die Anwohner stehen ohnmächtig vor der Zunahmevon Fluglärm und anderen Belastungen an Militär-standorten. Jetzt erwarten sie von ihren Parlamenta-riern, dass sie sich der Sache annehmen.

Mit großem Verständnis hatten sich die Koalitions-parteien zu Beginn der Wahlperiode den Klagen der An-wohner von Militärbasen zugewendet. Sie sollten denAnwohnern an Zivilflughäfen gleichgestellt werden; mi-litärische Übungsflüge sollten unter luftrechtliche Be-stimmungen fallen. Was ist passiert? Nichts. Viel Lärmund nichts passiert.

Das wollen die Betroffenen nicht mehr ertragen. Aufkommunaler Ebene engagieren sie sich in Bürgerinitia-tiven. In Ansbach fordert der Stadtrat einstimmig, dassder militärische Hubschrauberbetrieb endlich geregeltwird.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Herbert Behrens

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Wir müssen auf der Bundesebene endlich Nägel mitKöpfen machen. Wir haben die gesetzlichen Instrumentein der Hand, wir müssen sie nur anwenden.

Die Linke fordert einen effektiven Lärmschutz undGrenzwerte für Übungslufträume. Die Selbstbeschrän-kungen der US-Streitkräfte für das Saarland, Rheinland-Pfalz, Hessen, Baden-Württemberg und Bayern taugennicht. Taktische Übungsflüge über Wohngebieten unter-halb von 3 000 Metern müssen verboten werden. Anwoh-ner von Militärflughäfen müssen einen rechtlichen An-spruch auf aktiven und passiven Lärmschutz haben. DieUnterscheidung zwischen militärischem und zivilemFluglärm bei der Erfassung des Lärms muss beendetwerden.

Die von uns ins Parlament getragenen Forderungender Betroffenen lehnen die Parteien der Regierungsko-alition ab. Auch die SPD will die Forderungen zumSchutz der Anwohner an Militärbasen nicht mittragen;Bündnis 90/Die Grünen haben sich im Ausschuss ent-halten.

Hier im Parlament ist unsere Fraktion offenbar dieeinzige, die nicht nur Militäreinsätze ablehnt, sondernauch das Üben für Militäreinsätze begrenzen will. Daüberrascht es nicht, dass sich die Anwohner von Militär-basen an uns wenden.

Aber: Hier geht es nicht um uns. Hier geht es um dieGesundheit und um vernünftige Lebensbedingungen vonMenschen, die an Militärflughäfen leben müssen, weilsie keine Chance haben, einfach die Zelte abzubrechen,um woanders zu leben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungs-koalition, ich erinnere Sie noch einmal daran: Sie habenvor knapp zwei Jahren im Koalitionsvertrag zugesagt,das Problem zu lösen. Wenn wir jetzt hören, die Koordi-nation zwischen den einzelnen Ländern sei kompliziert,der Lärm habe angeblich eher abgenommen, und mankönne nur konstatieren, dass die Empfindlichkeit der Be-wohner zugenommen haben müsse, dann klingt das allesnicht nach dem Willen zur Lösung des Problems. In denOhren der Betroffenen dagegen klingt es wie Hohn.

Erinnern Sie sich an Ihre Zusagen an die Betroffenen,nehmen Sie unseren Antrag zum Schutz vor militäri-schen Fluglärm auf – handeln Sie!

Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Flugzeuge verursachen erheblichen Lärm, und das

gilt insbesondere für die leistungsstärkeren Maschinenvon militärischen Flugzeugen. Für die Menschen, die inder Nähe von Flughäfen oder Flugplätzen wohnen, be-deutet dieser Lärm oft eine große Belastung. Das giltwiederum für die Anwohnerinnen und Anwohner militä-rischer Flugplätze in besonderem Maße. Die Folgen ei-ner derartigen Lärmbelastung sind alles andere als un-erheblich.

Maßnahmen zum Schallschutz mindern zwar denLärm in den Wohnhäusern, doch auf Null reduzierenkönnen sie ihn nicht. Auch ist es den Betroffenen nichtmöglich, sich in der warmen Jahreszeit bei geöffnetem

Fenster in ihrer Wohnung oder im Garten aufzuhalten,ohne sich dem ungehemmten Lärm auszusetzen. DieMöglichkeiten zur Erholung in den eigenen vier Wändenund im eigenen Garten sind grundlegend eingeschränkt.Wer dauerhaft derartigem Lärm ausgesetzt ist, kann da-her krank werden – psychisch und physisch.

Für die Menschen, die in der Nähe eines Militärflug-platzes leben, bedeutet der Lärm eine erhebliche Ein-schränkung ihrer Lebensqualität. Es besteht daher drin-gender Handlungsbedarf, um den Schutz der Menschenvor Fluglärm zu verbessern. Wenn die Betroffenen zu-dem noch Hausbesitzerinnen und Hausbesitzer sind,verliert auch ihr Grund und Boden massiv an Wert.

Die schwarz-gelbe Bundesregierung handelt in die-sem Punkt aber alles andere als entschlossen. Seit baldzwei Jahren steht im Koalitionsvertrag die Ankündi-gung, das Fluglärmgesetz zu verbessern. Anwohnerin-nen und Anwohner militärischer Flugplätze sollen beiden gleichen Grenzwerten Anspruch auf Erstattung vonLärmschutzkosten erhalten wie Anwohnerinnen und An-wohner ziviler Flugplätze. Bis heute liegen aber keinekonkreten Vorschläge vor, sondern nur diese wolkigenAnkündigungen.

Unbefriedigend für die Betroffenen ist im Übrigen,dass die Bundesregierung sich von vornherein auf densogenannten passiven Schallschutz beschränkt hat.Nach Lösungen zur Verbesserung beim aktiven Schall-schutz, insbesondere hinsichtlich der Nachtruhe, willSchwarz-Gelb gar nicht erst suchen. Das ist definitiv zuwenig.

Aber wie soll die Bundesregierung auch sinnvolleMaßnahmen vorschlagen, wenn sie nicht einmal ausrei-chend Kenntnisse über die Auswirkungen einer derarti-gen Lärmbelastung besitzt? Über das Ausmaß derLärmbelastung weiß die Bundesregierung wenig. DieHöhe der durch den Lärm verursachten volkswirtschaft-lichen und individuellen Schäden ist ihr unbekannt. Dasmacht die Bundesregierung unter der Drucksachennum-mer 17/3933 mit ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrageder grünen Bundestagsfraktion zum militärischen Flug-lärm in Teilen des Saarlandes und Rheinland-Pfalz deut-lich. Das bedeutet, von der Situation der Anwohnerin-nen und Anwohner von militärischen Flugplätzen habenSie, werte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,nur eine vage Vorstellung. Trotzdem lehnen Sie Maßnah-men zum Schutz als unnötig ab. Ein solches Handeln ausUnkenntnis hat aber absolut nichts mit gutem Regie-rungshandeln zu tun. Wir fordern die Bundesregierungeindringlich auf, sich endlich ehrlich, empirisch undwissenschaftlich mit den Auswirkungen einer derartigenLärmbelastung auseinanderzusetzen.

In der Ausschussdebatte über diesen Antrag habenwir von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von derUnion, zu hören bekommen, man müsse bei der Thema-tik berücksichtigen, dass Piloten nur dann zur Sicherheitbeitragen können, wenn sie auch Übungsflüge durchfüh-ren. Das ist ja grundsätzlich richtig, aber Sie rechtferti-gen damit Ihre Politik der Unkenntnis und der leerenVersprechungen. Darum ist diese Argumentation unsäg-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Agnes Malczak

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lich, und es bleibt dabei: In puncto Schutz vor Fluglärmtut die Regierung zu wenig und sie tut es zu langsam.

Der hier vorliegende Antrag der Fraktion Die Linkezeigt unseres Erachtens allerdings auch nicht den richti-gen Lösungsweg auf. Insbesondere fällt auf, dass dieserAntrag einen grundlegenden logischen Fehler aufweist.Auf der einen Seite plädiert er für eine Gleichbehand-lung von militärischem und zivilem Fluglärm. Dannaber fordert der Antrag ein Verbot von Nachtflügen undFlügen an Wochenenden und Feiertagen ausschließlichfür US-Militärflugplätze. Das ist keine Gleichbehand-lung. Auch die meisten anderen Forderungen beziehensich lediglich auf Flugplätze, die vom US-amerikani-schen Militär genutzt werden. Diese Einschränkung er-schließt sich mir einfach nicht. Dem Antrag können wirdaher nicht zustimmen, obwohl wir das Ansinnen, dieRechte der Betroffenen zu verbessern, ausdrücklich be-grüßen. Darum werden wir uns enthalten.

Seit Jahren setzt sich die grüne Bundestagsfraktionintensiv mit der Problematik von Fluglärm auseinander,und zwar sowohl von militärischem als auch von zivilemFluglärm. Noch zu rot-grünen Zeiten haben wir mit derSPD über eine Überarbeitung des Fluglärmgesetzes ge-stritten. In den vergangenen Jahren haben wir mit allerDeutlichkeit die 2007 unter Schwarz-Rot in Kraft getre-tene Novelle des Fluglärmgesetzes und ihre ausgespro-chen langsame Umsetzung kritisiert.

Bisher hat auch die schwarz-gelbe Bundesregierungin Sachen Schutz vor Fluglärm keine bessere Figur ab-gegeben. Daher wiederhole ich noch einmal: Wir erwar-ten von der Bundesregierung, dass sie endlich beginnt,an diesem Problem zu arbeiten, und zwar hinausgehendüber das, was in den Koalitionsvereinbarungen steht.

Vizepräsident Eduard Oswald:Wir kommen zur Abstimmung. Der Verteidigungs-

ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/5918, den Antrag der Fraktion Die Linkeauf Drucksache 17/5206 abzulehnen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitions-fraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Ge-genprobe! – Das ist die Fraktion der Linken. Enthaltun-gen? – Das ist die Fraktion des Bündnisses 90/DieGrünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Sportausschusses (5. Ausschuss) zudem Antrag der Abgeordneten Viola vonCramon-Taubadel, Claudia Roth (Augsburg),Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Frauen- und Mädchenfußball stärken – Fuß-ballweltmeisterschaft der Frauen 2011 gesell-schaftspolitisch nutzen

– Drucksachen 17/5907, 17/6281 –

Berichterstattung:Abgeordnete Klaus RiegertMartin Gerster

Dr. Lutz KnopekKatrin KunertViola von Cramon-Taubadel

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-ginnen und Kollegen, die reden wollten, sind bei uns an-gekommen.

Klaus Riegert (CDU/CSU):Am letzten Sonntag wurde die Fußball-Weltmeister-

schaft der Frauen 2011 im ausverkauften BerlinerOlympiastadion feierlich eröffnet. Das Eröffnungsspielhaben über 73 000 Zuschauer unter Hochspannung liveverfolgt und die wirklich tolle Atmosphäre genießenkönnen. Zudem werden die Spiele auf allen fünf Konti-nenten in etwa 60 Ländern übertragen, und dies in neuermedialer Dimension und auf dem Stand der Technik.Nicht nur die spielerische und sportliche Leistung unse-rer Nationalmannschaft, die mediale Berichterstattungund die Begeisterung der Zuschauer für das Großsport-ereignis zeigen, dass der Frauenfußball in Deutschlandangekommen ist und ihm im internationalen Vergleicheine herausragende Bedeutung zukommt.

Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionender CDU/CSU und der FDP werden auch weiterhin denFrauenfußball kraftvoll unterstützen und fördern! Wirbeschränken uns allerdings nicht nur auf den Frauen-und Mädchenfußball, sondern begreifen die Förderungin einem übergeordneten Sinne – sportartübergreifend –bezogen auf den Frauen- und Mädchensport im Allge-meinen.

Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen„Frauen- und Mädchenfußball stärken – Fußball-Welt-meisterschaft der Frauen 2011 gesellschaftspolitischnutzen“ ist zwar anlassbezogen aktuell, verkennt aberdie bereits bestehenden Förderungsstrukturen des Mäd-chen- und Frauenfußballs. Leider scheinen die Anträgeder Opposition sich vom Zeitpunkt her immer wiedernur an Großsportereignissen zu orientieren. Anstatt aufeine kontinuierliche Arbeit zu setzen, versucht man imZuge eines Großsportereignisses, Forderungen in einemAntrag unterzubringen, die zum Teil nur im entferntestenSinne etwas mit der Realität und den eigentlichen He-rausforderungen der Zeit zu tun haben.

Bei allem Verständnis für die Verbindung zwischenSport und gesellschaftspolitischen Zielen und Interessen-slagen sollte eine Instrumentalisierung des Sports tun-lichst vermieden werden. Der fraktions- bzw. parteien-übergreifende Besuch von ranghohen Politikern voneinem Großsportereignis, wie zur Eröffnung der Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen 2011, unterstreicht dieWertschätzung und gesellschaftspolitische Bedeutungdieses Events für unser Land. Ein Großsportereignis, be-gleitet von mehreren Clips, Trailern und Originaltönen –mit parteipolitischen Statements im Stadion, gleicht dannaber wiederum stärker der Werbung in eigener Sache undder Instrumentalisierung des Sports. Die Grenzen desVertretbaren sind bisweilen fließend. Ob eine solche Sym-biose zwischen Politik und Sport angemessen und wün-schenswert ist, sollte kritisch hinterfragt werden. Im

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Klaus Riegert

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parlamentarischen Diskurs sollte auf solchen Opportu-nismus und – in diesem Fall – auf entsprechende „Schein-anträge“ verzichtet werden.

Auf der Grundlage des Subsidiaritätsprinzips förderndie Bundesregierung und der Deutsche Fußball-Bund(DFB) seit langem den Frauen- und Mädchenfußball, imBreiten- wie im Spitzensport. Im 12. Sportbericht derBundesregierung sind die über den Fußball weit hinaus-gehenden Maßnahmen und Programme in diesem Be-reich umfassend geschildert. Die Aufwendungen desBundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen undJugend im Bereich „Frauen und Mädchen im Sport“ be-trugen im Berichtszeitraum insgesamt 290 000 Euro.

Dabei folgen die Maßnahmen des Ministeriums demZiel, den Anteil der Frauen und Mädchen im Sport in al-len Bereichen dem Anteil von Männern anzugleichen –und dies auch unabhängig von verschiedenen Alters-gruppen. Die Mitgliederentwicklung von Frauen undMädchen in Sportvereinen ist in den letzten Jahren mehrals erfreulich. So lässt sich konstatieren, dass den größ-ten Zuwachs mit über 160 000 weiblichen Mitgliedernder Deutsche Fußball Bund verzeichnen konnte, aberauch die Deutsche Reiterliche Vereinigung, der Deut-sche Leichtathletik-Verband und der Deutsche Schützen-bund sind hier besonders positiv hervorgetreten. Diemeisten weiblichen Mitglieder – mit circa 3,5 MillionenMädchen und Frauen – sind jedoch weiterhin unter demDach des Deutschen Turnerbundes organisiert. DerFrauenanteil bei den Mitgliedschaften in Sportvereinenin Deutschland liegt derzeit bei etwa 40 Prozent.

Unabhängig von sportspezifischen Unterschiedenreicht die Förderung der Bundesregierung im Bereich„Frauen und Mädchen im Sport“ über die im Antrag derGrünen genannten Forderungspunkte weit hinaus. Bei-spielhaft seien an dieser Stelle nur folgende Ziele ge-nannt: den Anteil von Frauen in Gremien des Sports zuerhöhen – zum Beispiel durch Verbandswettbewerbe„Frauen an die Spitze“, Trainerinnen im Sport zu unter-stützen und zu qualifizieren – zum Beispiel Führungsta-lente-Camp des DOSB, bundesweite Frauenaktionstagemit Bezug zum Sport zu fördern oder das Programm„Migrantinnen in den Sport“ weiter zu unterstützen.

Der Grünen-Antrag missachtet nicht nur die bereitsbestehenden Maßnahmen der Bundesregierung zur För-derung des Sports von Mädchen und Frauen. Er weistzudem zahlreiche formale Mängel auf, missachtet konse-quent die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Län-dern sowie zuwendungsrechtliche Bestimmungen. Dieszeigt sich am deutlichsten bezüglich der Forderungenzur Berichterstattung im öffentlich-rechtlichen Fernse-hen oder bezüglich des Schulsports.

Aber auch aufgrund inhaltlicher Mängel werden wirdiesem Antrag nicht zustimmen: Die Förderung des bür-gerschaftlichen Engagements im Sport, beispielsweisedurch den neuen Bundesfreiwilligendienst, wurde offen-sichtlich nicht zur Kenntnis genommen. Unverständlichbleibt auch, wie konkret die „Integration von Migrantendurch die Sportpolitik“ einen höheren Stellenwert erfah-ren soll. Das vom Bundesministerium des Innern (BMI)geförderte Programm „Integration durch Sport“ kommt

dieser Forderung seit langem mit großem Erfolg nachund wird auf unterschiedlichen Ebenen entsprechendevaluiert. Mit Blick auf den Spitzensport und die Talent-förderung zeigt sich gerade, dass im Sport Menschen mitMigrationshintergrund sehr erfolgreich sind. Die Fuß-ballnationalmannschaft der Männer und Frauen ist miteiner „gelebten Vielfalt“ auch hier ein besonders positi-ves Beispiel. Der Aspekt des „Klima- und Umweltschut-zes im und durch den Sport“ wurde im Antrag der Koali-tionsfraktionen in wesentlich weitreichender unddetaillierter Form erst kürzlich ausgeführt. Das Um-weltkonzept „Green Goal“ der Fußball-Weltmeister-schaft der Frauen 2011 geht über die Forderungen derFraktion Bündnis 90/Die Grünen bereits weit hinaus.

Auch vor dem Hintergrund der Ablehnung der Bewer-bung „München 2018“ durch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist dieser Forderungspunkt nur schwernachzuvollziehen – zumal das Umweltkonzept der Be-werbung anfänglich sogar von den Grünen begleitetwurde. Am Beispiel der sportpolitischen Kontakte zuNordkorea – wie auch zu vielen anderen Ländern – imZusammenhang mit der Fußball-Weltmeisterschaft derFrauen 2011 zeigt sich nicht zuletzt, wie der Forderungnach dem Ausbau internationaler Beziehungen bereitsmehr als beispielhaft nachgekommen wird.

Die CDU/CSU-Fraktion wird den Frauenfußball, wieauch den Sport von Frauen und Mädchen insgesamt,weiter kontinuierlich und kraftvoll unterstützen – unddies nicht nur zu dem Großsportereignis der Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen 2011. Dabei ist es wichtig,auf die Ziele, Perspektiven und Erwartungen zu hören,die vonseiten der Frauen und Mädchen im Sport selbstaufgestellt werden. Eine politische Instrumentalisierungwie auch eine gesellschaftspolitisch-moralische Über-frachtung lehnen wir ab, da dies die aus sich selbst he-raus kommende Entwicklung hemmt. Wie stark das Inte-resse, die Ausstrahlungskraft, die Aufmerksamkeit unddie Faszination für den Sport von Frauen und Mädchenbereits jetzt schon sind, zeigt sich mehr als positiv amBeispiel der FußbaIl-Weltmeisterschaft der Frauen2011. Der Sport von Frauen und Mädchen in Deutsch-land kann auch künftig auf die Unterstützung der Koali-tionsfraktionen von CDU/CSU und FDP bauen! Hierbeistehen für uns die Beachtung der Autonomie des Sportsund vor allem der Interessenslagen der Sportlerinnenweiterhin im Vordergrund!

Dr. Frank Steffel (CDU/CSU): Wenn ich über Frauenfußball spreche, denke ich na-

türlich zuerst an die gerade in Deutschland stattfin-dende FIFA-Fußballweltmeisterschaft der Frauen, de-ren Euphorie wir nutzen sollten.

Aber ich denke auch an die Torfrau Desirée Schu-mann aus meinem Wahlkreis Reinickendorf. Die erstenneun Jahre ihrer jungen Fußballerkarriere spielte sie inBerlin in meinem Heimatbezirk beim VfB Hermsdorf.Heute spielt sie beim 1. FFC Turbine Potsdam und isteine der hoffnungsreichsten deutschen Nachwuchsfuß-ballerinnen der U-20-Nationalmannschaft.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Dr. Frank Steffel

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Mein Kollege Klaus Riegert ist bereits intensiv aufden Antrag der Grünen eingegangen, weshalb ich alsBerliner Bundestagsabgeordneter mich gern näher aufdie Situation in der Hauptstadt beziehen werde.

Nur 10 Prozent, also 11 599, aller Fußballspieler inBerliner Vereinen sind Frauen. Das ist ausbaufähig,denn auch wir wollen den Anteil fußballspielenderFrauen erhöhen. Doch die Lösung dafür kann nicht ein20 Punkte umfassender Antrag sein, der sich leider nursehr entfernt mit der wirklichen Problematik beschäf-tigt. Lösungen können auch nicht von oben diktiert oderübergestülpt werden. Wenn man mehr Mädchen undFrauen in die Fußballvereine holen will, dann muss dasvon unten direkt im Verein wachsen. Alles, was wir tunkönnen, ist, möglichst optimale Rahmenbedingungen zuschaffen.

In vielen Bereichen ist das bereits gelungen. Zum Bei-spiel über Vereinskooperationen, wie es der DeutscheFußball-Bund beim 1. FC Lübars und bei Hertha BSCinitiiert hat. Auch gibt es auf Initiative des Landessport-bund Berlins zunehmend Partnerschaften zwischenSchulen und Sportvereinen. Sportbegeisterte Kinderkönnen unkompliziert auf Sportangebote in ihrer Näheaufmerksam gemacht werden. Mit Erfolg: Fast dieHälfte der weiblichen Fußballer in Berlin ist inzwischenunter 18 Jahre alt.

Der steigende Mädchenanteil im Fußball hat auchdamit zu tun, dass mehr und mehr auf Migrantinnen zu-gegangen wird. In Berlin werden sie gezielt geworben,und es wurden Bedingungen geschaffen, die auch ihrenspeziellen Bedürfnissen entsprechen. Hier ist noch eingroßes Potenzial zur Gewinnung fußballbegeisterterMädchen und Frauen. Denn die gemischten Mannschaf-ten waren für viele eine Barriere zum Vereinsfußball. In-zwischen gibt es zahlreiche reine Mädchen- und Frauen-mannschaften. Auch Turniere und Meisterschaftenwerden verstärkt mit nur weiblichen Teilnehmern ange-boten. Das senkt vorhandene Berührungsängste enorm.Die Mitgliederzahlen in den Frauenfußballmannschaf-ten steigen. Die Begeisterung und der Besucherrekordbeim WM-Eröffnungsspiel im Berliner Olympiastadionam vergangenen Sonntag zeigten uns, welche Potenzialees hier gibt.

Das größte Problem ist momentan also nicht die Be-geisterung der Mädchen und Frauen für Fußball.Begeisterung ist vorhanden und dürfte auch nach derFußballweltmeisterschaft der Frauen anhalten. Die He-rausforderungen liegen woanders.

In vier Punkten sehe ich noch Verbesserungsmöglich-keiten für die Stärkung des Frauenfußballs:

Erstens: der Mangel an Trainerinnen. Mädchen- undFrauenfußballmannschaften müssen verstärkt vonFrauen trainiert werden. Weibliche Trainerinnen gibt eszu wenig. Wir brauchen mehr Fußballtrainerinnen. Fuß-ballbegeisterten Frauen müssen wir die Möglichkeit ge-ben, sich in diesem Bereich ehrenamtlich zu engagieren.Vielleicht brauchen wir dafür noch besondere Betreu-ungsmöglichkeiten für ihre Kinder? Auch setzt sich bei-spielsweise der Landessportbund Berlin verstärkt dafür

ein, bei Frauen mit Migrationshintergrund dafür zu wer-ben, dass sie Trainerin werden.

Zweitens: fehlende Trainingsplätze. Nahezu jederBerliner Fußballverein hat volle Mannschaften, aberüberfüllte Trainingsplätze und zu wenig Hallenzeiten imWinter. Es gibt viele Vereine, die aktuell auf der Suchenach neuen Trainingsmöglichkeiten sind. In den meistenGroßstädten sind die Kapazitäten nahezu ausgeschöpft.Aber zumindest in der deutschen Hauptstadt gäbe eszwei große Freiflächen, die dafür wie gemacht zu seinscheinen. Seit drei Jahren liegt das Gelände des ehema-ligen Flughafens Tempelhof brach. Doch alle Bestre-bungen, diesen Platz sinnvoll zu nutzen und zumindestteilweise in Sportanlagen umzuwandeln, wurden vomBerliner Senat abgelehnt. Nicht zuletzt die Grünensperrten sich gegen die Einrichtung von dringend benö-tigten Sportanlagen auf dieser Fläche.

Ab Mitte nächsten Jahres wird es auf dem FlughafenTegel eine weitere freie Fläche geben. Als Präsident desBreitensportvereins Reinickendorfer Füchse unterstützeich die Bestrebungen vieler Vereine, hier Sportanlageneinzurichten. Leider gibt es auch hier keine Anzeichen,dass der rot-rote Senat den Vereinen entgegenkommenmöchte.

Drittens. Auch wenn in diesem Bereich schon vielpassiert ist, möchte ich alle Sportvereine ermuntern,sich weiter – insbesondere für Mädchen und Frauen – zuöffnen. Es ist in der Gesellschaft angekommen, dassFrauenfußball nicht mehr länger nur eine vorurteilsbe-ladene, belächelte Randsportart ist. Lasst uns das nut-zen, indem wir neue Mädchen- und Frauenmannschaf-ten gründen und den Fußballspielerinnen ein sportlichesZuhause in den etablierten Vereinen bieten!

Viertens. Etliche Werbekampagnen zeigen den Fuß-ball in diesen Wochen als Frauensportart. Viele Frauenreagieren und melden sich in Vereinen an, um nicht nurzuzusehen, sondern selbst zu spielen. Das muss mit derFrauenfußballweltmeisterschaft nicht vorbei sein. Vor-bilder wie die WM-Organisatorin Steffi Jones, unserehervorragende Bundestrainerin Silvia Neid oder derShooting-Star der WM Celia Okoyino da Mbabi müssenauch nach der WM weiter präsent bleiben und Frauenmotivieren, Fußball zu spielen. Die Euphorie der WMmüssen wir unbedingt nutzen.

Bei den Reinickendorfer Füchsen, deren Präsidentich bin, kommt die Euphoriewelle bereits an. Bis vor dreiJahren hatten wir keine Mädchenfußballmannschaft.Um dem Ansturm gerecht zu werden, haben wir jüngstschon die zweite Mannschaft gegründet.

Das Vorurteil, Fußball sei ein Männersport, ist auchin der breiten Wahrnehmung überholt. Die Begeisterungfür Frauenfußball steigt gerade jetzt, da die Fußball-WM der Frauen in Deutschland stattfindet. Die Vereineerwarten im Nachgang der Weltmeisterschaft einen An-sturm von Frauen und Mädchen auf die Fußballvereine.Wir müssen die Vereine ermutigen, diese einmaligeChance zu nutzen. Lassen Sie uns das Ehrenamt stärkenund verfügbare freie Flächen den Sportvereinen zur Ver-fügung stellen. Lassen Sie uns die Euphorie nutzen.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Dr. Frank Steffel

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Oder, um mit dem offiziellen Fußball-WM-Lied „Happi-ness“ zu sprechen: I gotta be out of my mind not to trythis!

Dagmar Freitag (SPD): Am Sonntag wurde die FIFA-Frauen-Weltmeister-

schaft in Berlin eröffnet – eine weitere Sportgroßveran-staltung, die wir in Deutschland nach den großartigenEreignissen der letzten Jahre ausrichten. Ich erinnere indiesem Zusammenhang an die Fußball-WM der Männer2006, die Handball-WM der Männer 2007, die Basket-ball-EM der Gehörlosen 2008 und die Leichtathletik-WM 2009, um nur einige Beispiele zu nennen. Drei Wo-chen steht der Frauenfußball im Fokus der Öffentlich-keit; er wird medial und in den Stadien so präsent seinwie nie in unserem Land zuvor. Bereits im Vorfeld derWM kann der Deutsche Fußball-Bund Rekordzahlenverbuchen: Mit einem Zuwachs von 10 000 Frauen undMädchen ist die Marke von 1 Million Vereinsspielerin-nen deutlich übertroffen worden. Damit ist klar: Die Zu-kunft des Verbandes liegt auch in der Hand der Frauen.Wer hätte das vor 35 Jahren gedacht? „Die Anatomieder Frauen ist für Trikotwerbung nicht geeignet. Die Re-klame verzerrt.“ So lautete damals eine Mitteilung ausdem Hause DFB. Ich denke, diese Sorge sind die Herrenmittlerweile los; andere noch nicht. Trotz des großen En-gagements von Präsident Dr. Zwanziger macht sich dieEntwicklung des Frauenfußballs noch nicht in den Ver-bandsstrukturen bemerkbar. 47 Mitglieder bilden dasPräsidium und den Vorstand des Deutschen Fußball-Bundes; darunter befindet sich gerade einmal eine ein-zige Frau. Damit steht auch der DFB in der unrühmli-chen Tradition der meisten deutschen Sportverbände, indenen nach wie vor fast nur Männer das Sagen haben.

Es gibt nicht nur diesen, sondern auch noch anderegute Gründe, auch diese Weltmeisterschaft zum Anlasszu nehmen, sport- und gesellschaftspolitische Forderun-gen zu diskutieren. Daher vorab ein Dank an die Kolle-ginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen für dieEinbringung des Antrags. Im vergangenen Jahr hattedies meine Fraktion anlässlich der FIFA-WM in Süd-afrika übernommen.

Sport mit all seinen unterschiedlichen Facetten ist einunverzichtbarer Bestandteil unserer Gesellschaft ge-worden und sollte für möglichst viele Bürgerinnen undBürger selbstverständlicher Teil der aktiven Lebensfüh-rung sein. Denn: Sport ist Gesundheitsförderung undkörperliche Rehabilitation, ist Chance zur gesellschaft-lichen Teilhabe und Integration, Sport ist Teil des Bil-dungssystems, Sport baut Brücken zwischen Menschenunterschiedlicher sozialer Herkunft und Religion, zwi-schen Menschen mit Behinderung und ohne, über Lan-desgrenzen hinweg. Der Sport stellt sich den sozialenund kulturellen Herausforderungen einer sich ständigwandelnden Gesellschaft. All dies sollte die Politik imRahmen ihrer Möglichkeiten unterstützen.

Mit dem vorliegenden Antrag fordern die Kollegin-nen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, die der-zeitige öffentliche Aufmerksamkeit für den Frauenfuß-ball zu nutzen, um gesellschaftspolitische Impulse zu

setzen. Dieses Grundanliegen unterstützen wir aus-drücklich. Jedoch weist dieser Antrag eine Reihe vonDefiziten auf, die uns eine Zustimmung nicht ermöglicht.Insbesondere der Forderungskatalog liest sich wie eineher schlecht sortierter Wunschzettel; er listet einfachnur alles auf, was in den letzten Jahren sportpolitisch zuden unterschiedlichsten Anlässen diskutiert wurde.Nicht nur das; es finden sich geradezu skurrile Forde-rungen. Sind Sie ernsthaft der Auffassung, dass es, wieunter Punkt 5 gefordert, tatsächlich Aufgabe der Bun-desregierung ist, den Zugang zu Spiel- und Trainings-möglichkeiten auch für Mädchen und Frauen zu ge-währleisten? Da ist der Griff in die Wünsch-dir-was-Schublade doch wohl ziemlich danebengegangen. Auchwenn wir uns in der sportpolitischen Diskussion durch-aus mit Themen auseinandersetzen, die nicht originäreBundesaufgabe sind, wirkt es verfehlt, konkrete Forde-rungen an die Bundesregierung in Bezug auf Aufgabenzu richten, die explizit Aufgabe von Ländern und Kom-munen sind. Und wenn weiter gefordert wird, eine stär-kere Präsenz von Frauenfußball im öffentlich-rechtlichenRundfunk zu unterstützen, ist das deutlich zu kurz ge-sprungen. Schließlich werden Erhebungen zufolge nichtnur Fußballerinnen, sondern Sportlerinnen insgesamt inder Berichterstattung benachteiligt. Eine ausgewogeneBerichterstattung über möglichst viele Sportarten, unddabei natürlich gleichermaßen über Sportlerinnen undSportler, muss also das Ziel sein, zumal der Antragstitelausdrücklich die gesellschaftspolitische Komponente er-wähnt. Aus den genannten Gründen ist der Antrag fürmeine Fraktion nicht zustimmungsfähig; wir werden unsbei der Abstimmung daher enthalten.

Der vorliegende Antrag gibt uns aber durchaus dieMöglichkeit, weitere grundsätzliche Anmerkungen zumachen. Der Deutsche Fußball-Bund ist der mitglieder-stärkste Verband innerhalb der FIFA, die nicht erst inden letzten Wochen für mehr als unrühmliche Schlagzei-len gesorgt hat. Auch wenn in den kommenden Wochendie sportlichen Ergebnisse im Vordergrund stehen wer-den, sind die Vorkommnisse und ungeklärten Beste-chungsvorwürfe in der FIFA nach wie vor im Raum.Auch der europäische Fußballverband UEFA mahntnicht grundlos konkrete Maßnahmen zur Aufklärung an.Die Integrität des Sports ist ein hohes Gut, aber auf vie-len Ebenen offenkundig dem Verfall preisgegeben. Dasallerdings zerstört die Werte des Sports und in der Kon-sequenz zwangsläufig seine gesellschaftliche Akzeptanz.Aus unserer Sicht bietet sich für den Deutschen Fußball-Bund und seinen Präsidenten als Mitglied des FIFA-Exekutivkomitees die Chance und Herausforderung zu-gleich, sich in der FIFA an die Spitze einer Bewegung zusetzen, die für Transparenz und echte demokratischeStrukturen eintritt.

Frauenfußball wird mittlerweile in vielen Ländernder Welt gespielt – aber längst nicht überall mit dersel-ben Selbstverständlichkeit wie bei uns. Die FIFA hateine eigene Beauftragte für Frauenfußball, die erst kürz-lich in einem Interview die Hürden und Barrieren ge-schildert hat, die Frauen in vielen Ländern überwindenmüssen, wenn sie einfach nur Fußball spielen wollen.Hier kann Unterstützung von unserer Seite kommen: Im

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13589

Dagmar Freitag

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Rahmen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik fi-nanziert Deutschland Sportprojekte, die vor Ort großeErfolge aufweisen. Leider werden diese bislang viel zuwenig beachtet. Ich kann die Kolleginnen und Kollegennur ermuntern, sich bei Auslandsreisen auch über dieseProjekte zu informieren. Gleichzeitig fordere ich dieschwarz-gelbe Koalition in diesem Zusammenhang auf,die Haushaltsmittel für die Auswärtige Kultur- und Bil-dungspolitik wieder auf den Stand zu bringen, den es zuZeiten der Großen Koalition gab.

Die Frauen-Weltmeisterschaft läuft, und eine Frauhat allen Grund, mit Zufriedenheit auf das bisher Ge-leistete zurückzublicken: ich denke an Steffi Jones, diemit der ihr eigenen Bescheidenheit vieles nicht für sichreklamieren wird, was sie aber nachweislich maßgeblichvorangetrieben hat. Ein perfekt organisiertes Turnierhat natürlich Signalwirkung auch gegenüber den Län-dern, in denen der Frauenfußball noch am Anfang sei-ner Entwicklung steht.

Daher geht ein ausdrücklicher Dank an Steffi Jonesund natürlich auch an ihr Team; gemeinsam haben sieviel dazu beigetragen, dass diese Weltmeisterschaft bis-lang unter einem guten Stern steht. Persönlich freue ichmich, dass sie dem Fußball in anderer Funktion nachder WM erhalten bleiben wird – es gibt schließlich nochviel zu tun!

Joachim Günther (Plauen) (FDP): Effiziente Ressourcennutzung sieht anders aus. Der

hier vorliegende Antrag zeigt die Grünen, wie sie sind:mit wenig Sachkenntnis, viel heißer Luft und dem wahn-haften Zwang, alles anzugleichen. Um uns das zu ver-mitteln, hätten Sie keine fünf Seiten schreiben müssen.Sie versuchen hier, alle Ihre Themen unterzubringen,und das wohlgemerkt wenig sachbezogen und nicht im-mer widerspruchsfrei.

Ich will trotzdem versuchen, zu diesem nichtssagen-den Antrag ein paar inhaltliche Anmerkungen zu ma-chen.

Ich will es gleich vorwegschicken: Die Fußball-WMder Frauen 2011 im eigenen Land ist eine tolle Sache.Wer mich kennt, weiß, dass ich ein großer Fußballfanbin. Deswegen werde ich mir auch keines der Spiele derDamen entgehen lassen.

Sie kritisieren in Ihrem Antrag, dass die Bedeutungdes Frauenfußballs noch weit hinter der des Männerfuß-balls zurückliegt. Das mag sein, allerdings ist das weni-ger gravierend, als Sie es darstellen, und auch nicht inStein gemeißelt.

Sie führen diese ungleich verteilte Bedeutung auf diemangelnde mediale Präsenz von Frauenfußball zurück.Nun muss ich Ihnen da widersprechen: Wir erleben ge-rade eine professionelle Medienoffensive, bei der zahlrei-che TV-Sendungen, Anzeigen- und Werbekampagnen so-wie Zeitungsartikel das Sommermärchen von 2011pushen. Unsere WM-Spielerinnen werden für die ver-schiedensten Produkte als Werbeträger eingesetzt.Männliche Nationalspieler wie Lukas Podolski undThomas Müller outen sich in TV-Spots für eine Super-

marktkette als begeisterte Frauenfußball-WM-Fans. Esgibt sogar erstmals ein Panini-Album zur Frauen-WM.Und da das alles noch nicht reicht, rühren im gebührenfi-nanzierten Tatort auch noch Steffi Jones, Theo Zwanziger,Jogi Löw, Oliver Bierhoff, Nationaltrainerin Silvia Neidund andere Fußballprominenz die Werbetrommel. Ja,was wollen Sie denn noch? Dass wir ein Gesetz erlassen,das jeden Bürger zwingt, sich die Spiele anzusehen?

Vonseiten des DFB, der Öffentlichkeit und auch derBundesregierung wurde alles getan, damit unseren Da-men die ihnen gebührende Aufmerksamkeit zukommt.Außerdem sollte eines nicht unerwähnt bleiben: DasWM-Halbfinale 1995, in dem die deutschen Damen lei-der China unterlagen, sahen in Deutschland 5 MillionenZuschauer. Beim WM-Sieg 2007 gegen Brasilien sahensich fast 12 Millionen Zuschauer die Partie an. Vergan-genen Sonntag schalteten 15,37 Millionen Zuschauerden Fernseher ein, um die erste WM-Begegnung unsererDamen vor ausverkauftem Stadion zu sehen; das ent-spricht einem Marktanteil von 60 Prozent. Die Frauenhaben sich diese Anerkennung und dieses Plus an Auf-merksamkeit durch ihre eigene Leistung selbst erspielt –und das ist auch gut so.

Ihrer Meinung nach wird der Frauen- und Mädchen-fußball noch viel zu wenig gefördert. Doch in dem glei-chen Antrag stellen Sie die Erfolge der deutschen Fuß-balldamen selbst heraus: sieben Europa- und zweiWeltmeistertitel. Ich frage mich, wie solche sportlichenErfolge bei den Ihrer Meinung nach steinzeitlichen För-derbedingungen möglich sein konnten. Ich will es Ihnensagen: Sie haben unrecht. In Ihrem Antrag verkennen, janegieren Sie völlig die vorbildlichen Anstrengungen undmassiven Förderungen des DFB in Sachen Frauenfuß-ball. Auch seitens der Bundesregierung wird mit demProgramm „Jugend im Sport“ den Entwicklungen imFrauen- und Mädchenfußball Rechnung getragen.

Natürlich sind es nach wie vor mehr Jungen als Mäd-chen, die diesen Sport betreiben, aber wir befinden unsin einer Entwicklung, die auf noch mehr Mädchen in un-seren Fußballvereinen hinsteuert. Das geht nicht vonheute auf morgen. Und schließlich ist es auch ganz na-türlich, dass nicht immer genauso viele Jungen wieMädchen eine bestimmte Sportart betreiben. Ich sehedarin allerdings keinen Nachteil.

In Ihrem Antrag bemühen Sie auch einmal mehr dasschöne Schlagwort „Integration“ und verpassen natür-lich nicht die Gelegenheit, der Bundesregierung und derWelt diesbezügliche Versäumnisse vorzuwerfen. Dazuhabe ich dann doch einmal eine Frage: Waren Sie schoneinmal auf einem Fußballplatz? Bei einem Verein? Ichvermute nicht, und ich erkläre Ihnen auch gern, warum:Sie können hier in Berlin an einem beliebigen Abend mitein paar Freunden oder allein auf einen Fußballplatzgehen. Dort werden Sie dann noch andere Spielwilligetreffen, die allein vermutlich auch keine ganze Mann-schaft zusammenbekommen. Und wissen Sie, was er-staunlich ist? Keiner wird Sie fragen, woher Sie kommenoder welcher Nationalität Ihre Eltern angehören. Vielwichtiger sind Fragen wie: „Außen oder innen?“ oder„Mittelfeld oder Stürmer?“

Zu Protokoll gegebene Reden

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Joachim Günther (Plauen)

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Sport ist Integration, Fußball ist Integration! Dabeigeht es nicht um Herkunft, sondern nur um Leistung. Vordiesem Hintergrund finde ich es sehr befremdlich, dassSie eine zusätzliche Förderung von Mädchen undFrauen mit Migrationshintergrund fordern. Das wider-spricht in elementarer Weise den Grundsätzen desSports. Darüber hinaus sind gerade im Sport Menschenmit Migrationshintergrund überproportional vertreten,was Ihre Forderung sogar gegenstandslos macht.

Unter anderem fordern Sie weiter eine verstärkteFörderung des Fußballs auch als Schulsport für Mäd-chen. Liebe Kollegen bei den Grünen, ein kleiner Kursin Staatskunde: Das ist Ländersache! Wenn Ihnen das sowichtig ist, dann wenden Sie sich doch vertrauensvoll anIhre Länderkollegen in Regierungsverantwortung.

Außerdem habe ich mich einmal umgehört und erfah-ren: Mädchen haben in unseren Schulen bei SportkursenWahlmöglichkeiten. So bleibt es ihnen überlassen, ob sieTurnen, Leichtathletik, Gymnastik oder Ballsportartenwählen. Sollten unsere Töchter sich also nicht für Fuß-ball entscheiden, so haben auch Sie das zu akzeptieren.

Aus all den hier genannten Gründen ist der Antragaus unserer Sicht abzulehnen.

Zusammenfassend möchte ich noch sagen, dass dieFußball-WM der Frauen 2011 natürlich Chancen bietet.Ich persönlich freue mich auf die Begegnungen undauch darauf, dass sich danach noch mehr Mädchen inden Vereinen anmelden werden.

Frauenfußball ist längst kein Nischensport mehr, undwenn wir unseren Weg fortsetzen, werden wir von derDynamik, mit der sich die Entwicklung in dieser Sport-art vollzieht, überrascht sein. Frauen und Mädchen sindauch hier auf Augenhöhe mit Männern und Jungen.

Jens Petermann (DIE LINKE): Meine Fraktion bedauert es sehr, dass ein an sich

sinnvoller Antrag der Bündnisgrünen zum Frauenfuß-ball nicht öffentlich debattiert und nur zu Protokoll ge-geben werden soll. Das ist besonders unverständlich,weil derzeit die Frauenfußball-WM in Deutschlandstattfindet. Ein öffentliches Plenum wie der Bundestagwäre ein angemessenes Forum gewesen, die Fortschritteund Defizite im Frauen- und Mädchenfußball zu debat-tieren. Die antragstellende Fraktion gibt sich leider miteiner Protokolldebatte zufrieden. Gerade weil die grü-nennahe Heinrich-Böll-Stiftung parallel zur WM dieVeranstaltungsreihe „Gender Kicks 2011“ organisiert,wäre eine öffentliche Debatte sehr hilfreich. So gibt sichdie Fraktion mit dem Effekt eines Schaufensterantrageszufrieden. Das ist wirklich bedauerlich.

Trotz dieses Mangels lohnt es sich, diesen Antrag zudiskutieren. Er hat im Sportausschuss unsere Zustim-mung erhalten: Der Antrag geht auf eine ganze Reihevon aktuellen Problemen ein und signalisiert unstreitigHandlungsbedarf, auch wenn die Probleme an der einenoder anderen Stelle sicherlich noch zu konkretisierensind. Zudem lässt der Antrag hier und da auch möglicheLösungswege vermissen.

Die derzeitige Frauenfußballeuphorie ist mit Sicher-heit gesellschaftspolitisch nützlich. Es wäre fahrlässig,die WM im eigenen Lande nicht als Basis für eine stetigeEntwicklung zu betrachten und die vorhandenen Poten-ziale nicht besser auszuschöpfen.

Vor acht Jahren, als die deutschen Frauen zum erstenMal den WM-Titel holten, wurde ihr Spiel weder beson-ders ernst noch besonders wahrgenommen. Hier hatsich einiges verändert, wobei die Potenziale längst nichtausgeschöpft sind.

Frauen- und Mädchenfußball ist in den Sportsendun-gen der öffentlich-rechtlichen Medien, von der aktuellenWM abgesehen, nicht mehr als eine Randnotiz. Es be-steht allerdings Hoffnung, dass sich die hohen Zuschau-erzahlen der ersten WM-Spiele in den Köpfen der Pro-grammdirektoren bei ARD und ZDF festsetzen und dieHerren – meistens sind es Männer – ihre Lernfähigkeitunter Beweis stellen.

Dennoch gibt es eine plausible Begründung für dieUngleichbehandlung: Die Frauen-Bundesliga ist derzeitnicht sonderlich attraktiv, weil es noch zu wenige gleich-wertige Mannschaften gibt. Denn der Frauenfußball hatlängst nicht die sportliche, gesellschaftliche und wirt-schaftliche Bedeutung wie der Männersport. Fußballe-rinnen erhalten nur einen Bruchteil des Gehalts ihrermännlichen Kollegen. Ähnliches gilt für die Prämien derNationalmannschaften. Es ist für junge Frauen derzeitunmöglich, den Berufswunsch „Fußballerin“ als Ganz-tagsjob zu verfolgen, zumal die „duale Karriere“ imFrauenfußball praktisch keine Bedeutung hat. Nur we-nige Fußballerinnen können von ihrem Sport leben.

Beim Frauen- und Mädchenfußball geht es schließ-lich besonders um die Förderung des Breitensports.Hier zieht sich der Bund weiterhin so weit wie möglichaus der Verantwortung und überlässt die Finanzierungdes Sports den chronisch klammen Ländern und Kom-munen. Auch deshalb fordert die Linke im Bundestagseit langem ein Sportfördergesetz des Bundes, das sichdes Breiten- und Freizeitsports genauso annimmt wiedes Schulsports. Gerade im Schulsport müssen in allenBundesländern die gleichen Mindeststandards gelten.Von Verantwortlichen im Bund wird gerne darauf ver-wiesen, dass diese Frage in den Kompetenzbereich derLänder fällt. Damit sich die Bunderegierung nicht wei-ter aus der Verantwortung herausreden kann, fordert dieLinke, Sport als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern.Solche konkreten politischen Forderungen fehlen leiderim Antrag der Grünen.

Dabei ließen sich viele der 20 im Antrag aufgestelltenEinzelforderungen auf einer solchen Grundlage schnel-ler und effizienter umsetzen. Es steht außer Frage, dassSport einen wichtigen Beitrag zur Integration von Men-schen mit Migrationshintergrund leisten kann. Es stehtauch außer Frage, dass derzeit nur wenige Frauen undMädchen mit Migrationshintergrund zum Fußball fin-den. Das Programm des Bundesinnenministeriums „In-tegration durch Sport“ böte eine gute Ausgangsposition,Mädchen mit Migrationshintergrund neue Freiräumeauch im Fußball zu eröffnen und die kulturelle Integra-tion voranzubringen. Es besteht aber leider ständig die

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Jens Petermann

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Gefahr, dass die finanzielle Ausstattung eines solchenProgramms gekürzt oder ganz gestrichen wird. Stündeder Sport als Staatsziel im Grundgesetz, ließen sich sol-che Einschnitte viel schwerer durchsetzen.

Dann wäre es übrigens für den Haushaltsausschussauch nicht so leicht gewesen, den Goldenen Plan zurSportstättensanierung still und heimlich zu beerdigen.Was erst einmal aus den Haushaltsaufstellungen derBundesregierung verschwunden ist, wird so schnellnicht wieder auftauchen. Dabei gibt es großen Sanie-rungsbedarf. Diesen Aspekt spricht der vorliegende An-trag nicht an, obwohl er ein Kernproblem aufgreift: Fürdie Stärkung des Frauen- und Mädchensports, nicht nurdes Fußballs, ist es unbedingt erforderlich, auch dieSportanlagen baulich entsprechend anzupassen. Es gehtdabei um mehr als die energetische Sanierung, die derAntrag als Beitrag zum Klimaschutz zu Recht einfordert.Wenn Mädchen und Frauen Sport treiben wollen, müs-sen ihnen auch Umkleideräume und Duschen zur Verfü-gung stehen. Aufgrund der oft veralteten Sportanlagenin Deutschland gibt es da große Defizite. Um einen sol-chen Umbau realisieren zu können, muss ein bundeswei-tes Sportstättensanierungsprogramm neu aufgelegt wer-den, denn die kaputtgesparten Kommunen können diesin aller Regel nicht leisten.

Die gesellschaftliche Bedeutung des Sports reicht inviele Bereiche hinein und über die deutschen Grenzenhinaus. Deshalb ist es wichtig, dass sich der Antragnicht auf den Fußball beschränkt. Sport ist eben auchBestandteil der Umwelt-, der Entwicklungs- und derKulturpolitik. Wenn die Frauenfußball-WM als Türöff-ner für eine größere Akzeptanz und für stärkeren Ein-fluss des Mädchen- und Frauensports in Deutschlandwirken soll, müssen die sich daraus ergebenden Chan-cen unmittelbar aufgegriffen werden. Bloße Sonntagsre-den und Absichtserklärungen reichen hier nicht aus.

Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Begeisterung für Fußball ist an sich nicht Neues –aber Begeisterung für Frauenfußball ist nach wie vornoch nicht überall verbreitet.

Derzeit kann man die Spuren dieser Begeisterung anvielen Plätzen in Deutschland erleben. Dafür, wie sichdiese Begeisterung auch nachhaltig auf den Sport unddie Gesellschaft übertragen lässt, machen wir mit die-sem Antrag für den Frauenfußball Vorschläge.

Der von unserer Fraktion vorgelegte Antrag zeigt we-sentliche Chancen für eine bessere Politik auf, die durchden Sport generiert werden: für eine Integrationspolitikohne erhobenen Zeigefinger, für eine Stärkung derFrauen im Sport, für den Mut zu einer Einführung ver-bindlicher ökologischer Standards in der Durchführungvon Sportgroßveranstaltungen.

Die gesellschafts- und integrationspolitische Bedeu-tung des Sports wird vor allem dort deutlich, wo es jun-gen Migrantinnen ermöglicht wird, in der Freizeit oderim Verein Sport zu treiben. Dafür sind die Kapazitäten,die momentan von der Bundesregierung zur Verfügung

gestellt werden, schlicht nicht ausreichend. Das betrifftnicht nur die Sportstätten, bei denen der Innenministerjährlich drei Millionen Euro einsparen möchte. Das be-trifft vor allem die Unterstützung durch die Politik, wennes um die personelle Infrastruktur des Sports geht.

Zwar ist durch das bereits seit 1989 laufende Pro-gramm „Integration durch Sport“ ein Pool geschaffenworden, in dem der Förderung von Migrantinnen imSport eine wichtige Rolle zukommt. Aber es bedarf beisolch einer Vielzahl von einzelnen Initiativen einer stän-digen programmbegleitenden Evaluierung. Um Men-schen mit Migrationshintergrund an den Sport heranzu-führen, ist es daher nötig, die Entwicklungen auch aufVerbandsebene in Deutschland aktiv zu begleiten.

Doch was heißt eigentlich Integration im Sport? DieBundesregierung hat bisher jedenfalls noch keine aus-reichende Antwort gegeben – die Vorstellung des Innen-ministers im Sportausschuss ließ an dieser Stelle dochEiniges vermissen. Unser Antrag macht deswegen deut-lich, wo integrative Maßnahmen im Sport zu verstärkensind. Gerade durch das bürgerschaftliche Engagement,bei dem überhaupt erst gewährleistet wird, dass organi-sierter Sport stattfinden kann, ist ein ungeheures gesell-schaftspolitisches Potenzial vorhanden. Doch es fehltden Vereinen an interkulturell sensibilisierten Übungs-leiterinnen und Übungsleitern, an qualifiziertem Perso-nal auch auf der Ebene der Entscheidungsträger, die vielzu selten weiblich sind. Migrantinnen sind dort so gutwie gar nicht vertreten.

Zudem muss es mehr Multiplikatorinnen geben, dieeine Brücke zwischen verschiedenen Bevölkerungsgrup-pen herstellen und die Idee des Sports zu den Menschenbringen.

Denn wir Grüne begreifen Integration nicht als Ein-bahnstraße. Die Teilhabe von Migrantinnen undMigranten an gesellschaftlichen Prozessen kann nurdann gewährleistet werden, wenn die strukturellen Rah-menbedingungen dafür gegeben sind. Die demografi-sche Entwicklung in Deutschland läuft neben der Erhö-hung des Durchschnittsalters auch auf eine zunehmendekulturelle Vielfalt hinaus: schon jetzt findet etwa dieHälfte der Menschen, die nach Deutschland kommt,langfristig ihr Zuhause in Deutschland. Der Sport bietetein hervorragendes Feld dafür, um auch frühzeitig Men-schen mit Migrationshintergrund einzubeziehen. Diestärkere Vernetzung von Sportinitiativen und Schulen istdaher eine der zentralen Forderungen unseres Antrags.Der Sport ist gesellschaftspolitisch nicht nur Sinnbildfür Interaktion, sondern eine gesellschaftliche Stütze,die aufrechterhalten werden muss.

Bei aller Euphorie im Rahmen der diesjährigen Fuß-ball-WM dürfen wir die noch immer vorhandenen Pro-bleme des professionellen Frauenfußballs nicht verges-sen: Frauenfußball findet im Ligaalltag fast nicht statt.Die Übertragung aller WM-Spiele im öffentlich-rechtli-chen Fernsehen ist eine absolute Ausnahme, wenn es umdie Sportberichterstattung beim Frauenfußball geht. Inkaum einer Sportsendung taucht bisher ein Bundesliga-spiel der Frauen auf, höchstens die entscheidendenFinale finden die Beachtung der Medien. So bleibt der

Zu Protokoll gegebene Reden

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Viola von Cramon-Taubadel

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Frauenfußball medial in den Kinderschuhen. Zu einerEtablierung und einer weiteren Verbesserung diesesSports – der im Übrigen derselbe ist wie der Fußball derMänner, meine Herren – ist die Präsenz im öffentlich-rechtlichen Rundfunk unerlässlich.

Ein Wort auch zu den jüngsten Entwicklungen bei derFIFA: Wir dürfen nicht zulassen, dass die skandalösenEreignisse der letzten Zeit und die peinliche Außendar-stellung des Weltverbandes in eine Sackgasse führen.Die FIFA muss sich – zugunsten der beliebtesten Sport-art weltweit – ab sofort von Grund auf erneuern. Finan-zielle Transparenz und demokratische Legitimität müs-sen dort endlich Einzug halten. Die Chancen, welchedurch den Fußball noch immer eröffnet werden, dürfenaber nicht von Meldungen über korrupte Verbände über-schattet werden. Der Fußball schafft die ersten Kontakteauch zu Ländern, mit denen die diplomatischen Bezie-hungen sich als schwierig erweisen.

Die Fußball-WM der Frauen ist ein klimaneutralesSportgroßereignis. Das insgesamt zum dritten Mal nach2006 und 2010 implementierte Nachhaltigkeitskonzept„Green Goal“ darf aber keine Ausnahme bleiben. Nach-haltigkeitskriterien, wie sie auch für diese WM wiedernur freiwillig zustande gekommen sind, müssen für alleGroßereignisse in Deutschland verbindlich gemachtwerden. Es ist darüber hinaus zu überlegen, ob ähnlicheKonzepte nicht auch dauerhaft im Ligabetrieb etabliertwerden sollen.

Vielleicht verändert die Regierung ja auch hier ihreEinschätzungen und steht endlich für eine kohärente Kli-mapolitik ein. Lassen Sie uns diese Chance nutzen, mitdem Sport etwas zu bewegen.

Vizepräsident Eduard Oswald:Wir kommen zur Abstimmung. Der Sportausschuss

empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/6281, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/5907 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind dieKoalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Das sind die Frak-tionen des Bündnisses 90/Die Grünen und der Linken.Enthaltungen? – Das ist die Fraktion der Sozialdemokra-ten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten StefanSchwartze, Petra Crone, Petra Ernstberger, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Programme „Schulverweigerung – Die2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“ erhal-ten

– Drucksache 17/6103 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-ginnen und Kollegen sind bei uns bekannt.

Dr. Peter Tauber (CDU/CSU):Mit der Initiative „JUGEND STÄRKEN“ hat das

Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugendseine bereits bestehenden Programme für benachteiligtejunge Menschen und Jugendliche mit Migrationshinter-grund erheblich gebündelt und geschärft. Gleichzeitigist es gelungen, die bestehenden Programme besser auf-einander abzustimmen und sie zum Teil erheblich auszu-bauen. Die Initiative „JUGEND STÄRKEN“ bündeltdabei die Programme „Schulverweigerung – Die 2.Chance“, die „Kompetenzagenturen“, das Programm„STÄRKEN vor Ort“ sowie die Jugendmigrations-dienste.

Bundesweit bilden mehr als 1 000 Standorte der Ini-tiative ein flächendeckendes Netzwerk an Angebotenund Strukturen. Mit den Programmen ist die Bundesre-gierung neue Wege gegangen. Benachteiligte jungeMenschen, die bei ihrer Lebensplanung zu scheiterndrohen, erhalten mithilfe der Programme kompetent undeinfühlsam die Hilfe, die sie brauchen, um in ihrem All-tag künftig besser zu bestehen. Einer der Schwerpunkteliegt dabei unter anderem auf den Jugendmigrations-diensten. Wir wollen damit junge Migrantinnen und Mi-granten begleiten und sie bei der Integration in die Ge-sellschaft unterstützen. Es hat sich dabei einbeachtliches Netzwerk gebildet, das jungen Migrantenwirksam und unbürokratisch weiterhilft. Dies ist ein vol-ler Erfolg.

Mit den Programmen werden junge Menschen dortabgeholt, wo sie sind. Gerade die unbürokratische undbehutsame Herangehensweise stellt sicher, dass jungeMenschen die Angebote als ehrlich und auf Augenhöheempfinden. Dies ist der Schlüssel zur Akzeptanz bei denBetroffenen und damit auch zum konkreten Erfolg derProgramme.

Einer der Schwerpunkte der Initiative ist dabei dieAktivierung der Stärken junger Menschen. Nicht seltengeht es darum, bestehende Stärken zu wecken, sie förm-lich „wiederzubeleben“ und den Jugendlichen denGlauben an sich selbst zurückzugeben. Dies gelingtnicht selten in beachtlicher Art und Weise.

Gleichzeitig wird das Umfeld der Betroffenen ange-regt und unterstützt, sich für die Perspektiven jungerMenschen aktiv einzusetzen. Und erfreulicherweise be-darf es dazu oft keiner großen Überredungskunst. DerPunkt ist viel häufiger, dass es einfach jemanden gebenmuss, der sein Umfeld mitzieht und neue Impulse gibt.

Besonders erfreulich ist die geschickte Abstimmungder Programme auf die tatsächlichen Bedürfnisse be-nachteiligter Jugendlicher. Das Programm „Aktiv in derRegion“ zielt auf ein möglichst lückenloses Fördersys-tem, um den Übergang von der Schule in das Berufsle-ben, wo es leider häufiger Probleme gibt, zu vereinfa-chen und gleichzeitig wichtige Starthilfe zu geben. Diesgeschieht auch in wohlverstandenem Interesse des Steu-

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Dr. Peter Tauber

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erzahlers. Denn ein geglückter Einstieg in das Berufsle-ben kann helfen, hohe Kosten für den Sozialstaat zu spa-ren.

Das Programm „Schulverweigerung – Die 2. Chance“soll erreichen, dass junge Menschen, die den Besuch derSchule verweigern, eine neue Perspektive erhalten, mitdem Ziel, sie wieder in die Schulen eingliedern zu kön-nen, damit sie einen Abschluss machen können und ihreChance auf ein beruflich erfolgreiches Leben nicht früh-zeitig aufgeben. Dies passiert nicht im luftleeren Raum,sondern in enger Abstimmung mit Eltern und Lehrkräf-ten. Damit wird erreicht, dass die Fördermaßnahmenauch tatsächlich auf den Bedarf jedes einzelnen abge-stimmt sind.

Die Kompetenzagenturen hingegen unterstützen be-sonders benachteiligte Jugendliche. Hierbei geht eshäufiger über die Frage hinaus, einen Beruf zu finden.Häufig geht es darum, den Jugendlichen dabei zu helfen,einen Weg in die Gesellschaft zurück zu finden. Geradediejenigen, die vom bestehenden System der Hilfeange-bote für den Übergang von der Schule in den Beruf nichtmehr erreicht werden, erhalten hier engagierte und per-sönliche Hilfe. Für den Einsatz möchte ich mich im Na-men meiner Fraktion bei Ministerin Schröder herzlichbedanken.

Meine sehr geehrten Damen und Herren bei der SPD,mit Ihrem Antrag malen sie – wie in letzter Zeit leider zuhäufig – in fatalistischer Weise den Teufel an die Wand.Es lohnt sich daher, einmal genau auf die Faktenlage zuschauen:

Im Rahmen des Ausschreibungsverfahrens der Pro-gramme „Kompetenzagenturen“ und „Schulverweige-rung – Die 2. Chance“ hat das FamilienministeriumEnde Mai entschieden, die bisher zur Verfügung stehen-den ESF-Mittel von 50 auf 80 Millionen Euro für denFörderzeitraum September 2011 bis Ende 2013 zu erhö-hen und sämtliche 409 förderfähigen Träger, die sich amInteressenbekundungsverfahren beteiligt haben, zur An-tragstellung zuzulassen. Damit erhalten von insgesamt430 Antragstellern nur 21 aus fachlichen, nicht aus fi-nanziellen Gründen eine Absage.

Die Antragsaufforderung erfolgte am 31. Mai 2011durch das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftli-che Aufgaben. Bis 1. Juli haben die Träger noch Zeit, ih-ren Antrag einzureichen. Danach erfolgt das Bewilli-gungsverfahren, sodass ab September mit einernahtlosen Weiterförderung zu rechnen ist. Niemand wirddabei im Regen stehen gelassen.

Die zur Verfügung stehenden ESF-Mittel von 80 Mil-lionen werden in einem gerechten Verfahren auf Grund-lage der ESF-Anforderungen auf die Länder verteilt. Dadie zur Verfügung stehenden Fördermittel nicht ausrei-chen, um die 409 förderfähigen Träger mit der im Inter-essenbekundungsverfahren angegebenen Fördersummezu fördern – durch die Träger wurden Mittel von mehrals 100 Millionen Euro beantragt –, mussten die bean-tragten Mittel teilweise gedeckelt werden, sofern dieMittel für das Zielgebiet und das entsprechende Bundes-land erschöpft waren. Dies ist nichts Unübliches – im

Gegenteil, es ist Bestandteil eines üblichen Antragsver-fahrens.

Sämtliche Interessenbekundungen für die ESF-Pro-gramme „Schulverweigerung – Die 2. Chance“ und„Kompetenzagenturen“ wurden nach einem einheitli-chen Bewertungsverfahren geprüft. Die fachlich-inhalt-liche Bewertung erfolgte durch ein objektives Bewer-tungsraster und wurde unabhängig von zwei Prüferndurchgeführt. Die beiden Einzelbewertungen warenGrundlage für die Gesamtbewertung. Die Deckelungeinzelner Träger ist nach der im Bewertungsverfahrenerreichten Punktzahl und somit nach der Qualität derInteressenbekundungen erfolgt.

Voraussetzung für eine Förderung und somit Auffor-derung zur Antragstellung war das Erreichen einer Min-destpunktzahl. Förderwürdig waren insofern nur Inter-essenbekundungen, die mindestens 50 Prozent dermöglichen Punkte erreicht haben. Da es sich dabei umFördersummen im sechsstelligen Bereich handelt, ist esein Gebot der Verantwortung gegenüber den Steuerzah-lern, eine maßvolle Vergabe von Steuermitteln zu prakti-zieren, die sich auf Qualitätsstandards gründet und nichteinfach wahllos Gelder mit der Gießkanne verteilt.

Meine sehr geehrten Damen und Herren bei der SPD,das von Ihnen gemachte Rechenspiel greift eindeutig zukurz. Es bildet nicht den tatsächlichen Bedarf ab, son-dern rechnet nur eine bis August 2011 bestehende För-derung hoch. Sie verkennen, dass es nicht um eine Eins-zu-eins-Weiterförderung bestehender Standorte geht,sondern die Programme mit neuer Akzentsetzung ausge-schrieben wurden und eine Bewerbung der Träger erfor-derlich ist, die bestimmten Qualitätskriterien unterliegt.Wie gesagt: Erst wenn die Qualität stimmt, wird ein Be-scheid erteilt.

Auch Ihre pauschale Forderung nach Erhalt allerStandorte der Kompetenzagenturen und des Programms„2. Chance“ geht an der Sachlage vorbei. Noch einmalzur Klarstellung: Aktuell werden die Programme„Schulverweigerung – Die 2. Chance“ an 192 Standor-ten durch 173 Träger und das Programm „Kompetenz-agenturen“ an 204 Standorten durch 200 Träger (insge-samt 396 Standorte, 373 Träger) umgesetzt. Im Rahmender neuen Ausschreibung wurden alle 409 förderfähigenTräger zur Antragstellung aufgefordert, die insgesamt408 Standorte, also 208 „Kompetenzagenturen“ und200 Koordinierungsstellen der „2. Chance“ bedienen.Damit werden ab September 2011 sowohl auf Träger-ebene als auch nach Standorten mehr Aktivitäten als inder aktuellen Förderphase gefördert. Die Differenz vonTräger und Standorten kommt dadurch zustande, dass esTräger gibt, die sich zu einem Trägerverbund zusam-mengeschlossen haben, aber aus finanztechnischer Sichtjeweils getrennte Anträge stellen müssen.

Auch Ihre Forderung, eine Kofinanzierung aus demSGB II/III über den 1. Januar 2012 hinaus zu ermögli-chen, liegt neben der tatsächlichen Situation. Die Ko-finanzierung des Programms „Kompetenzagenturen“aus SGB-II/III-Mitteln ist ab dem 1. Januar 2012 nichtmehr möglich. Jugendsozialarbeit nach § 13 SGB VIIIobliegt – wie Sie wissen – den Kommunen, die für die

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Dr. Peter Tauber

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Umsetzung des SGB VIII zuständig sind. Im Hinblick aufdie gewünschte Verstetigung des Angebots und zur Stär-kung der kommunalen Verantwortung sollen daher dieerforderlichen Kofinanzierungen in erster Linie auskommunalen Mitteln erbracht werden. Die nach einerÜbergangszeit bis Ende 2011 auslaufende Möglichkeitder 20-prozentigen Kofinanzierung aus Mitteln desZweiten und Dritten Buches Sozialgesetzbuch trägt die-sem Anliegen Rechnung.

Zudem kann künftig ergänzend auch eine Kofinanzie-rung aus dem Bundesprogramm der Jugendmigrations-dienste erbracht werden. Jugendmigrationsdienste undKompetenzagenturen weisen sowohl hinsichtlich derZielgruppe als auch bei den angewendeten Instrumentenund Arbeitsmethoden eine große Schnittmenge auf. Da-her ist beabsichtigt, mit beiden Einrichtungen näher zu-sammenzurücken. Ein erster Schritt zur Synergie ist diemit der neuen Ausschreibung zugelassene Möglichkeitder nationalen Kofinanzierung aus der Bundeszuwen-dung der Jugendmigrationsdienste, mit der die Zusam-menarbeit vor Ort positiv befördert werden soll.

Wichtig für die Arbeit vor Ort ist daher in meinen Au-gen ganz besonders die Botschaft, dass beide Pro-gramme, also sowohl das Programm „Schulverweige-rung – Die 2. Chance“ als auch das Programm„Kompetenzagenturen“ in Zukunft weitergeführt wer-den. Dies ist nicht zuletzt dem Erfolg und der Qualitätder Programme geschuldet, wofür der Bundesregierungnoch einmal ein herzlicher Dank gebührt.

Ein wichtiges Signal ist zudem, dass alle förderfähi-gen Antragsteller bereits ihre Anträge erhalten haben.Ich bin sicher, dass es gelingen wird, das flächende-ckend aufgebaute Hilfesystem der Initiative „JUGENDSTÄRKEN“ zu erhalten – und dies auf hohem Niveau.Diese Bundesregierung hat sich die Förderung benach-teiligter Kinder in enger Partnerschaft mit den Kommu-nen zum Ziel gemacht und wird diesen Weg konsequentweiter beschreiten. Ihr Antrag hingegen läuft den Ent-wicklungen hinterher, ihre spekulativen Forderungensind für die Antragstellung zudem irrelevant und keiner-lei Hilfe für die Arbeit vor Ort. Ihren Antrag werden wirdaher auch ablehnen. Die christlich-liberale Regierungkümmert sich stattdessen mit Hochdruck darum, dassalle Förderbescheide in den kommenden Wochen erteiltwerden, damit die Arbeit im September nahtlos fortge-führt werden kann.

Stefan Schwartze (SPD): Insgesamt fünf Modellprogramme sind unter dem

Dach der Initiative „Jugend stärken“ beim Bundes-ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,BMFSFJ, zusammengefasst. Ende 2010 gab dasBMFSFJ das Aus für das Programm „Stärken vor Ort“bekannt. Für zwei weitere Programme „Schulverweige-rung – Die 2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“ ver-kündete es, dass diese im Jahr 2011 neu ausgeschriebenwerden sollen, obwohl die Förderphase ursprünglich bisins Jahr 2013 geplant war.

Im Februar 2011 rückte das BMFSFJ dann mit derganzen Wahrheit raus: Im Zuge der Neuausschreibung

sollten die Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds,ESF, für die Programme „Schulverweigerung – Die 2.Chance“ und „Kompetenzagenturen“ um die Hälfte ge-kürzt werden. Zusätzlich soll für das Programm „Kom-petenzagenturen“ die bis zu 20-prozentige Kofinanzie-rung über den SGB-II- und SGB-III-Bereich ab Januar2012 entfallen.

In der letzten Maiwoche setzte die zuständige Minis-terin Schröder die ESF-Mittel nach vehementen Protes-ten der Trägerorganisationen kurzerhand für die Pro-gramme „Schulverweigerung – Die 2. Chance“ und„Kompetenzagenturen“ von 50 Millionen auf 80 Milli-onen Euro hoch. Die SPD-Bundestagsfraktion hat dasaus einer Pressemitteilung des Ministeriums erfahren.Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich dasHeraufsetzen der Fördersumme. Dennoch liegt der jah-resdurchschnittliche Fördermittelbetrag in der neuenProgrammphase (2011 bis 2013) nur noch bei 34,29 Mil-lionen Euro. Das ist eine Kürzung der Förderung umüber 13 Millionen Euro pro Jahr bzw. um 28 Prozent.

Die SPD-Bundestagsfraktion will, dass die Förder-summe auf die bisherige Höhe von 112 Millionen Euroaufgestockt wird. Für uns ist nicht nachvollziehbar, wa-rum das BMFSFJ an dieser Stelle die ESF-Mittel um fastein Drittel kürzt.

Aktuell werden rund 40 000 junge Menschen bundes-weit in 192 Anlauf- und Beratungsstellen für das Pro-gramm „Schulverweigerung – Die 2. Chance“ sowie204 Kompetenzagenturen unterstützt. Es zeichnet sichab, dass Länder und Kommunen alleine die drohendeFinanzierungslücke nicht auffangen können. In der Kon-sequenz bedeutet dies, dass durch die Kürzung der Mit-tel entweder die Anzahl der Standorte oder die Qualitätder Arbeit vor Ort gefährdet ist.

Logisch zu begründen ist die Kürzung nicht. BeideProgramme werden vom BMFSFJ hoch gelobt und ha-ben eine außergewöhnlich hohe Erfolgsquote, weil essich um Programme der aufsuchenden Sozialarbeit han-delt. 60 Prozent der Schulabbrecherinnen und Schulab-brecher erreichen mit dem Programm „Schulverweige-rung – Die 2. Chance“ einen Schulabschluss. Die„Kompetenzagenturen“ bringen rund 70 Prozent derTeilnehmerinnen und Teilnehmer in Job oder Ausbil-dung. Auch eine Änderung der Förderschwerpunkte inder Europäischen Union betrifft diese Programme nicht.

Den Trägerorganisationen ist ganz besonders dieSGB-II- und SGB-III-Kofinanzierung ein wichtiges An-liegen, die die Bundesregierung per 1. Januar 2012 beidem Programm „Kompetenzagenturen“ abschaffen will.Auch hier wäre es durchaus logischer, die Kofinanzie-rung durch das SGB II oder SGB III zuzulassen. Die jun-gen Menschen sind oft seit langem arbeitslos, sodass sieohnehin Leistungen aus dem SGB II oder SGB III bezie-hen. Die Zuständigkeit auf längere Sicht nun alleine aufdie Kommunen und die Länder zu verlagern, ist der fal-sche Weg. Hier wird wieder einmal der Verschiebebahn-hof hin zu den Kommunen eröffnet.

Auffällig ist, dass die Bundesregierung nach den Kür-zungen im Programm „Soziale Stadt“ nun weitere Pro-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13595

Stefan Schwartze

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gramme kürzt, die ebenfalls in sozialen Brennpunktenwirken. Im Blick haben muss man dabei auch die Kür-zungen, die mit dem „Gesetzentwurf zur Verbesserungder Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt“ drohen.Mit diesem Gesetz will die Bundesregierung eine Ar-beitsmarktpolitik nach Kassenlage einführen. Der Ge-setzentwurf sieht vor, die Einstiegsqualifizierung als einerfolgreiches Instrument des Übergangssystems künftignur noch bis 2014 laufen zu lassen. Ein unbürokrati-scher Zugang zu den Leistungen zur Vorbereitung auf ei-nen Hauptschulabschluss ist mit diesem Gesetzentwurfweiterhin nicht gewährleistet. In diesen Bereichen zukürzen bedeutet echten Brennstoff für die Kommunen. Esbedeutet im Klartext, dass die Bundesregierung bereitist, Menschen zurückzulassen, ohne Schulabschluss,ohne Arbeit.

Das ist mit uns Sozialdemokraten nicht zu machen.Wir lassen keinen Menschen zurück, sondern wir for-dern neben dem Recht auf Nachholen eines Schulab-schlusses das Recht auf einen Ausbildungsplatz.

In Zeiten eines drohenden Fachkräftemangels müssendie Programme, die jungen Menschen einen Schulab-schluss oder einen Ausbildungsplatz ermöglichen, aus-gebaut werden. Denn jetzt bekommen wir die Menschenraus aus der Arbeitslosigkeit und raus aus der Perspek-tivlosigkeit.

Die Bundesregierung redet ständig vom drohendenFachkräftemangel und sucht nach einfachen und schnel-len Lösungen. Die insgesamt 1,5 Millionen Menschenim Alter von 20 bis 29 Jahren ohne Berufsabschlusskommen dabei in den Planungen der Bundesregierungschlichtweg nicht vor. 17 Prozent der jungen Menschenim Alter von 20 bis 29 Jahren blendet die Bundesregie-rung einfach aus. Ja, sie geht noch weiter und kürzt be-wusst in diesem Segment.

Das bedeutet, 1,5 Millionen junge Menschen habenweiterhin sehr schlechte Perspektiven auf dem Arbeits-markt. Sie leben in der ständigen Gefahr, das eigene Le-ben nicht selbst bestreiten zu können und damit immerwieder auf staatliche Leistungen angewiesen zu sei.

Und das, obwohl wir das Potenzial aller Jugendli-chen angesichts des drohenden Fachkräftemangels drin-gend benötigen.

Ohne einen sicheren und fair bezahlten Arbeitsplatzzögern viele, eine Familie zu gründen und sich eine ei-gene Existenz aufzubauen. Unser Ziel muss es sein, wie-der mehr jungen Menschen den Weg in ein Normal-erwerbsverhältnis zu ebnen. Die Regulierung der Leih-arbeit, die Abschaffung sachgrundloser Befristungenund ein gesetzlicher Mindestlohn sind dabei wichtigeSchritte.

Die SPD-Bundestagsfraktion lehnt die Kürzung fürdie Programme „Schulverweigerung – Die 2. Chance“und „Kompetenzagenturen“ ab. Sie fordert, ESF-Mittelin Höhe von mindestens 112 Millionen Euro zur Verfü-gung zu stellen. Außerdem fordert die SPD-Bundestags-fraktion, die 20-prozentige Kofinanzierung beim Pro-gramm „Kompetenzagenturen“ auch über den 1. Januar2012 hinaus zu ermöglichen.

Die SPD-Bundestagsfraktion hat für ihren Antrag dievolle Rückendeckung der Länder. Die entsprechendeLandesministerkonferenz hat einen einstimmigen Be-schluss gefasst. Sie wollen die Forderungen der SPD-Bundestagsfraktion mit einem eigenen Antrag im Deut-schen Bundesrat unterstützen. Dieser wird insbesonderedie Weiterführung der Kofinanzierung im SGB II nachdem 1. Januar 2012 fordern.

Daher mein dringender Apell an das BMFSFJ: Set-zen Sie die Mittel für diese wichtigen Programme he-rauf! Daher mein dringender Apell an das Ministeriumfür Arbeit und Soziales: Ermöglichen Sie die Kofinan-zierung im SGB II und SGB III für diese wichtigen Pro-gramme und unterzeichnen Sie die entsprechende Ver-waltungsvereinbarung.

Florian Bernschneider (FDP):Im Rahmen der Initiative „JUGEND STÄRKEN“

bündelt das Bundesjugendministerium seit 2009 Pro-gramme, die gezielt die Förderung von benachteiligtenjunge Menschen und Jugendlichen in Angriff nehmen,die von regulären Hilfsangeboten nur unzureichend er-reicht werden. Zu den mittlerweile fünf Programmen derInitiative zählen auch die Programme „Schulverweige-rung – Die 2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“, aufdie sich der vorliegenden Antrag der SPD-Fraktion ka-priziert. Die beiden angesprochenen Programme richtensich zum einen an Schulverweigerer und setzen zum an-deren an der Hürde an, an der immer noch zu viele jungeMenschen nach einem Schulabschluss Probleme bekom-men: der ersten Schwelle, dem Übergang von der Schulein die Berufsausbildung.

Diesen Programmen wurde zuletzt große Aufmerk-samkeit zu teil. Ich wünschte, ich könnte heute sagen,dass diese Aufmerksamkeit sich auf den außerordent-lichen Erfolg der Projekte gründete. Denn erfolgreichwaren und sind sie beide. Das war anfangs aber nichtder Fall. Größere öffentliche Aufmerksamkeit erfuhrendie Programme erst, als sie planmäßig auslaufen soll-ten.

Und das muss, zu meiner großen Verwunderung, ei-nige Vertreter der Opposition völlig unerwartet getrof-fen haben, wie ein kalter Waschlappen morgens um fünfim Bett. Zumindest vermittelten Sie in Ihren Pressemit-teilung genau diesen Eindruck. Von Kürzungen war dieRede. Ich frage Sie: Wie kann das sein?

Ich möchte Ihrer Erinnerung gerne auf die Sprüngehelfen: Die ESF-geförderten Programme sollten von An-fang an zum Sommer 2011 auslaufen. Das war allen Be-teiligten, auch Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Opposition, die diese Programme zu Ihrer eige-nen Regierungszeit teilweise noch aufgelegt haben,lange bekannt. Sie hatten das selbst so beschlossen. Eshat keine Mittelkürzungen im Bereich der Programmeder Initiative, JUGEND STÄRKEN, gegeben, zu keinemZeitpunkt. Entsprechende Behauptungen wurden widerbesseres Wissen in Umlauf gebracht. Meine Damen undHerren, das zeugt nicht nur von schlechtem Stil, das warscheinheilig.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Florian Bernschneider

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Während die Opposition noch fleißig mit dem Schrei-ben von Pressemitteilungen beschäftigt war, hat sichmeine Fraktion hingegen von Anfang für eine An-schlussfinanzierung, für die Weiterführung der genann-ten Programme eingesetzt. Entsprechende Gesprächezwischen den Koalitionsfraktionen und den beteiligtenMinisterien fanden über Wochen hinweg statt. Das mö-gen jetzt einige kaum glauben, weil darüber nicht in derPresse berichtet wurde. Aber auch das sollten Sie sicheine Lehre sein lassen: Nicht alles wird an die großeGlocke gehängt.

Vor diesem Hintergrund, liebe Kolleginnen und Kol-legen der SPD, kommt ihr Antrag etwas spät, eigentlichzu spät. Es verfestigt sich der Eindruck, dass es Ihnenweniger um die Programme und eher um Effekthasche-rei geht; vor allem, weil Sie fordern, dass für die Fort-führung der Programme mindestens 112 Millionen Euroaus ESF-Mitteln bereitgestellt werden sollen.

Es dürfte Ihnen bekannt sein, dass die ESF-Förder-summen für mehrere Jahre fest vereinbart worden sind.Damit ist auch klar, dass es kein zusätzliches Geld gibt.Der Topf ist leer. Die beiden Programme können mit80 Millionen Euro fortgeführt werden, weil ursprüng-lich nicht vorgesehene Rückflüsse von ESF-Mitteln hier-für aufgewendet werden.

Ihr Vorschlag, den Mittelansatz für die Programmeauf 112 Millionen Euro zu erhöhen, hätte zur Folge, dassdie von Ihnen geforderten Mittel in einem anderen Haus-haltstitel gekürzt und umgeschichtet werden müssten.

Da es aber, Ihrem Antrag folgend, Ihr Wunsch undWille ist, zusätzliche Mittel aus dem Haushalt des Bun-desfamilienministeriums zugunsten der beiden Pro-gramme umzuschichten, hoffe ich, dass Sie sich im Rah-men der Ausschussberatung die Zeit nehmen werden,Ihre Kürzungsvorschläge zur Gegenfinanzierung IhrerForderungen ausführlich zu präsentieren. Bisher hatsich Ihre Fraktion mit Sparvorschlägen vornehm zu-rückgehalten. Allein deshalb sehe ich der Ausschussbe-ratung mit Spannung entgegen.

Yvonne Ploetz (DIE LINKE): Gleich zu Anfang möchte ich vorwegschicken, von

welcher Wichtigkeit unsere heutige Debatte ist. Wirdiskutieren an dieser Stelle die Initiative „JUGENDSTÄRKEN“. Mit ihr fördert das Bundesministerium fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend Unterstützungs-angebote der Jugendhilfe zur sozialen, schulischen undberuflichen Integration benachteiligter Jugendlicher. Esist ein unglaublich wertvolles Programm, das den jun-gen Betroffenen zielgenaue Unterstützung zukommenlässt. Die Ergebnisse fasste der KooperationsverbundJugendsozialarbeit wie folgt zusammen: Derzeit werdenallein durch die Teilprogramme „Schulverweigerung –Die 2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“ der Initia-tive 40 000 junge Menschen an etwa 200 Standorten aufihrem Weg zu ihrem Schulabschluss und bei ihrem Über-gang in den Beruf unterstützt. Mittels Fördermittel desBundes und der EU, im Rahmen des Europäischen So-zialfonds, sollte bis 2013 ein Netzwerk aus insgesamt1 000 Standorten entstehen. Programmevaluationen ha-

ben die grundsätzliche Qualität der Initiative unterstri-chen. Allein „Schulverweigerung – Die 2. Chance“ be-wirkte über eine gezielte und intensive individuelleFörderung junger Menschen, dass 60 Prozent von ihnenwieder in die Schule reintegriert werden konnten. Die„Kompetenzagenturen“ haben nachweislich vielen be-nachteiligten jungen Menschen das Erreichen einerAusbildung ermöglicht und/oder sie bei ihrem Eintrittins Arbeitsleben unterstützt. An dieser Stelle sei vonganzem Herzen all denen gedankt, die zum Erfolg diesesProgramms auf vielen verschiedenen Wegen beigetra-gen haben.

Geplant war nun ab September diesen Jahres seitensder EU und des Bundes, nur noch einen Teil der bisheri-gen Fördergelder bereitzustellen. Dagegen haben sichunzählige Sozialverbände, Teile der Opposition und na-türlich auch meine Fraktion energisch zur Wehr gesetzt.Mit Erfolg! Die Initiative „JUGEND STÄRKEN“ bleibtzum großen Teil bis 2013 bestehen, so zumindest imFalle der beiden wichtigen Teilbereiche „Schulverwei-gerung – Die 2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“.Dies kann man der aktuellen Erklärung des BMFSFJentnehmen. Es ist ein erfreulicher Schritt, dass die Bun-desregierung sich nun der Wichtigkeit ihres eigenenProgrammes bewusst wird. An dieser Stelle darf man dieRegierung auch einmal loben. Jedoch gibt es trotz allemeinige Wehrmutstropfen: Das Teilprogramm „STÄRKENvor Ort“, das mit Mikroprojekten vor Ort den Jugendli-chen zur Seite steht, soll in diesem Jahr komplett gestri-chen werden. Die Linke aber sagt: Hände weg von derInitiative „JUGEND STÄRKEN“ – und zwar ohne Wennund Aber! Jede Kürzung stellt eine massive Gefährdungeiner sehr erfolgreichen Initiative dar, die als Gesamt-paket dringend weitergeführt und verstetigt werdenmuss.

Wir als Linke fordern vier Punkte und gehen damitüber den – durchaus korrekten – Antrag der SPD mit ei-nigen Forderungen hinaus. Diese Forderungen werdenauch in einem eigenen Antrag meiner Fraktion in Kürzeim Bundestag zur Abstimmung stehen. Ich denke, unsereFraktionen werden sich im Ausschuss dazu einigen kön-nen. Uns geht es also um Folgendes:

Erstens. Die Finanzierung der Initiative „JUGENDSTÄRKEN“ und insbesondere ihrer Teilprogramme„Schulverweigerung – Die 2. Chance“ und „Kompe-tenzagenturen“ und „STÄRKEN vor Ort“ muss sicher-gestellt werden. Und zwar in gleichbleibender Höhe wiein der letzten Förderperiode. Leider vergisst die SPD andieser Stelle das zuletzt genannte Teilprogramm. Geradeim Saarland wurde mir sehr leidenschaftlich die enormeNotwendigkeit auch dieses Aspektes geschildert.

Zweitens. Die Förderleitlinien „Weiterentwicklungder Initiative ‚JUGEND STÄRKEN‘ des Bundesministe-riums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend müssenauf der Grundlage der Umsetzungsergebnisse aus denProgrammen „Schulverweigerung – Die 2. Chance“,„Kompetenzagenturen“ und „Jugendmigrations-dienste“ vom 11. März 2011 so gestaltet werden, dasseine Kofinanzierung durch Jobcenter und Agenturen für

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13597

Yvonne Ploetz

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Arbeit für den Förderzeitraum bis 31. Dezember 2013weiterhin möglich ist.

Und damit bin ich bei zwei Punkten, die weit über dieForderungen des SPD-Antrages hinausgehen:

Drittens. Perspektivisch muss die Finanzierung derProgramme verstetigt werden. Das ist über einen ent-sprechenden Titel im Etat des Bundesministeriums fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend, insbesondere imKinder- und Jugendplan des Bundes, möglich. Durchdas Ministerium ist ein entsprechender Gesetzentwurfvorzulegen. Nur auf diesem Weg kann es gelingen, solchverheerende Kürzungsversuche nachhaltig zu verhin-dern. Die Möglichkeit der Kofinanzierung durch Job-center und Agenturen für Arbeit ist auf Dauer anzule-gen. Die benötigte personelle Ausstattung istsicherzustellen.

Viertens. Die Programme der Initiative „JUGENDSTÄRKEN“ sind künftig so zu gestalten, dass für diekleinen Träger der Initiative und für die breite Öffent-lichkeit eine Transparenz bezüglich der Mittelherkunft,der Mittelhöhe, der Vergabekriterien und der Mittelver-wendung der Initiative entsteht. Eine allgemeine Trans-parenz ist insbesondere auch für die Betroffenen herzu-stellen, sodass diese ohne größeren Aufwand einenÜberblick über mögliche Unterstützungsangebote er-halten können.

Wir erleben gegenwärtig eine Situation grassierenderJugendarmut, von Bildungsarmut, Jugendarbeitslosig-keit und massiver ungleicher Teilhabemöglichkeiten jun-ger Menschen. Jugendliche drohen an den Rand der Ge-sellschaft gedrängt und sogar exkludiert zu werden. Ichwill nur eine Zahl nennen: In Deutschland ist jederfünfte Jugendliche von Armut bedroht. Und Armut trifftdie jungen Menschen in einer höchst sensiblen Phase ih-res Lebens, in einer Phase, in der sie eigentlich Selbst-vertrauen, Optimismus und Resilienz erlernen sollten, inder sie ihre eigene Identität entwickeln und ihren Stand-punkt innerhalb der Gesellschaft suchen. Dass es dabeizu Brüchen im Lebenslauf kommt, zu Verunsicherung,Perspektivlosigkeit und Zukunftsangst, das kann nie-mand wollen. Wenn aber die Finanzierung von Initiati-ven wie „JUGEND STÄRKEN“ gefährdet wird, wird diesozialpolitisch zentrale Idee preisgegeben, die Chancenbenachteiligter junger Menschen planvoll zu verbes-sern. Das Bundesministerium für Familie, Senioren,Frauen und Jugend hat selbst die Relevanz einer eigen-ständigen Jugendpolitik betont – nicht zuletzt im Koali-tionsvertrag.

Meine Damen und Herren von der Regierungskoali-tion, dieses Ziel wird schon im Ansatz konterkariert,wenn das Ende eines derart notwendigen Unterstüt-zungsangebots für junge Menschen eingeleitet wird. Esmuss auch Ihnen als Bundesregierung ein massives An-liegen sein, auch und insbesondere benachteiligten jun-gen Menschen soziale und berufliche Integration zu er-möglichen und sie nicht aufzugeben. Deutschland darfJugendliche nicht nur mit halber Kraft stärken wollen!Wir, die Linke, stellen uns ausdrücklich gegen jede Formder Jugendverdrossenheit sämtlicher neoliberaler Par-teien im Deutschen Bundestag.

Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die von der Bundesregierung geplanten Kürzun-

gen bei den Programmen „Schulverweigerung – Die2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“ sind verant-wortungslos und absolut kontraproduktiv.

Bewährte Projekte für benachteiligte Jugendlichewerden gefährdet, und die chaotischen Umstrukturie-rungen sorgen für Verunsicherung bei allen Beteiligten.

Dies ist gerade für die betroffenen jungen Menschenabsolut unzumutbar. Die Jugendlichen, die in den Kom-petenz- und Koordinierungszentren um Hilfe nachfra-gen, brauchen stabile Beziehungen und verlässlicheUnterstützungsprozesse. Die nun bestehenden Verun-sicherungen sind Gift für die Nachhaltigkeit der vor Ortso wichtigen Jugendsozialarbeit.

Soll so die von Ihnen angekündigte „EigenständigeJugendpolitik“ aussehen?

Die Regierung muss sich an ihren Aussagen im Koali-tionsvertrag messen lassen, wonach vor Ort Bildungs-bündnisse aller relevanten Akteure gefördert werdensollen. Die Koalitionspartner hatten weiter erklärt, siestünden für eine starke Jugendhilfe und eine starke Ju-gendarbeit, die junge Menschen teilhaben lässt und ihrePotenziale fördert und ausbaut. Auch im zentralen Be-reich der Jugendarbeit scheint das Gegenteil der Fall zusein!

Wir teilen die wesentlichen Feststellungen des vorlie-genden Antrags der SPD und werden ihm deswegen zu-stimmen.

Auch halten wir es für richtig, verstärkt und präventivin die frühe Bildung und den Elementarbereich zu inves-tieren. Dies darf jedoch nicht zulasten der aktuell unter-stützungsbedürftigen Jugendlichen sowie deren Zu-kunftschancen geschehen.

Ziel muss es sein, jeden Jugendlichen dabei zu unter-stützen, einen Schulabschluss zu erreichen und eine Aus-bildungsstätte zu finden. Dass in Deutschland allein imJahr 2009 knapp 60 000 Jugendliche die Schule ohneAbschluss verlassen haben, ist ein großer gesellschafts-und bildungspolitischer Skandal und ist in Zeiten stei-genden Fachkräftemangels erst recht unverantwortlich.Deshalb ist eines der wichtigsten Ziele der „NationalenQualifizierungsinitiative“ die Verringerung der Zahl derSchulabgänger ohne Schulabschluss von 8 auf 4 Pro-zent. Davon sind wir mit rund 7 Prozent nach wie vormeilenweit entfernt. Dies ist ein eklatanter Gerechtig-keitsverstoß, der soziale Teilhabe blockiert. Das Pro-gramm, das Sie jetzt kürzen wollen, setzt genau hier er-folgreich an und begleitet die Reintegration in dasSchulsystem.

Die Informationspolitik der Bundesregierung überdie Zukunft der Programme war und ist desaströs. Wirhaben Sie mehrfach um Aufklärung über die Zukunft derInitiative „JUGEND STÄRKEN“ gebeten, zu denen diebeiden Programme gegen Schulverweigerung und fürbenachteiligte Jugendliche gehören. Zunächst hatte dieRegierung mitgeteilt, sie plane keine Reduzierung, son-dern setze die Programme mit neuen Akzenten bis Ende

Zu Protokoll gegebene Reden

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13598 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011

Kai Gehring

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2013 fort. Angeblich sollten auch alle rund 400 Stand-orte erhalten bleiben. Nun kürzen Sie jedoch die Mittelfür die Programme um mehr als ein Viertel. Viele Trägersprechen von der „Zerschlagung bewährter Systemesozialer Hilfe“ und „völlig kontraproduktiven Entwick-lungen“. Die ohnehin komplizierte Kofinanzierung derMaßnahmen wird weiter erschwert.

Wie sich die Kürzungen auf das Leistungsspektrumder Programme und damit auf die Schicksale vieler jun-ger Menschen auswirken, bleibt weiterhin nebulös. Ei-gentlich gibt es dafür nur zwei mögliche Erklärungen:Entweder handelt die Regierung völlig planlos, oder sieversucht, durch eine Salamitaktik größere Widerständezu vermeiden.

So kann man mit den Zukunftschancen Jugendlichernicht umgehen! Wir fordern die Regierung auf, bewährteStrukturen zu erhalten und die Programme zu stärken,anstatt bei benachteiligten Jugendlichen zu kürzen!

Vizepräsident Eduard Oswald:Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/6103 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind alle damit ein-verstanden? – Somit ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a und b sowieden Zusatzpunkt 14 auf:

32 a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, Jan Korte,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE

Die Digitalisierung des kulturellen Erbes alsgesamtstaatliche Aufgabe umsetzen

– Drucksache 17/6096 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten AnsgarHeveling, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), PeterAltmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSU sowie der Abgeordneten ReinerDeutschmann, Burkhardt Müller-Sönksen, JimmySchulz, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDP

Digitalisierungsoffensive für unser kulturellesErbe beginnen

– Drucksache 17/6315 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss

ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten SiegmundEhrmann, Martin Dörmann, Petra Ernstberger,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

„Kulturelles Erbe 2.0“ – Digitalisierung vonKulturgütern beschleunigen

– Drucksache 17/6296 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)RechtsausschussAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-ginnen und Kollegen sind bei uns bekannt.

Ansgar Heveling (CDU/CSU): Wir befinden uns derzeit in einem medialen Umbruch,

dessen Ausmaß noch kaum zu erfassen ist. Das Internetist im Begriff, unsere wirtschaftlichen, sozialen und poli-tischen Bereiche immer mehr zu durchdringen. Die Om-nipräsenz des World Wide Web ermöglicht es uns, Infor-mationen, Bilder oder Videos jederzeit und überallonline abzurufen. Eine immer und überall verfügbareWebseite ist zugänglicher als eine Bibliothek mit ein-geschränkten Öffnungszeiten und einem begrenztenBücherbestand.

Die Digitalisierung von Büchern, Kunstwerken undweiteren Exponaten ermöglicht die Verbreitung kulturel-ler und wissenschaftlicher Inhalte über das Internet undstellt gleichzeitig sicher, dass unser kulturelles Erbeauch für nachfolgende Generationen bewahrt wird. Unddas ist wichtiger denn je: Uns allen in Erinnerung ge-blieben sind der schreckliche Einsturz des Kölner Stadt-archivs oder der Brand der Anna-Amalia-Bibliothek undder damit verbundene unwiederbringliche Verlust derhochwertigen Exponate und bibliophilen Kostbarkeiten.Unsere Bibliotheken, Archive und Museen sind das Ge-dächtnis unserer Kultur; sie sind die Hüter einzigartigerund unwiederbringlicher Originale. Die christlich-demokratische Union hat sich zum Ziel gesetzt, eineDigitalisierungsoffensive für unser kulturelles Erbe an-zustoßen. Wir sehen die Digitalisierung von Kultur-gütern als eine der Kernaufgaben unserer Kulturpolitik.

Die Deutsche Digitale Bibliothek (DDB), die sich seit2009 im Aufbau befindet, ist mit der Digitalisierung vonBüchern, Kunstwerken, Archivalien, Filmen und ande-ren Exponaten betraut. Die Aufgabe des Kompetenzzen-trums DDB wird es sein, in den nächsten Jahren rund30 000 Digitalisate verschiedener Kultur- und Wissen-schaftseinrichtungen aus ganz Deutschland der Öffent-lichkeit sukzessive und vor allen Dingen – auch das istuns wichtig – unentgeltlich zur Verfügung zu stellen.Durch die Überführung der digitalen WissensplattformDDB in die Europäische Digitale Bibliothek „Euro-peana“ wird es uns gelingen, künftig mehr Menschen fürKunst und Kultur zu begeistern – vielleicht auch diejeni-gen, die noch nie ein Museum besucht haben, sich nunaber per Mausklick schnell und unkompliziert in virtu-elle Kunsträume begeben können.

Im europäischen Rahmen stellt Deutschland schonheute nach Frankreich den zweitgrößten Anteil der in

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Ansgar Heveling

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der „Europeana“ enthaltenen Digitalisate, und zwar17,9 Prozent. Der deutsche Anteil in der „Europeana“wird sich mit Inbetriebnahme der DDB weiter ausbauen.

Das Digitalisierungsprojekt DDB ist ein Erfolgspro-jekt, das rasch weiter ausgebaut und vorangetriebenwerden muss. In diesem Punkt sind wir uns alle einig,denke ich.

Eine Finanzierungsgrundlage schaffen vor allemFördermittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft(DFG). Doch um das groß angelegte Projekt der Digita-lisierungsoffensive weiter auszubauen, sind wir auf zu-sätzliche Finanzierungsquellen angewiesen. Allein dieöffentliche Hand ist nicht in der Lage, dieses Projekt zustemmen. Wir begrüßen daher eine Kooperation mit pri-vaten Unternehmen, um die Entwicklung der DDB zubeschleunigen.

Ihnen, Kolleginnen und Kollegen der Linken, gehtdas alles wieder nicht schnell genug. Lassen Sie mich indiesem Zusammenhang auf ein essenzielles Problemhinweisen, das mit der Digitalisierung einhergeht, dasIhnen auch bekannt ist: Bei einem Großteil des zu digi-talisierenden Kulturerbes sind Rechteinhaber zuweilennicht mehr auffindbar, oder die Werke sind vergriffen.Wir brauchen daher vernünftige Regelungen zum Um-gang mit diesen Werken. Die Regelungen dazu sollen imsogenannten dritten Korb, der anstehenden Reform desUrheberrechts, gefunden werden. Wie wichtig dieseRechtsgrundlage ist, zeigt uns der Fall Google, auf denSie in Ihrem Antrag hinweisen. Selbstverständlich istdas groß angelegte Digitalisierungsprojekt des Unter-nehmens begrüßenswert. Allerdings weist der Gesetzge-ber im Falle der vergriffenen und verwaisten Werke zuRecht auf Schranken und Grenzen hin. Gleichzeitig giltes zu bedenken, dass Google nicht völlig ohne kommer-zielle Interessen handeln kann. Umso wichtiger ist es,ausgewogene und wohlbedachte Vereinbarungen zu tref-fen, um die Produzentenseite und auch die Nutzer bei ei-ner uneingeschränkten Bereitstellung kulturellen Erbesin digitaler Form zu berücksichtigen.

Unser durch die DDB geplantes Digitalisierungskon-zept wird allen Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zuKulturgütern und wissenschaftlichen Informationen er-leichtern, was eine Demokratisierung von Kulturwissenzur Folge haben wird. Dafür stehen wir mit unserer Kul-turpolitik.

Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Das Zeitalter der Digitalisierung hat die Vermittlung

von Kultur und Wissen stark verändert. Die Chancen derDigitalisierung für die Bewahrung und Vermittlung un-seres kulturellen Erbes sind enorm. Bislang nur schwerzugängliche Quellen werden durch ihre Digitalisierungnicht nur gesichert, sondern für jedermann erschlossenund erheblich leichter zugänglich. Auch können überden multimedialen Zugang neue Zielgruppen für Kulturund wissenschaftliche Informationen gewonnen werden.

Mit dem Beschluss der Bundesregierung im Dezem-ber 2009, die Deutsche Digitale Bibliothek aufzubauen,ist ein wichtiger Schritt zur Bewahrung und Vermittlung

unseres nationalen Kulturgutes getan worden. Ziel derBibliothek ist, über ein zentrales nationales Portal allenBürgern dauerhaft und frei von kommerziellen Zwängenden Zugang zu dem seit Jahrhunderten öffentlich gesam-melten und bewahrten Kulturgut zu ermöglichen.

Bislang wurden bereits von vielen Kultur- und Wis-senschaftseinrichtungen Digitalisierungen in erhebli-chem Umfang vorgenommen. Jedoch sind die digitali-sierten Bücher, Archivalien, Kunstwerke, Fotos, Filmeetc. auf eine Vielzahl von Portalen und Webseiten ver-teilt, was die Benutzbarkeit stark einschränkt. Mit demAufbau der Deutschen Digitalen Bibliothek werden auchdiese Wissens- und Kulturportale über ein zentralesPortal vernetzt und durch eine moderne Such- und Prä-sentationstechnik zugänglich gemacht. Ein Quanten-sprung! Geplant ist ein erster Pilotbetrieb bereits ab De-zember 2011.

Der Aufbau der Bibliothek wird allein vom Bund fi-nanziert. Hierfür stehen im Haushalt des Kulturstaats-ministers, dem dies ein besonderes Anliegen ist,8 Millionen Euro aus dem Konjunkturprogramm II zurVerfügung. Den Betrieb der Bibliothek finanzieren Bundund Länder dann je zur Hälfte gemeinsam. Die Verwal-tung des jährlichen Budgets in Höhe von 2,6 MillionenEuro erfolgt durch die Stiftung Preußischer Kulturbesitzim Auftrag des Kompetenznetzwerks Deutsche DigitaleBibliothek.

Das Vorhaben Deutsche Digitale Bibliothek ist einegewaltige Herausforderung. Rund 30 000 deutsche Wis-senschafts- und Kultureinrichtungen werden künftig inder Deutschen Digitalen Bibliothek zu finden sein. Bis2016 sollen darüber hinaus die Bestände der Bibliothekauch an die Europäische Digitale Bibliothek „Euro-peana“ eingegliedert werden. Während die DeutscheDigitale Bibliothek den zentralen nationalen Zugangs-punkt zu unserem Kulturgut in digitaler Form bildet,bündelt die „Europeana“ die nationalen Portale derEU-Staaten. Deutschland ist dabei gemeinsam mitFrankreich Vorreiter. Beide Länder stellen derzeit rund17 Prozent der Digitalisate in der „Europeana“.

Die Digitalisierung von Kulturgut und wissenschaft-lichen Informationen bleibt jedoch Aufgabe der jeweili-gen Kultur- und Wissenschaftseinrichtung. Die Deut-sche Forschungsgemeinschaft stellt dafür Fördermittelbereit; diese allein reichen jedoch für die großangelegteDigitalisierungsoffensive nicht aus. Der Finanzbedarffür die Digitalisierung von Kulturgut in den nächstenJahren ist enorm. Bund, Länder und Kommunen könnendas nicht leisten. Hier sind Kooperationen mit privatenUnternehmen angeboten und gefragt – mit Augenmaßbei den Bedingungen.

Von zentraler Bedeutung ist für mich auch hier derSchutz der Urheber. Wollen wir den Wert der geistigenWerte erhalten und insbesondere weiterhin neue schaf-fen, müssen wir die Urheberrechte konsequent schützen.Im Hinblick auf die sogenannten verwaisten Werke, beidenen der Urheber nicht mehr zu ermitteln ist, muss einegesetzliche Regelung gefunden werden. Diese Regelungsoll im Rahmen des dritten Korbes der Urheberrechtsre-form erfolgen.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Siegmund Ehrmann (SPD): Möglicherweise verwundert es Sie, aber ich freue

mich über diese Debatte zu diesem Thema, auch wenndie Reden nur zu Protokoll gegeben werden. Ich betonedas deshalb so ausdrücklich, weil deutlich wird, dass in-zwischen auch die Regierungskoalition verstanden hat,welche Bedeutung die Digitalisierung hat. Auch wennsich die Anträge und die darin dargestellten Forderun-gen unterscheiden – darauf komme ich im Folgenden zusprechen –, so zeigt doch die Tatsache, dass immerhinvier Fraktionen – die Fraktion Bündnis 90/Die Grünenhat bisher keinen Antrag vorgelegt – Positionen zu die-sem Thema in den Deutschen Bundestag einbringen unddass sich in Bezug auf die Frage, welche Verantwortungdem Bund bei der Digitalisierung zugeschrieben wird,einiges bewegt.

Das freut mich auch deshalb, weil die Antworten derBundesregierung auf unsere Kleine Anfrage – sieheBundestagsdrucksache 17/5880 – nicht überzeugt ha-ben. Mittlerweile scheint es zumindest bei den Regie-rungsfraktionen ein Umdenken zu geben, und es bötesich an, im Verlauf der parlamentarischen Beratungeneine gemeinsame, fraktionsübergreifende Position zudiesem Thema zu entwickeln. Denn in der Sache – da binich mir sicher – sind wir uns weitgehend einig: Die Di-gitalisierung verändert den Umgang mit Kulturgüternvon Grund auf. Das bedeutet, dass sich nicht nur beiFragen des Erhalts, der Archivierung, des Zugangs undder Nutzung von Kulturgütern in der digitalen Welt neueHerausforderungen und Fragen stellen, sondern auchim Hinblick darauf, welche Verantwortung der Bund imRahmen seiner Zuständigkeit auf einem Gebiet wahr-nimmt.

Die vorliegenden Anträge versuchen auf folgendeEntwicklungen unterschiedliche kulturpolitische Ant-worten zu finden: Die Digitalisierung ermöglicht es, dasin Kultur- und Wissenseinrichtungen wie Bibliotheken,Archiven, Museen und anderen vorhandene Wissen undkulturelle Erbe zu sichern und auf neue Weise zugäng-lich und verfügbar zu machen. Völlig neue Möglichkei-ten tun sich auf, wie Kulturgüter genutzt, von jedem Ein-zelnen auf seine individuelle Weise erkundet undentdeckt, wie der Zugang zu ihnen entwickelt und wie siezu Bildungs-, Informations- und vielen anderen Zweckengenutzt werden können. Das alles passiert nicht von al-lein. In Deutschland besteht im Kulturbereich glückli-cherweise eine überwiegend öffentliche Verantwortung.Ich sage „glücklicherweise“, weil die Bestrebungen vonvielen kommerziellen, marktmächtigen Anbietern wieGoogle von ihrem grundsätzlichen Ansatz her sicherlichnicht darauf aus sind, aus völlig selbstlosen Zwecken he-raus die Digitalisierung von Kulturgütern zu befördern,ohne einen Gewinn dabei erzielen zu wollen. Diese Mo-tive sind legitim, nachvollziehbar und in gewisser Weiseauch hilfreich, wenn es darum geht, neue Technologienschnell und effizient zu nutzen. Doch muss es dabei Re-geln geben, die eine Zusammenarbeit zwischen solchenkommerziellen Anbietern und der staatlichen Seite soausgestalten, dass die Kulturgüter im Besitz der Allge-meinheit bleiben. Sie müssen auch in Zukunft jedermannund kostenfrei zugänglich sein. Auf diese Notwendigkeit

verweist unser Antrag im Unterschied zu den beiden an-deren vorliegenden Anträgen sehr deutlich.

Sehr unterschiedlich bewerten die vorliegenden An-träge zudem, was bisher in Deutschland bei der Digita-lisierung von Kulturgütern erreicht wurde. Die DeutscheDigitale Bibliothek, DDB, hat als nationales Pendantzur Europäischen Digitalen Bibliothek „Europeana“erst nach dem Beschluss über gemeinsame Eckpunktevon Bund, Ländern und Kommunen im Jahr 2009 ihreArbeit richtig aufnehmen können. Sicherlich gab es eineReihe wichtiger Vorarbeiten, insbesondere durch dieDeutsche Forschungsgemeinschaft, DFG; doch erst mitder DDB ist es möglich, einen umfassenden Ansatz zurDigitalisierung von Kulturgütern in Deutschland zu ent-wickeln. Die von uns geforderte nationale Digitalisie-rungsstrategie muss im Grunde drei wesentliche Erwar-tungen erfüllen:

Erstens. Sie muss Strukturen, Prioritäten und Stan-dards für die Digitalisierung entwickeln. Das heißt, derBund ist gemeinsam mit den Ländern aufgerufen, einKonzept zu entwickeln, in welcher Reihenfolge und aufder Grundlage welcher einheitlichen Standards die Di-gitalisierung der Kulturgüter erfolgen soll. Dieses um-fassende Konzept halten wir für notwendig, weil – unddas begrüßen wir als SPD ausdrücklich – bereits eineganze Reihe von Initiativen stattfinden. Die großen Bi-bliotheken in Deutschland sind sehr engagiert. Unterdem Dach des Deutschen Bibliotheksverbandes gibt esAktivitäten auch vieler kleiner Bibliotheken. Auch beiden Museen und den Archiven ist die Tatsache, dassdurch das Zuverfügungstellen der Digitalisate einemviel größeren Kreis an Nutzern und Interessierten inneuen Formen Wissen und Bildung zugänglich gemachtwerden kann, längst angekommen. Umso wichtiger ist esdeshalb, die knappen finanziellen Ressourcen der öffent-lichen Hand gezielt, konzentriert und vor allem nichtmehrfach einzusetzen.

Zweitens. Das bringt mich zu einem zweiten Bestand-teil der von der SPD geforderten nationalen Digitalisie-rungsstrategie. In unserem Antrag fordern wir die Bun-desregierung auf, eine Übersicht über den Stand derDigitalisierung in Deutschland in Abstimmung mit denLändern vorzulegen. Zudem soll die Bundesregierungdie bisher insbesondere vom aus Bundesmitteln mitfi-nanzierten „Kompetenznetzwerk DDB“ erbrachten Ko-ordinierungsleistungen darstellen. Diese Übersicht hal-ten wir für erforderlich, um darauf aufbauend diezukünftige Rolle und Funktion des Bundes im Geflechtder bereits engagierten Akteure zu klären. Dazu gehörtauch, die bereits vorhandenen Ressourcen für die Digi-talisierungsarbeit darzustellen und aufzuzeigen, welcheRessourcen darüber hinaus benötigt werden.

Drittens. Das bringt mich zum dritten Punkt der na-tionalen Digitalisierungsstrategie: Eine solche umfas-sende Anstrengung zum dauerhaften Erhalt und demZurverfügungstellen von Kulturgütern wird eine MengeGeld kosten. Der Antrag der Fraktion Die Linke hat fastallein die Kosten für diese Herausforderung zum Inhalt,die, wie ich glaube, im Moment noch niemand realis-tisch abschätzen kann. Uns ist es deshalb nicht nur

Zu Protokoll gegebene Reden

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Siegmund Ehrmann

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wichtig, den Finanzbedarf darzustellen und die Mittelbereitzustellen, sondern auch, nach alternativen Finan-zierungsstrategien zu suchen. Deshalb fordern wir, dassdie staatlichen Akteure, wenn sie, wie die BayerischeStaatsbibliothek mit Google, eine öffentlich-privatePartnerschaft zum beiderseitigen Nutzen eingehen,klare Regeln für diese Kooperation formulieren, die si-cherstellen, dass die digitalisierten Kulturgüter der All-gemeinheit dauerhaft und kostenfrei zur Verfügung ste-hen.

Neben einer solchen nationalen Digitalisierungsstra-tegie bedarf es der Anpassung einiger Rahmenbedin-gungen. Dazu gehört ganz zwingend eine urheberrecht-liche Lösung für die sogenannten verwaisten undvergriffenen Werke. Die SPD hat dazu bereits einen ent-sprechenden gesetzlichen Vorschlag für dieses dringendzu lösende Problem vorgelegt. Umso mehr erstaunt es,dass die Regierungskoalitionen in ihrem Antrag völligtreffend wiedergeben, dass Handlungsbedarf besteht, esbislang allerdings nicht vermocht haben, ihre eigeneBundesregierung zu überzeugen, einen entsprechendengesetzlichen Vorschlag zu unterbreiten. Hier offenbartsich eine deutliche Lücke zwischen Willensbekundungenund dem tatsächlichen Handeln.

Zu den Rahmenbedingungen zählen wir als SPD inunserem Antrag im Unterschied zu den Anträgen der an-deren Fraktionen auch die Befähigung der Kultur- undWissenseinrichtungen, den vor allem technologisch de-terminierten Umgang mit den digitalisierten Kulturgü-tern zu gestalten. Nicht nur, dass die Einrichtungen überdie technischen Fähigkeiten verfügen müssen, ihre digi-talisierten Bestände und Angebote entsprechend verfüg-bar zu machen; es bedarf auch eines ausreichendenKnow-hows bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern,die vielen Möglichkeiten der digitalen Welt zielgerichtet,das heißt an den Bedürfnissen der Nutzer orientiert,anzuwenden. Wir fordern daher entsprechende Weiter-bildungen für Mitarbeiter von Kultur- und Wissens-einrichtungen, aber auch einen kostenlosen Breitband-Internetzugang über WLAN in allen Kultur- und Wissens-einrichtungen des Bundes.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Bundes-tag mit unterschiedlichen Anträgen ein Thema aufgreift,bei dem es zwingenden Handlungsbedarf auf nationalerEbene gibt. Wie dieser genau auszugestalten ist, darüberwerden wir in den nun anstehenden Ausschussberatun-gen diskutieren. Ich würde mich sehr freuen – und damitkomme ich zum Ausgangspunkt meiner Rede –, wenneine gemeinsame Position entwickelt werden könnte, diedas Thema Digitalisierung von Kulturgütern in der Sa-che entscheidend voranbringt.

Reiner Deutschmann (FDP): „Wissen ist Macht“, dieses, auf den englischen Philo-

sophen Francis Bacon zurückgehende, geflügelte Worttrifft den Nagel auf den Kopf.

In einer modernen Gesellschaft ist der Zugang zuWissen unerlässlich. Für eine Wissensgesellschaft wiedie unsere, ist Wissen nicht nur Macht. Es ist die Basisunserer Kulturnation, der Standortvorteil in Form von

gut ausgebildeten Menschen oder der Dreh- und Angel-punkt von Wissenschaft und Forschung. Wissen istschlichtweg der Rohstoff und die Basis des Wohlstandesin Deutschland und darüber hinaus in Europa.

Nun prognostizieren Experten, dass innerhalb nur ei-ner Generation nur noch das Wissen von einem Großteilder Bürgerinnen und Bürger wahrgenommen werdenwird, das im Internet auffindbar ist.

Der Aufbau der Deutsche Digitalen Bibliothek, DDB,ist ein wichtiger Baustein zur Bewältigung der Aufgabe,Wissen und Kultur in so verschiedener Formen wieSchriftstücken, Werken der bildenden Kunst oder Filmenfür zukünftige Generationen zu erhalten und allen Men-schen zugänglich zu machen.

Deshalb ist es von enormer Bedeutung, dass wir uns,zusammen mit unseren Kultur- und Wissenseinrichtun-gen, dieser Herausforderung stellen.

30 000 deutsche Kultur- und Wissenschaftseinrich-tungen stellen über die DDB-Digitalisate ihrer Beständezur Verfügung. Damit entsteht eine Plattform, die die an-geschlossenen Institutionen auf bisher nie gekannteWeise vernetzt und zugleich das in den Einrichtungenverfügbare Kultur- und Wissensgut einer umfassendenÖffentlichkeit zugänglich machen soll.

Damit trägt die DDB nicht nur dem Zeitgeist der mo-dernen Wissensgesellschaft Rechnung. Sie sichert da-rüber hinaus das kulturelle und wissenschaftliche Werkunserer Nation vor Katastrophen, so wie wir sie mit demBrand der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimarund dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs erlebt haben.Natürlich ersetzt die Digitalisierung nicht die pfleglicheBewahrung unserer Schätze in den Museen, Bibliothe-ken und Archiven. Aber für den Fall, dass die Katastro-phe tatsächlich eintritt, gibt es wenigstens noch einendigitalen Nachweis des Werkes, der unter anderem auchzur Rekonstruktion des Kulturgutes herangezogen wer-den kann, so wie es schon bei der Rekonstruktion desBernsteinzimmers aufgrundlage von schwarz-weiß Fo-tos gelungen ist.

Natürlich können Bund, Länder und Gemeinden dieseMammut-Aufgabe nicht alleine stemmen. Deswegen be-grüßen wir jede bestehende Möglichkeit, zum Beispiel inForm einer Öffentlich-Privaten-Zusammenarbeit, die zueiner signifikanten Steigerung der Digitalisierungsrateder für die DDB vorgesehenen Werke führt. Allerdingssollte die Öffentlich-Private-Partnerschaft nur dort ein-gesetzt werden, wo, so unser Antrag, ausgewogene Ver-einbarungen das Interesse der Allgemeinheit an eineruneingeschränkten Bereitstellung und Nutzung des kul-turellen Erbes und der wissenschaftlichen Inhalte in di-gitaler Form berücksichtigen. Dies ist der BayerischenStaatsbibliothek gelungen. Durch eine solche Partner-schaft hat sie ihre Digitalisierungsrate bedeutend er-höht, so dass der allergrößte Teil der in der DDB derzeitzugänglichen digitalisierten Werke aus dieser Bibliothekstammen.

Unser Ziel ist es, die DDB zu einer Erfolgsgeschichtezu machen. Davon profitieren nicht nur die Menschen inDeutschland. Auch der Aufbau der europäischen digita-

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Reiner Deutschmann

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len Bibliothek EuroOPEANA wird durch die DDB ge-speist. Derzeit stammen 17 Prozent der Digitalisate derEuroOPEANA aus Deutschland. Damit führen wir zu-sammen mit Frankreich die Liste der erfolgreichstenLänder an. Darauf kann man sich nicht ausruhen, aberes zeigt, dass wir auch auf europäischer Ebene ganzVorne dabei sind. Um diesen Stand zu halten, bezie-hungsweise auszubauen, werden gerade die bereits ge-nannten Öffentlich-Privaten-Partnerschaften immer be-deutsamer.

Wichtige urheberrechtliche Fragen sind noch zu klä-ren. Dem Umgang mit verwaisten Werken wird sich dieBundesregierung im Rahmen des Dritten Korbs zur Re-form des Urheberrechts annehmen.

Mit der Opposition sind wir uns, so glaube ich, indem Ziel einig, dass es keine Alternative zum Aufbau vonDDB und EuroOPEANA gibt. Während sich der Koaliti-ons-Antrag aber auf das Machbare konzentriert undauch die Kultur- und Wissensinstitutionen sowie denPrivaten Sektor mit in die Pflicht nimmt, gleicht der SPDAntrag einer „Wünsch-Dir-Was-Liste“, die in ihrerKonsequenz weder die Haushaltsplanung des Bundes imBesonderen, noch die derzeitige angespannte Finanz-lage dieses Landes im Allgemeinen beachtet. Dies ist inmeinen Augen nicht angebracht, erweckt der SPD-An-trag doch den Anschein, der Bund könne alles richten.Damit werden gerade auch vielen Einrichtungen Hoff-nungen gemacht, die der Bund so nicht erfüllen kann.Bestimmte Prozesse und Entscheidungen kann der Bundden Kultur- und Wissensinstitutionen nicht abnehmen.Über WLan und Internetangebote in den Kultur- undWissenseinrichtungen des Bundes entscheiden eben diegenannten Institutionen selber im Rahmen ihrer Haus-haltsmittel. Desgleichen gilt für Weiterbildungsmaßnah-men von Mitarbeitern in den genannten Einrichtungen.

Auch ein jährlicher schriftlicher Sachstandsberichtzum Stand der Digitalisierung und zum Stand der Um-setzung der Digitalisierungsstrategie bindet Kräfte, dieanderswo dringender gebraucht werden. Hier sollteman den Einrichtungen auch einfach mal vertrauen,dass sie den Ernst und die Wichtigkeit der Aufgabe derDigitalisierung erkannt haben. Das Thesenpapier desDeutschen Bibliothekenverbandes und die Erklärungender Verantwortlichen des „Kompetenznetzwerks DDB“zeigen, dass es wohl einer staatlichen Begleitung bedarf,nicht aber einer jährlichen staatlichen Kontrolle.

Der Vorschlag der Fraktion Die Linke nach einemGesetzentwurf zur Förderung der DDB ist ebenso abzu-lehnen. Durch das oft starre Korsett eines Gesetzes en-gen wir die Digitalisierungsbemühungen wichtiger Kul-tur- und Wissenseinrichtungen ein und verhindern soden wichtigen Spielraum, den Bibliotheken und andereEinrichtungen benötigen, um erfolgreich digitalisierenzu können. Auch können wir, gerade mit Blick auf zu-künftige Öffentlich-Private-Partnerschaften, nicht aus-schließen, dass eine neue kreative Idee der Zusammen-arbeit, so wie sie die Bayerische Staatsbibliothekbeschritten hat, durch ein Gesetz verhindert werdenkönnte. Dies passt auch nicht zum erklärten Ziel der Ko-alitionsfraktionen, die Digitalisierung gemeinsam mit

anderen Partnern zu bewältigen. Der Staat allein wirdeine solche Aufgabe wie die Digitalisierung des kultu-rellen und wissenschaftlichen Erbes Deutschlands nichtstemmen können.

Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss fürKultur und Medien.

Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): „Man fühlt sich wie in der Gegenwart eines großen

Capitals, das geräuschlos unberechenbare Zinsen spen-det.“ Mit diesem spannungsreichen Satz beschriebGoethe im Jahre 1801 seine Empfindungen beim Besuchder Göttinger Bibliothek. Etwa 100 000 Bände umfasstedie für damalige Verhältnisse große Sammlung, die gareine Kirchenetage mit in Beschlag nahm. Goethe wusste,welches gesellschaftliche Potenzial, welchen Schatz, derunablässig gesellschaftlichen Nutzen produziert, das ge-sammelte Wissen der Zeit darstellte. Er ahnte jedochnoch nichts von den Milliarden Druckwerken, ge-schweige denn Filmen, Tondokumenten, Fotos undKunstwerken, die heute auf Besucherinnen und Besu-chern von Bibliotheken, Museen und Archiven warten.Die Moderne mit ihrer explodierenden Produktion vonWissen und Kulturgütern begann gerade, der indus-trielle Buchdruck hatte auch die Kommunikationsströmeder damaligen Gesellschaft revolutioniert. Die vonGoethe bestaunte Göttinger Bibliothek hält heute, 210Jahre nach seinem Besuch, den 40-fachen Bestand, etwa4 Millionen Bücher vor; dazu kommen Zeitschriften,Nachlässe, Archive und Mikrofilme.

Ein Blick auf die Internetseite dieser Bibliothek zeigt:Wir befinden uns mitten in der nächsten technische Revo-lution der Wissens- und Kulturgesellschaften. Die Digi-tale Bibliothek kann man dort anklicken und einige Bü-cher, aber vor allem Dissertationen und weitere Online-publikationen von zu Hause ansehen, kostenlos und äu-ßerst benutzerfreundlich. Man kann sie Freunden wei-terempfehlen, durchsuchen, verknüpfen und ja – auchausdrucken. Jeder kommt an dieses Wissen heran, eskostet nichts und das Prädikat „leider ausgeliehen“ ent-fällt.

Bibliotheken sind keine Dinosaurier des letzten Jahr-tausends, sondern der Vorreiter einer neuen Allmende-kultur. „Die Demokratisierung des Wissens“ nennt derVorsitzende der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Pro-fessor Hermann Parzinger, den Digitalisierungsprozess.Er kann Schranken abbauen – soziale, geografische undkulturelle.

Die Digitalisierung des kulturellen Erbes hat begon-nen und vor allem durch die Initiative des KonzernsGoogle einen riesigen Schub erfahren. 15 MillionenBände hat Google gescannt, unter anderem in Koopera-tion mit der Münchner Staatsbibliothek und ganz aktuellder British Library. Doch dieser kapitalstarke Vorstoßbrachte auch Probleme mit sich: Das Urheberrecht istbisher nicht auf die Massendigitalisierung eingestellt.Ebenso bleibt unklar, welche Konsequenzen die Verfü-gung eines einzigen Konzerns über die Bestände unsererWissens- und Kultureinrichtungen hat. Die Frage istetwa, was im Falle einer Aufgabe des Projektes durch

Zu Protokoll gegebene Reden

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Dr. Lukrezia Jochimsen

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Google mit den Datenbeständen geschieht oder welchePartner die Rohdaten nach welcher Frist unter welchenBedingungen selbst benutzen dürfen.

Trotz bisher guter Erfahrungen etwa der MünchnerStaatsbibliothek mit Google als Kooperationspartnerfinden wir es daher sinnvoll, dass das öffentliche Biblio-thekswesen in Europa eine gemeinnützige Alternativeanstrebt, die unter dem Namen „Europeana“ die diver-sen Bestände bündeln soll. Der deutsche Ableger, dieDeutsche Digitale Bibliothek, DDB, wurde 2008 ins Le-ben gerufen und soll noch in diesem Jahr online gehen.Doch auch die DDB wird nur das Dach sein, währenddas Gebäude darunter bisher bruchstückhaft bleibt. DieBundesregierung hat 8 Millionen Euro für den Aufbauder zentralen Infrastruktur bereitgestellt, das eigent-liche Problem, nämlich den teuren Prozess des Scannensund Aufbereitens, aber weitgehend den Bibliotheken undArchiven bzw. deren Trägern überlassen. Jeder in die-sem Lande weiß jedoch, wie es um die finanzielle Situa-tion der Länder und Kommunen bestellt ist – nicht zu-letzt wegen der Steuerpolitik der vergangenen Jahre. Siewerden die Herkulesaufgabe nicht stemmen können. ImGegenteil: Die knappen Mittel zwingen Kommunen im-mer noch zu Bibliotheksschließungen; selbst neuerbauteUnibibliotheken haben oft keine Mittel für die notwendi-gen Ankäufe.

Angesichts der nationalen und globalen Bedeutung,die die Digitalisierung für Bildung und Wissenschafthat, muss der Bund hier handeln. Die Bibliothekenver-bände haben auf dem Bibliothekarstag vor zwei Wocheneine solche konzertierte Initiative des Bundes gefordert.Bisher fördert der Bund lediglich über die DFG undauch nur im Bereich besonders alter Bestände zu For-schungszwecken. In Frankreich wurden hingegen750 Millionen Euro für die Digitalisierung in Aussichtgestellt, Teile davon werden bereits ausgezahlt – hieransollten wir uns orientieren! Der Bund muss, so fordert esunser Antrag, konkrete Summen in Aussicht stellen, da-mit wir bei der „Europeana“ und der DDB endlichsichtbare Fortschritte machen. 30 Millionen Euro jähr-lich haben wir immer gefordert; damit könnte der Bundjährlich etwa 500 000 Werke scannen und die entspre-chenden Serverkapazitäten vor Ort aufbauen und pfle-gen.

Gehandelt werden muss auch im Bereich des Urhe-berrechtes: Um die Digitale Bibliothek umsetzen zu kön-nen, brauchen wir eine Veränderung des Urheberrechts,das die Bibliotheken von den Problemen der Haftung be-freit. Dafür haben wir in einem Gesetzentwurf einenVorschlag für eine Schrankenregelung gemacht, diekürzlich von der Europäischen Kommission in einemRichtlinienvorschlag im Grundsatz bestätigt wurde. Bi-bliotheken müssen verwaiste und vergriffene Werke on-line stellen dürfen, ohne eine detektivische und damitaufwendige Suche nach möglichen Rechteinhabern vor-nehmen zu müssen und ohne die Gefahr komplexerSchadensersatzklagen zu befürchten. Nach der Zugäng-lichmachung auftauchende Urheber sollen, wenn sieihre berechtigten Ansprüche angemeldet und nachge-wiesen haben, unbürokratisch und angemessen entschä-digt werden. Eine präventive Zahlung fiktiv festgelegter

Entschädigungsbeträge von bis zu 8 Euro pro Buch andie Verwertungsgesellschaften, wie sie von den Verbän-den vorgeschlagen und von der SPD im Bundestag be-antragt wurde, halten wir jedoch für nicht zielführend.

Und nicht zuletzt: Die Digitalisierungsoffensive sollteauf der Grundlage eines präzisen und für die Beteiligtenverbindlichen Handlungsplanes umgesetzt werden. Esgeht um Meilensteine, um Prioritäten, um die Formatefür die Metadaten und um die Nutzung von Synergien.Aus den Bibliotheken wird immer wieder Kritik an denlähmenden Prozessen in der Kultusministerkonferenzlaut. Hier sollten sich alle Beteiligten auf Einladung desBundes an einen Tisch setzen.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Ko-alition, Ihr Antrag ist eine schöne Beschreibung dessen,was ohnehin geschieht. Eine politische Willensbekun-dung fehlt. Daher werden wir ihn ablehnen. Mit vielenForderungen der SPD-Fraktion gehen wir konform; al-lerdings sollte auch hier vieles geprüft und erst einmalberaten werden, etwa die Finanzen. Wir finden: Es kannjetzt losgehen.

Die Informationsgesellschaft findet zunehmend in derdigitalen Welt statt. Wenn diese Welt nicht geschichts-vergessen sein soll, müssen wir der jungen Generationdas Wissen und die Kultur eröffnen, die unsere Gesell-schaft bis vor kurzem ausschließlich auf Papier und Zel-luloid festgehalten hat. Der Bundestag und diese Regie-rung können und müssen ihren Teil dazu beitragen.Daher bitte ich um Zustimmung für unseren Antrag.

Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ende 2011 soll die Deutsche Digitale Bibliothek,

DDB, in Betrieb gehen und an die Europäische DigitaleBibliothek „Europeana“ angegliedert werden. Die Er-stellung der DDB ist von einschneidender Bedeutung fürunsere Kultur- und Wissenschaftsnation. Unser kulturel-les Erbe, wissenschaftliche ebenso wie literarischeWerke sollen über das Internet für jeden in Deutschlanderreichbar sein. Die DDB wird den wissenschaftlichenund kulturellen Austausch entscheidend fördern und er-leichtern.

Aufgrund der gesamtstaatlichen Bedeutung der DDBist es Aufgabe der Bundesregierung, eine Digitalisie-rungsstrategie zu entwickeln, mit gesetzlichen Regelun-gen zu flankieren und dafür die notwendigen Mittel zurVerfügung zu stellen. Diese zentrale Forderung in denAnträgen der Linken und der SPD zur Digitalisierungdes kulturellen Erbes unterstützen wir. Die Koalition hates bisher nicht geschafft, sich klar für eine Digitalisie-rungsstrategie mit Finanzierungsmodell von Bundes-seite zu bekennen. In der Frage der Finanzierung ver-weist die Koalition lediglich auf die mögliche Betei-ligung privater Dritter – ohne dafür Kriterien zu definie-ren.

Eine entscheidende Frage im Zuge der Erstellung derDDB wird in allen drei vorliegenden Anträgen gar nichtoder nur am Rande behandelt, weit entfernt von kon-struktiven Lösungsansätzen: Ohne gesicherte Rechts-verhältnisse beim Umgang mit vergriffenen Werken und

Zu Protokoll gegebene Reden

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Agnes Krumwiede

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sogenannten „verwaisten Werken“ steht der Start derDDB auf wackligen Beinen. Dies ist auch als Aufruf andie Bundesregierung zu verstehen, endlich einen Ent-wurf für den Dritten Korb zum Urheberrecht vorzulegen.Dieser Entwurf ist schon seit Monaten überfällig.

Wie also kann der Umgang mit „verwaisten Werken“geregelt werden? Wie müssen Kriterien einer sorgfälti-gen Suche nach den Rechteinhaberinnen und Rechte-inhabern ausgestaltet sein, und wer definiert diese Kri-terien? Wie kann sichergestellt werden, dass Werke nichtvorschnell zu „verwaisten Werken“ erklärt werden?Erst vor kurzem, am 22. März 2011, ist Google mit sei-ner Entscheidung, anhand des erweiterten Google BookSettlements die ungenehmigte Digitalisierung ganzerWerke durchzuführen, vor dem District Court of NewYork gescheitert. Dieses Gerichtsverfahren wird welt-weit als Signal zur Stärkung der Urheberinnen und Ur-heber gewertet.

Es ist dringend notwendig, sich auf klare Kriterienfür den Nachweis der sorgfältigen Suche nach denRechteinhaberinnen und Rechteinhabern zu einigen.Auch bei der Frage der Vergütung von Urheberinnenund Urhebern der in der DDB zu digitalisierendenWerke bleiben die vorliegenden Anträge zu unkonkret.Wer soll die Mittelvergabe steuern, wo und wie könnendie Gelder zurückgelegt werden, solange sich der Rechte-inhaber oder die Rechteinhaberin nicht meldet?

Mit all diesen offenen Fragen haben wir uns in unse-rem Antrag „Zugang zu verwaisten Werken erleichtern“mit der Drucksachennummer 17/4695 beschäftigt. Dennnur mit einer zeitnahen Klärung der unsicheren Rechts-verhältnisse beim Umgang mit „verwaisten Werken“kann die DDB planmäßig starten. Erst dann kann dieÖffentlichkeit von der DDB profitieren.

Unser Antrag sieht vor, dass zunächst durch einFachgremium ein Kriterienkatalog zur sorgfältigen Su-che nach den Rechteinhaberinnen und Rechteinhabernentworfen werden muss, bevor die öffentliche Zugäng-lichmachung „verwaister Werke“ erfolgen kann. ZurVerwaltung und Ausschüttung einer angemessenen Ver-gütung sollte der Gesetzgeber auf das etablierte Systemder kollektiven Rechtewahrnehmung zurückgreifen. Da-für wäre nach unserer Vorstellung die Neugründung ei-ner von den Verwertungsgesellschaften gemeinsam ver-walteten Zentralstelle für die öffentliche Zugänglich-machung „verwaister Werke“ – ähnlich der Zentral-stelle Bibliothekstantieme – sinnvoll, welche die Verwal-tung der nicht vermittelbaren Vergütung für die „ver-waisten Werke“ übernimmt.

Außerdem enthält unser Antrag die Forderung nacheiner Neuregelung im Abschnitt zu den Schranken desUrheberrechts im Urheberrechtsgesetz, welche Werk-nutzerinnen und -nutzer im nichtkommerziellen Bereichvon der Strafbarkeit und von Vergütungsansprüchen derRechteinhaberinnen und Rechteinhaber freispricht. EineVergütung der Urheberinnen und Urheber soll aus-schließlich durch die Verwertungsgesellschaften geltendgemacht werden. Auch für die Grundlage der Rechtssi-cherheit bei der Digitalisierung von Werken, deren

Rechteinhaberinnen und Rechteinhaber nicht auffindbarsind, haben wir einen Lösungsvorschlag entwickelt:Diese öffentlichen Mittel dürfen nicht ohne Zeitlimit undspäteren Verwendungszweck für die Betroffenen – Urhe-berinnen und Urheber ebenso wie Bibliotheken – bei denVerwertungsgesellschaften gesammelt werden. Aus un-serer Sicht sollten die Einnahmen aus der öffentlichenZugänglichmachung in der neu zu gründenden Zentral-stelle zurückgestellt werden. Dafür muss die Zentral-stelle ein kostenloses und öffentlich einsehbares Regis-ter führen. Sollte sich der Urheber innerhalb dieserFünfjahresfrist melden, schüttet die Zentralstelle derVerwertungsgesellschaften die zurückgestellte Vergü-tung an den Urheber aus. Meldet sich innerhalb dieserfünf Jahre kein Urheber, schüttet die Verwertungsgesell-schaft die Einnahmen für dessen Werk an die Sozial-werke der Verwertungsgesellschaften aus. Dieses vonuns vorgeschlagene Verfahren könnte zur Stärkung derSozialwerke beitragen, wovon wiederum die Urheberin-nen und Urheber als Mitglieder der Verwertungsgesell-schaften direkt profitieren würden.

Die genannten Forderungen unseres Antrags sindnotwendige Voraussetzungen, um die Erstellung derDDB erfolgreich zu realisieren. Eine Mittelaufstockungdurch den Bund zur Digitalisierung muss mit der Schaf-fung von Rechtssicherheit zum Umgang mit „verwaistenWerken“ und mit Konzepten zur Vergütung der Urhebe-rinnen und Urheber Hand in Hand gehen. Wir begreifendeshalb die Forderungen unseres Antrags zu den „ver-waisten Werken“ als obligatorische inhaltliche Ergän-zungen zu den heute auf der Tagesordnung stehendenAnträgen.

Vizepräsident Eduard Oswald:Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen

auf den Drucksachen 17/6096, 17/6315 und 17/6296 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sie sind alle damit einverstanden? – Das istder Fall. Somit ist die Überweisung beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a, 33 b und Zu-satzpunkt 15 auf:

33 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten JanKorte, Dr. Dietmar Bartsch, Wolfgang Gehrcke,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE

NS-Vergangenheit in Bundesministerien auf-klären

– Drucksache 17/3748 – Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)Auswärtiger AusschussRechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Kultur und Medien

b) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. h. c. Wolfgang Thierse, Siegmund Ehrmann,Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 117. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Juni 2011 13605

Vizepräsident Eduard Oswald

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Personelle und institutionelle Kontinuitätenund Brüche in deutschen Ministerien und Be-hörden der frühen Nachkriegszeit hinsichtlichNS-Vorgängerinstitutionen untersuchen

– Drucksache 17/6297 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

ZP 15 Beratung des Antrags der Abgeordneten EkinDeligöz, Katja Dörner, Kai Gehring, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN

Personelle und institutionelle Kontinuitätenund Brüche in deutschen Ministerien und Be-hörden der frühen Nachkriegszeit hinsichtlichNS-Vorgängerinstitutionen systematisch un-tersuchen

– Drucksache 17/6318 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)InnenausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-ginnen und Kollegen liegen bei uns vor.

Michael Frieser (CDU/CSU): Brauchen wir wirklich staatliche Auftragsarbeiten,

um die Geschichte der Bundesministerien in der Zeit desNationalsozialismus wissenschaftlich kritisch aufarbei-ten zu lassen, so wie es die Fraktionen der Linken undder Grünen in ihren Anträgen fordern? Diese Fragewurde bereits in der Debatte um die Studie „Das Amtund die Vergangenheit“ von Historikern in den Zei-tungsfeuilletons ausführlich geführt.

Wenn wir auf die Stimmen aus der Wissenschaft hö-ren, die sich im Laufe der Debatte geäußert haben, sostellen wir fest: Dort sind die Befürchtungen groß, dassbei solchen Auftragsarbeiten das für eine seriöse wis-senschaftliche Untersuchung erforderliche Mindestmaßan Unabhängigkeit nicht garantiert werden kann. Be-fürchtet wird ganz grundsätzlich und wohl auch zuRecht, dass bei Auftragsarbeiten der Auftraggeber demWissenschaftler misstraut und seine Arbeit zu kontrollie-ren oder gar seine Arbeitshypothesen zu beeinflussenversucht. Dies ist bei staatlichen Auftragsarbeiten schonbedingt durch ein grundlegendes Problem: Die durchArt. 5 Grundgesetz geschützte Freiheit der Wissenschafttrifft auf das Verfassungs- und Staatsschutzinteresse undmuss dahinter zurückstehen. Die Befürchtungen aus derWissenschaft lassen sich auch dann nicht zerstreuen,wenn die Wissenschaftler als „unabhängige Historiker-kommission“ fungieren und ihnen garantiert wird, dasssie ergebnisoffen arbeiten kann und keinerlei inhaltli-chen oder politischen Restriktionen unterliegt. Ich teiledie kritische Haltung des großen Historikers Hans

Mommsen, der zu bedenken gab, dass eine eingesetzteKommission „nicht per Definition unabhängig“ seinkann. Trotz dieser Debatte innerhalb der Geschichtswis-senschaft haben, neben dem Auswärtigen Amt, auch dasBundesfinanzministerium, das Bundeskriminalamt undder Bundesnachrichtendienst die Erforschung der per-sonellen Kontinuitäten nach 1945 in Auftrag gegeben.Dieser Umgang mit der eigenen Geschichte ist natürlichzu begrüßen.

Wir sollten die in der Tat wichtige Aufgabe der Ge-schichtsaufarbeitung also der Geschichtswissenschaftüberlassen, die in freigegebenen Archivdokumenten undmit Quellen arbeitet. Dies geschieht auch ohne staatli-che Auftragsarbeiten. Wir brauchen die Anträge derFraktion Linke und Bündnis90/Grüne nicht als Impuls-geber für eine kritische Geschichtsaufarbeitung.

Natürlich schwingt in dem Antrag zur Aufarbeitungder personellen Kontinuitäten und der Denktraditionender Bundesministerien in den Gründerjahren der Bun-desrepublik immer noch die Behauptung mit, die NS-Vergangenheit wurde und werde in Deutschland ver-drängt. Diese Mythen der Linksfraktion sind Relikte ausDDR-Zeiten.

Die politische Führung der DDR hat ihren Staat alsantifaschistischen Staat und damit als ideologischen Ge-genentwurf zur Bundesrepublik Deutschland konzipiert.Sie berief sich in ihren Gründungserzählungen immerauf den Widerstand kommunistischer Gruppen gegenden Nationalsozialismus und übertrug diesen Wider-stand auf das Verhältnis zur Bundesrepublik. Dieser an-tifaschistische Gründungsmythos, der nur von einerkleinen Gruppe innerhalb der politischen Führung derDDR tatsächlich erlebt wurde, wurde auf die gesamteDDR-Gesellschaft projiziert. Die DDR-Führung nutztediese „antifaschistische Gründungserzählung“ auch im-mer, um Akzeptanzdefizite zu kompensieren und für dieAbwehr von kritischen Potenzialen. So galt die Bundes-republik in den staatlich gelenkten Medien der DDR alsbloße Fortsetzung des nationalsozialistischen Regimes.Bekannt ist, wie die DDR-Führung Kenntnisse über Per-sonen, die Mitglied der NSDAP waren und auch im öf-fentlichen Dienst der Bundesrepublik tätig wurden, fürPropagandazwecke instrumentalisierte. Die Parallelenim Denken der DDR-Führung und dem der heutigenLinkspartei sind faszinierend. Auch heute werden dieeigenen Defizite in der innerparteilichen Auseinander-setzung um antizionistisches Denken und personelleKontinuitäten über die antifaschistische Tradition kom-pensiert.

Das Geschichtsbewusstsein und die Geschichtsauf-arbeitung der Bundesministerien ist nicht zu unterschät-zen. Vieles, was im aufgerufenen Antrag und auch in dergroßen Anfrage zum „Umgang mit der NS-Vergangen-heit“ gefordert wird, ist längst öffentlich bekannt undwissenschaftlich bearbeitet worden. Die Studie „DasAmt und die Vergangenheit“ hat kaum Überraschendeshervorgebracht. Historiker hatten dies bereits vor derBerufung der Unabhängigen Historikerkommission desAuswärtigen Amtes erwartet. Im Nachgang wurde auchdeutlich, dass der sensationelle Beweis, dass im AA

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Michael Frieser

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Mord zum Dienstgeschäft gehörte, gar keine Sensationwar. Die Reisekostenabrechnung, in der ein Mitarbeiterals Reisegrund angab „Liquidation von Juden in Bel-grad“ und die für die neueste Studie die Begründung füreine Neuinterpretation der Geschichte des AuswärtigenAmtes im Nationalsozialismus liefern sollte, ist seit 1952bekannt. Und so geht es weiter. Am Ende steht das Fazit,dass der immer wieder geäußerte Vorwurf, das Auswär-tige Amt würde die Erforschung der eigenen Geschichteblockieren, völlig unbegründet ist. Schon während derNürnberger Prozesse hat es eine kritische Auseinander-setzung mit dem Amt gegeben. Im „Biografischen Hand-buch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945“kann man herausfinden, welcher Diplomat Mitglied ineiner nationalsozialistischen Organisation war. Nebender Edition der „Akten zur deutschen Auswärtigen Poli-tik“ gibt es zahlreiche Untersuchungen, die sich mit derRolle des Auswärtigen Amtes im Dritten Reich aus-einandersetzen.

Ich möchte die Linksfraktion aber noch ermutigen,den eingeforderten kritischen Blick auf die Geschichteder Bundesministerien auf die eigene Geschichte zu len-ken. Ich meine nicht die personellen Kontinuitäten ehe-maliger Mitarbeiter der Staatssicherheit in der heutigenLinkspartei. Eine kurze Recherche bringt hervor, dassmindestens 26 hochrangige Mitglieder der SED, darun-ter auch Minister, Mitglied der NSDAP oder anderer na-tionalsozialistischer Organisationen waren. Die Frageaber, „erst braun, dann rot“, wird innerhalb der SED-Fortsetzungspartei ein Reizthema sein und bleiben.

Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Während ihrer gesamten Existenz legitimierte sich

die ehemalige DDR stets als antifaschistischer Staat,das war sozusagen ihr Gründungsmythos. Die Lebens-wirklichkeit der offiziell entnazifizierten Gesellschaftsah jedoch grundlegend anders aus. Bereits beim Auf-bau des sozialistischen Einheitsstaates griff die SED aufAngehörige von früheren NS-Organisationen zurück,und das nicht zu knapp. Soweit sie nicht schwerster Ver-brechen beschuldigt wurden, erhielten frühere NSDAP-Mitglieder zeitnah die Chance, beim Aufbau der ange-strebten sozialistischen Gesellschaft mitzutun – zum gro-ßen Entsetzen der Opfer des Naziregimes in den eigenenReihen.

In der SED fanden viele der ehemaligen Nationalso-zialisten eine neue politische Heimat mit Aufstiegsper-spektive. Voraussetzung dafür war das Verschweigen dereigenen braunen Vergangenheit. Gefragt wurde auchkaum. Dass dies bei vielen der ehemaligen NSDAP-Mit-glieder gängige Methode war, belegt eine Studie vonWissenschaftlern der Friedrich-Schiller-UniversitätJena aus dem Jahr 2009. Sie fanden heraus, „dass dasVerschweigen der NSDAP-Mitgliedschaft – mit oderohne offizielles Einverständnis höherer politischer In-stanzen – eine Parteikarriere überhaupt erst ermög-lichte“. Ferner konnten die Wissenschaftler bei ihrerUntersuchung der Ersten und Zweiten Kreis- und Be-zirkssekretäre der SED in den ehemaligen BezirkenGera, Erfurt und Suhl eine mit 14 Prozent sehr hohe

Quote von örtlichen SED-Spitzenfunktionären mit Nazi-vergangenheit feststellen.

Etliche Alt-Nazis in der SED schafften es aber auchnach ganz oben; das belegen die Forschungsergebnissedes Historikers Olaf Kappelt. In seinem „BraunbuchDDR“ hat er Hunderte solcher Karrieren nachgewie-sen: Beispielsweise gab es viele NS-belastete Diploma-ten und DDR-Außenpolitiker, wie den ehemaligen stell-vertretenden DDR-Außenminister Kurt Nier, zuständigfür die Beziehungen zu Westeuropa, Kanada, den USA,Australien und Japan, er trat am 20. April 1944 in dieNSDAP ein. Friedel Trappen, zeitweise DDR-Botschaf-ter in Chile und stellvertretender Leiter der AbteilungInternationale Verbindungen im SED-Zentralkomitee,war seit 1942 Mitglied der NSDAP. Hans Jürgen Weitz,langjähriger DDR-Botschafter im Irak, Kuweit undÄgypten, war seit 1942 NSDAP-Mitglied und darüberhinaus in der SS.

Siegfried Bock, DDR-Botschafter in Rumänien, warebenso ehemaliges NSDAP-Mitglied wie seine Diploma-ten-Kollegen Norbert Jaeschke, DDR-Botschafter in derTürkei und Dänemark, und Walter Ißleib, DDR-Bot-schafter in der Jemenitischen Arabischen Republik. Al-lesamt hatten trotz ihrer NS-Vergangenheit leitende Pos-ten im DDR-Außenministerium inne.

Auch zu den Vereinten Nationen nach Genf wurde einehemaliger Nationalsozialist entsannt, der DDR-Bot-schafter Gerhard Kegel, bereits früh, 1934, in dieNSDAP eingetreten und 1941 durch Hitler zum Lega-tionssekretär im Auswärtigen Amt befördert.

Neben den Diplomaten- und außenpolitischen Postenfanden die ehemaligen Nationalsozialisten auch an denUniversitäten der DDR als Dekane, in den Chefredak-tionen der SED-gleichgeschalteten DDR-Medien, in derDDR-Armee, im DDR-Ministerrat, der DDR-Volks-kammer und im Zentralkomitee der SED ihre Wirkungs-stätten. Im letzten SED-Zentralkomitee unter ErichHonecker waren mehr frühere NSDAP-Angehörige zufinden als ehemalige Mitglieder der SPD! Darunter derSED-Kaderchef Fritz Müller, zuständig für die gesamtePersonalpolitik der DDR-Staatspartei, NSDAP-Mitgliedseit 1938.

Die Staatsdoktrin Antifaschismus der ehemaligenDDR war also nur ein großes Mythos. Die Fassade desantifaschistischen Staates konnte nur durch einvernehm-liche Verschwiegenheit und Manipulation in den Biogra-fien der SED-Führungskräfte aufrechterhalten werden.Die Nachfolgepartei der SED sollte also nicht an vor-derster Front Themen der alten Bundesrepublik geißeln,stattdessen aktuell beispielsweise bei der Novelle desStasi-Unterlagen-Gesetzes, an der deutlich besser ge-lungenen Aufarbeitung der zweiten deutschen Diktaturdes 20. Jahrhunderts mitwirken, statt diese zu skandali-sieren oder zu diskreditieren.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD):Was geschah mit den nationalsozialistischen Reichs-

ministerien und deren Mitarbeitern nach 1945? In wel-cher Weise erfolgte der Transformationsprozess hin zu

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Dr. h. c. Wolfgang Thierse

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demokratischen Strukturen in der Bundesrepublik undden spezifischen Strukturen der DDR? Welche Kontinui-täten und Brüche sind in Ministerien und Behörden fest-stellbar – hinsichtlich des Personals sowie der Traditio-nen von Denken und Handeln?

Dies sind sperrige Fragen. Sie sind jedoch noch im-mer nicht systematisch und in der nötigen Breite bear-beitet worden. Sie zu beantworten, ist gleichwohl wich-tig: Weil wir uns als Gemeinwesen verstehen, das ausder Vergangenheit gelernt hat, und weil wir verpflichtetsind, das Vertrauen in staatliche Institutionen zu stär-ken. Deshalb müssen wir wissen, wie das nationalsozia-listische Regime nach seinem Ende weiter – und damitauch auf uns heute – gewirkt hat.

Warum erst jetzt? Je differenzierter unsere Kennt-nisse über die Zeit des Nationalsozialismus werden,desto deutlicher zeigt sich der Anteil, den Beamte undMinisteriumsmitarbeiter aus der „zweiten Reihe“ an derPlanung, Organisation und Umsetzung der nationalso-zialistischen Politik hatten. Mitarbeiter der Reichsmi-nisterien fanden in Ministerien und Behörden der jungenBundesrepublik und auch in Einrichtungen der DDR er-neut Anstellung. Mit der Übernahme belasteter und anVerbrechen beteiligter Personen überdauerte national-sozialistisches Gedankengut in Ministerien. ManchesHandeln in der Nachkriegszeit war davon geprägt.

Es reicht also nicht aus, sich allein mit der Zeit desNationalsozialismus zu beschäftigen. Es bedarf des ge-naueren Wissens über personelle Kontinuitäten und fort-geführte Traditionen in der Nachkriegszeit, um die Ent-stehung und Entwicklung unseres gegenwärtigen Ge-meinwesens zu verstehen. Erst auf dieser Grundlagewird eine verlässliche gesellschaftliche, juristische undpolitische Bewertung unserer gegenwärtigen demokrati-schen Praxis vorzunehmen sein. Dies schließt auch diekritische Betrachtung von Versäumnissen und Blocka-den bei der Verfolgung von nationalsozialistischen Tä-tern in der Bundesrepublik und der DDR ein.

Nicht zuletzt die Debatte um die Praxis der Nachrufefür Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes und das großeöffentliche Interesse an der Studie über das AuswärtigeAmt in der frühen Nachkriegszeit haben dies deutlichgemacht. Dem Beispiel des Auswärtigen Amtes müssenweitere Ministerien folgen. Gute Ansätze und auch Teil-ergebnisse gibt es bereits. Zu nennen sind eine Untersu-chung über das Bundeskriminalamt und die kürzlich inAuftrag gegebene Studie über die Frühzeit des Bundes-nachrichtendienstes. In der Zeit sozialdemokratischerRegierungsverantwortung wurde mit der Beauftragungsolcher Forschungen begonnen.

Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierungauf, sich der Frage nach personellen und institutionel-len Kontinuitäten und Brüchen in aller Offenheit zu stel-len. Neben der Geschichte der nationalsozialistischenReichsministerien gilt es, in gleicher Gewichtung dieFrühgeschichte zumindest jener Ministerien untersu-chen zu lassen, die staatliche Kernaufgaben ausführen.

Dies zu fordern ist notwendig, denn die Bereitschaft,sich der Geschichte der eigenen Institution zu stellen,

scheint nicht in jedem Ministerium gleichermaßen ent-wickelt zu sein. So bleibt es nach wie vor unverständlich,weshalb das Bundesministerium für Ernährung, Land-wirtschaft und Verbraucherschutz einen eigens angefer-tigten Bericht unter Verschluss hält.

Die Geheimhaltung von Ministerial- und Behörden-akten der frühen Nachkriegszeit ist heute durch nichtsmehr zu rechtfertigen. Ausdrücklich fordern wir daher,Historikern ungehinderten Zugang zu Archiven, Quel-lenmaterial und allen verfügbaren Informationen zu ge-währen, die sie für eine sorgfältige Aufarbeitung benöti-gen. Die zu beauftragenden Wissenschaftler müssen injeder Hinsicht unabhängig arbeiten können. Darüberhinaus müssen sie nach klaren und transparenten Krite-rien ausgewählt werden. Ihre Forschungsergebnissesind der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Die beiden Anträge, die neben unserem zum Themavorliegen, zeigen, dass wir mit unserer Einschätzungnicht allein stehen. Ganz besonders freue ich mich, dassBündnis 90/Die Grünen unseren Antrag annäherndwortgleich übernommen haben. Dies stimmt mich zuver-sichtlich, dass sich mit unseren guten Gründen auch dieRegierungsfraktionen von der Notwendigkeit überzeu-gen lassen, eine umfassende wissenschaftliche Untersu-chung der institutionellen und personellen Kontinuitä-ten in Ministerien und Behörden der Nachkriegszeit inAuftrag zu geben.

Dieser umfassende Forschungsauftrag ist Kern undZiel unseres Antrages, doch ist er kein Selbstzweck. AlsDeutscher Bundestag haben wir die Aufgabe, das Regie-rungshandeln zu kontrollieren. Damit stehen wir in derPflicht, Transparenz, Offenheit und Informationen überdie Exekutive einzufordern. Dies müssen wir auch hin-sichtlich personeller und institutioneller Kontinuitätenund Brüche in Bezug auf nationalsozialistische Vorgän-gerinstitutionen sicherstellen.

Ich lade alle Fraktionen ein, unseren Antrag zu unter-stützen!

Dr. Stefan Ruppert (FDP): Die deutsche Vergangenheitspolitik, um einen Begriff

des Historikers Norbert Frei zu gebrauchen, hat nichtsvon ihrer Aktualität und Brisanz verloren. Die histori-sche Aufarbeitung der nationalsozialistischen Gewalt-herrschaft und die Vergangenheitsbewältigung in derfrühen Bundesrepublik werfen keineswegs nur rein aka-demische Fragen auf. Auch mehr als 65 Jahre nach demEnde des Zweiten Weltkrieges hat der Umgang mit demdunklen Kapitel der deutschen Geschichte nach wie voreine hohe politische Bedeutung. Deshalb bedauere iches ein wenig, dass wir die heutige Debatte nicht an pro-minenterer Stelle führen.

Als Rechtshistoriker am Max-Planck-Institut für eu-ropäische Rechtsgeschichte, der sich selbst lange mitdem Themenbereich der Vergangenheitspolitik beschäf-tigt hat, und als Vertreter einer jüngeren Generation istmir eines wichtig zu sagen: Die kritische Aufarbeitung,Historisierung und umfassende Bewertung der NS-Ver-gangenheit sowie der inhaltlichen und personellen

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Dr. Stefan Ruppert

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Kontinuitäten in der Bundesrepublik ist für mich undmeine Partei oberstes Gebot. Die Arbeit von Historikerndarf nicht erschwert werden. Und man darf sich auch ei-nem kritischen Blick auf die eigene Vergangenheit nichtentziehen.

Uns liegen zwei Anträge von den Fraktionen DieLinke und der SPD vor, die sich dem Problem der perso-nellen und inhaltlichen Kontinuitäten zwischen dem NS-Regime und der Bundesrepublik widmen. Das grund-sätzliche Anliegen der beiden Anträge – eine Aufklärungund umfassende Aufarbeitung der Geschichte der Bun-desministerien – können mit Sicherheit alle demokrati-schen Parteien in diesem Hause unterstützten. Es istauch allen Beteiligten klar, dass mutige Historiker, Jour-nalisten und Bürger den Prozess der historischen Aufar-beitung teils sehr mühsam gegen interne Widerstände inden betroffenen Institutionen erkämpfen mussten. Aberich habe durchaus Zweifel, ob die in den Anträgen vor-geschlagenen Maßnahmen tatsächlich notwendig sindoder nicht über das Ziel hinausschießen.

In den vergangenen Jahren haben wir wichtigeSchritte in der Aufarbeitung der Geschichte einigerBundesministerien gesehen. Zu nennen ist hier zum ei-nen die interessante und sehr kontrovers diskutierte Stu-die zur NS-Vergangenheit des Auswärtigen Amtes. Diesebrachte Verstrickungen und aktive Beteiligungen vondeutschen Diplomaten an der Deportation der europäi-schen Juden zwischen 1933 und 1945 ans Licht undbrach dadurch mit dem Bild des Auswärtigen Amtes alsHort des Widerstandes. Daneben machte die dortigeHistorikerkommission auch auf personelle Kontinuitä-ten aufmerksam: So erklärte der Leiter der Kommission,Eckart Conze, in einem Interview mit dem Nachrichten-magazin Der Spiegel, dass in den Jahren 1950/51 nochrund 42 Prozent der Angehörigen des höheren Dienstesvor 1945 in der NSDAP gewesen seien.

Aber auch in anderen Ministerien und Behörden sindwichtige Aufarbeitungsprozesse angestoßen bzw. abge-schlossen worden. Im Bundesfinanzministerium ist vorkurzem ein erster Bericht der Historikerkommissionvorgestellt worden. Im Ministerium für Ernährung,Landwirtschaft und Verbraucherschutz sowie im Ver-kehrsministerium wurden entsprechende Studien abge-schlossen. Und auch im Bundesministerium der Vertei-digung wird schon sehr lange an der historischenAufarbeitung geforscht. Erfreulicherweise hat sich die-ser Prozess auch auf die Sicherheitsbehörden des Bun-des ausgeweitet. Im April 2011 wurden die teils sehrerschütternden Ergebnisse der Erforschung der Ge-schichte des Bundeskriminalamtes der Öffentlichkeitvorgestellt. Beim Bundesnachrichtendienst und demBundesamt für Verfassungsschutz steht der Historisie-rungsprozess aber noch am Anfang.

Diese Beispiele verdeutlichen, dass sich der Prozessder historischen Aufarbeitung und kritischen Auseinan-dersetzung mit der eigenen Vergangenheit bisher auchohne gesetzgeberischen Zwang positiv entwickelt hatund auch weiter fortsetzen wird. Dafür spricht das großeInteresse der Medien und Öffentlichkeit an den Ergeb-nissen dieser Studien. Ich will mich jedoch dem Gedan-

ken nicht verschließen, dass – sollten sich in der weite-ren Entwicklung strukturelle Hindernisse diesenAufarbeitungsprozessen entgegenstellen – man durch-aus über zusätzliche gesetzgeberische Anreize in Einzel-fällen diskutieren kann. In der derzeitigen Situationhalte ich diese aber nicht für notwendig.

Ich will noch ein paar Worte zum vorliegenden An-trag der Fraktion Die Linke sagen. In Punkt 5 wird ge-fordert, dass den Historikerkommissionen die Aktenbe-stände uneingeschränkt zur Verfügung stehen sollen.Dieser Punkt, der sich auch im Antrag der SPD wieder-findet, ist problematisch. Sosehr wir auch alle für Offen-heit und Transparenz sind, so haben doch Sicherheitsbe-hörden wie der Bundesnachrichtendienst und dasBundesamt für Verfassungsschutz ein legitimes Geheim-haltungsinteresse, wenn es um die innere und äußere Si-cherheit sowie das Bild Deutschlands im Ausland geht.Deshalb kann ein pauschaler, uneingeschränkter Zu-gang zu allen Aktenbeständen nicht gewährt werden. InEinzelfällen muss die Behörde das Recht haben, zwi-schen historischem Aufklärungsinteresse und legitimemGeheimhaltungsinteresse abwägen zu können. Solltesich allerdings zukünftig herausstellen, dass sich dasPendel zwischen beiden Polen strukturell nur in dieRichtung des letzteren Wertes bewegt, verschließen wiruns in Einzelfällen nicht gesetzgeberischen Anreizen.

Ein weiterer Punkt im Antrag der Linken ist proble-matisch: Es findet sich nicht ein einziges Wort zur not-wendigen Aufarbeitung der Geschichte der Ministerienund Behörden in der ehemaligen DDR. Auch diese müs-sen in den weiteren Historisierungsprozessen stärkereinbezogen werden. Diese Erkenntnis scheint der Frak-tion Die Linke wieder einmal fern. Wie so oft kann manihnen ein glaubwürdiges Aufklärungsinteresse nicht ab-kaufen, weil Sie sich nicht kritisch mit der eigenen Ver-gangenheit auseinandersetzen wollen. Ihr Antrag ist alsein politischer Entlastungsangriff zu verstehen, den wirhier im Parlament schon so häufig gesehen haben.

Im Antrag der SPD finden sich viele Formulierungen,die wohl alle Parlamentarier unterschreiben können. ImGegensatz zum Antrag der Linken wird hier auch diebisher noch unvollständige Aufarbeitung der Geschichteder Institutionen in der ehemaligen DDR thematisiert.Allerdings hat neben dem bereits geschilderten Problemder uneingeschränkten Akteneinsicht eine weitere For-mulierung im SPD-Antrag einen etwas faden Beige-schmack. So wird die Leistung der Behörden und Minis-terien zur Aufarbeitung ihrer Geschichte „insbesondereunter sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung“hervorgehoben. Es ist richtig, dass der ehemalige Bun-desfinanzminister Peer Steinbrück vor zwei Jahren einehochrangige Historikerkommission in seinem Hauseeingesetzt hat. Es ist ebenso richtig, dass die sozialde-mokratischen Präsidenten Ernst Uhrlau, Heinz Frommund Jörg Ziercke die historische Aufarbeitung in ihrenBehörden vorangetrieben haben. Aber zum vollen Bildgehört auch der ehemalige SPD-Innenminister OttoSchily, der sich der Historisierung in Regierungsverant-wortung mit aller Kraft widersetzte. Er tat dies nicht nurfür sein eigenes Amt, sondern streute seine Ansichten inder gesamten Bundesregierung. Wenn Sie jetzt einen

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Dr. Stefan Ruppert

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vermeintlich mangelnden Aufklärungswillen der Bun-desregierung beklagen, sollten Sie sich auch die Fragestellen, ob Sie nicht vor ein paar Jahren in Regierungs-verantwortung noch mehr hätten tun können.

Trotz der offensichtlichen Mängel in beiden Anträgenfreue ich mich auf die weiteren Diskussionen im Innen-ausschuss und in der sich dann hoffentlich an prominen-terer Stelle anschließenden Schlussdebatte im Plenum.Denn an historischer Aufarbeitung und kritischer Aus-einandersetzung mit der eigenen Vergangenheit solltenwir Parlamentarier ein besonderes Interesse haben.

Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Die vorgelegten Anträge und die jüngsten parlamen-

tarischen Vorgänge zeigen: Die Opposition misst bei derAufarbeitung der deutschen Diktaturen mit zweierleiMaß. Ich bin erstaunt, wie widersprüchlich und inkon-sistent vor allem die SPD und die Grünen beim ThemaAufarbeitung von staatlichem Unrecht agieren. Wenigererstaunlich ist, dass die Linke die Schlussstrichpolitikder 50er-Jahre kritisiert und gerade dies heute mit Blickauf das SED-Unrecht fordert.

In den Anträgen der SPD und der Grünen heißt es aufSeite 3:

Auch um das Vertrauen der Bürger in ihre Staatsor-gane willen sieht sich der Deutsche Bundestag inder Pflicht, Transparenz, Offenheit und Informationüber alle Bereiche der Exekutive … einzufordern.

Wie recht Sie haben! Mir scheint es aber, diese Pflichtvergessen Sie, wenn es um die andere Diktatur geht, diees in Deutschland im 20. Jahrhundert gegeben hat.Diesbezüglich haben Sie in einer in dieser Woche durch-geführten öffentlichen Anhörung zum Stasi-Unterlagen-Gesetz gezeigt, wie nahe Sie an einem Schlussstrichsind, der auch das Vergessen befördert. Die von SPD,Grünen und Linken benannten Experten haben sich, zumTeil unter deren Zustimmung, dafür eingesetzt, die Über-prüfung im öffentlichen Dienst ganz einzustellen, undteilweise die Notwendigkeit der anhaltenden Aufarbei-tung geleugnet. Es wurde gesagt, dass die Opfer sichnach so vielen Jahren damit abfinden müssten, dass esauch eine Vergangenheit gebe. Der gesellschaftliche Be-darf nach Klarheit und Aufarbeitung bestünde 21 Jahrenach der Wende nicht mehr. Es sei unverhältnismäßig,wenn man die Verstrickungen von Mitarbeitern des öf-fentlichen Dienstes heute aufdecken möchte. Diese Ar-gumente gleichen den Debatten der 50er- und 60er-Jahre, in denen von vielen ein Schlussstrich unter dieNaziverbrechen gefordert wurde. Und eben 21 Jahrenach Kriegsende, also 1966, setzte die tatsächliche ge-sellschaftliche Aufarbeitung des Unrechts ein.

Offensichtlicher kann der Widerspruch, auch durchdie zeitliche Nähe, nicht sein: Am Montag redet dieLinke dem Ende der Stasiaufarbeitung das Wort, und dieSachverständigen von SPD und Grünen sprechen vonder Notwendigkeit des Vergessens. Am Donnerstagprangern sie genau das im Zusammenhang mit der NS-Aufarbeitung an. Merkwürdigeres gibt es nicht.

Die Opposition misst hier also mit zweierlei Maß. Siemahnt richtigerweise an, dass Fehler bei der NS-Aufar-beitung nicht ausreichend beleuchtet seien, und spieltsich als das gute Gewissen auf. Auf der anderen Seite istsie fälschlicherweise gerade dabei, genau den gleichenFehler bei der Aufarbeitung des DDR-Unrechts nocheinmal zu machen. Warum verweigern Sie sich bei derFrage, inwieweit alte Stasikader noch in der öffentlichenVerwaltung tätig sind, genau dem, was Sie bei der NS-Aufarbeitung mit Nachdruck fordern? Diese Politik istinkonsequent und unglaubwürdig. Wir wissen alle umdie Fehler in den 50ern und haben daraus gelernt. Siesind dabei, einer gesellschaftlichen Haltung Raum zugeben, die diese Fehler wiederholen will. Ich bin ge-spannt, wie Sie dies rechtfertigen. Denn erschwerendkommt hinzu, dass Opfer und Täter der DDR noch ge-genwärtig sind. Das bedeutet, dass politisches Handelnaktiv Auswirkungen für oder gegen die Gerechtigkeithat. Bei NS-Tätern ist dies nicht mehr der Fall.

Eine gewisse Ungeheuerlichkeit gibt es noch in einemzweiten Aspekt: Die vorgelegten Anträge erwecken denEindruck, als ob eine Kontinuität bei den Bundesminis-terien im Vergleich zu den Ministerien aus der NS-Zeitgeherrscht hätte. Es wäre der nationalsozialistischeGeist noch weit verbreitet gewesen, wird dort konsta-tiert. Sie können doch nicht allen Ernstes unterstellen,dass die Bundesrepublik und ihre Institutionen in denersten Jahren die Ziele des Dritten Reiches und die Ide-ologie der Nationalsozialisten fortgesetzt hätten! DieseDiffamierung geht zu weit. Nicht ausgeführt wird, dass,trotz aller unbestrittenen Versäumnisse, die Bundesrepu-blik einen beachtlichen Neuanfang nach dem Krieg ge-leistet hat. Getragen wurde dieser von Persönlichkeitenwie Kurt Schumacher, dem Liberalen Theodor Heuss,Konrad Adenauer und vielen anderen, die glühendeGegner des NS-Regimes waren. Dies bleibt in den An-trägen allerdings völlig unerwähnt.

Schließlich verstehe ich nicht, warum gerade jetztdiese Anträge gestellt werden. Erst im Dezember ver-gangen Jahres hat die Linke eine umfangreiche GroßeAnfrage zu dem Thema gestellt. Das BMI ist gerade da-mit beschäftigt, die darin enthaltenen 64 Fragen zu be-arbeiten. Die Antwort auf diese Anfrage wird sehr aus-führlich darlegen, inwieweit die Bundesregierung an derAufarbeitung der Geschichte in ihren Ministerien in derNachkriegszeit arbeitet und diese vorantreibt. Vieles ausIhrem Antrag wird sich spätestens dann als hinfällig er-weisen. Darüber hinaus nehmen zahlreiche Institutioneneine eigene Aufarbeitung vor. Öffentlichkeitswirksamwurde etwa das Auswärtige Amt aktiv.

Die FDP unterstützt mit Nachdruck die nachhaltigeAufarbeitung jeglichen staatlichen Unrechts, das in die-sem Lande passiert ist. Dies betrifft die NS-Zeit genausowie die DDR-Diktatur. Ich lade Sie ein, die wirksameAufarbeitung des SED-Unrechts und die Erfolgsge-schichte des Stasi-Unterlagen-Gesetzes gemeinsam mituns fortzusetzen.

Die vorgelegten Anträge enthalten viel Richtiges undnoch mehr Selbstverständliches. Es ist grundsätzlichStaatsräson, dass wir die Nazidiktatur in Deutschland

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Patrick Kurth (Kyffhäuser)

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weiterhin mit allem Nachdruck und Engagement aufar-beiten und umfassend historisch erschließen. Das be-trifft alle öffentlichen Institutionen, insbesondere dieobersten Behörden, deren rechtliche Vorgängerorgani-sationen es schon vor Gründung der Bundesrepublikgab.

Grundsatz ist und bleibt: eine saubere Aufklärung,eine Aufarbeitung des Unrechts, kein Schlussstrich undkeine Ignoranz bei der Bewertung der Geschehnisse,aber auch Augenmaß und Sachlichkeit. Dafür steht dieKoalition.

Jan Korte (DIE LINKE): Die Linksfraktion stellt heute den Antrag, die NS-Ver-

gangenheit aller infrage kommenden Bundesministerienaufzuarbeiten. Bis heute steht eine kritische Bilanz derpersonellen und inhaltlichen Kontinuitäten zwischendem NS-Regime und der Bundesrepublik Deutschland inden meisten Fällen aus. Und dies, obwohl die kritischeAuseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit zu denzentralen Lehren aus der deutschen Geschichte im20. Jahrhundert gehört und der Deutsche Bundestagund sämtliche Bundesregierungen seit 1949 zumindestverbal immer wieder die enorme Bedeutung eines kriti-schen Blicks auf die eigene Geschichte betont haben.Diese Sicht musste immer wieder erkämpft und durchge-setzt werden.

Mit der Vorstellung der Studie „Das Amt“ wurde imletzten Jahr von offizieller Seite eine weitere Etappe inder Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit be-gonnen. Die Aussage von Eckart Conze, einem der Auto-ren der Studie, das Auswärtige Amt wäre eine „verbre-cherische Organisation“ gewesen, war für viele in ihrerDeutlichkeit überraschend, gleichwohl aber ein Meilen-stein in der geschichtspolitischen Auseinandersetzung.Nicht dass die Erkenntnis neu gewesen wäre: Schon dieHistoriker Browning, Döscher und Frei haben teils vorJahrzehnten den verbrecherischen Charakter der „fei-nen Herren“ des AA untersucht und veröffentlicht. DieAbwehr dieser Erkenntnis und der Unwille, die Verstri-ckung der damaligen Funktionseliten in den Nationalso-zialismus und ihre Wiederkehr in die bundesdeutschenEntscheidungsebenen aufzuarbeiten, haben ihre Wur-zeln in den fünfziger Jahren und dauern in Teilen bisheute an. Die Studie zur Nazi-Vergangenheit des Aus-wärtigen Amtes sorgte allerdings auch deshalb für Auf-regung, weil sie belegte, wie führende NS-Eliten nachdem Krieg weiterbeschäftigt wurden. Und dies massen-haft. So waren 1950/51 rund 42 Prozent der Angehöri-gen des höheren Dienstes ehemalige NSDAP-Mitglie-der. Diese Zahl ist umso bemerkenswerter, weil damitnur kurz nach 1945 im Amt mehr NSDAP-Mitgliederbeschäftigt waren, als beispielsweise in den Jahren1938/39. Und sie erregte Aufsehen, weil klar wurde,dass andere Bundesministerien sich immer noch einerumfassenden Aufarbeitung entziehen. Nur auf einenwichtigen Punkt hätte in der Studie ausführlicher einge-gangen werden können, nämlich den Fragen nach in-haltlichen Kontinuitäten: Welchen Einfluss auf die Poli-tik der frühen Bundesrepublik hatte die Anwesenheit sovieler ehemaliger NSDAP-Mitglieder und alter Nazis?

Welche ideologischen Kontinuitäten konnten sich schlei-chend fortsetzen, wo gab es klare Brüche? Und inwie-weit wurde dadurch der demokratischen Entwicklungder BRD geschadet? Für die Frühgeschichte der Bun-desrepublik wäre es wichtig gewesen, genau solchenFragen heute nachzugehen.

Die Bundesregierung hat heute keine plausiblen Ar-gumente, analog zur Außenamtsstudie nicht endlichauch die anderen infrage kommenden Ministerien undBehörden untersuchen zu lassen, wie es die Linke imBundestag im vorliegenden Antrag fordert. Und erfreu-licherweise liegen ja heute auch noch zwei weitere na-hezu identische neue Anträge der SPD und der Grünenvor, die das gleiche Ziel verfolgen. Dies ist umso erfreu-licher, weil es ja gerade bei der SPD in dieser Frage bisvor gar nicht so langer Zeit auch noch ganz andere Posi-tionen gab.

Nun werden sicherlich wieder einige von der Koali-tion einwenden, dass doch bereits Etliches auf den Weggebracht und im Grunde unser Antrag längst überholtund unnötig sei. Ja, richtig, bei einigen Ministerien undBehörden tut sich seit 2005 tatsächlich etwas. Wenn mansich aber genauer anguckt, was bisher in Sachen Aufar-beitung der personellen und institutionellen Kontinuitä-ten passiert ist oder passiert, dann sieht das Ganzeschon anders aus. Denn zum Teil steht zwar die Erfor-schung der Geschichte in der Zeit des Nationalsozialis-mus auf der Agenda, wie beispielsweise beim Bundes-finanzministerium, wo unter der Leitung von UlrichHerbert seit dem Sommer 2009 eine hochrangige sie-benköpfige Historikerkommission untersucht, welchenBeitrag das Reichsfinanzministerium etwa bei der Aus-plünderung der Juden sowie der Finanzierung der Rüs-tung und des Krieges leistete, welche Handlungsspiel-räume es dabei gab und wie diese genutzt wurden, aberdie Zeit nach 1945 ist bislang nicht Forschungsgegen-stand. Und dies nicht, weil die Historiker dies nichtwollten, im Gegenteil.

Oder nehmen sie das Bau- und Verkehrsministerium.Dort ließ zwar der damalige SPD-Minister WolfgangTiefensee vor einigen Jahren von zwei Historikern die„antijüdische Politik des Reichsverkehrsministeriumszwischen 1933 und 1945“ untersuchen, wer von denVerantwortlichen aber später auch im Bundesverkehrs-ministerium Politik machen konnte, wurde sicherheits-halber nicht untersucht. Hier besteht dringender Nach-holbedarf, und ich bin gespannt, inwieweit MinisterRamsauer dem nachkommen wird.

Oder nehmen sie das Ministerium für Verbraucher-schutz, Ernährung und Landwirtschaft. Dort wurde dieebenfalls 2005 in Auftrag gegebene Studie, die vor allemdas Reichsministerium für Ernährung und Landwirt-schaft behandelt, dem in der nationalsozialistischenBlut-und-Boden-Ideologie eine zentrale Rolle zukam,lange unter Verschluss gehalten. Und dies, obwohl dieStudie gar nicht untersuchte, wie viele Nazis nach demKrieg im neuen Bundesministerium weiterarbeiteten.Jetzt ist seit einigen Wochen zwar die Studie öffentlich,aber die Liste jener 62 Mitarbeiter mit möglicher Nazi-vergangenheit, von denen im Ministerium fünf wegen ih-

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Jan Korte

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rer Vergangenheit als „nicht ehrwürdig“ eingestuft wur-den, fehlt weiterhin. Das sich hier Ministerin Aignerhinter Datenschutzgründen versteckt, ist mehr als pein-lich.

Auch das Innenministerium hat bis heute unter keinerBundesregierung den Versuch unternommen, die eigeneGeschichte kritisch aufzuarbeiten. Während zwar dasBKA eine Historikerkommission beauftragt hat seinebraunen Wurzeln zu untersuchen und neuerdings ja er-freulicherweise endlich auch der BND und der Verfas-sungsschutz Anstalten machen Ähnliches auf den Weg zubringen, wird beim Nachfolger des Reichsinnenministe-riums weiter gemauert.

Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit fällt übri-gens nicht nur der konservativen Seite dieses Hausesschwer. Es hat zum Beispiel eine gefühlte Ewigkeit ge-dauert, bis auch die SPD-Fraktion sich in der letzten Le-gislaturperiode dazu durchgerungen hat, die Rehabili-tierung der sogenannten Kriegsverräter mitzutragen.Umso schöner, dass die SPD sich heute mit einem eige-nen Antrag für die Aufarbeitung der personellen und in-stitutionellen Kontinuitäten und Brüche in Ministerienund Behörden der frühen Nachkriegszeit hinsichtlich ih-rer NS-Vorgängerinstitutionen einsetzt.

Um eine neue Debatte um die Vergangenheitspolitikanzustoßen hat meine Fraktion in dieser Legislaturpe-riode bereits eine ganze Reihe weiterer Anträge und An-fragen in das Parlament eingebracht. So haben wir bei-spielsweise gefordert, endlich den Widerstand und dieunzähligen Opfer des kommunistischen Widerstandesanzuerkennen und den Ausschluss von Kommunistinnenund Kommunisten von den Entschädigungsleistungenfür ihre erlittenen Qualen in den Konzentrationslagernin den fünfziger Jahren als Unrecht anzuerkennen. Einanderer Antrag, dem sich dann inhaltlich auch die Grü-nen mit ihrem Antrag „Verantwortlichkeit der Bundesre-gierung für den Umgang des Bundesnachrichtendiens-tes mit den Fällen Klaus Barbie und Adolf Eichmann“anschlossen, fordert die Aufarbeitung der Geschichtedes BND und die Offenlegung der Akten zum FallEichmann. In einer großen Anfrage, für deren Beant-wortung sich die Bundesregierung nun insgesamt fast11 Monate Zeit nehmen möchte, wird insgesamt dieFrage des Umgangs mit der NS-Vergangenheit in derBundesrepublik gestellt. Was wir aber insgesamt brau-chen, ist eine viel systematischere Beschäftigung mitdem Thema. Nötig ist endlich ein Gesamtkonzept zurAufarbeitung der NS-Vergangenheit von Bundesministe-rien und -behörden – mit nachvollziehbaren Kriterien,klaren Aufträgen zum weiteren Umgang mit dem Thema,einem uneingeschränkten Zugang zu den Akten und Do-kumenten und einer ausreichenden finanziellen Ausstat-tung. Die Bundesregierung und der für Erinnerungskul-tur zuständige Kulturstaatsminister Neumann sind hiereigentlich schon lange in der Pflicht, ein solches Kon-zept vorzulegen. Aber da sie es ja alleine offensichtlichnicht hinbekommen, soll ihnen unser Antrag nun dabeihelfen.

Die aktuelle Debatte zeigt, dass Geschichte nach wievor ein umkämpftes Feld ist. Trotz vieler Rückschritte

und Niederlagen müssen dabei aber nicht zwangsläufigdie Apologeten und Geschichtsrelativierer die Oberhandgewinnen. Es gab immer wieder Durchbrüche für einekritische Geschichtsauffassung. Und obwohl natürlichdie alten Eliten das politische Klima der Bundesrepublikbis in die achtziger Jahre maßgeblich geprägt haben, sotaten dies eben aber auch linke Wissenschaftler, Initiati-ven, Gewerkschaften und in einem nicht zu vernachläs-sigenden Teil ein geschichtsbewusstes Bürgertum sowiekritische Medien.

Ich bin mir sicher, dass wir heute andere Zeiten undauch andere gesellschaftliche Mehrheiten haben alsnoch in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhun-derts. Klar ist aber auch eines: GeschichtspolitischenFortschritt gibt es immer nur durch breiten gesellschaft-lichen Druck.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Die von Bundesaußenminister Joschka Fischer 2005in Auftrag gegebene Studie, die im letzten Jahr unterdem Titel „Das Amt und die Vergangenheit“ veröffent-licht wurde, hat ein über viele Jahre verbreitetes Ge-schichtsbild als Legende erwiesen. Das Auswärtige Amtwar in der NS-Zeit kein „Hort des Widerstands“, son-dern tief verstrickt in die Verbrechen der Nationalsozia-listen. Es hat die sogenannte „Endlösung der Juden-frage“ und Verbrechen an anderen Opfergruppen nichtnur nach außen hin gedeckt, sondern sich auch aktiv anihnen beteiligt. Zudem gehört zu den dunkelsten Kapi-teln in der Geschichte der Bundesrepublik, dass vieleder Diplomaten und Mitarbeiter, die sich hier schuldigmachten, nach dem Krieg ihre Karriere im AuswärtigenAmt fortsetzen konnten. Nur wenige wurden zur Rechen-schaft gezogen.

Mit der Veröffentlichung der Studie fiel ein Schlag-licht auch auf andere Bundesministerien und Behörden.Auch hier gab es tiefgehende Verstrickungen von Vor-gängerinstitutionen in die Verbrechen des Dritten Rei-ches und ebenso problematische personelle und insti-tutionelle Kontinuitäten nach dem Krieg, einweitverbreitetes Schweigen über die Vorgeschichte undauch fahrlässiges Nichtstun und mutwilliges Vertuschenund Verdrängen.

Nach dem Erscheinen der Studie zum AuswärtigenAmt haben wir als Grüne-Fraktion zusätzliche Initiati-ven gestartet, um eine offene und verantwortliche Aufar-beitung der Geschichte der Bundesministerien und -be-hörden zu befördern. Im November 2010 brachten wireine Kleine Anfrage – Bundestagsdrucksache 17/3929,Antwort auf Drucksache 17/4344 – zur Vorgeschichtevon Bundesministerien, Botschaften und obersten Bun-desbehörden in der NS-Zeit auf den Weg. In den Antwor-ten führt die Bundesregierung Einzelforschungen und-maßnahmen an, was hilfreich ist, um einen Überblicküber den gegenwärtigen Stand zu gewinnen. Hierfür be-danken wir uns ausdrücklich.

An vielen Stellen sind die Antworten jedoch sehr aus-weichend. Was wir besonders problematisch finden, ist,dass die Bundesregierung es ausdrücklich ablehnt, ein

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Gesamtkonzept zur Aufarbeitung der Vorgeschichte derBundesministerien und Behörden in der NS-Zeit und zuden problematischen personellen und institutionellenKontinuitäten vorzulegen. Damit will sie es bei einemziemlichen Flickenteppich in der Aufarbeitung belassen,mit dem wir es im Augenblick zu tun haben, bei Einzel-aktivitäten, die abhängig sind von Initiativen der jewei-ligen Amtsführungen oder besonderen Forschungsinten-tionen.

Ebenfalls aus dem November 2010 stammt eineKleine Anfrage unserer Fraktion zur „Erleichterung desForschungszugangs zu Archiven des Auswärtigen Amtsund anderer Bundesministerien“; Drucksache 17/3804,Antwort auf Drucksache 17/4339. Hier ist offensichtlicheiniges zu verbessern. Auch die Historikerkommissiondes Auswärtigen Amtes hatte ja kritisiert, dass sie vieleMaterialien erst sehr spät – wenn überhaupt – bekom-men hat.

Im Februar 2011 folgte unser Antrag „Berichte zurNS-Vergangenheit des Bundesministeriums für Ernäh-rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz veröffent-lichen“; Drucksache 17/4696. In diesem Antrag geht esum Berichte, die noch in der Amtszeit von Renate Künastals Verbraucherschutzministerin in Auftrag gegeben,nach ihrer Fertigstellung von den Amtsnachfolgern abernicht veröffentlicht worden sind. Es ist doch wirklich einUnding, wenn solche wichtigen Forschungen unter Ver-schluss bleiben. Hier ist der Eindruck entstanden, dasses mit der Politik der Vertuschung und Verdrängung im-mer noch kein Ende haben soll.

Ein grüner Antrag aus dem Januar 2011 mit dem Ti-tel „Verantwortlichkeit der Bundesregierung für denUmgang des Bundesnachrichtendienstes mit den Fäl-len Klaus Barbie und Adolf Eichmann“ – Drucksache17/4586 – ist am heutigen Tag an anderer Stelle auf derTagesordnung, leider nicht zusammen mit den Anträgen,die wir hier diskutieren, weil die SPD und die Regie-rungskoalition der Meinung waren, dass der Antrag zuEichmann und Barbie aus „inhaltlichen Gründen“ nichtzum Thema „Personelle und institutionelle Kontinuitä-ten zur NS-Zeit“ passe, das wir an dieser Stelle diskutie-ren. Das verwundert mich doch sehr.

Der grüne Antrag beschäftigt sich mit wirklich un-glaublichen Vorgängen, nämlich damit, dass der „Orga-nisation Gehlen“ bzw. ihrem Nachfolger, dem BND, be-reits seit 1952 bekannt war, wo sich der Holocaust-organisator Adolf Eichmann versteckte. Dieses Wissenwurde jedoch geheim gehalten, sogar über den Zeit-punkt von Eichmanns Ergreifung 1960 hinaus. Ebensounfassbar ist es, dass der BND den sogenanntenSchlächter von Lyon, Klaus Barbie, 1966 als Agentenanwarb, in Kenntnis von dessen Vergangenheit – einVorgang, den der „Spiegel“ am 17. Januar 2011 öffent-lich machte, angeblich auf der Grundlage von BND-Ak-ten im Bundesarchiv. Das Parlament und die Öffentlich-keit haben einen Anspruch darauf, über alle Aspektedieser Vorgänge und die Verantwortlichkeiten unterrich-tet zu werden. Genau das fordern wir von der Bundesre-gierung – und das hätten wir gerne auch an dieser Stellediskutiert.

Wir freuen uns, dass aus anderen Fraktionen eben-falls Aktivitäten zur Aufarbeitung des Themas der NS-Vorgängerinstitutionen der Bundesministerien und -be-hörden kommen. Was den SPD-Antrag auf Drucksache17/6297 vom 28. Juni 2011 angeht, so wäre es besser ge-wesen, wenn es als deutliches Signal hier eine gemein-same Einbringung mit uns Grünen gegeben hätte. Einesolche gemeinsame Aktivität hatten wir schon vor eini-ger Zeit angeregt. Und sie war ja eigentlich schon aufdem Weg. Am Dienstag kam dann in letzter Minute dieBotschaft, dass die SPD doch alleine einen Antrag ein-bringen will. Das bedauern wir und halten es auch poli-tisch für nicht sinnvoll. Da der SPD-Antrag jedoch vielegrüne Forderungen aus den letzten Monaten und Jahrensehr gut widerspiegelt, unterstützen wir ihn und bringen– mit einer wichtigen Konkretisierung und Weiterent-wicklung – gerne auch eigenständig einen Antrag ein;Drucksache 17/6318.

Was jetzt nottut, ist eine systematische Aufarbeitungdes Themas. Diesen Gedanken heben wir besonders her-vor. Damit so etwas in Gang kommt, benötigen wir einKonzept und ein koordiniertes Vorgehen. Wir fordern dieBundesregierung auf, ein schlüssiges Gesamtkonzeptzur Aufarbeitung der personellen und institutionellenKontinuitäten und Brüche in den Bundesministerien und-behörden hinsichtlich der NS-Vorgängerinstitutionenvorzulegen. Die weitere Koordination des Vorgehenssollte beim Beauftragten für Kultur und Medien liegen,in dessen Aufgabenbereich ja auch das Thema Erinne-rungskultur fällt.

Ein solches Konzept muss aufzeigen, wo noch beson-dere Wissenslücken bestehen und zu schließen sind. Esmuss klare Kriterien geben, wie mit Forschungsergeb-nissen im Weiteren umzugehen ist. Natürlich müssen dieForschungen veröffentlicht werden. Geheimhaltungs-politik in dieser Frage hinterlässt den denkbar übelstenGeschmack. Wir brauchen auch Kriterien dafür, wie dieentsprechenden Ergebnisse in die konkrete Arbeit derMinisterien und Behörden einfließen sollen, zum Bei-spiel in der Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter. Wir brauchen auch Klarheit mitBlick auf die Nachrufpraxis der Ministerien und Behör-den bei Mitarbeitern mit NS-Belastung. Die Aufwei-chung der Nachrufregelung, die Joschka Fischer im Au-ßenministerium eingeführt hatte, durch GuidoWesterwelle ist kontraproduktiv und weist in die falscheRichtung.

Sie sehen also: Es gibt viel zu tun. Ich werbe dafür,dass alle Fraktionen gemeinsam aktiv werden, um derGesamtverantwortung in der Sache gerecht zu werden.Und natürlich lade ich auch die SPD ein, die ja auch ausder Geschichte des Widerstands gegen den Nationalso-zialismus, an dem sie besonderen Anteil hatte, die Be-deutung des Themas sehr gut kennt. Es wäre schön,wenn es sich bei dem SPD-Antrag von heute nicht nurum eine Pflichtübung handelte, um das Thema dann da-mit abzuhaken. Mit Blick auf Herrn Thierse sage ich,dass ich es sehr gut verstehe, wenn das Thema Aufarbei-tung der NS-Vergangenheit vielen Sozialdemokratendeutlich wichtiger ist als Debatten um den Wiederauf-

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Claudia Roth (Augsburg)

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bau des Hohenzollernschlosses, als Streitereien um Ein-heitsdenkmäler, deren Bedeutung in der Öffentlichkeitschlecht vermittelt wurde, oder als die Arbeit oderNichtarbeit einer Vertriebenenstiftung mit dubiosen Stif-tungsratsmitgliedern.

Vizepräsident Eduard Oswald:Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen

auf den Drucksachen 17/3748, 17/6297 und 17/6318 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht nur die Tages-ordnung ist erschöpft, sondern auch wir.

(Beifall)

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf morgen, Freitag, den 1. Juli 2011, 9 Uhr,ein.

Die Sitzung ist geschlossen.

Ich bedanke mich bei allen, die noch ausgehalten ha-ben. Vielen herzlichen Dank.

(Schluss: 23.15 Uhr)

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Anlagen zum Stenografischen Bericht

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Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

Anlage 2

Erklärung nach § 31 GO

des Abgeordneten Albert Rupprecht (Weiden)(CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmungüber den Entwurf eines Dreizehnten Gesetzeszur Änderung des Atomgesetzes und zu den Ab-stimmungen zu weiteren Energiegesetzen (Ta-gesordnungspunkt 4 und Zusatztagesordnungs-punkte 3 und 4)

Ich respektiere den offensichtlich in der deutschenBevölkerung nach dem Reaktorunglück in Japan vor-handenen Wunsch, schneller aus der Kernenergie inDeutschland auszusteigen. Ohne Zweifel gibt es bei derKernenergie ein Restrisiko. Dies gilt auch für deutscheAnlagen – wenngleich das Eintreten dieses Risikos fürdeutsche Kraftwerke aufgrund der hohen Standards und

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Ahrendt, Christian FDP 30.06.2011

Aigner, Ilse CDU/CSU 30.06.2011

Beck (Bremen), Marieluise

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

30.06.2011

Becker, Dirk SPD 30.06.2011

Brand, Michael CDU/CSU 30.06.2011

Dağdelen, Sevim DIE LINKE 30.06.2011

Dr. Danckert, Peter SPD 30.06.2011

Dr. Friedrich (Hof), Hans-Peter

CDU/CSU 30.06.2011

Hardt, Jürgen CDU/CSU 30.06.2011

Haßelmann, Britta BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

30.06.2011

Höger, Inge DIE LINKE 30.06.2011

Homburger, Birgit FDP 30.06.2011

Nietan, Dietmar SPD 30.06.2011

Nink, Manfred SPD 30.06.2011

Nord, Thomas DIE LINKE 30.06.2011

der Expertise der deutschen Betreiber sehr unwahr-scheinlich ist.

Ich respektiere den mehrheitlichen Wunsch der Be-völkerung und stimme den heute in den Deutschen Bun-destag eingebrachten Energiegesetzen zu. Ich stimme zu,obwohl ich erhebliche Bedenken habe. Der Wunsch zumAusstieg muss einhergehen mit erstens der Fähigkeit undzweitens der Bereitschaft, den Umstieg auch zu schul-tern.

Ich bezweifle, dass die den Gesetzentwürfen zu-grunde gelegten Maßnahmen den Ausstieg im angestreb-ten Zeitrahmen ermöglichen. Ich befürchte, dass dieWunschziele mit den Maßnahmen nicht zu erreichensind. So sehe ich zum Beispiel beim Ausbau der Ener-giegewinnung aus Wind und Sonne das Speicherpro-blem nicht ansatzweise gelöst.

Ich habe nach vielen Gesprächen mit Bürgerinnenund Bürgern auch nicht den Eindruck, dass die Bevölke-rung mehrheitlich bereit ist, die damit verbundenen Be-lastungen zu tragen: Belastungen durch höhere Kosten,durch den Ausbau des Leitungssystems, durch den Bauvon Windkraftanlagen in ihrer unmittelbaren Nähe usw.Funktionieren kann der Zeitplan nur, wenn der Wunschzum Ausstieg gedeckt ist durch die Fähigkeit zum Um-stieg und die Bereitschaft, die Belastungen des Umstiegsauch zu tragen.

Ich befürchte daher, dass der Zeitplan nicht zu haltenist und im Ergebnis die absurde Situation auftreten kann,dass deutsche Kernkraftwerke abgeschaltet werden, derfehlende Strom aus den Nachbarländern importiert wirdund dann auch Strom aus Kernkraftwerken, zum Bei-spiel aus Tschechien – Temelin – oder Frankreich, nachDeutschland importiert wird.

Anlage 3

Erklärungen nach § 31 GO

zur namentlichen Abstimmung über den Ent-wurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderungdes Atomgesetzes (Tagesordnungspunkt 4 a)

Karin Binder (DIE LINKE): Ich stimme dem Drei-zehnten Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes nichtzu.

Ich stimme dagegen, weil ein zügigerer Ausstieg ausder Atomenergie machbar wäre. Da jedoch die Regie-rung wirtschaftlichen Interessen der Kraftwerksbetreiberabsoluten Vorrang einräumt, werden die Interessen derMenschen nach Gesundheit, Sicherheit und Nachhaltig-keit in den Hintergrund gedrängt. Spätestens mit den Ka-tastrophen von Tschernobyl und Fukushima wurde deut-lich, welches Erbe wir nachfolgenden Generationenhinterlassen. Jeder Tag längere Laufzeit für Kernkraft-werke verlängert das Risiko und vermehrt die Hinterlas-senschaften mit all ihren Risiken für viele Generationen.

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Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Ich stimme da-gegen, weil die Dreizehnte AtG-Novelle keine Laufzeit-verkürzung ist, wenn man den sogenannten rot-grünenAtomkonsens zur Basis nimmt. Die Regierungskoalition– und mit ihr SPD und Grüne – ziehen keine Konsequen-zen aus der Nuklearkatastrophe von Fukushima, denn esfindet sich im Vergleich zur rot-grünen Regelung von2001 keine Verbesserung der Atomgesetzgebung.

Die Linke im Bundestag fordert den Atomausstieg bisEnde 2014. Wie dieser ohne Einschränkungen in derStromversorgung und ohne Strompreisexplosionen mög-lich ist, hat sie dezidiert dargestellt und auch mit einerReihe von Anträgen untermauert. Und deshalb stimmeich dem Dreizehnten Gesetz zur Änderung des Atomge-setzes nicht zu.

Klaus Brähmig (CDU/CSU): Persönlich habe ichmeine berechtigten Zweifel an der Geschwindigkeit desAtomausstiegs und der praktischen Umsetzung, dennochmöchte ich mich als direkt gewählter Bundestagsabge-ordneter dem überragenden Wunsch der Menschen inunserem Land nicht entziehen. Meine Bedenken beimeiner Zustimmung zum Atomausstieg möchte ich imFolgenden aber kurz erläutern: Gerade beim Umbau desEnergienetzes weg vom Atomstrom hin zu alternativenEnergien der habe ich persönlich große Zweifel, was diekonkrete Umsetzung anbelangt. Eine große Mehrheit derBevölkerung will nach den Vorfällen in Japan so schnellwie möglich aus der Atomenergie aussteigen. Aber derBürger muss sich langfristig damit abfinden, dass dievon ihm gewünschte Energiewende auch eine hässlicheSeite hat; denn sie könnte mit einer dramatischen Verän-derung des Landschaftsbildes einhergehen. Derzeit dre-hen sich mehr als 21 300 Windräder zwischen Passauund Westerland. Bei einem Schnellausstieg in den nächs-ten zehn Jahren ist eine Verzehnfachung der Windräderin Deutschland realistisch. Riesengroße Rotoren werdenin der Landschaft stehen. Neue Überlandleitungen undBodenkabel werden gebaut bzw. durchs Land verlegt.Gleiches gilt für Solaranlagen. Insofern wird schon baldder gleiche Bürger, der jetzt den schnellen Ausstieg will,häufig sagen: alternative Energien aus der Steckdose ja,aber nicht vor meiner Haustür.

Die Öffentlichkeit muss erst davon überzeugt werdenund verstehen, dass der Bau von Windkraft-, Biogas-und Solarkraftanlagen wesentlich mehr Raum einnimmtals Kernkraftwerke. Deshalb rechne ich mit ungeahntenVerärgerungswellen von betroffenen Anwohnern undGemeinden. Zudem hängt die Zukunftsfähigkeit von al-ternativen Energieträgern davon ab, ob wir schnell Spei-cherkapazitäten schaffen können; denn für die Grund-lastabsicherung sind sie sonst nicht in dem Maßeverwertbar. Hier sind noch einige Fragen offen, und ichbin mir nicht sicher, ob wir die gewünschte Substitutionder Grundlast durch alternative Energien in so kurzerZeit schaffen.

Unabhängig davon stimme ich den Gesetzentwürfenauf Drucksachen 17/6246 und 17/6070 zu.

Marco Bülow (SPD): Ich begrüße, dass Union undFDP nach jahrzehntelanger verfehlter Atompolitik sichnun endlich dazu entschlossen haben, aus dieser Risiko-technologie auszusteigen. Dies erkenne ich als Chancefür eine wirkliche Energiewende und als Fortschritt inder bisherigen Energiedebatte an. Ich verstehe die Posi-tion meiner Fraktion, die sich trotz aller bleibenden Be-denken dazu entschlossen hat, der Gesetzesvorlage zumAtomausstieg zuzustimmen. Die SPD möchte nicht denEindruck vermitteln, die späte Einsicht der Regierung zublockieren.

Nach langer Abwägung und der Auseinandersetzungmit dem Thema und dem vorliegenden Gesetzentwurf– soweit dies in der Kürze der parlamentarischen Bera-tungszeit überhaupt möglich war – bin ich zu demSchluss gekommen, der Regierungsvorlage nicht zu-stimmen zu können. Das möchte ich in dieser persönli-chen Erklärung näher darlegen.

Es gibt eine Reihe von inhaltlichen und handwerkli-chen Einzelpunkten, die ich für bedenklich halte. Ich binvor allem fest davon überzeugt, dass man ohne die Ver-sorgungssicherheit zu gefährden und ohne großePreisanstiege zu riskieren, früher aussteigen könnte. Ichhalte es zudem nicht für ratsam, sechs AKW erst in denletzten beiden Jahren, 2021 und 2022, des Ausstiegs-plans vom Netz zu nehmen. Es gibt weitere Kritikpunkteund Versäumnisse, die aber alle ausreichend in den An-trägen meiner Fraktion dargelegt wurden. Es gibt aberdarüber hinaus drei Hauptkritikpunkte, die für mich be-sonders zentral sind und die ich hier deshalb darlegenmöchte:

Erstens. Der Ausstieg wird nicht durch einen Staats-vertrag oder eine Grundgesetzänderung manifestiert.Nach der plötzlichen Kehrtwende von Union und FDP inder Atompolitik und nachdem sich eine Reihe von Politi-kern der Regierungsparteien bereits wieder vom Aus-stieg distanzieren, kann eine erneute Umpositionierungnicht ausgeschlossen werden.

Zweitens. Viele Experten bezweifeln, dass der Aus-stiegsvertrag rechtssicher gestaltet wurde. Klagen derBetreiber könnten demnach milliardenschwere Scha-densersatzforderungen nach sich ziehen. Die Zeitpunktefür die Abschaltungen der AKW sind teilweise willkür-lich gewählt, und sie berücksichtigen nicht ausreichenddie Ergebnisse der Reaktor-Sicherheitskommission.Vonseiten der Regierung wurde kaum auf diese Beden-ken eingegangen, erst Recht konnten sie nicht ausge-räumt werden. Dies ist nicht nur nachlässig, sondern un-verzeihlich, wenn man den Staatshaushalt nicht nochzusätzlich und sehenden Auges belasten will.

Drittens. Auch wenn ein Ausstiegsdatum für jedesAKW festgelegt wird, kann dies nicht zu Abstrichen beider Sicherheit führen, denn immerhin sechs AKW sollennoch etwa zehn Jahre laufen. Diese Schwachstelle hätteausgeräumt werden können, wenn die Regierung derForderung der SPD-Bundestagsfraktion nachgekommenwäre und endlich das neue Kerntechnische Regelwerk inKraft setzen und eine unabhängige und umfassendere Si-cherheitsüberprüfung veranlassen würde. Die Sicherheitmuss trotz Ausstieg immer an erster Stelle stehen und es

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ist nicht akzeptabel, dass dort Kompromisse gemachtwurden.

Wenn man als Abgeordneter sein gutes Recht in An-spruch nimmt, eine Gewissensentscheidung zu treffen,sollte man diese auch gut begründen können. Sicher sinddie von mir aufgeführten einzelnen Bedenken schwer-wiegend, aber sie bekommen vor allem deshalb einehohe Priorität, weil Unfälle in der Atomenergie verhee-rende und unkalkulierbare Folgen haben können. Jedeseinzelne Jahr, das ein Atomkraftwerk früher vom Netzgeht, jede Sicherheitsnachrüstung könnten daher einenentscheidenden Faktor darstellen.

Mein letzter wichtiger Kritikpunkt, der dazu führt,dass mir eine Zustimmung unmöglich ist, ist die Art undWeise, wie das Atomgesetz zustande gekommen ist unddurchgesetzt wurde. Weil in erster Linie nur die beteilig-ten Fachpolitiker die ganze Vorgeschichte direkt miter-lebt haben, möchte ich hier die Abläufe und meine Be-gründung etwas detaillierter darstellen. Der Bundestagund seine Abgeordneten sollten dem Anspruch gerechtwerden „die zentrale Rolle im politischen Willensbil-dungs- und Entscheidungsprozess“ einzunehmen. Genaudies habe ich zumindest bei den beiden Entscheidungenzur Änderung des Atomgesetzes im letzten Herbst– siehe meine persönliche Erklärung im Plenarprotokoll17/68 – infrage gestellt. Das Parlament und seine Abge-ordneten gelangen durch eine immer schnellere Abfolgevon umfangreichen Gesetzesvorlagen zunehmend an dieBelastungsgrenzen. Ist die Zeitnot, mit der wichtige Ge-setze mit nachhaltigen Konsequenzen durch das Parla-ment gejagt werden, in Einzelfällen eventuell berechtigt,gilt dies sicher nicht für die jetzigen Energiegesetze.

Im Eilverfahren hat die Bundeskanzlerin AngelaMerkel nach der Reaktorkatastrophe von Fukushimazwei unlegitimierte Kommissionen eingesetzt. Dort ka-men ohne Zweifel angesehene Fachleute zusammen. Sieagierten allerdings ohne gewählte Abgeordnete und ineiner Zusammensetzung, die willkürlich allein von derKanzlerin festgelegt wurde. Völlig abgekoppelt vomParlament legten diese Kommissionen innerhalb vonsechs bzw. acht Wochen ihre Berichte und Empfehlun-gen vor. In dieser Zeit gab es keinen Austausch zwischenden beiden Kommissionen und dem zuständigen Bun-destag. Das Parlamentsverfahren wurde in der kürzest-möglichen Zeit durchgezogen, obwohl die Vorlage von14 Einzelgesetzen nicht nur sehr umfangreich ist, son-dern diese auch weitreichende Wirkung entfalten. Wün-sche der Opposition nach längerer Beratungszeit, nachfrühzeitigen Anhörungen, damit daraus resultierende Er-kenntnisse überhaupt eine Chance haben, noch im Ge-setzesverfahren einbezogen zu werden, wiesen die Re-gierungsfraktionen mit Mehrheitsbeschlüssen ab.

Am Montag, den 6. Juni, beschloss das Kabinett dieVorlage zu den Gesetzen, die zu einem Gesamtpaket ge-schnürt wurden. Am Mittwoch, den 8. Juni, bekamen dieFachpolitiker vom Leiter der Ethikkommission, KlausTöpfer, in etwa 30 Minuten die Ergebnisse der Arbeitder Ethikkommission präsentiert. Kaum Zeit für wenigeFragen, geschweige denn zum Verarbeiten von Erkennt-nissen und Beseitigen von Bedenken. Danach fand eine

verkürzte Ausschusssitzung statt, dicht gefolgt von zweiAnhörungen zum Atom- und zum Erneuerbare-Ener-gien-Gesetz – dies alles geballt in zwölf Stunden, anstattin ausreichender Zeit verteilt über einen längeren Zeit-raum. Somit war es kaum möglich, wirklich aufmerksamund sachlich über die Gesetze zu diskutieren. Die Anhö-rungen müssen deshalb als reine „Showveranstaltungen“bezeichnet werden. Auch hier fehlte wieder die Zeit, re-sultierende Erkenntnis noch zu verwerten. Am Donners-tag, den 8. Juni, erreichen die Gesetze das Plenum in derersten Lesung. Bereits in der darauffolgenden Sitzungs-woche werden die Gesetze dann zur Abstimmung ge-stellt.

Nachdem die Vertreter der Länder noch Änderungenim Verfahren bei den Atomgesetzen bewirken konnten,kam es im parlamentarischen Verfahren zu keinen sub-stanziellen inhaltlichen Veränderungen. Der Gestal-tungsanspruch des Bundestages konzentrierte sich aus-schließlich auf die Oppositionsfraktionen, die interndiskutierten und Änderungsvorschläge formulierten.Wenn aber die Regierungsfraktionen – egal welche Par-teien sie gerade bilden – ihren Gestaltungsanspruch, ihreeigentliche Entscheidungskompetenz aufgeben, halte ichdies für äußerst bedenklich.

Der künstlich erzeugte Zeitdruck und die Kompetenz-verlagerung von den Abgeordneten auf unlegitimierteKommissionen führen zur Abwertung und Missachtungdes demokratischen parlamentarischen Verfahrens. Ge-wählte demokratische Abgeordnete können und dürfenein solches Vorgehen nicht zulassen. Ich jedenfalls kanndies nicht akzeptieren und möchte mit einer Zustimmungdas fragwürdige Vorgehen im Nachhinein nicht legiti-mieren.

Heidrun Dittrich (DIE LINKE): Ich stimme dage-gen, weil es noch nie eine sichere Endlagerung des ato-maren Mülls gab und auch nicht gibt. Jeder weitere Tagerhöht das ungelöste Strahlenproblem. Die Bürgerinitia-tive in Lüchow-Dannenberg wird weiter protestieren,und ich werde sie unterstützen. Auch gegen den nächs-ten Castortransport werden wir protestieren.

Die nukleare Katastrophe von Fukushima mahnt uns,die Atomkraftwerke abzuschalten, zurückzubauen, undzwar unumkehrbar! Deshalb müssen ein Verbot derAtomkraftwerke und ein endgültiger Ausstieg insGrundgesetz. Bis 2022 bedeutet, weitere elf Jahre dieAngst vor einer atomaren Katastrophe zu haben. Ich be-kenne, dass ich Angst vor einem Atomunfall habe, dassich Angst habe um meine Kinder und meine Freunde.Sie werden uns im Bundestag fragen: Warum habt ihrdas nicht verhindert?

Die Menschen dürfen nicht dem Profitinteresse dervier Energiekonzerne geopfert werden. Jeder Tag län-gere Laufzeit eines Atomkraftwerks erhöht die Wahr-scheinlichkeit einer atomaren Katastrophe. Verantwor-tung bedeutet, nicht für die Profite verantwortlich zusein, sondern für die Gesundheit der Bevölkerung undzukünftiger Generationen.

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Nicole Gohlke (DIE LINKE): Ich stimme gegen dasDreizehnte Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes,denn allen Mitgliedern des Bundestages ist bewusst,dass ein Reaktorunglück nicht völlig ausgeschlossenwerden kann. Allen ist bewusst, dass die Risiken für dieGesundheit und das Leben von Millionen von Menschenim Falle eines Unglücks unkalkulierbar sind. Ich halte esdeshalb für unverantwortlich, den Ausstieg aus derAtomenergie über ein Jahrzehnt zu verschleppen undHintertüren offenzuhalten. Das Votum der Menschen inDeutschland ist eindeutig. Sie wollen das Ende derAtomkraft. Die Politik hat kein Recht, sich darüber hin-wegzusetzen.

Deshalb stimme ich dem Dreizehnten Gesetz zur Än-derung des Atomgesetzes nicht zu.

Annette Groth (DIE LINKE): Ich stimme dagegen,weil ich gemeinsam mit der Mehrheit der Menschen inDeutschland für einen sofortigen Atomausstieg bin undnicht verantworten kann, dass Phillipsburg 2 noch bis2019 und Neckarwestheim 2 bis 2022 weiterbetriebenwerden sollen und damit die Gefahr eines atomaren Un-falls für die Menschen in Baden-Württemberg für wei-tere elf Jahre gesetzlich festgeschrieben wird. SpätestensFukushima hat gezeigt, dass auch in hochtechnisiertenLändern ein Atomunfall jederzeit droht. Auch wird wei-terhin jedes Jahr zusätzlicher hochradioaktiver Atom-müll produziert, der eine unverantwortliche Hypothekfür die nächsten Generationen darstellt. Dies ist mit einerverantwortbaren Energiepolitik nicht zu vertreten. Des-halb stimme ich dem Entwurf eines Dreizehnten Geset-zes zur Änderung des Atomgesetzes nicht zu.

Ernst Hinsken (CDU/CSU): Ich stimme unter Hint-anstellung größter nachfolgender Bedenken dem Gesetzzur Änderung des Atomgesetzes, Drucksache 17/6070,zu:

Erstens. Obwohl ich einen schnellstmöglichen unum-kehrbaren Ausstieg aus der Kernenergie will, bin ich ge-gen das feste Ausstiegsdatum 2022, weil ich befürchte,dass der Umbau gegebenenfalls länger dauert und dannStrom aus Kernkraftwerken benachbarter Länder wieTschechien oder Frankreich bezogen werden muss.

Zweitens. Zudem liegen keine genauen Angaben da-rüber vor, was der Umstieg in der EnergieversorgungVerbraucher, Unternehmen und Steuerzahler kostet. Da-bei darf insbesondere die Wettbewerbsfähigkeit derdeutschen Wirtschaft nicht durch stark steigende Strom-preise gefährdet werden. Bei Versorgungsproblemenmuss Sorge getragen werden, dass eine politische Neu-bewertung der nationalen Stromversorgung erfolgenwird.

Drittens. Darüber hinaus betrachte ich es als Fehler,die Endlagersuche erneut aufzunehmen. In Gorlebensind in den zurückliegenden 35 Jahren bereits 1,5 Mil-liarden Euro für Erkundungen und Überprüfungen inves-tiert worden. Es ist nicht nachvollziehbar, an anderenOrten jetzt nochmals von vorn zu beginnen

Viertens. Die Kernenergiefrage muss meiner Meinungnach im internationalen, zumindest im europäischen undnicht nur im nationalen Rahmen gelöst werden. Schließ-lich sind rund um Deutschland 37 Kernkraftwerke inPlanung oder im Bau. Falls dort etwas passieren sollte,macht die Strahlenbelastung nicht an unseren Grenzenhalt.

Die Bundesregierung ist aufgefordert, ihre diesbezüg-lichen Aktivitäten aufrechtzuhalten und alle Möglichkei-ten der Einflussnahme zum Ausstieg aus der Kernener-gie auch in anderen Ländern zu nutzen.

Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Ich habe grund-sätzlich Verständnis dafür, dass die SPD-Bundestags-fraktion ihre Unterstützung zum Gesetzentwurf derBundesregierung zur Änderung des Atomgesetzes signa-lisiert hat. Nach diesem Gesetz würde das Atomkraft-werk, AKW, Grafenrheinfeld in meinem Wahlkreis je-doch erst im Jahr 2015 abgeschaltet. Nach demAtomkonsens von Rot-Grün wäre das AKW Grafen-rheinfeld immerhin ein Jahr früher, nämlich 2014, vomNetz genommen worden.

Ich kann dem Gesetzentwurf nicht zustimmen, dennaufgrund der Vorfälle in den Jahren 2010 und 2011 ist esnicht länger verantwortbar, das AKW Grafenrheinfeldweiter zu betreiben. Die bayerische Atomaufsicht hat imAnschluss an einen bei der Revision 2010 festgestelltenmöglichen Riss an einem Rohr im Primärkreislauf desAKW Grafenrheinfeld nicht ordnungsgemäß gehandelt.Es ist unverantwortlich, dass die bayerische Atomauf-sicht aufgrund ihrer oberflächlichen und dilettantischenVorgehensweise weiterhin die Verantwortung für dasAKW Grafenrheinfeld hat.

Deshalb muss Grafenrheinfeld am besten sofort, aberauf jeden Fall so bald wie möglich vom Netz. Nach vor-liegenden seriösen alternativen Berechnungen müsste esmöglich sein, Grafenrheinfeld sofort abzuschalten. EinAbwarten bis Ende 2015 ist der Bevölkerung unter die-sen Umständen jedenfalls nicht zuzumuten.

Bei der Revision 2010 wurde festgestellt, dass imAKW Grafenrheinfeld möglicherweise ein Riss an ei-nem Rohr im Primärkreislauf vorhanden ist. Dieser Vor-fall sollte erst bei der Revision 2012 erneut überprüftwerden. Der Vorschlag kam von Eon, wurde von der be-gutachtenden Stelle TÜV Süd befürwortet und die baye-rische Atomaufsicht hat sich dem so angeschlossen.

Das Bundesumweltministerium, BMU, wurde überdiesen Sachverhalt nicht informiert, weil die oben ge-nannten Beteiligten der Meinung waren, der Befund seikein meldepflichtiges Ereignis. Das BMU erfuhr beiFachgesprächen von dem Vorfall, stufte diesen eindeutigals meldepflichtiges Ereignis ein und bestand auf einerordnungsgemäßen Meldung, die aus Sicht des Ministe-riums sofort nach der Entdeckung notwendig gewesenwäre, siehe auch weiter unten. Die Meldung erging dannein halbes Jahr nach Feststellung des Risses im Dezem-ber 2010 an das BMU. Es wurde daraufhin festgelegt,dass bereits bei der Revision 2011 und nicht erst 2012

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das Rohr erneut zu untersuchen und gegebenenfalls aus-zutauschen ist.

Im Bezug auf den Schutz der Bevölkerung hätte diebayerische Atomaufsicht bereits im Juni 2010 eine Mel-dung an das BMU machen müssen. Die Behörde bestehtaber noch heute darauf, dass sie dazu nicht verpflichtetgewesen sei und auch künftig so weiter verfahren will.Der zuständige bayerische Minister Söder erklärte aufeine Anfrage aus dem Landtag, ein eventueller Austrittvon Radioaktivität an diesem Rohr wäre beherrschbargewesen. Wie mir das BMU auf meine Nachfrage er-klärte, heißt beherrschbar, dass laut § 49 Strahlenschutz-verordnung in der Umgebung des AKW GrafenrheinfeldRadioaktivität austreten kann mit einer Körperdosis vonbis zu 50 Millisievert oder einer Organdosisbelastung bis150 Millisievert.

Minister Söder und die bayerische Atomaufsicht wa-ren bereit, die Gesundheit der Bevölkerung zu gefähr-den, um dem Kraftwerksbetreiber Unannehmlichkeitenzu ersparen. Diese Haltung kann in Bezug auf eine se-riöse Gefahrenabwehr unter keinen Umständen akzep-tiert werden. Man stelle sich vor, die Polizei würde beider Entschärfung von Bomben aus dem Zweiten Welt-krieg auf Evakuierungen verzichten und dies damit be-gründen, es sei ja bisher nichts Gravierendes passiert.

Mein scharfes Urteil über die Arbeitsweise der baye-rischen Atomaufsicht habe ich mir nicht aus den Fingerngesogen. Es beruht auf den Widersprüchlichkeiten undunterschiedlichen Bewertungen des Staatsministeriumsfür Umwelt und Gesundheit, StMUG, und des Bundes-ministeriums für Umwelt.

Die Widersprüchlichkeiten der Antworten des Bayeri-schen Staatsministeriums für Umwelt und Gesundheit,StMUG, und des Bundesministeriums für Umwelt,BMU, in Bezug auf den ungeklärten Befund an einerRohrleitung des AKW Grafenrheinfeld während der Re-vision 2010 zeige ich im Folgenden auf:

Bayerisches Staatsministerium für Umwelt undGesundheit, StMUG

Quellen: Bayerischer Landtag/16. WP – 16/8066,8067, 806B, 8069, 8070, 8072. Fragen der Abgeordne-ten Ludwig Hartmann, Simone Tolle, BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN.

Bayerischer Landtag/16. WP – 16/8206. SchriftlicheAnfragen des SPD-Abgeordneten Ludwig Wörner.

Frage:

Wann wurde das Bundesumweltministerium zumersten Mal durch die Bayerische Atomaufsicht überden Befund informiert?

Antwort:

Es bestand keine Berichtspflicht gegenüber demBMU, da es sich bei der Ultraschallanzeige nichtum ein meldepflichtiges Ereignis gemäß der Atom-

rechtlichen Sicherheitsbeauftragten- und Meldever-ordnung des Bundes handelt …

Frage:

Welche Argumente begründeten die Entscheidung,dass der Befund nicht unter die Kriterien des Punk-tes 2.2. (Kriterium N 2.2.1 Zitat: „Schäden, insbe-sondere Risse, Verformungen oder Unterschreitun-gen von Sollwandstärken …“) der Anlage 1 derAtSM (Atomrechtlichen Sicherheitsbeauftragtenund Meldeverordnung) fällt?

Antwort:

Der Befund an der Volumenausgleichsleitung desKKW Grafenrheinfeld war nicht meldepflichtig,weil die Voraussetzungen der AtomrechtlichenSicherheitsbeauftragten und Meldeverordnung(AtSMV) nicht gegeben sind. Das gilt bis heute.Das Kriterium N 2.2.1 der Anlage 1 der AtSMV istnichterfüllt, weil ein Riss nicht festgestellt wurde…

Frage:

Wieso hat es die Bayerische Atomaufsicht zugelas-sen, dass der Reaktor des Kernkraftwerkes Grafen-rheinfeld am Ende der Revision im Juni 2010 wie-der hochgefahren werden durfte, obwohl – wie einVertreter der Staatsregierung in der Sitzung des Um-weltausschusses am 27. Januar 2011 einräumte – dieUrsachen der veränderten Ultraschallanzeige bisheute nicht bekannt ist?

Antwort:

Das Staatsministerium für Umwelt und Gesundheithat die Ultraschallanzeige an der Volumenaus-gleichsleitung im Bereich des Thermoschutzrohresdes Kernkraftwerkes Grafenrheinfeld noch bei An-lagenstillstand zusammen mit dem TÜV Süd aufder Grundlage materialwissenschaftlicher Berech-nungen eingehend geprüft und bewertet. Das Er-gebnis des TÜV Süd vom 15. Juni 2010 war ein-deutig: Die Integrität der Rohrleitung ist vollgewährleistet, der Befund ist damit sicherheitstech-nisch unbedenklich.

Der TÜV Süd hat bei seinen Bewertungen alle ge-mäß Stand von Wissenschaft und Technik zu be-trachtenden Ursachen berücksichtigt. Auch dieReaktorsicherheitskommission (RSK) und ihr Aus-schuss „Druckführende Komponenten und Werk-stoffe“ haben sich mit der Frage der Ursachen be-fasst. Das Ergebnis von TÜV Süd und RSK wareindeutig: Keine der denkbaren Ursachen stellte dieSicherheit der Anlage in Frage.

Frage:

Wer traf wann und aufgrund welcher Erkenntnissedie Entscheidung, obwohl weitergehende Untersu-chungen angeblich den Verdacht auf einen Rissnicht erhärten konnten, dass der Befund am 16. De-zember doch noch als meldepflichtiges Ereignis an-gezeigt wird?

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Antwort:

Mit der eindeutigen Stellungnahme des TÜV Südvom 15.06.2010 wurde die sicherheitstechnischeUnbedenklichkeit bestätigt. Der Befund war imJuni 2010 nicht meldepflichtig, weil die Vorausset-zungen der Atomrechtlichen Sicherheitsbeauftrag-ten- und Meldeverordnung (AtSMV) des Bundesnicht erfüllt sind. Das gilt bis heute. Die RSK hateinhellig die Integrität des Rohrstücks – wie zuvorbereits der TÜV Süd – bestätigt …

Frage:

Warum wird als Ereignisdatum der 16.12.2010 um17 Uhr gemeldet?

Antwort:

Aufgrund der Befassung der RSK am 16.12.2010hat der Betreiber „rein vorsorglich“ und „vorläu-fig“, also ohne Anerkennung einer Rechtspflicht,eine formelle Meldung erstattet. Im vorliegendenFall handelt es sich um eine Meldung der Meldeka-tegorie N (Normalmeldung) der INES-Stufe „0“(keine oder sehr geringe sicherheitstechnische Be-deutung).

Frage:

Warum akzeptiert die Bayerische Atomaufsicht die-ses Ereignisdatum, obwohl offensichtlich der Be-fund im Juni 2010 festgestellt wurde?

Antwort:

Der Befund ist nicht meldepflichtig gemäß derAtomrechtlichen Sicherheitsbeauftragten- und Mel-deverordnung. Das StMUG hat die vorläufige Mel-dung des Betreibers entgegengenommen, auchwenn es sich nach Überzeugung des StMUG nichtum ein meldepflichtiges Ereignis handelt …

Frage:

Aufgrund welcher Erkenntnisse kann die Bayeri-sche Atomaufsicht jeglichen Zusammenhang desBefundes mit dem Lastfolgebetrieb ausschließen?

Antwort:

Das KKW Grafenrheinfeld ist für den Lastfolgebe-trieb ausgelegt. In die sicherheitstechnischen Über-prüfungen ist der Lastfolgebetrieb mit einbezogenworden. Eindeutiges Ergebnis: Die Integrität derRohrleitung ist nicht infrage gestellt …

Bundesministerium für Umwelt, BMU

Quelle: Deutscher Bundestag/17. WP – 17/5734. Fra-gen der SPD-Abgeordneten Frank Hofmann, MarianneSchieder, Martin Burkert, Dr. Matthias Miersch,Susanne Kastner.

Frage:

Welche Ergebnisse hat die aktuelle Revision imKernkraftwerk Grafenrheinfeld, insbesondere hin-sichtlich des möglicherweise schadhaften Thermo-schutzrohrs, ergeben?

Antwort:

Im Kernkraftwerk Grafenrheinfeld wurde währendder Revision im Sommer 2010 bei einer Ultra-schalluntersuchung an der Volumenausgleichslei-tung ein im Sinne des kerntechnischen Regelwerksbewertungspflichtiger Befund festgestellt. Auf-grund dieser Untersuchung war ein Riss von bis zu2,7 mm auf einer Länge von 33 cm (30 Prozent desUmfangs) anzunehmen.

Dem Betreiber des Kernkraftwerkes wurde aufer-legt, bis März 2011 die Schadensursache und denSchadensmechanismus plausibel und nachvollzieh-bar darzulegen und den spezifikationsgerechten Zu-stand herzustellen.

Am 6. April 2011 wurde in der 109. Sitzung desAusschusses der Reaktor-Sicherheitskommission(RSK) „Druckführende Komponenten und Werk-stoffe“ in einem Bericht des Betreibers mitgeteilt,dass sich die Messergebnisse und die Befundlagenach erneuter Prüfung mittels Ultraschall seit derletzten Messung in der Revision 2010 nicht verän-dert haben. Die Schadensursache konnte nicht ge-klärt werden, so dass nunmehr ein Heraustrennendes befundbehafteten Bereichs zu weiteren Unter-suchungen erforderlich wurde.

Frage:

Ist es richtig, dass eine Risswachstumsberechnungnach dem Stand von Wissenschaft und Technik be-lastbar nur durchgeführt werden kann, wenn derSchädigungsmechanismus bekannt ist, und falls ja,um welche Art von Schadensmechanismus handeltes sich?

Antwort:

Zur Durchführung einer Risswachstumsberechnungist die Kenntnis aller auf die Komponente wirken-den Einwirkungen, deren Häufigkeit, Art, Größe,Temperatur, Medium, Werkstoff, Fertigung, Maß-abweichungen sowie die Kenntnis über den zu un-terstellenden Schädigungsmechanismus erforder-lich. Die Schadensursache ist bisher nicht bekannt.Nach dem inzwischen erfolgten Heraustrennen desbefundbehafteten Bereichs zu weiteren Untersu-chungen während der aktuellen Revision und nachden zerstörenden Materialuntersuchungen in dafürgeeigneten heißen Zellen ist Mitte 2011 mit erstenErgebnissen bezüglich des Schädigungsmechanis-mus zu rechnen.

Frage:

Welche Unterlagen lagen der Reaktor-Sicherheits-kommission in der Sitzung am 16. Dezember 2010zur Beurteilung des Schadensmechanismus in derVolumenausgleichsleitung vor, und wurde denRSK-Mitgliedern insbesondere das einschlägigeSchreiben des TÜV Bayern zur Verfügung gestellt?

Antwort:

In der RSK-Sitzung am 16. Dezember 2010 hat derVorsitzende des RSK-Ausschusses „Druckfüh-

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rende Komponenten und Werkstoffe“ unter dem Ta-gesordnungspunkt Verschiedenes über die voraus-gegangenen Beratungen in diesem Ausschussberichtet. Die Gutachten des TÜV Bayern lagendem RSK-Ausschuss vor. Die RSK hat keine Beur-teilung des Schadensmechanismus vorgenommen,sondern es wurde ein Meinungsbild darüber abge-fragt, ob ein sicherer Betrieb der Anlage bis zur an-stehenden Revision im März 2011 mit der darge-stellten Befundlage gewährleistet sein wird. Hierzuempfahl die RSK, im Zuge der nächsten anstehen-den Revision im Kernkraftwerk GrafenrheinfeldEnde März 2011 den in Frage stehenden Quer-schnitt erneut gezielt zerstörungsfrei zu prüfen unddie Schadensursache zu ermitteln.

Frage:

Ist das Ereignis im Atomkraftwerk Grafenrheinfeldvom Juni 2010 ein nach der Meldeverordnung mel-depflichtiges Ereignis oder wurde es erst durch dieBeratung in der Reaktor-Sicherheitskommissionmeldepflichtig?

Antwort:

Der Befund an der Volumenausgleichsleitung, derwährend der Revision 2010 festgestellt wurde, warnach Auffassung des BMU gemäß Meldeverord-nung mit einer vorläufigen Meldung (Ereignisursa-che ist noch unbekannt) meldepflichtig. Nach denBeratungen in der Reaktorsicherheitskommission

– 16.12.2010 –

hat der Betreiber eine Meldung abgegeben.

Frage:

Handelt es sich bei der Befundanzeige am Rohr imPrimärkreislauf des Atomkraftwerks Grafenrhein-feld um eine registrierpflichtige oder nicht regis-trierpflichtige Anzeige, und wie lang ist dieser Be-fund bzw. erstreckt er sich über den gesamtenUmfang des Rohres?

Antwort:

Im Rahmen der wiederkehrenden Prüfung wurde inder Revision 2010 der Verrundungsbereich desThermoschutzrohres am Anschluss der Volumen-ausgleichsleitung an die Hauptkühlmittelleitung ei-ner mechanisierten Ultraschallprüfung unterzogen.Bei der Prüfung wurde eine bewertungspflichtigeAnzeige festgestellt. Die Anzeige befindet sich amoberen Ende der Verrundung … Die Anzeige istüber ihre Echohöhe registrierpflichtig und wird auf-grund ihrer Ausdehnung bewertungspflichtig.

Frage:

Wie ist die Steigerung des Befundes an einem Rohrim Primärkreislauf des Kernkraftwerks Grafen-rheinfeld von 2001 bis 2010 mit den vom TÜVBayern durchgeführten Berechnungen, insbeson-

dere im Hinblick auf die in der Anlage tatsächlichstattgefundenen Lastwechsel, erklärbar?

Antwort:

In der Revision 2010 wurde im Rahmen der wieder-kehrenden zerstörungsfreien Prüfung im Vergleichmit der Prüfung im Jahr 2001 eine veränderte An-zeige, die als Befund zu bewerten ist, festgestellt.Mit den bisher dokumentierten Lastwechselzahlenist die Veränderung der Anzeige ohne Ermittlungder Schadenursache nicht erklärbar.

Frage:

Hat der TÜV Bayern bei seinen Risswachstumsbe-rechnungen die nach dem Stand von Wissenschaftund Technik zu unterstellenden Auslegungsstörfälleberücksichtigt, und wurde bei der Risswachstums-berechnung auch berücksichtigt, dass das Werk-stoffverhalten auch durch das Medium Kühlwassermit ca. 310 Grad Celsius beeinflusst wird?

Antwort:

Der TÜV Bayern hat bei seinen Risswachstumsbe-rechnungen die Auswertungen der tatsächlichenTemperaturschwankungen und die maximal maß-geblichen Belastungen durch Auslegungsstörfällesowie für Volllast und Flugzeugabsturz konservativ

– das heißt sicherheitsgerichtet –

berücksichtigt.

Andrej Hunko (DIE LINKE): Ich stimme aus folgen-den Gründen gegen diesen Gesetzentwurf der Bundesre-gierung:

Erstens. Die Verschiebung des Atomausstieges aufdas Jahr 2022 ist wissenschaftlich nicht begründbar. EinAtomausstieg wäre erheblich früher möglich, wie zahl-reiche Gutachten bestätigen. Es geht hierbei offensicht-lich darum, den Ausstieg für die vier großen Energie-konzerne rentabel zu machen.

Zweitens. Die Bundesregierung verzichtet darauf, dasVerbot der industriellen und militärischen Nutzung derAtomenergie ins Grundgesetz aufzunehmen und damiteine künftige Wiederaufnahme der Nutzung der Atom-energie zumindest erheblich zu erschweren. Damitkönnte – ähnlich wie beim von der SPD und Grünen ver-abschiedeten Atomgesetz aus dem Jahre 2001 – der Aus-stieg aus dem Ausstieg mit einfacher Mehrheit im Bun-destag beschlossen werden.

Drittens. Die Bundesregierung verzichtet auch darauf,internationale Initiativen zu starten, die auf einen welt-weiten Ausstieg aus der Atomenergie zielen. Insbeson-dere verzichtet sie darauf, auf die Auflösung und denAusstieg aus dem EURATOM-Vertrag hinzuarbeiten,der die milliardenschwere Förderung der Atomenergieüber die EU festschreibt. Atomare Strahlung macht abernicht an nationalen Grenzen halt.

All das ist aus meiner Sicht nicht verantwortbar; des-halb stimme ich gegen den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung.

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Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Der 11. März 2011 wird in die Geschichte derMenschheit eingehen. Nach dem verheerenden Erdbe-ben und Tsunami in Japan hat in dem AtomkraftwerkFukushima ein nuklearer Super-GAU stattgefunden.Dieses Ereignis hat die ganze Welt bewegt. Auch michhat dies tief betroffen gemacht. Wie ganz viele Men-schen war ich voller Traurigkeit und großer Sorge. Mitmeinen Gedanken bin ich bei den Menschen in Japan,wo die nukleare Katastrophe weiter anhält und Hundert-tausende Menschen noch Jahrzehnte von den tödlichenKonsequenzen betroffen sein werden.

Als der Atomreaktor in Tschernobyl 1986 explo-dierte, war ich gerade mal ein Jahr alt. Jetzt bin ich mitt-lerweile 26 Jahre alt, und während meines Lebens habensich zwei Super-GAUs ereignet. Das sogenannte Rest-risiko ist leider verdammt real. Die Wahnsinnstechnolo-gie Atomkraft ist nicht beherrschbar. Die Konsequenz25 Jahre nach Tschernobyl und im Jahr von Fukushimakann nur lauten: Atomkraft endgültig und so schnell wiemöglich abschalten!

Dafür habe ich mit Hunderttausenden Menschen inder Bundesrepublik Deutschland auf den Straßen de-monstriert: bei den Mahnwachen vor dem Kanzlerinnen-amt in Berlin, bei der Umzingelung des Atomkraftwer-kes Grohnde, bei der Großdemonstration in Hannover.

Der 28. Oktober 2010 – an dem hat die schwarz-gelbeKoalition die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerkedurch das Parlament gebracht – war für mich bisher derschwärzeste Tag als Bundestagsabgeordneter. Deswegenfreue ich mich ausdrücklich, dass nun mit dieser vorlie-genden Dreizehnten Novelle des Atomgesetzes, AtG, diesieben ältesten Schrottreaktoren und der PannenreaktorKrümmel abgeschaltet werden und die verheerendeschwarz-gelbe Laufzeitverlängerung zurückgenommenwird. Das ist ein großer Erfolg.

Diese Atomgesetz-Novelle der schwarz-gelben Bun-desregierung zieht meines Erachtens aber nicht alle not-wendigen Lehren und Konsequenzen aus dem katastro-phalen Super-GAU in Fukushima. Die letzten sechsAtomkraftwerke sollen erst in über zehn Jahren, am31. Dezember 2021 bzw. am 31. Dezember 2022, abge-schaltet werden. Nach Fukushima ist es aus meiner Sichtgeboten, so schnell wie nur irgendwie machbar aus dertödlichen Gefahr Atomkraft auszusteigen. Dass dieseLehre aus dem Super-GAU in Japan gezogen wurde,kann ich bei den festgelegten Laufzeiten nicht erkennen.Technisch und rechtlich wäre eine Abschaltung allerAtomkraftwerke in Deutschland schon deutlich vor 2022möglich. Deswegen werde ich mit aller Kraft mit denUmweltverbänden, der Antiatombewegung und vielenZehntausenden Bürgerinnen und Bürgern für einen deut-lich schnelleren Atomausstieg kämpfen.

Das Atomkraftwerk Grohnde in meiner Region, rund40 Kilometer von meinem Zuhause entfernt, soll nochmehr als zehn Jahre, bis zum 31. Dezember 2021, amNetz bleiben. Damit würde der Meiler insgesamt37 Jahre in Betrieb sein. Je länger ein Atomkraftwerkläuft, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit von Unfäl-len. Das AKW Grohnde ist mit 223 meldepflichtigen

Zwischenfällen seit Inbetriebnahme sehr störanfällig. Si-cherheitsverschärfungen für die am Netz bleibendenAKW sind nach der Dreizehnten AtG-Novelle nicht vor-gesehen. Nicht einmal die schwarz-gelben Sicherheits-aufweichungen aus dem Herbst 2010 sollen zurückge-nommen werden. § 7 d des Atomgesetzes führt weiterhinzu einer Absenkung des Sicherheitsstandards für Atom-kraftwerke. Dass es nach Fukushima weiterhin Rabattbei der Sicherheit für Atomkraftwerke gibt, ist für michvöllig unverständlich. Meine Fraktion klagt deswegengegen den § 7 d vor dem Bundesverfassungsgericht.

Bei der Bewertung der vorliegenden AtG-Novelle istzudem für mich die Endlagerung des nuklearen Müllseine entscheidende Frage. Hier gibt es bisher überhauptkeinen Fortschritt. Gemeinsam mit vielen Freundinnenund Freunden aus dem Wendland wehre ich mich seitvielen Jahren dagegen, dass in Gorleben weiter Faktengeschaffen werden und ein ungeeigneter Endlagerstand-ort zementiert wird. Aus diesem Grund habe ich auchseit vielen Jahren gegen die Castortransporte im Wend-land auf der Straße und der Schiene, auf Sitzblockadenund Demonstrationen friedlich und entschlossen protes-tiert. Der Salzstock Gorleben ist geologisch ungeeignet,politisch verbrannt und gehört endgültig aufgegeben.Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat 2010 das Mora-torium für eine Erkundung aufgehoben. Bundeskanzle-rin Angela Merkel und Norbert Röttgen haben am9. Juni 2011 in der Debatte zur Atom- und Energiepolitikangekündigt, „ergebnisoffen“ in Gorleben weiter erkun-den zu wollen. Das heißt übersetzt: Der Schwarzbau inGorleben soll einfach so weitergehen. Dagegen wehrensich zu Recht die Menschen im Wendland und TausendeAtomkraftgegner und -gegnerinnen. Absolut notwendigwäre stattdessen ein Baustopp in Gorleben, die Strei-chung der Enteignungsklausel, „Lex Bernstorff“, ausdem Atomgesetz und eine neue bundesweite ergebnisof-fene, vergleichende Endlagersuche mit umfangreicherBürgerbeteiligung nach den wissenschaftlichen Kriteriendes AK End. Gorleben kann genauso wenig Standort imVergleichsverfahren werden, wie die gescheitertenStandorte Asse und Morsleben solchen Kriterien stand-gehalten hätten. Gorleben soll leben, nicht strahlen.

Ich habe über die Entscheidung über mein Abstim-mungsverhalten zu der Dreizehnten AtG-Novelle sehrlange nachgedacht und persönlich stark mit mir gerun-gen. Der Beschluss der außerordentlichen Bundesdele-giertenkonferenz meiner Partei Bündnis 90/Die Grünen,der AtG-Novelle trotz substanzieller Kritik zuzustim-men, war für mich dabei eine sehr entscheidende Grund-lage. Trotzdem ist das eine äußerst schwierige Situationund stellt für mich ein Dilemma dar. Ich kritisiere wei-terhin scharf, dass die schwarz-gelbe Bundesregierungnach dem Super-GAU in Fukushima nicht den schnellst-möglichen Atomausstieg vollziehen will, es keine Ver-besserungen bei der Sicherheit gibt, in Gorleben weiterschwarz gebaut wird und die Urananreicherungsanlagein Gronau und die Brennelementeproduktion in Lingenweiter betrieben werden sollen. Doch auch wenn dasAtomgesetz bei diesen Punkten weiter völlig unzurei-chend bleibt, muss ich mich zu der konkret vorliegendenDreizehnten AtG-Novelle verhalten. Diese sieht die Ab-

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schaltung von acht alten Schrottreaktoren vor und nimmtdie Laufzeitverlängerung aus dem Herbst 2010 zurück.Für diese deutliche Verbesserung des Status quo werdeich insgesamt nach einer langen, intensiven Gesamtab-wägung mit Ja stimmen. Das ist ein wichtiger Schritt aufdem Weg zum Atomausstieg, der Kampf geht jedoch un-vermindert weiter: gegen Castortransporte und ein End-lager Gorleben, für massive Sicherheitsverschärfungenund für einen schnellen Atomausstieg, nicht nur inDeutschland, sondern weltweit.

Harald Koch (DIE LINKE): Ich stimme dagegen,weil man beim Atomausstieg keine Hintertüren geöffnetlassen darf und er eben nicht erst 2022, sondern schon2014 erfolgen muss und auch kann. Jeder zusätzlicheTag setzt die Menschen unnötigen Risiken aus; dieAmortisation für die Energieriesen darf nicht länger imVordergrund stehen. Um den Atomausstieg unumkehr-bar zu machen, fordere ich eine Aufnahme des Verbotsder Atomstromnutzung ins Grundgesetz. Die Ener-giewende muss sozial ausgewogen sein; dazu dienenStrompreisregulierung und Stromsozialtarife.

Deshalb stimme ich dem Dreizehnten Gesetz zur Än-derung des Atomgesetzes nicht zu.

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist dieAtomkatastrophe in Fukushima, die die Wende in derAtompolitik der schwarz-gelben Koalition herbeigeführthat. Deutschland beginnt heute mit dem endgültigenAusstieg aus dieser unbeherrschbaren Risikotechnolo-gie. Dieses Signal ist auch international von großer Be-deutung. Es ist ein historischer Sieg der vielen Men-schen in der Anti-AKW-Bewegung, der Umweltverbän-de und von Bündnis 90/Die Grünen. Dieses Signal zuverstärken, ist meine Absicht. Aus diesem Grund stimmeich für den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Än-derung des Atomgesetzes.

Dennoch fällt diese Entscheidung nicht leichten Her-zens. Denn der vorgelegte Plan ist nicht der schnellst-mögliche Ausstieg, sondern ein Kompromiss auf demWeg dahin. Ein Ausstiegsdatum zum Jahr 2017 ist mei-ner Überzeugung nach möglich und hätte technischdurchgesetzt werden können. Meine Positionen, unteranderem zu Fragen der Sicherheit, zu den Hermesbürg-schaften, zu Gorleben oder zu Gronau, zur Verankerungim Grundgesetz, sind nicht im Gesetz aufgegriffen.Doch die vielen persönlichen Debatten, auch in der grü-nen Partei, zeigen, dass diesem Etappensieg im Rahmendes Atomgesetzes zugestimmt werden kann.

Dem Ausstieg auf der einen Seite muss jetzt der Um-stieg auf die erneuerbaren Energien gegenüberstehen.Doch das Energiepaket der Bundesregierung überzeugtin weiten Teilen ganz und gar nicht. Dies ist fahrlässigund verantwortungslos. Daher werde ich der Überarbei-tung der Energiegesetze nicht zustimmen. Hier geht derKampf weiter.

Die Geschichte der Atompolitik in Deutschland istnicht zu Ende. Sie vollzieht sich aber jetzt unter andereVorzeichen. Diese Zäsur ist auch international von größ-ter Bedeutung. Das ist mir sehr wichtig.

In Frankreich, den Niederlanden, Polen, Spanien,Australien und vielen anderen Ländern wird die heutigeEntscheidung des Bundestages als eine historische Ent-scheidung mit enormer Signalwirkung wahrgenommen.Viele Menschen dort, die in den Bewegungen arbeiten,geben uns die Rückmeldung, dass es sie in ihrer Arbeitunterstützen würde, wenn ein breiter Konsens zwischenallen Parteien in Deutschland für den Ausstieg besteht.

Leider wird in der Debatte über Atomkraft und dieEndlagerung oft vergessen, wo die Büchse der Pandorageöffnet wird. Schon der Abbau von Uran geschieht un-ter Missachtung von Menschenrechten, mit tödlicherGefährdung für die Gesundheit und unter extremer Be-lastung der Natur. Die ökologischen und ökonomischenKosten dafür werden anderen Ländern, insbesondere in-digenen Völkern, aufgebürdet. Schon beim Uranabbauentlarvt sich das Märchen von der sauberen EnergieAtomkraft als Lüge. Damit muss Schluss sein.

Der Kampf geht weiter. Jetzt muss der Atomausstieginternational werden. Mit dem Umstieg auf erneuerbareEnergien muss gezeigt werden, dass wir Alternativen ha-ben.

Jutta Krellmann (DIE LINKE): Ich stimme dage-gen, weil ein Atomausstieg wesentlich schneller möglichund nötig ist, die Bundesregierung aber die vorgelegtenAusstiegsszenarien mit früheren Zeitpunkten nicht zurKenntnis nimmt. Die Linke fordert den Atomausstieg bisEnde 2014. Deshalb stimme ich dem Dreizehnten Gesetzzur Änderung des Atomgesetzes nicht zu.

Hilde Mattheis (SPD): Der von der Bundesregierungund den Regierungsfraktionen vorgelegte Gesetzentwurfzur Stilllegung von Atomkraftwerken in Deutschland istunzureichend. Dem Gesetzentwurf kann ich nur deshalbzustimmen, weil die Fraktion der SPD zeitgleich einenAntrag einbringt, in dem die Unzulänglichkeiten derBundesregierung benannt werden und der eine Perspek-tive für einen weiter gehenden Atomausstieg benennt.

Das Dreizehnte Änderungsgesetz zum Atomgesetzsieht vor, dass ein Großteil der Siedewasserreaktoren,SWR, in Deutschland mit sofortiger Wirkung vom Netzgehen soll. Nur zwei der risikoreichen Reaktoren sollennach dem Willen der Bundesregierung bis Ende 2017bzw. Ende 2021 am Netz bleiben: die Meiler Gundrem-mingen B und C.

Von Siedewasserreaktoren geht unbestritten ein nochhöheres Sicherheitsrisiko aus als von Druckwasserreak-toren. Sie haben nur einen Hauptkreislauf; der Dampfgelangt von den Brennelementen unmittelbar zum Gene-rator im Maschinenhaus. Dabei wird eine stärkere Ra-dioaktivität freigesetzt als bei Druckwasserreaktoren.Auch die Abklingbecken der Siedewasserreaktoren sinddeutlich ungeschützter als in Druckwasserreaktoren, dasie sich außerhalb des Reaktorsicherheitsbehälters befin-den. Bei einer Explosion lägen sie ungekühlt völlig frei,wie das beim Reaktor 4 in Fukushima passiert ist.

Es wäre geboten, alle Siedewasserreaktoren inDeutschland abzuschalten. Stattdessen sollen sie nach

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den Plänen der Bundesregierung noch bis 2017 bzw.2021 und damit bis zu sechs Jahre länger laufen als imJahr 2001 bereits beschlossen. Das ist unverantwortlichund nicht nachvollziehbar. Deshalb plädiere ich dafür,beide Reaktoren in Gundremmingen sofort vom Netz zunehmen.

Meine Fraktion macht in ihrem Antrag „Die Ener-giewende zukunftsfähig gestalten“ – Drucksache 17/6292 –deutlich, dass eine Beschleunigung des Atomausstiegsnötig und möglich ist. Die Ethik-Kommission hat dazuden Vorschlag eines jährlichen Monitorings vorgelegt.Ich bin überzeugt: Nur eine Energieversorgung, bei dererneuerbare Energien dominieren, stellt eine wirklicheEnergiewende dar. Deshalb ist die Maxime der Bundes-regierung, sich auf den Maximallaufzeiten auszuruhen,falsch. Stattdessen ist jährlich zu prüfen, inwieweit dienoch laufenden Atomkraftwerke überhaupt zur Versor-gung erforderlieh sind, und ob der Atomausstieg be-schleunigt werden kann. Die Abschaltung der ReaktorenGundremmingen B und C muss angesichts des von ihnenausgehenden Sicherheitsrisikos dabei oberste Prioritäthaben. Dafür werde ich mich weiterhin einsetzen.

Jenseits des verantwortungslosen Umgangs der Bun-desregierung mit den Bewohnerinnen und Bewohnernbin ich der Überzeugung, dass die Stilllegung alter Mei-ler und die Rücknahme der Laufzeitverlängerung in ei-nem ersten Schritt notwendig sind.

Dorothee Menzner (DIE LINKE): Ich stimme dage-gen, weil in meiner Region in Niedersachsen schon jetztTausende Tonnen hochradioaktiven Atommülls lagern.Die Asse verseucht die Umwelt, das Endlager Morsle-ben droht einzustürzen. Der Salzstock Gorleben und derSchacht Konrad sind völlig ungeeignet zur sicheren La-gerung von Atommüll. Jährliche Atommülltransportedurch Niedersachsen machen ein normales Leben na-hezu unmöglich. Daher muss die Produktion von weite-rem Atommüll schnellstmöglich beendet werden. MitVerabschiedung der vorliegenden Gesetzesnovelle wirdhingegen die Grundlage für weitere Tausende TonnenAtommüll geschaffen.

Deshalb stimme ich dem Dreizehnten Gesetz zur Än-derung des Atomgesetzes nicht zu.

Cornelia Möhring (DIE LINKE): Ich stimme gegendie Gesetzesnovelle der Bundesregierung zum Atomge-setz, weil sie in der Praxis keine Laufzeitverkürzung derAtomkraftwerke beinhaltet, sondern vielmehr eine ge-setzliche Laufzeitgarantie bedeutet, weil kein unumkehr-barer Ausstieg aus der Atomkraft stattfindet und dieBundesregierung die Bevölkerung nicht sofort vor denunkontrollierbaren Gefahren atomarer Strahlung schützt,wie es die Linke fordert.

Das Dreizehnte Gesetz zur Änderung des Atomgeset-zes zieht keine ausreichenden Schlussfolgerungen ausder Katastrophe von Fukushima, und deshalb stimme ichihm nicht zu.

Yvonne Ploetz (DIE LINKE): Ich stimme dagegen,weil der vorliegende Gesetzentwurf, der den Ausstiegaus der Atomenergie erst im Jahre 2022 vorsieht, eineunverantwortliche Verlängerung des atomaren Restrisi-kos um mindestens weitere elf Jahre darstellt. Offen-sichtlich haben alle Parteien außer der Linken das Risikoder Kernenergie für Mensch und Umwelt immer nochnicht ausreichend begriffen – und das trotz der verhee-renden Katastrophe in Fukushima. Als saarländischeAbgeordnete ist mir die Gefahr, die von der Atomener-gie ausgeht, ständig präsent, da sich das Saarland in di-rekter Umgebung des französischen Meilers Cattenombefindet. Die Befürchtungen teilen mit mir unzähligeSaarländerinnnen und Saarländer. Der Widerstand dergrenzübergreifenden Bürgerinitiative des DreiländerecksSaarLorLux „Cattenom non merci“ wird so lange weitergeführt, bis das letzte Atomkraftwerk abgeschaltet ist.Nicht die Ankündigung des Ausstieges, sondern nur dieZahl der endgültig abgeschalteten AKW zählt.

Der Gesetzentwurf ist zudem kritikwürdig, da der an-geblich festgeschriebene Ausstieg nicht wie bei einerGrundgesetzverankerung unumkehrbar ist, sondern durchjede neue Regierungsmehrheit zurückgenommen werdenkann. Es liegen mindestens drei Bundestagswahlen zwi-schen der heutigen Entscheidung und dem Jahr 2022,dem heute noch anvisierten Ausstiegsjahr. Eine Kritik desGesetzes ist mit anderen Worten keine radikale Position,sondern eine Haltung der Vernunft. Ich stimme deshalbdem Dreizehnten Gesetz zur Änderung des Atomgesetzesnicht zu.

Frank Schäffler (FDP): Die Änderung des Atomge-setzes, über die hier abgestimmt wird, soll den Atomaus-stieg bewirken. Sie ist das Herzstück der sogenanntenEnergiewende, die uns seit dem bedauerlichen Unglückin Fukushima verordnet worden ist. Dieses Gesetzge-bungsvorhaben ist aus mehreren Gründen kritikwürdig.

Ein Grund sollte uns alle in der Ablehnung der Ener-giewende einen. Wir verordnen Deutschland im europäi-schen Alleingang eine vollständige Reorganisation sei-ner Energieerzeugungsbranche. Das ist mit enormenKosten verbunden. Es sind viele Milliarden Euro für In-vestitionen notwendig, um die in Deutschland heute ver-brauchte Energie morgen auf andere Art und Weise pro-duzieren zu können. Wir zwingen die Energieerzeuger,für sich ein anderes Geschäftsmodell zu entdecken. Wirzwingen viele Millionen Menschen zur Umstellung ihresVerhaltens beim Konsum von Energie. Wir greifen tiefin die Eigentumsrechte der Unternehmen ein, indem wirderen Investitionen mit einem Federstrich entwerten.Um die Überlandleitungen zu bauen, werden viele Land-besitzer enteignet werden müssen. Durch die umfangrei-chere Einspeisevergütung belasten wir die privaten undgewerblichen Stromverbraucher.

Die enorme Tragweite der Energiewende allein sollteuns dazu anhalten, unsere Entscheidung wenigstensdurchdacht, überlegt und mit der gebotenen kühlenRationalität zu treffen. Dies tun wir nicht. Das Paket zurEnergiewende war gestern im Ausschuss und ist heuteim Parlament. Eine große Zahl mit heißer Nadel ge-

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strickter Gesetzentwürfe wird im Schweinsgaloppdurchs Parlament geritten, obwohl gleichzeitig andereEntscheidungen höchster Wichtigkeit anstehen. Daskann nicht richtig sein. Wir werden unserer Verantwor-tung hier nicht gerecht, und das sollte jedem bewusstsein.

Ein anderer Grund ist die Umgestaltung der Energie-branche. Dadurch schaffen wir den Markt in der Strom-erzeugung gänzlich ab und verordnen stattdessen einenZehn-Jahres-Plan, nach dem sich die Energieproduktionkünftig zu richten hat. Bereits jetzt ist die Produktionvon Strom aus Kernenergie eher als nationales industrie-politisches Projekt zu betrachten denn als eine Lösungdes Marktes für das Problem der Knappheit von Energie.Die marktwirtschaftliche Lösung bestünde darin, dieEnergiebranche aus der politischen Umklammerung zubefreien. Dazu gehörte, Kosten und Nutzen der Energie-produktion zurück in die Hände der Unternehmer zu ge-ben. Es wäre interessant zu wissen, ob und wie Kern-energie in Deutschland produziert würde, wenn dieUnternehmer für ihre geschäftlichen Risiken bei Unfäl-len und Abfallprodukten selbst und vollständig haftenmüssten. Bedauerlicherweise werden wir dies nie erfah-ren. Wir werden nie lernen, welche Lösung gefundenworden wäre, hätte man sich des Entdeckungsverfahrensdes Marktes bedient. Dazu hätten wir die Kernenergie-branche entpolitisieren müssen. Diese ist das wichtigsteZugpferd vor dem staatlich gelenkten Karren, auf demdie nationale Energiestrategie zur Herstellung der Ver-sorgungssicherheit und Unabhängigkeit von Energieim-porten transportiert wird.

Stattdessen gehen wir den entgegengesetzten Weg.Anstatt die Kernenergiebranche aus der ihr übertragenennationalen Aufgabe zu entlassen, politisieren wir sämtli-che konkurrierenden Wege der Stromerzeugung. Anstatteines Ordnungsrahmen, der das erste Mal in der Ge-schichte Marktpreise für die Erzeugung von Kernenergieermöglicht hätte, schreiben wir auch dem Rest der Bran-che vor, wie er zu funktionieren hat. Wir planen von derSpitze herab, wie viele Gaskraftwerke zu bauen und Ki-lometer Überlandleitungen zu errichten sind. Wir greifenein in das Preisgefüge bei Strom aus sogenannter erneu-erbarer Energie, indem wir umfangreiche Subventions-tatbestände schaffen. Wir planen hier in Berlin, welcherAnteil des Stroms aus welcher Quelle produziert werdensoll.

Wir ignorieren dabei sämtliche ökonomischen Ein-sichten über das Funktionieren von Märkten und dieWichtigkeit des Preissystems als Mechanismus zur Ver-mittlung von Informationen. Wir planen einen komplet-ten Wirtschaftszweig von oben herab und zentral. Wirgehen einen langen Schritt in die überkommene Zentral-verwaltungswirtschaft. An die Stelle der privaten unddezentralen Pläne der Unternehmer und ihrer Kundensetzen wir unsere angeblich überlegene Kenntnis, wiesich Wirtschaft und Gesellschaft organisieren sollen.

Wenn der Mensch in seinem Bemühen, die Gesell-schaftsordnung zu verbessern, nicht mehr Schadenstiften soll als Nutzen, wird er lernen müssen, dasser in diesem wie in anderen Gebieten, in denen in-

härente Komplexität von organisierter Art besteht,nicht volles Wissen erwerben kann, das die Beherr-schung des Geschehens möglich machen würde.(F. A. Hayek)

Die verhängnisvolle Anmaßung, dass man wissenkönne, wie zentrale Planung erfolgreich zu bewerkstelli-gen sei, hat letztendlich zum Scheitern aller Sozialismengeführt. So wird auch die Energiewende letztlich schei-tern.

Wir entscheiden heute nicht nur über ein mit einerschönen Bezeichnung ausgestattetes Gesetzespaket, son-dern nehmen auch dessen Folgen billigend in Kauf. DieZentralverwaltungswirtschaft führte im Sozialismus derDDR dazu, dass die Menschen Schlange standen, umOrangen und Bananen zu erhalten. Das oder die Benut-zung des Schwarzmarkts waren die einzigen Wege, umWaren mit staatlich festgelegten Preisen zu erhalten. DieEingriffe in die Energiewirtschaft werden zur Deindus-trialisierung in energieintensiven Branchen und zur Zu-teilung von Stromverbrauchszeiten führen. Wir werdendie wohlstandsfeindlichen Folgen der zentral verwalte-ten Energiewirtschaft in Deutschland beobachten kön-nen; denn die ökonomischen Gesetze sind von der Poli-tik unbezwingbar.

Max Straubinger (CDU/CSU): Mit dem Gesetz wirdder schnelle Ausstieg aus der friedlichen Nutzung derKernenergie bis zum Jahr 2022 festgeschrieben und zu-dem geregelt, dass die bereits abgeschalteten siebenKernkraftwerke und das Kernkraftwerk Krümmel nichtwieder in den Betrieb gehen. Damit werden in Deutsch-land circa 20 Prozent und für Bayern fast 60 Prozent derStromerzeugung bis 2022 stillgelegt, welche der Grund-lastversorgung zuzurechnen sind.

Ich habe erhebliche Zweifel, ob diese Grundlast mitEinsparungen im Stromverbrauch, mit dem Ausbau dererneuerbaren Energien wie Photovoltaik, Wind, Bio-masse, Geothermie und Wasserkraft und mit der Errich-tung von weiteren Gaskraftwerken ausgeglichen werdenkann. Der Ausbau der regenerativen Energien und dienotwendigen Stromleitungen und Speichereinrichtun-gen für Strom setzen ein vielfältiges Engagement vonWirtschaft und Staat, Kommunen und Bürgern voraus,was schwer zu erreichen sein wird. Ich bin überzeugt,dass das Energiekonzept, welches CDU/CSU und FDPim Herbst 2010 beschlossen haben, sachgerechter undkostenneutraler für Bürger und Betriebe den Umstieg inder Stromproduktion erbracht hätte. Zudem wären Net-tostromimporte vermieden und die Versorgungssicher-heit gewährleistet worden.

Trotz dieser und weiterer Bedenken werde ich heutedem Gesetzentwurf auf Drucksache 17/6070 zustimmen,da die Versorgungssicherheit mit Strom über den euro-päischen Netzverbund gewährleistet ist und ich über-zeugt bin, dass bei Versorgungsproblemen eine politi-sche Neubewertung einer nationalen Stromversorgungstattfinden wird.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Dem Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU

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und FDP sowie der Bundesregierung stimme ich nichtzu. Ich enthalte mich in der Abstimmung über die Atom-gesetznovelle der Koalition. Ich stimme für das grüneGesetz mit AKW-Laufzeiten bis längstens 2017.

Die Nutzung der Kernenergie ist und bleibt ein unkal-kulierbares Risiko für die Menschheit. Deshalb war diegesetzliche Verlängerung der Laufzeiten der AKW umJahrzehnte in Deutschland vom vergangenen Herbst ver-hängnisvoll und unverantwortlich. Die Rücknahme die-ser Laufzeitverlängerung ist richtig und notwendig. Dieendgültige Abschaltung von acht AKW ist ein richtiger,konsequenter Beitrag dazu. Dagegen bin ich deshalbselbstverständlich nicht. Aber der Gesetzentwurf derKoalition hält eines dieser AKW in unsinniger „Kaltre-serve“. Das ist für mich und die Grünen nicht zu-stimmungsfähig, genauso wenig wie die ungenügendeAKW-Sicherheit, das Fehlen der Regelung für die End-lagersuche und eine wirkliche Energiewende hin zu er-neuerbaren Ressourcen.

Auch die weiteren noch betriebenen AKW müssenvom Netz, und das möglichst schnell. Mit dem Gesetz-entwurf der Koalition werden die Laufzeiten dieser Re-aktoren erheblich verkürzt. Auch diese Verbesserung derbestehenden Rechtslage für die Nutzungsdauer istgrundsätzlich richtig. Sie entspricht weitgehend der2000/2001 durch die rot-grüne Koalition geschaffenenRegelung, die bis zur Laufzeitverlängerung im letztenHerbst galt. Für Erhaltung und Wiederherstellung diesererheblich kürzeren Laufzeiten hatten wir im Parlament,auf den Straßen und Schienen lange gestritten. Deshalbstimme ich jetzt nicht dagegen.

Aber nach dem Super-GAU in Fukushima ist alles an-ders. Denn das Risiko der Nutzung der Kernenergie fürdie Menschheit ist viel, viel größer als angenommen.Daher kann ich doch nicht ohne Not einfach weiter demalten rot-grünen Kompromiss zustimmen. Nach Fuku-shima muss alles neu gedacht werden. Alle haben dazu-gelernt. Ich weiß seither, der schnellere Ausstieg ist un-verzichtbar, und ein Ausstieg bis 2017 ist machbar ohneVersorgungsengpässe. Das unerwartet schnelle Wachs-tum der Energiegewinnung aus erneuerbaren Ressourcenmacht es möglich. Das haben Sachkundige immer wie-der vorgerechnet. Seit Fukushima habe ich mich mit al-len Grünen für das Abschalten bis 2017 eingesetzt undmit Hundertausenden immer wieder dafür demonstriert.Einen Gesetzentwurf mit diesem Ziel hat die grüne Frak-tion in den Bundestag eingebracht. Für dieses Gesetz mitdem Laufzeitenende bis spätestens 2017 stimme ich. Fürdas Abschalten aller AKW bis 2017 kämpfe ich weiter.

Dem Gesetzentwurf der Koalition mit Laufzeiten bis2022 dagegen stimme ich nicht zu. Er bedeutet fünflange Jahre mehr Überlebensrisiko für die Bevölkerung.Fünf Jahre mehr, in denen sich die AKW-Betreiber vieleinfallen lassen können, um eine Laufzeitverlängerungzu erreichen. Die Milliardenprofite sind zu verlockend,Union und FDP traue ich zu, dass sie sich dem Begehrender Konzerne auf Dauer nicht verweigern – wie schoneinmal im Herbst 2010.

Abstimmungen mit Enthaltung sind in Überlebensfra-gen selten angemessen, aber wegen der Ambivalenz derEntscheidungssituation diesmal schon.

Sabine Stüber (DIE LINKE): Ich stimme dagegen,weil das vorliegende Gesetz zur Änderung des Atomge-setzes durch die Hast und den aufgebauten Zeitdruck ineiner für unsere parlamentarische Arbeit unangemesse-nen Weise durch die Gremien gepeitscht wurde. Nachmeiner Meinung ist der Ausstieg ohnehin früher, bis zumJahre 2014, möglich.

Aus juristischer Sicht ist die Begründung für denAusstieg im Gesetz mangelhaft und eröffnet damit denEnergiekonzernen durchaus Chancen auf Erfolg bei ei-ner Schadenersatzklage. Wie immer ginge das zulastender Bevölkerung. Das werde ich nicht mit verantworten,und deshalb stimme ich dem Dreizehnten Gesetz zur Än-derung des Atomgesetzes nicht zu.

Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Ich stimmedagegen, weil der Ausstieg aus dieser Risikotechnologiedeutlich schneller möglich und nach der Katastrophe vonFukushima auch dringend nötig wäre, um die Gefahrdurch die Atommeiler und die Atommüllproduktion un-verzüglich zu reduzieren und eine bloße Rückkehr zumdamaligen rot-grünen Atomkonsens, den die PDS als ge-setzliche Laufzeitgarantie abgelehnt hatte, unverant-wortlich ist; weil der Atomausstieg mit einfacher Mehr-heit wieder rückgängig gemacht werden kann, statt – wievon der Linken beantragt – den Verzicht auf die fried-liche oder militärische Nutzung der Atomenergie imGrundgesetz festzuschreiben, das nur mit einer Zweidrit-telmehrheit geändert werden kann; weil im gesamtenGesetzespaket die marktbeherrschende Rolle der Strom-konzerne nicht korrigiert wird und soziale Energietarifenicht abgesichert werden. Deshalb stimme ich dem Drei-zehnten Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes nichtzu.

Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Unsere Kern-kraftwerke produzieren sicher kostengünstige und CO2-neutrale Energie, die für den Industrie- und Wirtschafts-standort Deutschland existenziell ist. Daran haben auchdie fürchterlichen Ereignisse im Frühjahr in Fukushimanichts geändert. Die deutsche Bevölkerung hatte schonseit jeher eine diffuse Angst vor der Atomkraft. Damitsteht unsere Gesellschaft weitgehend allein in der Welt.Wenn man nicht der Ansicht anhängt, dass am deutschenWesen die Welt genesen solle, so muss man zumindesthinterfragen, warum einzig und allein Deutschland ausden Ereignissen in Japan den Schluss gezogen hat, inderart beschleunigtem Tempo aus der Kernenergie aus-zusteigen. Das mit dem großen Nutzen der Kernenergieverbundene Restrisiko hat sich nicht verändert. Weder inDeutschland noch in Frankreich oder einem anderen eu-ropäischen Land. Der deutsche Ausstieg aus der Kern-kraft ist ein internationaler Alleingang. Wir hätten zu-mindest auf europäischer Ebene versuchen sollen,unsere Partner in der Europäischen Union mitzunehmen.Dass man auch bei anderen Fehlentscheidungen in der

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Lage ist, auf EU-Ebene einen Konsens herbeizuführen,zeigt derzeit der Umgang mit der Euro-Schuldenkrise.

Wir haben mit einer massiv schrumpfenden Bevölke-rung zu kämpfen. Den zukünftigen Generationen habenwir bereits fast zwei Billionen Euro Schulden aufgebür-det. Hinzu schreiten wir mit Siebenmeilenstiefeln einergigantischen Euro-Schuldenhaftungsunion entgegen.Wenn uns schon leider keine demografische Trendwendegelingt, so sollten wir den nachfolgenden Generationenwenigstens eine volkswirtschaftliche Infrastruktur hin-terlassen, die ihnen die Chance lässt, unsere gigantischenSchulden zu bedienen und sich auch selbst einen ange-messenen Lebensstandard zu erarbeiten. Diese Chancehaben wir verpasst, auch weil es uns nicht gelungen ist,die Bevölkerung von der Richtigkeit unserer Energie-politik zu überzeugen. Es ist leider immer leichter, aufschwierige Fragen leichte Antworten zu geben. UnserEnergiekonzept vom Herbst letzten Jahres wäre die bes-sere, aber auch komplexere Antwort gewesen.

Vermutlich ist den Menschen nicht bewusst, dass unsdie Energiewende im günstigsten Fall Investitionen indrei- bis vierstelliger Milliardenhöhe kosten wird. DieAntiatombewegung macht viel Wind, aber davon drehtsich leider noch kein Windrad, ganz unabhängig von derFrage, ob wir unser schönes Land zu einem gigantischenOnshorewindpark machen sollen. Letztendlich wage ichzu prophezeien, dass wir für das Fotoalbum die erneuer-baren Energien ausbauen werden, klammheimlich aberunsere Energie – zumindest in Süddeutschland – ausTschechien und Frankreich beziehen werden. DassTschechien und Frankreich weiter auf Atomkraft setzen,brauche ich nicht weiter auszuführen.

Nichtsdestoweniger muss man sich mit Unabwend-barkeiten abfinden und nach vorne blicken. In derGesellschaft und auch in der Politik gibt es mittlerweileeinen sehr breiten Konsens zum Ausstieg aus der Kern-energie. Zu einer Demokratie gehört es auch, dass manaussichtslose Positionen räumt, um die Zukunft mitzuge-stalten. Ein Hadern über Vergangenes fördert nur denVerdruss und schafft keine positive Energie. Als Ob-mann für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Haus-haltsausschuss werde ich aktiv daran mitarbeiten, dieKosten für die Endenergieabnehmer so gering wie mög-lich zu halten.

Johanna Voß (DIE LINKE): Ich stimme dagegen,weil das Dreizehnte Gesetz zur Änderung des Atomge-setzes ein Scheinausstiegsgesetz ist. IPPNW und anderehaben aufgezeigt, dass das Gesetz den Klagen derStromkonzerne nicht standhalten wird. Dann könntenEntschädigungszahlungen in Milliardenhöhe auf dieSteuerzahler zukommen oder sogar zwischenzeitlichausgeschaltete Atommeiler weiterbetrieben werden.

Zu einem Ausstieg, der nicht nur ein Scheinausstiegist, gehören auch ein Ende von allen Geschäften mitUran, ein Ausstieg aus dem Euratom-Vertrag, ein Endeder Finanzierung von Reaktorprojekten weltweit. All dasist nicht Teil des Atomausstiegs der Bundesregierung.

Zu einem Ausstieg gehört auch die Sicherung derAtommülllager und das Vermeiden von weiteren un-sicheren Transporten von Atommüll. Weder die Regie-rung noch die Jasager von SPD und Grünen haben ausFukushima gelernt.

Zu einem endgültigen Ausstieg gehört auch die Ver-ankerung im Grundgesetz – sonst bleibt der Ausstiegumkehrbar. Mit diesem Ausstiegsgesetz, dass die Amor-tisation von Atommeilern garantiert, werden auch dieoligopolen Strukturen verfestigt, auf Kosten dezentralerStrukturen.

Ich stimme dagegen, weil die verbliebenen Atommei-ler nicht dem Stand von Sicherheit und Technik entspre-chend nachgerüstet werden. So dürfte kein einzigesAtomkraftwerk weiterlaufen. Das ist grob fahrlässig.Deshalb stimme ich dem Dreizehnten Gesetz zur Ände-rung des Atomgesetzes nicht zu.

Anlage 4

Erklärung nach § 31 GO

der Abgeordneten Ralph Lenkert und JensPetermann (beide DIE LINKE) zur namentli-chen Abstimmung über den Entwurf eines Drei-zehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgeset-zes (Tagesordnungspunkt 4 a)

Wir stimmen dem Entwurf eines Dreizehnten Geset-zes zur Änderung des Atomgesetzes nicht zu, weil dervorliegende Entwurf nicht sicherstellt, dass der Ausstiegaus der Atomstromerzeugung zum frühestmöglichenZeitpunkt erfolgt und aufgrund der vorgesehenen Be-standsgarantie bis längstens 2022 die Bevölkerung unnö-tig lange den mit der Atomstromerzeugung einhergehen-den tödlichen Risiken ausgesetzt wird.

Die Aufkündigung des sogenannten Atomkompro-misses von Rot-Grün durch die schwarz-gelbe Regie-rung hat gezeigt, dass eine einfachgesetzliche Regelungnicht ausreicht und der Atomausstieg nur durch einegrundgesetzliche Verankerung unumkehrbar gestaltetwerden kann.

Anlage 5

Erklärung nach § 31 GO

der Abgeordneten Ekin Deligöz und ClaudiaRoth (Augsburg) (beide BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung überden Entwurf eines Dreizehnten Gesetzes zurÄnderung des Atomgesetzes (Tagesordnungs-punkt 4 a)

Die Atomkatastrophe von Fukushima markiert einentragischen, einschneidenden Wendepunkt unserer Ener-gie- und Klimapolitik. Vermeintliche Gewissheiten undunverbrüchliche Überzeugungen der Atomkraftbefür-worter sind der Einsicht gewichen, dass diese Technolo-gie nicht beherrschbar und die Restrisiken eben nichtvernachlässigbar sind. Der bisherige Atomkurs von

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Union und FDP hat sich als fachlich fragwürdig, ethischunverantwortlich und politisch unhaltbar erwiesen.

Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionenhaben das nun endlich auch erkennen und einräumenmüssen. Die Atomparteien Union und FDP wollen nun,nachdem sie über Jahrzehnte die Atomindustrie hofierthaben, den endgültigen Rückzug aus der Atomenergieantreten. Das ist aus unserer Sicht zu unterstützen, auchwenn es schon viel eher hätte passieren können und müs-sen. Die bündnisgrüne Bundestagsfraktion hat sichschon immer für einen breit getragenen Ausstieg einge-setzt. Es ist richtig, für die Entscheidung zu einer radika-len, unumkehrbaren Energiewende breite Mehrheiten imParlament, in der Politik und in der Gesellschaft zu mo-bilisieren. Dem wollen wir uns deshalb nicht verwei-gern, sondern die Rücknahme der Laufzeitverlängerung,die endgültige Abschaltung der sieben ältesten Meilersowie des Reaktors in Krümmel und klar fixierte Aus-stiegsdaten unterstützen. Wir werden deshalb dem Drei-zehnten Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes,Drucksache 17/6070, im Deutschen Bundestag zustim-men.

Diese Zustimmung bedeutet allerdings nicht, dass wirkeinen weitergehenden, dringenden Handlungsbedarfhinsichtlich des Atomausstiegs oder auch der Umset-zung der notwendigen Energiewende sehen. Wir werdenuns mit aller Kraft für weitere Änderungen und Verbes-serungen beim Atomausstieg und bei den erforderlichenatompolitischen Maßnahmen bis zur vollständigen Ab-schaltung aller Reaktoren in Deutschland einsetzen. Essollte nichts unversucht gelassen werden, den Ausstieginsgesamt zu beschleunigen. Die Sicherheitsanforderun-gen für die noch laufenden Atomkraftwerke müssenverschärft bzw. vorgenommene Verschlechterungen zu-rückgenommen werden. Notwendig ist zudem, ein er-gebnisoffenes, bundesweit vergleichendes Endlager-suchverfahren zu starten.

Zu einem überzeugenden Sicherheitskonzept gehörtes auch, die beiden in unserer Heimatregion befindlichenAKW-Blöcke Gundremmingen B und C – im Wesentli-chen baugleich mit den Katastrophenreaktoren in Fuku-shima – als Risikoanlagen früher als bislang geplant ab-zuschalten. Die Anlagen stehen an der deutschen Spitzebezüglich des anfallenden Strahlenmülls. Laut der Kin-derkrebsstudie des Deutschen Kinderkrebsregisters ist inder Umgebung der Meiler die Kinderkrebsrate signifi-kant hoch.

Der Ausstieg aus der Atomkraft ist ein absolut not-wendiger, aber nicht ausreichender Schritt. Er muss miteiner konsequenten, nachhaltigen Energiewende einher-gehen. Die Alternative liegt dann aber gerade nicht inden fossilen Energieträgern, wie Union und FDP das fa-vorisieren. Gefragt sind der konsequente Ausbau der er-neuerbaren Energien sowie die Forcierung von Energie-effizienz und -einsparungen. Das hierzu vorliegendeGesetzespaket ist nicht einmal als halbherzig zu bezeich-nen. Die schwarz-gelbe Koalition bleibt hier nicht nurweit hinter dem Erforderlichen zurück, sondern unter-nimmt auch grundsätzlich falsche Weichenstellungen.

Anlage 6

Erklärung nach § 31 GO

der Abgeordneten Dr. Hermann Ott, Till Seiler,Memet Kilic, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhnund Monika Lazar (alle BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung überden Entwurf eines Dreizehnten Gesetzes zurÄnderung des Atomgesetzes (Tagesordnungs-punkt 4 a)

Die Rücknahme der Laufzeitverlängerung für Atom-kraftwerke, von der Koalition erst vor wenigen Monatenim Eilverfahren durchgesetzt, ist notwendig und richtig,ebenso die endgültige Abschaltung der sieben Alt-AKWund des Pannenreaktors Krümmel. Es ist zu begrüßen,dass die Bundesregierung im Lichte der Katastrophe vonFukushima eine Kehrtwende in der Atompolitik vollzo-gen hat und in der Beurteilung der Atomkraft nun in dieNähe der Position gerückt ist, die die Grünen bereits seit30 Jahren vertreten. Dies ist ein großer Erfolg der Grü-nen und der Antiatombewegung insgesamt.

Doch gerade im Lichte der Reaktorkatastrophe vonFukushima ist der Atomausstieg von CDU/CSU undFDP nicht ausreichend. Technisch und ökonomisch wäreein Atomaustieg bereits bis 2017 möglich – und als Kon-sequenz der nach Tschernobyl nochmaligen Realisierungdes sogenannten Restrisikos auch nötig. Fünf Jahre län-gere Laufzeiten bedeuten unzumutbare Gefahren im täg-lichen Betrieb und eine erhebliche Erhöhung der Mengedes insgesamt anfallenden Atommülls.

Die Bundesregierung unternimmt auch keinen Ver-such, die Endlagerfrage endlich einer sachgerechten Lö-sung zuführen. Dazu würde gehören, die im letztenHerbst eingefügte Enteignungsgrundlage zurückzuneh-men, einen Baustopp in Gorleben zu verhängen und eineergebnisoffene Endlagersuche einzuleiten. Absolut not-wendig wäre auch eine Beendigung des gesamten Atom-brennstoffkreislaufs, also eine Schließung der Atom-fabrik in Gronau.

Die Abschaltung der letzten sechs Atommeiler erstEnde 2021 bzw. Ende 2022 ist nicht nur viel zu spät un-ter dem Gesichtspunkt der Sicherheit, sie erfolgt auch zuspät unter politischen Gesichtspunkten. Zwischen demrot-grünen Atomausstieg und der Laufzeitverlängerungdurch Schwarz-Gelb im Oktober 2010 lagen drei Wah-len. Zwischen dem jetzt geplanten Atomausstieg unddem Abschalten der letzten sechs AKW liegen bei nor-malem Wahlzyklus ebenfalls drei Wahlen. Niemandkann heute voraussagen, wie die Welt im Jahre 2021aussehen wird, welche krisenhaften Entwicklungen esgeben mag und welche Höhe die Preise für fossile Ener-gien dann haben werden.

Der Druck auf eine dann vielleicht wieder atom-freundliche Bundesregierung bzw. Mehrheit im Bundes-tag, die Laufzeiten doch wieder zu verlängern, könntesehr stark sein. Dieses Risiko ist uns zu groß. Auch dieBeibehaltung einer sogenannten Kalt-Reserve zeigt, dasseine Hintertür offengehalten werden soll. Dabei ist dieseschon allein aus technischen Gründen völlig unsinnig.

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Schließlich behindern die längeren Laufzeiten bis2022 auch die Energiewende in Richtung einer solarenGesellschaft. Der Ausstieg aus der Atomkraft und derEinstieg in die erneuerbaren Energien sind untrennbarmiteinander verbunden, auch wenn der Bundestag natür-lich in verschieden Anträgen und Gesetzentwürfen dazuStellung nimmt. Die sogenannte Energiewende setzt aufden Ausbau fossiler Energien und setzt die Erfolge beider Bekämpfung des Klimawandels aufs Spiel. Dies zu-sammen mit der einseitigen Bevorzugung von Offshore-windenergie zulasten der Windkraft an Land und andereRegelungen zementiert die alten Strukturen und festigtdie Marktmacht der großen Energiekonzerne.

Die Bundesregierung und die schwarz-gelbe Koali-tion machen mit der Rücknahme der Laufzeitverlänge-rung und der Abschaltung der Alt-AKW das Richtige;aber sie unterlassen das Notwendige. Das Gesamtpaketstimmt nicht. Deshalb haben wir uns heute der Stimmeenthalten.

Anlage 7

Erklärung nach § 31 GO

des Abgeordneten Michael Brand (CDU/CSU)zur namentlichen Abstimmung über den Ent-wurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderungdes Atomgesetzes und zur Abstimmung überden Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelungdes Rechtsrahmens für die Förderung derStromerzeugung aus erneuerbaren Energien(Tagesordnungspunkt 4)

Michael Brand (CDU/CSU): Mein heutiges Ja zudem Gesetzespaket zur Energiewende ist ein Ja mit kla-ren Bedingungen und ein paar offenen Bemerkungenzum Verfahren.

Es ist eine 60/40-Entscheidung, weil neben den Chan-cen auch Risiken gegeben sind. Als frei gewählter Abge-ordneter ist es meine Pflicht, auf die Risiken hinzuweisen,und es ist aus meiner Sicht zwingend, dass Bundestag,Bundesregierung und unsere Gesellschaft sich über dieRisiken und die Kosten der Energiewende im Klaren sind.

Ich war, bin und werde dafür sein, dass die Atomener-gie vor allem wegen der weltweit nicht gelösten Endla-gerung so rasch wie möglich der Vergangenheit ange-hört. Zudem bietet diese Entscheidung tatsächlich diehistorische Chance für eine der leistungsfähigsten Volks-wirtschaften der Welt: Wir haben die Chance, im globalkommenden Zeitalter der erneuerbaren Energien – alsoweg vom Öl, weg von der Kohle und weg vom Gas –von einer weltweiten Spitzenposition aus in Deutschlandund weltweit von diesem global angesteuerten Energie-wandel zu profitieren.

Zur Energiewende zählt auch, dass wir für die abzu-schaltenden Kernkraftwerke neue Kohle- und Gaskraft-werke brauchen. Wir werden nicht nur mit Wind undSonne den Industriestandort Deutschland sichern, wederbei der Beschäftigung noch bei den privaten Haushalten.Wer Ja sagt zur Energiewende, der muss auch Ja sagen

zur nötigen Infrastruktur für das neue Energiezeitalter.Das bedeutet konkret: Wenn zum Beispiel Planung undBau von Stromtrassen trotz weitreichender Prioritätenfür Erdkabel weiter blockiert werden, kommt die Ener-giewende in Gefahr. Wenn wir den von vielen Expertenschon für diesen Herbst 2011 befürchteten Blackout beider Stromversorgung verhindern wollen, müssen wir dieFlexibilität behalten, frühzeitig zum Schutz von privatenHaushalten, Krankenhäusern und Betrieben bis hin zuzentralen Internetknoten reagieren zu können.

So gibt es eine ganze Reihe von Problemen, die wirnicht politisch leugnen dürfen. Physik lässt sich nichtpolitisch beschließen. Wir haben als Politik die Pflicht,zum Wohle der Allgemeinheit in Kenntnis der Problemezu organisieren. Dazu zählt, dass wir die Grundlage derwirtschaftlichen Stärke unseres Landes, die industrielleBasis mit Tausenden Betrieben und Millionen Arbeits-plätzen, nicht um einer falschen Ideologie willen aufsSpiel setzen dürfen. Zu Recht haben wir deshalb beson-dere Regelungen zum Schutz der energieintensiven Be-reiche der deutschen Wirtschaft beschlossen. Und umsowichtiger sind die beschlossenen Fördermaßnahmen fürneue Netz- und Speichertechnologien, die wir nun drin-gend benötigen.

Dazu muss bei Bundestag, Bundesregierung und inder Gesellschaft die Bereitschaft offen bleiben; ansons-ten drohen Versorgungskrisen, die nicht per Beschlussoder Resolution von Parteitagen oder Parlamenten abzu-wenden sein werden.

Der Schock von Fukushima hat vieles in Bewegunggebracht. Der Weg zum Zeitalter der erneuerbaren Ener-gien ist schon seit Jahren parteiübergreifender Konsensin Deutschland und wurde konsequent beschritten. Nunwird er deutlich beschleunigt. Wir müssen bei der Be-schleunigung darauf achten, dass wir nicht durch allzugroße Hektik ins Stolpern geraten – mit möglichenfallsgroßen Risiken.

Mein Ja ist auch deshalb mit Einschränkungen verse-hen, weil die harte Kritik unseres Bundespräsidenten andem parlamentarischen Verfahren und der fehlendenEinbindung der Gesellschaft zum Erreichen eines echtenKonsenses leider als voll zutreffend zu bezeichnen ist.Angesichts der immensen Tragweite der Entscheidungsind mangelhafte Offenheit, mangelhafte Beratungsmög-lichkeiten und ein für die Bedeutung viel zu schnelldurchgepeitschtes Verfahren aus der Sicht der Parlamen-tarier deutlich zu kritisieren. Diese Kritik richtet sich vorallem gegen diejenigen in Fraktionen und Regierung, dieauf Solidarität pochen und diese Solidarität gegenüberden eigenen Reihen nicht in genügendem Maße geübthaben; hier sind die dafür Verantwortlichen dazu aufge-fordert, diesen Stil zu ändern, um den Bogen nicht zuüberspannen. Gerade bei großen, weitreichenden Ent-scheidungen gilt: Demokratie darf nicht mit Demoskopievertauscht werden.

Für die beschlossene große Energiewende wird es da-rauf ankommen, die ökologischen und ökonomischenAuswirkungen – auch auf Stromkosten und Steuergel-der – genau zu beobachten. Werden alle notwendigenElemente in ausreichender Weise beachtet, kann und

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wird es gelingen, die großen Chancen zu nutzen und dieRisiken für unsere Bevölkerung gering zu halten.

Als direkt gewählter Abgeordneter werde ich die Ent-wicklung genau verfolgen und nötigenfalls dazu auffor-dern, dass wir im Notfall auch nachsteuern. Die Ener-giewende wird von uns allen viel fordern, sie wird keinSpaziergang, doch dass wir uns auf diesen schwierigenWeg machen, bietet große Chancen für die Zukunft un-seres Landes und für kommende Generationen – schondeshalb lohnt sich der Weg.

Manfred Kolbe (CDU/CSU): In der heutigen Ab-stimmung über den sogenannten Atomausstieg habe ichmich der Stimme enthalten. Trotz der Katastrophe vonFukushima gelten meines Erachtens weiterhin die Argu-mente der Abgeordneten Dr. Angela Merkel aus derAusstiegsdebatte vom 29. Juni 2000:

Erstens:

Für mich bleibt ein Rätsel, wie nach dem Ausstiegaus der Kernenergie ein klimaverträglicher, CO2-freier Ersatz für den 30-prozentigen Anteil derKernenergie an der Grundlast unserer Energieer-zeugung geschaffen werden könnte.

Zweitens: Der Ausstieg erfolgt zulasten der interna-tionalen Sicherheitsstandards.

Ich finde, man muss schon relativ ruhig schlafenkönnen, wenn man akzeptiert, dass in Russland15 Reaktoren vom Typ Tschernobyl stehen undDeutschland mutwillig und wissentlich aus demtechnologischen Know-how und aus der Verbesse-rung der Sicherheitsvorschriften aussteigt.

Drittens:

Diese Vereinbarung geht zulasten des Klimaschut-zes, zulasten der Ausbildungskapazitäten und gan-zer Berufszweige sowie zulasten des technologi-schen Fortschritts in der Bundesrepublik Deutsch-land.

Diesen damaligen Worten von Dr. Angela Merkel istauch heute noch wenig hinzuzufügen.

Dr. Michael Paul (CDU/CSU): Eine Reihe – auchvon mir – gestellter Fragen sind im Laufe des Gesetzge-bungsverfahrens zum Gesetzespaket zur Energiewendenicht geklärt worden. Insbesondere sind für mich fol-gende Punkte von großer Bedeutung:

Erstens. Ein Ausstieg aus der Kernenergie in der nunvorgegebenen Geschwindigkeit kann massive Strom-preiserhöhungen für Unternehmen wie Verbraucher ver-ursachen. Die vorgelegten Gesetze geben keine Antwortdarauf, wie der Preisanstieg zumindest gedämpft werdenkann. Schon durch das Abschalten der acht Kernkraft-werke beim Moratorium sind die Stromgroßhandels-preise um über 12 Prozent gestiegen. Das werden dieVerbraucher bei der nächsten Strompreiserhöhung imHerbst auf ihren Stromrechnungen wiederfinden. Wei-tere Erhöhungen ergeben sich, weil zum Beispiel bei derkostspieligen Förderung der Photovoltaik keine wirk-

same Kostenbremse gezogen wird. Es steht zu befürch-ten, dass die EEG-Umlage über das heute schon hoheNiveau von 3,53 Cent pro Kilowattstunde ansteigenwird. Weiterhin werden neue Gaskraftwerke, die zurVersorgungssicherheit gebraucht werden, nur gebaut,wenn es dafür eine Förderung oder Unterstützung gibt,weil potenzielle Investoren insbesondere die zukünftigeAuslastung nicht kalkulieren können. Diese Förderungmuss letztlich vom Stromkunden oder Steuerzahler ge-tragen werden. Ferner werden die CO2-Zertifikatepreisesteigen, was Auswirkungen auf das Preisniveau habenwird. Die CO2-Zertifikatepreise sind seit Beginn desMoratoriums jetzt schon um circa 8 Prozent gestiegen.

Zweitens. Hohe Strompreise schaden auch dem In-dustriestandort Deutschland. Die anlässlich der Erarbei-tung des Energiekonzepts der Bundesregierung im letz-ten Jahr aufwendig berechneten Energieszenarien habenergeben, dass ein Ausstieg aus der Kernenergie in dernun vorgegebenen Geschwindigkeit große volkswirt-schaftliche Risiken bedeutet: Erhebliche Abwanderungs-effekte im Bereich des produzierenden Gewerbes undder Verlust Tausender Arbeitsplätze würden bei deutlichansteigenden Strompreisen voraussichtlich die Folgesein.

Das deutsche Klimaschutzziel ist kurz- und mittelfris-tig gefährdet. So kann das Ziel der CO2-Minderung um40 Prozent bis 2020 gegenüber 1990 wegen des Ver-zichts auf die Kernenergie praktisch nicht erreicht wer-den. Die vorgesehenen CO2-Einsparungen durch zusätz-liche Maßnahmen bei der Gebäudesanierung können dieMehremissionen durch fossile Kraftwerke, die wegendes Ausstiegs am Netz sein werden, nicht kompensieren.Bisher sind die CO2-Emissionen in Deutschland seit1990 um circa 25 Prozent zurückgegangen.

Drittens. Deutschland ist bereits durch das Morato-rium vom Stromexport- zum Stromimportland gewor-den. Seitdem importiert Deutschland täglich durch-schnittlich rund 40 GWh, einen großen Teil davon ausFrankreich. Das zeigt aus meiner Sicht, dass der Aus-stieg aus der Kernenergie zu schnell erfolgt. Schließlichmacht es keinen Sinn, wenn deutsche Kernkraftwerkevom Netz gehen und dafür Strom aus ausländischenKernkraftwerken eingeführt wird.

Viertens. Die vorgelegte Novelle des Atomgesetzesenthält erhebliche verfassungsrechtliche Risiken. Dieshat auch die Sachverständigenanhörung im Bundes-tagsumweltausschuss bestätigt. So verlangt der Gleich-heitsgrundsatz nach Art. 3 Grundgesetz, dass der Gesetz-geber nur bei Vorliegen eines sachlichen Grunds gleicheSachverhalte ungleich behandeln darf. Im vorgelegtenGesetz werden aber zum Beispiel zwei baugleiche Kern-kraftwerke, die im Abstand von acht Monaten ans Netzgingen – Gundremmingen B und C –, ohne sachlichenGrund unterschiedlich behandelt: Gundremmingen Cdarf bis 2021, also vier Jahre länger als Gundremmin-gen B, am Netz bleiben. Ein weiteres Beispiel: DasKernkraftwerk Krümmel, das abgeschaltet bleiben soll,hat nur eine Laufzeit von rund 27 Jahren gehabt; alle üb-rigen Kernkraftwerke haben mindestens 32 Jahre Lauf-zeit. 32 Jahre Laufzeit ist aber – so wurde es schon im

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rot-grünen Ausstiegsgesetz von 2002 festgestellt – dieverfassungsrechtliche Untergrenze, da ansonsten keinevollständige Amortisation der Investitionen erreicht wer-den kann. Ein Eingriff des Staates müsste sonst durchEntschädigungen ausgeglichen werden. Eine Entschädi-gung ist aber in der AtG-Novelle nicht vorgesehen.Auch ist keine Entschädigung dafür vorgesehen, dass diezugewiesenen Reststrommengen voraussichtlich nicht inkonzerneigenen Anlagen aufgebraucht werden können.

Aus den genannten Gründen ist aus meiner Sicht eineumfassende Zustimmung zum Gesetzespaket zur Ener-giewende nicht mit einer langfristig verantwortungsvol-len Energiepolitik für Deutschland vereinbar. Außerdemdarf meiner Meinung nach der Gesetzgeber nicht sehen-den Auges verfassungsrechtlich höchst zweifelhafte Re-gelungen beschließen. Daher werde ich – anders alsmeine Fraktion – den Entwurf des Dreizehnten Gesetzeszur Änderung des Atomgesetzes in der Fassung derDrucksachen 17/6070 und 17/6246 ablehnen.

Anlage 8

Erklärung nach § 31 GO

der Abgeordneten Gitta Connemann (CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über denEntwurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Ände-rung des Atomgesetzes und zur Abstimmungüber den Entwurf eines Gesetzes über Maßnah-men zur Beschleunigung des Netzausbaus Elek-trizitätsnetze (Tagesordnungspunkt 4 a und h)

Den vorliegenden Gesetzentwürfen stimme ich nachsorgfältiger Abwägung des Für und Widers nicht zu.

Ich erkenne an, dass anders als beim seinerzeitigenrot-grünen Ausstiegsbeschluss jetzt exakt angegebenwird, wann und wie der Umstieg erfolgen soll. Ich er-kenne an, dass durch die Einführung einer Marktprämieerstmalig der Weg in die Marktorientierung auch für er-neuerbare Energien gewählt wird. Ich erkenne an, dassgerade im Bereich der Biomasse aufgrund der Interven-tionen unserer Agrarpolitiker Überförderungen abgebautwerden, Vertrauensschutz gewährt und stärkere Anfor-derungen an die Wärmenutzung definiert werden.

Mir ist bewusst, dass fast alle meine Kolleginnen undKollegen, die sich ebenfalls intensiv mit den Gesetzent-würfen auseinandergesetzt haben, zu einer zustimmen-den Bewertung kommen. Ich respektiere und achte dieseEntscheidung. Über mein persönliches Abstimmungs-verhalten in dieser für die Zukunft Deutschlands heraus-ragend wichtigen Frage habe ich in den letzten Tagenund Wochen lange mit mir gerungen. Ich komme fürmich zu dem Ergebnis, dass mir eine Zustimmung unterden jetzigen Voraussetzungen nicht möglich ist.

Zur Begründung: Im Herbst 2010 hatte die Bundesre-gierung ein Energiekonzept vorgelegt, das den drei An-forderungen an eine nachhaltige Energiepolitik – sicher,sauber und bezahlbar – Rechnung trägt. Die KriterienVerfügbarkeit, Umweltfreundlichkeit und Bezahlbarkeitwurden dabei in einen harmonischen Dreiklang gestellt.

So sollten bis zum Jahr 2050 80 Prozent des Stroms auserneuerbaren Energien gewonnen werden. Der Strom-verbrauch insgesamt sollte im gleichen Zeitraum um25 Prozent sinken. Der von den 17 deutschen Kernkraft-werken erzeugte Strom sollte im Rahmen dieses Über-gangs die gesicherte Versorgung zu bezahlbaren Preisengewährleisten und gleichzeitig den Übergang in ein Zeit-alter der erneuerbaren Energien ebnen. Der Ausstieg ausder Kernkraft war damit bereits beschlossen. Diesemenergiepolitischen Konzept, das zugleich Energiewendewie auch Atomausstieg war, habe ich am 28. Oktober2010 im Deutschen Bundestag aus voller Überzeugungzugestimmt.

Dem damaligen Beschluss lagen detaillierte, von un-abhängigen Forschungsinstituten erstellte Gutachten zu-grunde. Der Beschluss des Deutschen Bundestages er-folgte im Rahmen eines der Bedeutung der Entscheidungangemessenen Beratungszeitraums. Auf Parteitagenhatte zuvor die CDU ihre Position ausführlich diskutiertund einen entsprechenden Mehrheitsbeschluss gefasst.Ich unterstütze diesen Beschluss einschließlich des da-mit verbundenen Atomausstiegs nach wie vor. Darin be-stätigt mich auch das am 16. Mai 2011 vorgelegte Gut-achten der Reaktor-Sicherheitskommission, das denhohen Sicherheitsstandard der deutschen Kernkraft-werke bestätigt.

Unter dem Eindruck des tragischen Reaktorunfallsam 15. März 2011 in Fukushima, Japan, soll nun derAusstieg aus der Kernenergie in Deutschland deutlichbeschleunigt werden. Alle noch am Netz befindlichendeutschen Kernkraftwerke sollen nach einem starrenZeitplan abgeschaltet werden. Dafür sollen die erneuer-baren Energien sowie die Energietransportnetze rasantausgebaut werden. Dieses Vorhaben ist internationalohne Beispiel. Die Herausforderungen für Gesellschaft,Wirtschaft und Politik sind gewaltig.

Tatsächlich umsetzbar ist dieses Konzept allerdingsnur dann, wenn alle dem Ausstiegsszenario zugrunde ge-legten Bedingungen tatsächlich eintreten. Diese Bedin-gungen wiederum sind sowohl technischer als auchrechtlicher Natur.

So müssen sich die Anlagen zur Erzeugung der erneu-erbaren Energien, insbesondere die Offshorewindkraft-anlagen, erst noch unter Praxisbedingungen bewähren.

So müssen über 4 000 Kilometer neuer Hoch- undHöchstspannungsleitungen – in der Regel gegen den er-bitterten Widerstand von Anliegern – erst noch gebautwerden.

So müssen neue Gas- und Kohlekraftwerke mit einemderzeitigen Planungsvorlauf von im Schnitt zehn Jahren– ebenfalls gegen den erbitterten Widerstand von Anlie-gern – erst noch errichtet werden.

Und so müssen neue Anlagen zur Speicherung desregenerativ erzeugten Stroms erst noch erdacht unddann – voraussichtlich ebenfalls gegen den erbittertenWiderstand von Anliegern – gebaut werden.

Ich halte aus heutiger Sicht die Erreichung sämtlichergenannter Bedingungen, einschließlich des um 25 Pro-

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zent gesenkten Stromverbrauchs, für unwahrscheinlich,zumindest in dem starr vorgegebenen Zeitraum. Alleinein politischer Wille – und sei die Parlamentsmehrheitauch noch so groß – wird keine dieser technischen undrechtlichen Hürden überspringen helfen oder gar Natur-gesetze außer Kraft setzen können.

Eine ausführlichere Diskussion über Alternativen deskünftigen Energiekonzeptes nach Fukushima sowie einefundierte Abschätzung seiner Folgen wären aus meinerSicht erforderlich gewesen. So ist den Abgeordneten desDeutschen Bundestages vor knapp vier Wochen einmehrere hundert Seiten starkes Gesetzespaket vorgelegtworden, das in großer Eile geschnürt werden musste. DieErfahrung zeigt, dass Geschwindigkeit immer auf Kos-ten von Sorgfalt geht. Voraussetzung für den Erfolg desgeplanten Ausstiegsszenarios ist aber, dass alle Maßnah-men perfekt ineinandergreifen. Wir wären deshalb gutberaten gewesen, uns mehr Zeit für eine Entscheidungdieses Umfangs zu lassen. Aus meiner Sicht wäre eineausführlichere Debatte sowie der Beschluss eines Partei-tages notwendig gewesen, zumal der Beschluss desDeutschen Bundestags vom Oktober 2010 auf dieseWeise vorbereitet worden war.

Nicht zufällig ist das Unverständnis über den energie-politischen Alleingang Deutschlands in unseren Nach-barländern groß, auch wegen der Auswirkungen aufdiese Nachbarländer. Denn Deutschland ist Teil des eu-ropäischen Stromverbundnetzes, dessen Stabilität jeder-zeit sichergestellt sein muss. In diesem Rahmen beziehtDeutschland im Übrigen bereits heute, nach der Sofort-abschaltung von 8 der 17 Kernkraftwerke, ausländischenAtomstrom, namentlich aus Tschechien und aus Frank-reich. Sollte die mittelfristig befürchtete Versorgungs-lücke eintreten, würde dieser Stromimport noch erhöht.Die Möglichkeit dazu wird nicht ausgeschlossen. BeiVersorgungslücken bleibt somit der Rückgriff auf aus-ländischen Atomstrom. Damit verbindet sich allerdingsfür mich die Frage nach der ethischen Vertretbarkeit desdeutschen Atomausstiegs ohne Abstimmung mit den eu-ropäischen Partnern. Ich habe diese Frage wie auch eineReihe anderer in den letzten Wochen im Gesetzgebungs-verfahren wiederholt gestellt. Sie blieben in der Sacheunbeantwortet. Sie werden auch nicht durch die vorlie-genden Gesetzentwürfe geklärt.

Dazu gehört auch die Frage nach der Erreichung desCO2-Minderungsziels von 40 Prozent bis 2020 ge-genüber 1990. Zwar sind CO2-Einsparungen durchzusätzliche energetische Maßnahmen bei der Gebäudes-anierung angesichts der vorgesehenen steuerlichen För-derung zu erwarten. Völlig offen ist allerdings, ob dieseMinderungen die Mehremissionen durch fossile Kraft-werke, die wegen des Atomausstiegs ans Netz gehenmüssen, kompensieren können.

Ebenfalls völlig unklar sind die Kosten, die das neueEnergiekonzept mit sich bringen wird. Die Stromgroß-handelspreise sind bereits nach der Abschaltung der achtKernkraftwerke innerhalb weniger Wochen um über12 Prozent gestiegen. Der Zubau von Photovoltaikanla-gen wird weitere Kosten nach sich ziehen. Tatsächlichbenötigt die Photovoltaik heute 55 Prozent der gesamten

EEG-Beihilfen – und dies bei nur 3 Prozent der Stromer-zeugung. Die Chance zu einer Dämpfung dieses Preisan-stieges, zum Beispiel durch einen festen Deckel, wirddurch den vorliegenden Gesetzentwurf zum EEG nichtgenutzt. Auch die zusätzlichen Kosten durch Netzaus-bau, Emissionshandel etc. sind nicht beziffert. Dabeisteht das Risiko hoher Entschädigungszahlungen für Be-treiber von Kernkraftwerken aus rechtlichen Gründenzulasten des Steuerzahlers nach wie vor im Raum.

Hohe Strompreise schaden insbesondere dem Indus-triestandort Deutschland. Aus meinen Gesprächen mitBetrieben weiß ich, dass diese sich um die langfristigeVersorgungssicherheit mindestens ebenso sorgen wie umdas Energiepreisniveau. Bereits heute ist erkennbar, dassdas jetzt vorliegende Energiekonzept die internationaleWettbewerbsfähigkeit stromintensiver Unternehmen ge-fährden wird. Diese sollen zwar über Härtefallregelun-gen entlastet werden, nicht aber die zahlreichen kleinenund mittelständischen Unternehmen, die sich ebenfallsim internationalen Wettbewerb befinden. Dabei ist deraktuelle konjunkturelle Aufschwung nach der Wirt-schafts- und Finanzkrise gerade diesen Unternehmen zuverdanken.

Die Stromrechnung zahlt in jedem Fall der Verbrau-cher, und zwar unabhängig von seinem Einkommen. Dievielen Familien in meiner ostfriesisch-emsländischenHeimat, die mit einem kleinen Einkommen auskommenmüssen, werden über Gebühr belastet werden. Bereitsjetzt haben sich die Stromkosten an kalten Tagen zu ei-ner zweiten Miete entwickelt. Dies gilt auch für dieEmpfänger kleiner Renten, deren Altersvorsorge in ei-nem Haus besteht. Von einer steuerlichen Förderungenergetischer Sanierungsmaßnahmen können diese nichtprofitieren.

Neben dieser persönlichen Betroffenheit wird derWahlkreis Unterems, den ich als direkt gewählte Abge-ordnete in Berlin vertrete, von dem jetzt neu vorgelegtenEnergiekonzept in besonderem Maße auch landschaft-lich und wirtschaftlich betroffen sein. Durch den geplan-ten forcierten Ausbau von Offshoreanlagen werden dieFanggründe der ostfriesischen Fischer vor der Küstemassiv dezimiert. Allein in der Nordsee, vor der deut-schen Küste, soll für Offshorewindkraft ein Ausbauvolu-men von 20 000 bis 25 000 Megawatt realisiert werden.Nach Angaben des zuständigen Übertragungsnetzbetrei-bers wird dies den Bau von bis zu insgesamt 30 weiterenAnschlussleitungen erforderlich machen. Diese werdenOstfriesland sowie das nördliche Emsland zerschneiden,unabhängig davon, ob sie als Erdkabel oder als Freilei-tungen geführt werden.

Für einen fairen Ausgleich der Landeigentümer trägtdas neue Energiekonzept keine Sorge. Insoweit hätte indem Gesetzentwurf für das Netzausbaubeschleunigungs-gesetz eine Regelung getroffen werden müssen, für diekeine Zeit war. Dies gilt auch für die Regulierung desmit dem Ausbau der erneuerbaren Energien verbunde-nen Flächenverbrauchs. So muss jede dieser Leitungendurch Ausgleichsflächen kompensiert werden, die denohnehin schon drastischen Flächenschwund in meinerHeimat verschärfen wird. Zusätzlich werden so bislang

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von Landwirten und Gartenbauern genutzte Böden ausder Nutzung herausgenommen werden.

Verschärft werden wird diese Tendenz durch den Bauvon Biogasanlagen. Eine Großanlage von zum Beispiel5 Megawatt benötigt circa 2 000 Hektar Ackerland, umdarauf Energiepflanzen anzubauen. Die Vermaisung derLandschaft ist bereits heute erkennbar. Der Zielkonfliktzwischen traditioneller Landwirtschaft für die Lebens-mittelproduktion und dem Anbau von Energiepflanzenwird durch die vorliegenden Gesetzentwürfe nicht ge-löst, sondern verschärft. Insoweit hätte über eine Ausset-zung von naturschutzrechtlichen Ausgleichsregelungenfür den Netzausbau für regenerative Energien nachge-dacht werden müssen wie auch über die Schaffung derMöglichkeit einer finanziellen Ersatzleistung für Aus-gleichsmaßnahmen. Auch dafür war keine Zeit.

Über mein persönliches Abstimmungsverhalten indieser für die Zukunft Deutschlands herausragend wich-tigen Frage habe ich in den letzten Tagen und Wochenlange mit mir gerungen. Ich hoffe, dass sich meine Be-fürchtungen nicht bewahrheiten werden. Mir ist bewusst,dass viele Bürgerinnen und Bürger sich nichts mehrwünschen als den schnellstmöglichen Ausstieg aus derKernenergie. Ich teile diese Auffassung ausdrücklich.Ich bin keine Anhängerin der Kernenergie. Der Ausstiegaus dieser Energieform ist richtig, muss aber mit Augen-maß erfolgen. Bei allen verständlichen und berechtigtenSorgen und Ängsten sollten wir diesen Rückzug geord-net antreten. Die Voraussetzungen dafür sind für mich inder vorgesehenen kurzen Frist nicht gegeben. Ich werdedeshalb den vorgenannten Gesetzentwürfen nicht zu-stimmen.

Anlage 9

Erklärungen nach § 31 GO

zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset-zes zur Neuregelung des Rechtsrahmens für dieFörderung der Stromerzeugung aus erneuerba-ren Energien (Tagesordnungspunkt 4 c)

Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): Ich trete für einenachhaltige Energieversorgung ein: sicher, verlässlich,ökonomisch und ökologisch vernünftig. Ausdrücklichbegrüße und unterstütze ich den Ausbau erneuerbarerEnergien. Der Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelungdes Rechtsrahmens für die Förderung der Stromerzeu-gung aus erneuerbaren Energien enthält zahlreiche sinn-volle Regelungen, um diesen Ausbau weiter zu beför-dern. Daher werde ich dem Gesetzentwurf zustimmen.

Gleichwohl enthält der Gesetzentwurf Regelungenhinsichtlich der Vergütung von Strom aus Geothermie,die ich als problematisch und als nicht richtig erachte.Warum? Nach wie vor sehe ich in der Geothermiegrundsätzlich eine Zukunftschance. Die Geothermie hatprinzipiell eine Reihe von Vorteilen gegenüber anderenFormen der erneuerbaren Energien, zum Beispiel ihreGrundlastfähigkeit. Allerdings muss die Geothermienoch weiter erforscht werden.

Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Technologie derTiefengeothermie leider noch nicht ausgereift ist. ImZusammenhang mit dem Projekt in Landau kam es bei-spielsweise zu seismischen Ereignissen, die zu erhebli-chen Akzeptanzproblemen dieser Energiegewinnungs-form geführt haben. Es ist offenkundig, dass im Bereichder Tiefengeothermie nach wie vor Bedarf an anwen-dungsorientierter Forschung besteht. Es wäre wichtig,zunächst den sicheren und effizienten Betrieb bestehen-der bzw. weit fortgeschrittener Projekte zu gewährleis-ten. Aus den Forschungsaktivitäten sollten Erkenntnissegewonnen werden, die auch anderen Projekten zugute-kämen. Klar ist, dass zunächst die Sicherheit Vorrang ha-ben muss. Die Sorgen der Bevölkerung müssen sehrernst genommen werden. Es muss auf die Akzeptanz derMaßnahmen vor Ort geachtet werden. Daher müsste dieGeothermie meines Erachtens stärker unter dem For-schungs- und Entwicklungsaspekt und weniger unterdem Aspekt der schnellen Markteinführung mittels er-höhter Anreize durch das EEG gefördert werden.

Geothermie macht zudem vor allem dann Sinn, wennnicht nur Strom erzeugt, sondern auch die Abwärmesinnvoll genutzt wird. Die Abwärme lediglich über dieLuft oder über das Wasser in die Umwelt abzugeben, istin vielfacher Hinsicht unvernünftig. Deshalb halte ich esfür einen Fehler, den Wärmenutzungsbonus zu streichenund in die Grundvergütung zu integrieren. Dadurch wirdder Anreiz, Anlagen an Stellen zu planen, an denen dieChance auf eine Wärmeabnahme besteht, reduziert. Dieshalte ich für sachlich falsch.

Jens Koeppen (CDU/CSU): Der Ausstieg aus derAtomenergie ist richtig und wird von mir genauso wiedie Zielstellung, den Anteil erneuerbarer Energien an derEnergieversorgung massiv zu steigern, uneingeschränktunterstützt, obwohl der schnelle Atomausstieg Risikenfür die Energieversorgung des Industrielands Deutsch-land in sich birgt.

Der vorgelegte Rechtsrahmen, der die Marktintegra-tion der erneuerbaren Energien vorantreiben soll, ist ausmeiner Sicht leider wenig geeignet, um eine klima-freundliche, bezahlbare und sichere Energieversorgungin Zukunft aufrechtzuerhalten. Daher verdient dieser Ge-setzentwurf nicht meine uneingeschränkte Zustimmung.Um die Abkehr von der Atomenergie nicht zu gefähr-den, habe ich daher sehr lange überlegt, ob es trotz mei-ner Bedenken möglich ist, dem Gesetzentwurf zuzustim-men. Das Signal, dass die Koalition quasi geschlossendie Energiewende gestaltet, sah ich schließlich als wich-tiger an, als gegen ein Einzelgesetz zu stimmen – bei si-cher gegebener Parlamentsmehrheit.

Jedoch muss zum Gesetzentwurf angemerkt werden:Die Marktintegration der neuen Energietechnologientritt hinter Subventionszusagen über eine Dauer von20 Jahren zurück. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurfwird sich grundsätzlich von der Zielstellung verabschie-det, die Energieversorgung durch einen Wettbewerbs-markt abzusichern. Hohe Renditen, die niemals in ande-ren Bereichen mit derart sicheren Investitionen erzieltwerden könnten, können zwar den Zubau mit vorhande-

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ner Technik beschleunigen, treiben aber nicht Innovatio-nen in diesem Bereich voran oder stellen sicher, dass dieerneuerbaren Energien ein zuverlässiger Hauptbestand-teil unserer Energieversorgung werden. Das eigentlicheZiel des EEG – Marktintegration – ist mit den vorgese-henen Regelungen kaum erreichbar.

Hinzu kommt, dass die finanziellen Lasten des Zu-baus von Erneuerbare-Energien-Anlagen, die in den Re-gionen in Norddeutschland – wie im Land Brandenburgund meiner uckermärkischen Heimat – überproportionalentstehen, nicht solidarisch durch die Einwohner im ge-samten Bundesgebiet getragen werden. Der EEG-be-dingte Ausbau des Verteilnetzes wird weiterhin nichtbundesweit umgelegt, sondern belastet die Regionen miteinem hohen Anteil an Solar- oder Windenergieanlagen,wie es beispielweise in der Uckermark der Fall ist.Änderungswünsche im EEG und EnWG, um diesezunehmend standortbeeinträchtigenden Regelungen ab-zuändern, wurden nicht aufgegriffen. Die fehlende ge-samtstaatliche Finanzierungsverantwortung in diesemBereich konterkariert die Anstrengungen und schadetebenfalls der Akzeptanz der erneuerbaren Energien.

Die Debatte zur Marktintegration der erneuerbarenEnergien ist mit der Verabschiedung nicht abgeschlossenoder für die nächsten vier Jahre ausgesetzt. Ich gehe da-von aus, dass die Probleme, die ich benannt habe, in denkommenden zwei Jahren ausgeräumt werden. Die Bran-che ist dabei aufgefordert, von ihrer derzeitigen Diskus-sionsstrategie zu einer konstruktiven Debatte zurückzu-kehren. Die Branche kann angesichts der Erfolge dervergangenen Jahre selbstbewusst auftreten und solltenicht weiter versuchen, sich schlechtzureden, um bessereVergütungssätze zu beanspruchen. Diese Strategie wirdauf Dauer nicht funktionieren. Es muss deutlich werden,dass man bereit ist, Verantwortung für die Energiever-sorgung in Deutschland zu übernehmen und Wind- undSolaranlagen nicht vorwiegend als sehr erfolgreicheRenditeobjekte gesehen werden. Marktintegration in denWettbewerbsmarkt darf nicht nur politisches Ziel sein,sondern sollte auch von der Erneuerbare-Energien-Bran-che selbst angestrebt werden. Ich erwarte von der Koali-tion, zeitnah die wichtige Säule der Energiepolitik – dieerneuerbaren Energien – durch einen verbessertenRechtsrahmen zu stärken – und die angemessene parla-mentarische Beteiligung bei den kommenden Debattenabzusichern.

Anlage 10

Erklärung nach § 31 GO

der Abgeordneten Dr. Michael Fuchs undAndreas G. Lämmel (beide CDU/CSU) zur Ab-stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zurNeuregelung des Rechtsrahmens für die Förde-rung der Stromerzeugung aus erneuerbarenEnergien (Tagesordnungspunkt 4 c)

Den in der heutigen Sitzung des Bundestages zur Ab-stimmung stehenden, von den Fraktionen CDU/CSUund FDP sowie der Bundesregierung eingebrachten Ent-würfen für ein Gesetz zur Neuregelung des Rechtsrah-

mens für die Förderung der Stromerzeugung aus erneu-erbaren Energien stimmen wir nicht zu. Deutschland istein wettbewerbsfähiges Industrieland und muss diesbleiben. Unsere Energieversorgung langfristig auf erneu-erbare Energien umzustellen, ist richtig. Bei der Umge-staltung unserer Energieversorgung sind die Gewährleis-tung von Versorgungssicherheit und wettbewerbsfähigerPreise für uns von hoher Bedeutung. Daher muss derUmstieg auf erneuerbare Energieträger mit wirtschaftli-chem und technischem Augenmaß erfolgen. Die be-schleunigte Energiewende darf den Industriestandortnicht gefährden.

An den nun anstehenden Entscheidungen haben wirerhebliche Zweifel.

Erstens. Die Gewinnung von Elektrizität aus regene-rativen Energieträgern ist viel teurer als die Nutzung derbisherigen Grundlastträger Gas, Kernenergie und Kohle.Private Verbraucher und die Unternehmen werden durchden harten internationalen Wettbewerb höhere Strom-preise zu tragen haben. Gerade Letzteres wird negativeFolgen für die industrielle Basis, das verarbeitende Ge-werbe und damit für den Wohlstand unseres Landes ha-ben.

Zweitens. Die notwendige Infrastruktur für die ange-strebte Energiewende ist nicht ausreichend vorhanden.Ob ein angemessener Ausbau wirklich gelingen wird,bezweifeln wir. Das gilt für neue Stromtrassen und Spei-cher zur Kompensation der fluktuierenden erneuerbarenEnergieträger. Es birgt erhebliche Risiken für die Versor-gungssicherheit, weil die Gefahr von Versorgungseng-pässen und Stromausfällen droht. Zusätzlich ist uns nichtersichtlich, wie die notwendigen Investitionen finanziertwerden sollen.

Drittens. Die Neuregelung des Rechtsrahmens für dieFörderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Ener-gien ignoriert grundlegende ordnungspolitische, wirt-schaftliche und technische Zusammenhänge. Sie setztunzureichende Anreize für Innovationen und Effizienz.Die Photovoltaikanlagen als ineffizienter Kostentreiberwerden weiterhin deutlich überfördert. Die energieinten-siven Unternehmen werden mit weiteren Kosten bela-den, die ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit undden Wohlstand Deutschlands bedrohen.

Wir akzeptieren den gesellschaftlichen Konsens unddie Mehrheiten in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion inBezug auf den Ausstieg aus der Kernenergie. An der Artund Weise der beschleunigten Energiewende, besondersim Bereich des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, habenwir jedoch erhebliche Zweifel.

Anlage 11

Erklärung nach § 31 GO

des Abgeordneten Dr. Michael Luther (CDU/CSU) zu den Abstimmungen:

– Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung desRechtsrahmens für die Förderung derStromerzeugung aus erneuerbaren Energien

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– Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelungenergiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften

– Entwurf eines Gesetzes über Maßnahmenzur Beschleunigung des Netzausbaus Elek-trizitätsnetze

(Tagesordnungspunkt 4 c, f und h)

Den in der heutigen Sitzung des Bundestages zur Ab-stimmung stehenden und von den Fraktionen CDU/CSUund FDP sowie der Bundesregierung eingebrachten Ent-würfen für ein Gesetz über Maßnahmen zur Beschleuni-gung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze, ein Gesetz zurNeuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriftenund ein Gesetz zur Neuregelung des Rechtsrahmens fürdie Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbarenEnergien stimme ich angesichts des breiten in der Bevöl-kerung bestehenden Konsenses über den Ausstieg ausder Atomenergie zu. Gleichwohl habe ich erhebliche Be-denken gegen die jetzt geplante Art und Weise des Aus-stiegs.

Sicherlich ist es unzweifelhaft richtig, die Basis unse-rer Energieversorgung langfristig auf erneuerbare Ener-gien umzustellen. Um jedoch die erneuerbaren Energienals künftige Grundlage unserer Energieversorgung ent-wickeln zu können, ohne dabei eine stabile und bezahl-bare Stromversorgung in unserem Land infrage zu stel-len, ist meines Erachtens ein längerer zeitlicher Vorlauferforderlich. Den jetzt gewählten Zeitrahmen halte ichfür unverantwortlich kurz.

Die Verstromung regenerativer Energieträger ist nachheutigem Stand der Technik sehr viel teurer als die Nut-zung von Kernenergie und Braunkohle als bisherigeGrundlastträger. Es ist zu bezweifeln, dass es gelingenwird, in dem nun von uns gesetzten kurzen Zeitrahmenunsere Energieversorgung von konventionellen Energie-trägern vollständig auf erneuerbare Energieträger umzu-stellen. Dies birgt erhebliche Risiken für die Grundver-sorgungssicherheit. Erneuerbare Energien sind nichtgrundlastfähig.

Aufgrund der erheblichen Risiken für die Versor-gungssicherheit mit grundlastfähigem Strom steht zubefürchten, dass es zu Versorgungsengpässen undStromausfällen kommen wird. Infolgedessen kann es zueiner Steigerung des Strompreises kommen. Neben derBelastung von Privathaushalten wird dies auch erhebli-che, heute noch nicht zu überschauende Folgen für dieindustrielle Basis unseres Landes haben. Diese Folgensind bis heute weder ausreichend diskutiert noch im nöti-gen Maße der Bevölkerung kommuniziert worden.

Ich sehe gleichwohl, dass der Ausstieg aus der Kern-energie breiter gesellschaftlicher Konsens ist. Ich werbemit Nachdruck dafür, dass vor dem Hintergrund des sichjetzt durch die heute verabschiedeten Gesetzentwürfekonkretisierenden Ausstiegsszenarios die aufgeworfenenFragestellungen praxisnah diskutiert werden. Sofern beidem angestrebten Umbau unserer Energieversorgungunvorhergesehene Schwierigkeiten auftreten, müssen dienötigen Korrekturen an der Art und Weise und am Zeit-

plan des Ausstiegs aus der Kernenergie vorgenommenwerden können.

Anlage 12

Erklärung nach § 31 GO

des Abgeordneten Arnold Vaatz (CDU/CSU) zuden Abstimmungen über den Entwurf einesGesetzes zur steuerlichen Förderung von ener-getischen Sanierungsmaßnahmen an Wohnge-bäuden und über den Entwurf eines Gesetzeszur Stärkung der klimagerechten Entwicklungin den Städten und Gemeinden (Tagesord-nungspunkt 4 k und m)

Ich stimme beiden Gesetzentwürfen zu, obwohl ichden beschleunigten Ausstieg aus der Nutzung der Kern-energie ablehne und die Begründung beider Gesetzent-würfe darauf Bezug nimmt. Ich unterstütze dennoch diein diesen Gesetzen getroffenen Neuregelungen.

Anlage 13

Erklärung nach § 31 GO

des Abgeordneten Tankred Schipanski (CDU/CSU) zu den Abstimmungen:

– Entwurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Än-derung des Atomgesetzes

– Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung desRechtsrahmens für die Förderung derStromerzeugung aus erneuerbaren Energien

– Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelungenergiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften

– Entwurfs eines Gesetzes über Maßnahmenzur Beschleunigung des Netzausbaus Elek-trizitätsnetze

– Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichenFörderung von energetischen Sanierungs-maßnahmen an Wohngebäuden

– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Ge-setzes zur Errichtung eines Sondervermögens„Energie- und Klimafonds“ (EKFG-ÄndG)

– Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung derklimagerechten Entwicklung in den Städtenund Gemeinden

– Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Ände-rung schifffahrtsrechtlicher Vorschriften

(Tagesordnungspunkt 4 a, c, f, h, k, l, m und n)

Ich stimme dem Dreizehnten Gesetz zur Änderungdes Atomgesetzes (Drucksache 17/6246), dem Gesetzzur Neuregelung des Rechtsrahmens für die Förderungder Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien (Druck-sache 17/6247), dem Gesetz zur Neuregelung energie-wirtschaftsrechtlicher Vorschriften (Drucksache 17/6248),

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dem Gesetz über Maßnahmen zur Beschleunigung desNetzausbaus Elektrizitätsnetze (Drucksache 17/6249),dem Gesetz zur steuerlichen Förderung von energeti-schen Sanierungsmaßnahmen an Wohngebäuden(Drucksache 17/6251), dem Gesetz zur Änderung desGesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens „Ener-gie- und Klimafonds“ (Drucksache 17/6252 (neu)), demGesetz zur Stärkung der klimagerechten Entwicklung inden Städten und Gemeinden (Drucksache 17/6253) so-wie dem Ersten Gesetz zur Änderung schifffahrtsrechtli-cher Vorschriften zu, nachdem uns die BundeskanzlerinDr. Angela Merkel in verschiedenen Fraktionssitzungenversichert hat, dass es durch diese Gesetze und Gesetzes-änderungen zu keinen nennenswerten finanziellen Mehr-belastungen für Industrie und Verbraucher in Deutsch-land kommt.

Ferner wurde uns vonseiten der Bundesregierung zu-gesichert, dass die zu beschließende Abschaltung derdeutschen Atomkraftwerke nur unter den fünf Rahmen-bedingungen erfolgt, die die sogenannte Ethikkommis-sion in ihrem Bericht aufgezeigt hat:

Bezahlbarkeit von Energie für Verbraucher und In-dustrie erhalten. Keine Verschlechterung der Wettbe-werbsfähigkeit für die deutsche Industrie. Einhaltung derKlimaziele. Keinen Import von Kernenergie aus europäi-schen Nachbarstaaten. Sicherung der Stabilität der deut-schen Stromnetze.

Die Einhaltung dieser Rahmenbedingungen wirddurch eine Projektgruppe überwacht.

Anlage 14

Erklärung nach § 31 GO

des Abgeordneten Wolfgang Nešković (DIELINKE) zur Beratung des Entwurfs einesNeunundzwanzigsten Gesetzes zur Änderungdes Abgeordnetengesetzes – Einführung einesOrdnungsgeldes (Zusatztagesordnungspunkt 1)

Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Erstens. Die zurAbstimmung stehenden Vorlagen ignorieren die funda-mentale Bedeutung des Rede- und Abstimmungsrechtsder Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Die ein-bringenden Fraktionen von Union, SPD und FDP habensich verfassungsrechtlichen Bedenken vorsätzlich ver-schlossen. Darin liegen eine Missachtung des Grundge-setzes und eine unentschuldbare Ignoranz gegenüberdem Bundesverfassungsgericht.

Zweitens. Die Initiativen von Union, SPD und FDPhaben eine Vorgeschichte: In der 60. Plenarsitzung des17. Deutschen Bundestages am 17. September 2010 tru-gen mehrere Abgeordnete der Fraktion Die Linke weißeT-Shirts, die mit einem Aufdruck versehen waren, dereine Ablehnung des Bahnprojektes „Stuttgart 21“ zumAusdruck brachte. Der Bundestagspräsident schloss dieAbgeordneten deswegen für die laufende Sitzung undzwei Folgetage von den Beratungen des Deutschen Bun-destages aus. Die Abgeordneten wehrten sich vor demBundesverfassungsgericht und erreichten, dass der Bun-

destagspräsident schließlich auf den Vollzug seiner Maß-nahme verzichtete.

Drittens. Das Bundesverfassungsgericht hatte den andem Organstreit Beteiligten ein Schreiben mit rechtli-chen Hinweisen zukommen lassen. Neben kritischen Be-merkungen in Bezug auf die Rechtsschutzmöglichkeitenvon ausgeschlossenen Abgeordneten – ein Einspruch ge-gen den Ausschluss hat keine aufschiebende Wirkung –machte das Gericht auch Ausführungen zum Sitzungs-ausschluss von Abgeordneten. Das Gericht formulierte:

Im Extremfall könnte der Ausschluss von Abgeord-neten erheblichen Einfluss auf die Willensbildungim Parlament entfalten und Stimmenverhältnissewären durch Fehlgebrauch des Instrumentes „Sit-zungsausschluss“ gar gezielt manipulierbar.

Viertens. Die zur Abstimmung stehenden Vorlagenhalten jedoch weiterhin daran fest, dass der Ausschlussnicht nur für den laufenden Sitzungstag, sondern auchfür künftige Sitzungstage erfolgen kann. Das ist nachden Hinweisen des Verfassungsgerichts hochproblema-tisch und dürfte im Streitfall wohl keinen Bestand haben.Auch die Hinweise auf den mangelnden Rechtsschutz– Einspruch hat keine aufschiebende Wirkung – sindnicht berücksichtigt worden.

Fünftens. Außerdem ist die Verwendung des Begrif-fes der „Würde des Bundestages“ in den zur Abstim-mung stehenden Vorlagen nicht zielführend. Ordnungs-maßnahmen können nur zur Aufrechterhaltung derArbeitsfähigkeit des Parlaments verhängt werden. DerBegriff der „Würde“ ist darüber hinaus von vornhereinnur Menschen und nicht einem juristischen Konstruktwie dem Deutschen Bundestag vorbehalten. Schließlichkönnte die „Würde des Deutschen Bundestages“ auchein inhaltlich niveauloser Redebeitrag oder auch ein ent-sprechender Zwischenruf beeinträchtigen. Dadurch wirdjedoch nicht die Arbeitsfähigkeit des Parlaments beein-trächtigt, höchstens dessen Ansehen.

Sechstens. Schließlich bleibt in den Vorlagen unbe-rücksichtigt, dass das Ordnungsrecht als Maßnahme derÜbelszufügung strafrechtlichen Grundregeln folgenmuss. Danach muss – dem Schuldprinzip folgend – einangemessenes Verhältnis zwischen der Veranlassung,Tatbestandsseite, und der daran anknüpfenden Übelszu-fügung, Rechtsfolgenseite, bestehen: Das jeweils ge-rügte Verhalten muss in einem angemessenen Verhältniszu der dadurch hervorgerufenen „Strafe“ stehen. In demzur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf wird jedochfür alle denkbaren Fallgestaltungen, die von einer „nichtnur geringfügigen Verletzung der Ordnung oder derWürde des Bundestages“ bis zu einer „gröblichen Verlet-zung der Ordnung oder der Würde des Bundestages“ rei-chen, stets die gleiche „Strafhöhe“ festgesetzt. Das istoffenkundig mit dem verfassungsrechtlich geschütztenSchuldprinzip unvereinbar. Nach der Rechtsprechungdes Bundesverfassungsgerichts setzt jede Strafe, nichtnur die Strafe für kriminelles Unrecht, sondern auch diestrafähnliche Sanktion für sonstiges Unrecht, Schuld vo-raus (BVerfG, NVwZ 2003, 1504). Offenkundig wolltenUnion, FDP und SPD dem Präsidenten die Mühsal einerschuldangemessenen Festsetzung des Ordnungsgeldes

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ersparen. So verlegten sich die Entwurfsverfasser aufpauschalierende Sanktionssätze ohne Wertungsmöglich-keiten. Doch wer im Rechtsstaat strafen will, muss sich– verfassungsrechtlich zwingend – dafür auch der Unbe-quemlichkeit rechtsstaatlichen Abwägens stellen.

Siebtens. Diesen verfassungsrechtlichen Bedenkenhaben sich die einbringenden Fraktionen vorsätzlich ver-schlossen. Anträge von Linken und Grünen auf Durch-führung einer Anhörung wurden abgelehnt. NachdemUnion, FDP und SPD stattdessen wenigstens einem vonLinken und Grünen angeregten erweiterten Bericht-erstattergespräch unter Einbeziehung von Sachverständi-gen zugestimmt hatten, haben sie dann in diesem – ohneSachverständige einzuladen und ohne inhaltliche Befas-sung mit der Sache – lediglich beschlossen, dass esnichts zu diskutieren gibt. Sie haben damit das Bericht-erstattergespräch zu einer Farce verkommen lassen undauch erneute Anträge auf Durchführung einer Anhörungabgelehnt.

Achtens. Die einbringenden Fraktionen fallen mit ih-ren Vorstellungen von parlamentarischer Würde hinterdie demokratischen Errungenschaften des Norddeut-schen Bundes aus dem Jahre 1869 zurück. In dessen Par-lament gab es den Sitzungsausschluss nur für die lau-fende Sitzung. Er stellte auch keine Strafmaßnahme dar,sondern diente allein der Wiederherstellung der Ord-nung. War diese wiederhergestellt, waren die Ausge-schlossenen zurück in den Saal zu bitten und unklareAbstimmungen unter ihrer Beteiligung nachzuholen.

Im Reichstag des zweiten Deutschen Kaiserreichesgab es den Sitzungsausschluss lange Zeit überhauptnicht. Er wurde erst im Jahre 1895 eingeführt – für dielaufende Sitzung. Ein Jahr zuvor missachtete ein Abge-ordneter die „Würde“ des Parlamentes. Der Mann wei-gerte sich, aufzustehen, als ein Hochruf auf den Kaiserausgebracht wurde. Er hatte keine Achtung vor demMonarchen. Warum sollte er sich also benehmen, als seies anders? Es wäre würdelos gewesen.

Anlage 15

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung

– Entwurf eines Gesetzes zur Übertragungehebezogener Regelungen im öffentlichenDienstrecht auf Lebenspartnerschaften

– Entwurf eines Gesetzes zur Gleichstellungder eingetragenen Lebenspartnerschaftenmit der Ehe im Bundesbeamtengesetz und inweiteren Gesetzen (Tagesordnungspunkt 11)

Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Mitdem von der Bundesregierung eingebrachten Gesetz zurÜbertragung ehebezogener Regelungen im öffentlichenDienstrecht auf Lebenspartnerschaften werden wir dasDienstrecht modernisieren und an die aktuelle Lebens-wirklichkeit anpassen. Wir werden also insbesondereLebenspartnerschaften im Bundesbesoldungsgesetz in

die Regelungen zum Familienzuschlag und zur Aus-landsbesoldung integrieren. Wir werden Lebenspartnernun auch im Beamtenversorgungsgesetz des Bundes so-wie im Soldatenversorgungsgesetz bei der Hinterbliebe-nenversorgung einbeziehen. Wir werden Lebenspartnerim Bundesbeamtengesetz bei der Beihilfe berücksichti-gen, und im Gesetz über den Auswärtigen Dienst werdenwir die Fürsorge auf den Lebenspartner der entsandtenBeamtin oder des Beamten ausdehnen.

Dies alles soll rückwirkend zum 1. Januar 2009 einge-führt werden. Auf der Ebene von Rechtsverordnungenwerden wir dies in separaten Vorschriften umsetzen,zum Beispiel in der Auslandszuschlagsverordnung oderin der Bundesbeihilfeverordnung.

Die CDU/CSU-Fraktion verwirklicht mit dem vorlie-genden Gesetzentwurf eine sehr weitgehende und ver-antwortbare Übertragung ehebezogener Regelungen.Wir kommen Ihnen da sehr weit entgegen, meine Damenund Herren der Opposition; aber der von Ihnen beantrag-ten vollständigen Gleichstellung stimmen wir nicht zu.Wir werden die Ehe auch weiterhin gegenüber anderenBeziehungsformen begünstigen, und ich möchte Ihnendies sowohl moralisch wie auch juristisch begründen.

Sehr geehrte Frau Kollegin Lühmann, Sie betonten inder ersten Lesung zum Beispiel die Situation der soge-nannten Regenbogenfamilien und forderten die völligeGleichstellung dieser Lebenspartnerschaften mit derEhe. Hierfür ziehen Sie maßgeblich eine Studie der Uni-versität Bamberg aus dem Jahr 2009 als Beleg für IhreThesen heran. Projektleiterin dieser Studie war FrauDr. Marina Rupp. Frau Dr. Rupp äußert sich zu den di-vergierenden Einschätzungen beim Thema Adoption inAus Politik und Zeitgeschichte im Jahr 2009 sehr diffe-renziert, unter anderem zu der Meinung von Experten,die „den Kindern neben dem ‚Verlust‘ der eigenen Fami-lie nicht das Risiko der Diskriminierung zumuten“möchten, „das beim Aufwachsen in einer gleichge-schlechtlichen Lebenspartnerschaft nicht auszuschließensei.“

Für uns sollten das Wohl des Kindes an erster und dieWünsche der Eltern an zweiter Stelle stehen. Insgesamtist die eher seltene Beziehungsform der Regenbogenfa-milie viel zu wenig erforscht, als dass wir im Bereich derAdoption mit einer völligen Gleichstellung experimen-tieren sollten.

Am 6. Juni 2011 erfolgte eine öffentliche Sachver-ständigenanhörung im Deutschen Bundestag zum Ge-setzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur so-genannten Fremdkindadoption durch gleichgeschlecht-liche Lebenspartner. Professor Dr. Klaus Gärditz von derUniversität Bonn kritisierte in dieser Anhörung, dass esden Initiatoren der Sachverständigenanhörung nicht umdas Wohl des Kindes gehe, das im Adoptionsrecht ei-gentlich alleiniger Maßstab sei, sondern im Kern um dieInteressen von Erwachsenen.

Die Adoption ist unserer Auffassung nach Hilfe fürbereits geborene Kinder, die aus unterschiedlichen Grün-den Eltern und Familie verloren haben. Sie dient nichtder Heilung einer Kinderlosigkeit von Paaren, insofern

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kann auch kein Rechtsanspruch auf diese Elternschaftbestehen. Solange wir nicht sicher ausschließen können,dass Fremdkindadoptionen dem Wohl der betroffenenKinder zuwiderlaufen, sehe ich die Pflicht des Gesetzge-bers, der Ehe auch weiterhin das grundgesetzlich mani-festierte Exklusivrecht zur Fremdkindadoption zu erhal-ten.

Sehr geehrte Damen und Herren der Opposition, dieForderung der Linken, die Ehe insgesamt abzuschaffen,ist grotesk; das werde ich nicht weiter kommentieren.Ich kommentiere aber gerne Ihr gemeinsames Wunsch-bild einer bunten Regenbogengesellschaft in Deutsch-land: Wir wollen zugunsten beliebiger Beziehungsfor-men nicht einfach alles fördern und damit dastraditionelle Familienbild als Fundament dieser Gesell-schaft nach und nach entwerten. Die traditionelle Fami-lie ist immer noch die stabilste Form sozialen Zusam-menlebens, und das ist für uns Grund genug, auchkünftig vehement für die Privilegierung dieser Bezie-hungsform einzutreten.

Währenddessen dürfen Sie sich gerne von Lesben-und Schwulenverbänden als Initiatoren der Lebenspart-nerschaft feiern lassen. Allerdings beschleicht mich derVerdacht, dass auch der eine oder andere in Ihren Reihenunsere moralische wie juristische Position nachvollzie-hen kann. Anders ist für mich nicht zu erklären, dass dierot-grüne Regierung die Gleichstellung nicht einmal inder zweiten Amtsperiode bis 2005 eingeführt hat. Selbstin Nordrhein-Westfalen wird die Umsetzung zum Unmutvon homosexuellen Medien nicht schnell genug voran-getrieben. Insofern kann ich Ihre Aufgeregtheit schonverstehen; immerhin sind Sie nur in der Beobachterrollein Bezug darauf, wie eine christlich-liberale Bundesre-gierung eine maßgeschneiderte Modernisierung bei die-sem Thema bewerkstelligt.

Ich möchte Ihnen abschließend auch unsere juristi-sche Bewertung nicht schuldig bleiben: Das Bundesver-fassungsgericht hat im Juli 2009 festgestellt, dass es demGesetzgeber freisteht, die Ehe gegenüber anderen Bezie-hungsformen zu begünstigen. Hierfür bedarf es gemäßdem Urteil jenseits des Schutzes der Ehe aus Art. 6Abs. 1 Grundgesetz eines hinreichend gewichtigenSachgrundes, der die Benachteiligung anderer Lebens-formen rechtfertigt. Diese Sachgründe liegen für michauf der Hand:

Erstens. Ehepaarfamilien gewährleisten durch ihreForm des Zusammenlebens immer noch die besten Be-dingungen für das Wohl der Kinder; diese Einschätzunghat der Gesetzgeber richtigerweise bisher nicht revidiert.

Zweitens. Die Vorgaben der Natur sind eine Richt-schnur für die Logik unseres Lebens. So gibt es natürli-cherweise bei der Funktion der Weitergabe des Lebensbereits keine Gleichstellung einer heterosexuellen Ehemit einer homosexuellen Partnerschaft. Dass es Lebens-partnerschaften gibt, wird damit nicht bestritten. Aus ih-nen kann aber nie Elternschaft entstehen.

Deshalb werden wir Ehe und Familie nicht relativie-ren, indem wir andere Formen menschlichen Zusam-menlebens in gleicher Weise ordnen. Die gesetzliche

Anerkennung als gleichgeschlechtliche Ehe ist undbleibt für uns nicht verfassungsgemäß.

Es ist erklärtes Ziel der christlich-liberalen Koalition,den öffentlichen Dienst zukunftsfähig zu gestalten. Diehier eingebrachten Regelungen sind ein wichtiger Mosa-ikstein, um die Attraktivität der Bundesverwaltung alsöffentlicher Arbeitgeber wieder ein Stück voranzubrin-gen.

Wir gewährleisten mit diesem Gesetzentwurf derBundesregierung unseren politischen Auftrag, Ehe undFamilie besonders zu schützen, erfüllen aber gleichzeitigauch die Erwartungen von Bürgerinnen und Bürgern, imDienstrecht bestimmte ehebezogene Regelungen auf Le-benspartnerschaften im Einklang mit unserer Verfassungzu übertragen.

Deshalb stimmen wir für den Antrag der Bundesre-gierung.

Norbert Geis (CDU/CSU): Im Gesetzentwurf derBundesregierung wird versucht, die vollständige Gleich-stellung der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaf-ten mit der Ehe im Recht des öffentlichen Dienstes desBundes, soweit es sich um ehebezogene Regelungenhandelt, herzustellen. Der Vorschlag der Grünen, überden ebenfalls heute entschieden wird, geht viel weiter.Die Grünen möchten durch einfache Gesetzgebung dietotale Gleichstellung der Lebenspartnerschaften mit derEhe in unserer Rechtsordnung erreichen. Das halte ichfür verfassungswidrig. Man kann nicht die Verfassungmit einem einfachen Gesetz durch die Hintertür ändern.Wer die Verfassung ändern oder ergänzen will, kann diesnur mit der dafür notwendigen qualifizierten Mehrheitund in dem dafür notwendigen Verfahren erreichen. Eineinfaches Gesetz genügt nicht. Dies wäre ein Verstoß ge-gen Art. 79 GG.

Wir haben einen Verfassungsstaat. Unsere Verfassungist die höchste Norm der staatlichen Rechtsordnung. Siehat Vorrang vor allen anderen Normen. Sie hat Geltunggegenüber allen Organen des Staates. Sie hat einen be-sonderen Bestandsschutz und ist deshalb nur schwer ab-änderbar – Art. 79 GG. Die Verfassung ist die Grundlageunseres Staatswesens. Sie ist unmittelbar geltendes Ver-fassungsrecht. Sie normiert höchste Rechtsgüter. Dazuzählt auch Art. 6 GG, der Schutz von Ehe und Familie.

Es handelt sich bei Art. 6 GG nicht um eine unver-bindliche Deklaration, sondern um einen Befehl der Ver-fassung an alle Staatsorgane, Ehe und Familie ganz be-sonders zu schützen. Die Verfassung hebt die Ehe unddie Familie in besonderer Weise heraus und stellt sie alshochrangiges Rechtsgut neben die Würde des Men-schen, das Recht auf Freiheit und Leben, auf Gleichheit,auf Glaubens- und Gewissensfreiheit und andere hoch-rangige Rechtsgüter.

Durch die völlige Egalisierung von Ehe und gleichge-schlechtlicher Lebensgemeinschaft wird die herausgeho-bene Bedeutung von Ehe und Familie verletzt. Die Le-benspartnerschaft soll gewissermaßen als eine weitereForm der Ehe gelten und dieselbe Förderung und densel-ben Rechtsschutz haben wie die Ehe auch. Sie soll in un-

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serer Rechtsordnung völlig gleichrangig neben der Ehestehen, mit denselben rechtlichen Regelungen. Wennzwei Institute in der Rechtsordnung völlig gleich behan-delt werden, dann sind sie auch gleich. Das ist das Zielder Grünen und der gesamten Opposition. Damit abermissachtet die Opposition nicht nur Art. 6 GG, sondernauch Art. 79 GG.

Das Verfassungsgericht hat in seinem Urteil vom17. Juli 2002 noch anerkannt, dass es sich bei der Eheum ein Aliud handele, um etwas ganz anderes. Dennochwar dieses Urteil der Beginn der Gleichstellung. Die Ar-gumentation des Gerichtes war blauäugig. Wenn zweiGegenstände gleich behandelt werden, dann sind sieauch gleich. Ungleiches kann man nicht gleich behan-deln. Da hilft auch die Beteuerung nicht, die Ehe sei et-was ganz anderes. Wer so argumentiert, macht sich un-glaubwürdig.

Durch das Ergänzungsgesetz zum Lebenspartner-schaftsgesetz vom Jahre 2005 wurde die rechtlicheGleichstellung mit der Ehe sehr weit vorangetrieben. DieTüre, die das Verfassungsgericht geöffnet hat, hat dieseinerzeitige Mehrheit mit großem Selbstbewusstseindurchschritten. Mit dem Urteil vom 7. Juli 2009 hat dasVerfassungsgericht diese Richtung bestätigt. Das Gerichtleitet aus Art. 3 GG ab, beide Personengruppen, die Ehe-leute und die gleichgeschlechtlichen Partner oder Partne-rinnen, seien deshalb gleich zu behandeln, weil sie beideeine sexuelle Orientierung hätten, wie unterschiedlichdiese auch sei. Das Gericht übergeht damit den eigentli-chen Grund, weshalb in der Verfassung Ehe und Familieals Höchstwert normiert sind. Ehe und Familie sind des-halb als ein Höchstwert durch die Verfassung herausge-stellt worden, weil sie die Generationenfolge sichern sol-len. Aus diesem Grund wird sie im Vergleich zu anderenmenschlichen Vereinigungen in besonderer Weise privi-legiert. Die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaftkann dies naturgemäß nicht leisten. Deshalb kann sie derEhe auch nicht gleichgestellt werden. Sie kann nicht alseine andere Form der Ehe mit dieser auf gleicher Höhestehen. Dadurch würde die Verfassung verändert, die indiesem Zusammenhang nur die Ehe und Familie alsHöchstwert herausgestellt hat. Wer dies ändern will,muss die Verfassung ändern. Der Versuch, über ein Ge-setz die Verfassung zu ändern, verstößt gegen Art. 79GG. Er ist verfassungswidrig. Der Antrag der Grünen istdeshalb abzulehnen.

Das Bestreben, die Lebenspartnerschaft durch einfa-ches Gesetz der Ehe gleichzustellen, verstößt gegenArt. 6 GG und gegen Art. 79 GG. Zwar wird mit demGesetzentwurf der Bundesregierung keinesfalls die voll-ständige Gleichstellung der beiden Institute erreicht. DasGesetzgebungsvorhaben ist deshalb für sich genommennicht verfassungswidrig. Es verstärkt aber die Tendenzund ist deshalb verfassungspolitisch sehr bedenklich.

Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Mit derheutigen Debatte und Beschlussfassung über die Gleich-stellung von Lebenspartnerschaften vollziehen wir einenweiteren Schritt hin zu Akzeptanz und Normalität ge-genüber homosexuellen Paaren in Deutschland. Das war

überfällig und kommt keineswegs zu früh. Der Gesetz-entwurf ist aber nicht ausreichend, denn durch eine will-kürliche Stichtagsregelung wird weiterhin echte Gleich-stellung verweigert.

Im Jahr 2001 haben SPD und Bündnis 90/Die Grünenendlich überhaupt erst die sogenannte Homo-Ehe einge-führt. Weil eben nicht die sexuelle Orientierung einesMenschen mehr oder weniger wertvoll ist, sondern dieBereitschaft, sich in Liebe zu binden und in guten wie inschlechten Tagen füreinander einzustehen, war dies einwichtiger Baustein bei der Öffnung unserer Gesellschaftfür Menschen, die auch heute noch unter Vorurteilen undoft genug auch unter Benachteiligungen zu leiden haben.

Nun hat uns das Verfassungsgericht aufgetragen, auchim öffentlichen Dienstrecht ehebezogene Regelungenauf die Lebenspartnerschaften zu übertragen. Die Euro-päische Union hat das Ihre unterstützend festgestellt.Was leider aus freien Stücken nicht gelang, wird sodurch unser höchstes Gericht erzwungen. Schade, dassdies überhaupt notwendig war.

Wir begrüßen ausdrücklich, dass die Koalition nun– nicht frei von zum Teil befremdlichen Kommentarenund geschmacklosen Bemerkungen – schließlich dochgeliefert hat. Wir bedauern, dass aber ein falscher Zeit-punkt für die rückwirkende Geltung der Ansprüche defi-niert wurde. Das einschlägige Gesetz gilt seit 2001. Abererst ab dem Januar 2009 will die Bundesregierung An-sprüche anerkennen. Das riecht nach Willkür und wirk-lich nur widerwillig vollzogener Gleichstellung.

Soweit haushalterische Gründe geltend gemacht wer-den, so überzeugen diese nicht. Denn es geht erstens umGleichstellung und nicht um Rechenschieberei, und eshandelt sich zweitens keineswegs um Unsummen, diehier in Rede stehen. Wohl aber wäre das Symbol einerWirksamkeit von Anfang an ein wichtiges Signal derBereitschaft zur Anerkennung gleichgeschlechtlicherBindungen.

Was heute angesichts der aktuellen Mehrheitsverhält-nisse nicht gelingt, bleibt ein Auftrag für morgen. Wirnehmen ihn an.

Michael Kauch (FDP): Schritt für Schritt zurGleichstellung von Lesben und Schwulen; heute setzenwir ein weiteres Projekt der FDP-Fraktion um.

Auf Initiative der Liberalen wurden eingetragene Le-benspartner bereits bei Erbschaftsteuer, Grunderwerb-steuer und BAföG mit Ehegatten gleichgestellt. Dabei istunser Ziel die volle Gleichstellung eingetragener Le-benspartnerschaften mit der Ehe.

Nun also folgt die Verabschiedung des Gesetzes zurGleichstellung von Lebenspartnern im Beamten-, Solda-ten- und Richterrecht sowie im Entwicklungshelfer-gesetz. Bereits vor Veröffentlichung der einschlägigenGerichtsurteile hatte die FDP in den Koalitionsverhand-lungen dieses Projekt gegenüber der Union durchgesetzt.

Jetzt also beschließen wir, was längst überfällig war.Während gesetzlich Rentenversicherte beim Tod des Le-benspartners seit 2005 eine Hinterbliebenenrente erhal-

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ten, ging bisher der Lebenspartner eines Bundesbeamtenkomplett leer aus. Eine himmelschreiende Ungerechtig-keit – und eine soziale Härte, die der Dienstherr verur-sacht hat, der doch eine besondere Fürsorgepflicht hat.Außerdem erfolgt nun bei Besoldung und Beihilfe eben-falls eine Gleichstellung mit verheirateten Kollegen. Dasist nur recht und billig, denn bei den Pflichten sind dieeingetragenen Lebenspartner ja schon längst mit Ehegat-ten gleichgestellt.

Wir Liberale meinen: Wer gleiche Pflichten hat, mussauch gleiche Rechte bekommen. Mit diesem Gesetzent-wurf wird ein weiterer Schritt zu diesem Prinzip ge-macht.

Doch wir sind bei der Gleichstellung noch nicht amEnde. Bei der Einkommensteuer und beim Adoptions-recht werden eingetragene Lebenspartner noch immerbenachteiligt. Auch diese Diskriminierung muss einEnde haben. Gerade bei der Einkommensteuer erinnernwir den Koalitionspartner an die Bestimmungen des Ko-alitionsvertrages. Dort haben wir vereinbart, dass wirauch im steuerlichen Bereich gleichheitswidrige Be-nachteiligungen eingetragener Lebenspartner abbauenwerden.

Heute freuen wir uns aber zunächst einmal gemein-sam darüber, dass der Staat seine lesbischen und schwu-len Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fair und gleichbe-rechtigt behandelt. Zeit wurde es!

Dr. Stefan Ruppert (FDP): Mit dem vorliegendenGesetzentwurf werden wir heute abschließend die Be-nachteiligung von Lebenspartnerschaften im öffent-lichen Dienstrecht abschaffen. Besonders die FDP hatlange für diese Gleichstellung gekämpft. Wir haben da-mit einen wichtigen Punkt aus dem Koalitionsvertragumgesetzt.

Das vorliegende Gesetz steht im Einklang mit derRichtlinie 2000/78/EG der Europäischen Union. DieRichtlinie des Rates stammt vom 27. November 2000.Ihr Ziel ist es, einen Rahmen für die Gleichbehandlungin Beschäftigung und Beruf vorzugeben. Sie ist eines derKernstücke der Gleichstellungspolitik der EuropäischenUnion.

Deutschland hat die Richtlinie durch das „Gesetz zurUmsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichungdes Grundsatzes der Gleichbehandlung“ vom 4. August2006 umgesetzt. Eine Reihe von Urteilen hat jedoch ge-zeigt, dass bei der Gleichstellung im Arbeitsleben nochRegelungsbedarf besteht. Ich möchte hier zwei Urteileexemplarisch herausgreifen:

Der Europäische Gerichtshof stellte 2008 im FallMaruko eine Ungleichbehandlung von Lebenspartner-schaften gegenüber den Ehen fest. Der Kläger Marukohatte geklagt, weil die „Versorgungsanstalt der Deut-schen Bühnen“ sich weigerte, ihm eine Hinterbliebenen-rente für seinen verstorbenen Lebenspartner zu zahlen.Der Europäische Gerichtshof stellte abschließend einenVerstoß gegen die erwähnte Richtlinie 2000/78/EG fest.

Auch das Bundesverfassungsgericht zeigte mit sei-nem Urteil vom 7. Juli 2009 Handlungsbedarf auf. Aus-gangspunkt war eine Verfassungsbeschwerde, die dieUngleichbehandlung von Ehen und eingetragenen Le-benspartnerschaften im Bereich der betrieblichen Hinter-bliebenenvorsorge für den öffentlichen Dienst, VBL,kritisiert. Das Bundesverfassungsgericht kam zu demSchluss, dass diese Ungleichbehandlung mit Art. 3 desGrundgesetzes unvereinbar ist.

Dieses Urteil war ein Meilenstein auf dem Weg zumehr Gleichbehandlung. Bis 2009 hatte die Mehrheit derdeutschen Gerichte die Auffassung vertreten, dass dasRechtsinstitut der Lebenspartnerschaft mit dem Rechts-institut der Ehe nicht vergleichbar ist. Die Gerichte gin-gen davon aus, dass der Gesetzgeber Ehen fördern darf,weil sie typischerweise zur Gründung einer Familie füh-ren. Das Bundesverfassungsgericht hat dies in seinemUrteil zurückgewiesen. Die abstrakte Vermutung, dassEhen typischerweise zur Gründung einer Familie führen,reichte nicht aus, um zahlreichen kinderlosen Ehen eineVergünstigung zukommen zu lassen, die kinderlosen Le-benspartnern vorenthalten blieb.

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun eben-falls einen „Gesetzentwurf zur Gleichstellung von einge-tragenen Lebenspartnerschaften im Bundesbeamtenge-setz und in weiteren Gesetzen“ vorgelegt. Es wäre bessergewesen, die Grünen hätte schon während ihrer Zeit ander Regierung dafür gesorgt, dass diese Gleichstellungim Beamtenrecht vorangetrieben wird. Wir müssen nunausbaden, was sie versäumt haben. Die christlich-libe-rale Bundesregierung ist wieder einmal der Reparaturbe-trieb für die Versäumnisse während der rot-grünen Re-gierungszeit.

Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierungist inhaltlich sehr weitgehend und wurde auch von Ver-bänden explizit gelobt. Eine Gleichstellung erfolgt ins-besondere durch folgende Maßnahmen: Im Bundesbe-soldungsgesetz werden die ehebezogenen Regelungenzum Familienzuschlag und zur Auslandsbesoldung aufLebenspartnerschaften ausgedehnt. Im Bundesbeamten-gesetz werden Lebenspartner in die Vorschrift über dieBeihilfe aufgenommen. Im Beamtenversorgungsgesetzund im Soldatenversorgungsgesetz werden Lebenspart-ner in die Regelungen zur Hinterbliebenenversorgungeinbezogen. Im Gesetz über den Auswärtigen Dienstwerden die Vorschriften über die Fürsorge des Auswärti-gen Amtes für die Ehegatten der ins Ausland entsandtenBeamten auf Lebenspartner ausgedehnt.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gehen wir nuneinen weiteren Schritt hin zu mehr Gleichberechtigungvon Lebenspartnerschaften. Es wird bestimmt nicht derletzte Schritt sein. Das ist auch gut so, weil es immernoch Bereiche gibt, in denen gleichgeschlechtliche Le-benspartnerschaften rechtlich benachteiligt sind. Von ge-sellschaftlicher Benachteiligung möchte ich an dieserStelle ganz absehen.

Frank Tempel (DIE LINKE): Der vorliegende Ge-setzentwurf ist eine notwendige Folge der EU-Antidis-kriminierungsrichtlinie, des Bundesverfassungsgerichts-

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urteils vom 9. Juli 2010 und der Rechtsprechung desEuropäischen Gerichtshofes. Denn bis heute hatte sichSchwarz-Gelb zu einer Aufhebung der Benachteiligungvon Lebenspartnerschaften im Beamten-, Einkommens-und Steuerrecht nicht durchringen können, obwohl diesim eigenen Koalitionsvertrag steht. Für mich ist es un-glaublich, dass diese rechtliche Gleichstellung bis heutenoch nicht erfolgt ist.

Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein richtigerSchritt, doch hatte man bei der Umsetzung nicht denEindruck von besonderer Eile oder gar von Herzblut.

Es ist richtig, die ehebezogenen Regelungen des Bun-desbesoldungsgesetzes, des Bundesbeamtengesetzes, desBeamtenversorgungsgesetzes und des Soldatenversor-gungsgesetzes auf die Lebenspartnerschaften auszudeh-nen. Es ist aber nicht nachvollziehbar, die Rückwirkungauf den 1. Januar 2009 zu legen. Richtiger ist der Ansatzim Gesetzentwurf der Grünen und im entsprechendenÄnderungsantrag der SPD und der Linken. Der 1. August2001 war der Termin der Einführung des Lebenspartner-schaftsgesetzes. Es spricht also nichts gegen diesen Ter-min.

Ich weiß nicht, ob es nur finanzielle Erwägungen sind,die es der Koalition unmöglich machen, diesen Termin zusetzen. Rechtlich wird sich der 1. Januar 2009 als Stich-tag nicht halten lassen, und das wissen Sie. In einem Ant-wortschreiben der Justizministerin an den Lesben- undSchwulenverband Deutschlands vom 23. Juni 2011 hatdie Ministerin unumwunden zugegeben, dass der 3. De-zember 2003 nach EU-Recht der Stichtag zur Gleichstel-lung von homosexuellen Partnerschaften ist. Es besteheaber „keine Aussicht“, so die Ministerin, „hierüber im …Gesetzgebungsverfahren mit dem Koalitionspartner eineEinigung erzielen zu können“. Sie begeben sich sehendenAuges in eine juristische Niederlage, und das, obwohl dieBundesländer Berlin und Sachsen-Anhalt, als sie ihreLandesbeamtinnen und -beamten gleichstellten, dieRückwirkung auf 2003 legten.

Wenn wir uns anschauen, wie Sie beispielsweise dieFristvorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Ände-rung des Wahlrechts unterlaufen und damit eine mögli-che Verfassungskrise in Kauf nehmen, wundert uns IhrVerhalten bei diesem Thema – Ihrer Meinung nach si-cherlich ein Randthema – nicht.

Die Linke kann deshalb dem Entwurf in der vorlie-genden Form nicht zustimmen und wird sich enthalten.

Vermutlich ist die inkonsequente Behandlung desProblems auf ein nach wie vor konservatives Familien-bild zurückzuführen. Familie ist für viele insbesonderein der CDU/CSU der eigentliche Ort der Kindererzie-hung. Alle anderen Formen werden geduldet, sollen abernicht unterstützt werden. Die Rechtsprechung des Bun-desverfassungsgerichts hat dem einen Strich durch dieRechnung gemacht. Und das ist gut so!

Die Linke will die rechtliche Gleichstellung und ge-sellschaftliche Akzeptanz der vielfältig vorhandenen Le-bensweisen. Dazu gehört vor allem die vollständigeÜberwindung der Ungleichbehandlung von heterosexu-

ellen Ehegatten und homosexuellen eingetragenen Le-benspartnerinnen und -partnern. Bisher sind Ehe und Le-benspartnerschaft in den Pflichten, beispielsweise dengegenseitigen Unterhaltspflichten, völlig gleichgestellt;die eingetragenen Lebenspartnerschaften werden aber invielen Bereichen des Rechts, etwa im Steuerrecht, imAdoptionsrecht und bei der Sozialversicherung, weiterbenachteiligt. Die Linke setzt sich deshalb für die völligeGleichstellung von Ehe und Lebenspartnerschaft in allenBereichen des Rechts ein.

Die Gleichberechtigung der Lebensweisen ist mit ei-ner bloßen Gleichbehandlung von Ehe und Lebenspart-nerschaft nicht erreicht. Denn es existiert eine Vielzahlvon Lebensweisen und Familienformen, für die eineEheschließung oder eine eingetragene Lebenspartner-schaft nicht infrage kommt: Einelternfamilien, Singles,zusammenlebende Freunde, Verwandte, Patchworkfami-lien, Wahlverwandtschaften oder auch Paare, die sichgegen Ehe und Lebenspartnerschaft entschieden haben.Deshalb kann die Gleichbehandlung von Ehe und Le-benspartnerschaft nur ein erster Schritt auf dem Weg zueiner umfassenden Lebensweisenpolitik sein, in der dieAnerkennung aller Lebensweisen zum Wohle der Be-troffenen, aber insbesondere der Kinder ein leitendesPrinzip ist.

Die Fraktion Die Linke will zum Beispiel das nichtmehr zeitgemäße, aus dem Jahre 1957 stammende Ehe-gattensplitting überwinden. Heute kann man nicht mehrdavon ausgehen, dass nahezu alle Ehepaare Kinder ha-ben. Das Ehegattensplitting begünstigt aber Ehepaareohne Rücksicht darauf, ob sie Kinder haben oder nicht.Es dient also nicht der Entlastung von Familien mit Kin-dern. In nichtehelichen Lebensgemeinschaften und alter-nativen Familienformen wird die Verantwortung für Le-benspartner und Kinder genauso übernommen. Andieser Realität geht das Ehegattensplitting vorbei.

Die Fraktion Die Linke fordert ein sozial gerechtes,einfaches und transparentes Steuersystem. Das bedeutetkonkret: Jede Frau und jeder Mann ist mit dem eigenenEinkommen unabhängig von der jeweiligen Lebens-weise – verheiratet, alleinstehend, geschieden – zu be-steuern. Steuerliche Mehreinnahmen, die aus der Strei-chung des Ehegattensplittings resultieren, sind für dieErhöhung des Kindergeldes zu verwenden. Ehepaare mitunterem oder/und mittlerem Einkommen werden durchden Wegfall des Ehegattensplittings nicht zusätzlich be-lastet, wenn gleichzeitig der Einkommensteuertarif zuihren Gunsten geändert wird.

Sehr geehrte Damen und Herren von der Regierungs-koalition, diskriminieren Sie nicht weiter nichtehelicheGemeinschaften, sondern stellen Sie sich den Realitätendes 21. Jahrhunderts!

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Dass die Koalitionsmehrheit heute den Gesetzentwurfder Bundesregierung unverändert annimmt und den Ge-setzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen ablehnt, kommteiner rechtsstaatlichen Bankrotterklärung gleich. Für dieliberale Rechtspolitik ist es ein Offenbarungseid, dassdie Bundesjustizministerin bereits vor Verabschiedung

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des Gesetzes dazu ermunterte, gerichtlich dagegen vor-zugehen.

Dem Gesetzentwurf zufolge sollen die verpartnertenBeamtinnen und Beamten, Richterinnen und Richter, Sol-datinnen und Soldaten und andere Versorgungsempfängerdes Bundes erst ab dem 1. Januar 2009 im Besoldungs-und Versorgungsrecht mit Ehegatten gleichgestellt werden.Das widerspricht dem bindenden Urteil des EuropäischenGerichtshofs vom 10. Mai 2011 in der Rechtssache Römer.Der EuGH hat entschieden, dass die Betroffenen ab demAblauf der Umsetzungsfrist der arbeitsrechtlichen Antidis-kriminierungsrichtlinie am 3. Dezember 2003 Anspruchauf dasselbe Arbeitsentgelt wie ihre verheirateten Kolle-gen haben, und zwar unabhängig davon, ob der deutscheGesetzgeber die Gesetze entsprechend ändert oder nicht.

Hierauf hat der Lesben- und Schwulenverband inDeutschland die Bundesjustizministerin mit einemSchreiben vom 10. Mai 2011 hingewiesen. Die Bundes-justizministerin hat in ihrem Antwortschreiben vom23. Juni 2011 die Rechtsauffassung des LSVD bestätigt.Wörtlich schreibt sie:

Der Europäische Gerichtshof hat am 10. Mai 2011entschieden, dass Betroffene das durch die Richtli-nie 2000/78/EG gewährleistete Recht auf Gleichbe-handlung ab dem Ablauf der Umsetzungsfrist, alsoab dem 3. Dezember 2003, unmittelbar aus derRichtlinie geltend machen können. Dabei müssensie nach der ausdrücklichen Feststellung des Ge-richts gerade nicht abwarten, dass der nationale Ge-setzgeber die maßgeblichen Vorschriften mit demUnionsrecht in Einklang bringt.

Dieser Gesetzentwurf ist also so eindeutig europa-rechtswidrig, dass selbst BundesjustizministerinLeutheusser-Schnarrenberger die Betroffenen damittrösten möchte, sie könnten doch vor Gericht ziehen.Das ist schlichtweg zynisch. Wie können die Bundesjus-tizministerin und die FDP angesichts solch hochnotpein-licher Gesetzgebung noch davon sprechen, für Gleichbe-rechtigung und Bürgerrechte stehen zu wollen?

Das Dilemma ist schnell erkannt, denn in ihremSchreiben an den LSVD erklärt die Bundesjustizministe-rin auch, sie sehe keine Aussicht, über das erkannte Pro-blem im bereits seit längerer Zeit laufenden Gesetz-gebungsverfahren mit dem Koalitionspartner eineEinigung erzielen zu können. Die Koalition bricht alsoganz bewusst das Recht und ist in einem wesentlichenmenschenrechtlichen Aspekt tief gespalten. Die Unionwill den Lesben und Schwulen ihre Rechte vorenthalten,weil sie für sie offenbar keine vollwertigen Staatsbürge-rinnen und Staatsbürger sind. Die FDP hingegen betreibtnur verbale Imagepflege, will aber für die Rechte vonLesben und Schwulen keinen Koalitionskrach riskieren.

Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Paare im Be-amtenrecht wie in anderen Rechtsgebieten ist verfassungs-und europarechtswidrig. Bündnis 90/Die Grünen wieder-holen dies seit dem Inkrafttreten des Lebenspartnerschafts-gesetzes 2001, und das wurde mehrmals gerichtlich festge-stellt. Dennoch musste sich die Bundesrepublik nicht nurvor den nationalen Gerichten, sondern auch auf der euro-

päischen Ebene – vor dem Europäischen Gerichtshof inLuxemburg mit der Maruko-Entscheidung und vor der Eu-ropäischen Kommission in einem Vertragsverletzungsver-fahren – mehrmals blamieren, bis sie sich zu einem Re-formschritt im Dienstrecht entschieden hat.

Dass nun endlich und viel zu spät ein Gesetzentwurfzur Gleichstellung im Dienstrecht bei der Pension, beimFamilienzuschlag und bei der Beihilfe im Krankheitsfallverabschiedet wird, ist positiv. Allerdings sollen die Le-benspartnerinnen und Lebenspartner nach dem Willen derschwarz-gelben Koalition erst ab dem 1. Januar 2009gleichgestellt sein. Das ist ein völlig willkürlich ausge-wähltes Datum, das erneut den Diskriminierungsverbotendes Grundgesetzes und der EU-Antidiskriminierungs-richtlinie nicht Rechnung trägt und im Widerspruch zurRechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steht. Eswerden also weitere Bedienstete des Bundes gegen das ei-gene Land klagen müssen, um ihre Rechte zu bekommen,und die Bundesjustizministerin weiß dies bereits und er-mutigt sie dazu.

Die FDP-Fraktion und ihr stellvertretender Fraktions-vorsitzender Kauch kündigen „Wochen der schwul-les-bischen Gleichstellung“ an, um vermeintliche Wohltatenzu feiern. Die Wahrheit ist: Die schwarz-gelbe Koalitiondiskriminiert, wo sie nur kann. Und die eigene Ministe-rin darf die Suppe dann auslöffeln und wird bloßgestellt.

So demontiert man die eigenen Leute, so demontiertman den eigenen Anspruch als Bürgerrechtspartei, undso demontiert man die Gleichheitsrechte von Lesben undSchwulen.

Anlage 16

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzeszur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 3 Ab-satz 3 Satz 1) (Tagesordnungspunkt 12)

Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Die uns heutezur Änderung des Art. 3 Abs. 3 unserer Verfassung vor-liegenden Anträge der Opposition stellen für mich inzweierlei Hinsicht etwas Besonderes dar:

Zum einen durfte ich zu den Anträgen, mit denen dasMerkmal der sexuellen Identität ins Grundgesetz aufge-nommen werden soll, meine erste Rede, meine Jungfern-rede in diesem Hohen Haus halten. Das bleibt einemschon in Erinnerung.

Zum anderen sind diese Anträge für mich etwas Be-sonderes – und das ist noch wichtiger –, weil ich Abge-ordneter des Wahlkreises Tempelhof-Schöneberg in Ber-lin bin. Der eine oder andere wird sich in Berlinvielleicht etwas auskennen und wissen, dass der StadtteilSchöneberg dafür bekannt ist, dass er neben Köln diehöchste Konzentration von Schwulen und Lesben inganz Deutschland hat. Mein Bundestagswahlkreis istalso ein wirklich bunter und vielfältiger Wahlkreis, dervor allem für eines steht: für Toleranz.

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Die Menschen in Tempelhof-Schöneberg und – wennich das am Rande sagen darf – auch die Parteien gehenganz unbefangen mit Schwulen und Lesben um. Sie sindmittlerweile selbstverständlicher Bestandteil unserer Ge-sellschaft. Und ich finde das auch gut und richtig so.

Aber wahr ist auch, dass es immer noch Diskriminie-rungen von Schwulen und gewalttätige Übergriffe gegensie gibt. Leider ist auf vielen Schulhöfen das Schimpf-wort „schwule Sau“ immer noch absolut gebräuchlich.Und noch immer hat sich kein Spitzenfußballer offen zuseiner Homosexualität bekannt. Diese Probleme, denenSchwule und Lesben teilweise in der gesellschaftlichenRealität ausgesetzt sind, nehme ich sehr ernst.

Deswegen sage ich an dieser Stelle für meine Fraktionund auch ganz persönlich klar und unmissverständlich:Deutschland ist ein modernes und weltoffenes Land. DieDiskriminierung von Anderslebenden oder Anderslie-benden ist nicht akzeptabel. Die Ziele und Anliegen, diemit den vorgelegten Gesetzesanträgen verfolgt werden,teile ich daher uneingeschränkt.

Die entscheidende Frage ist nun: Erreichen wir diesesgemeinsame Ziel mit der von Ihnen vorgeschlagenenVerfassungsänderung? Wird die tatsächliche Lebens-situation von Schwulen danach wirklich anders sein?Können wir Diskriminierungen damit wirksam begeg-nen?

Ich bin der festen Überzeugung, dass es uns nichtweiterhelfen wird, das Merkmal der sexuellen Identitätausdrücklich im Grundgesetz zu verankern. Deswegenwerden wir Ihre Anträge auch ablehnen.

Denn – auch das gehört zu einer ehrlichen Bestands-aufnahme – unsere Verfassung bietet bereits einen um-fassenden Schutz. Das Grundgesetz selbst gewährleistetdie sexuelle Selbstbestimmung, und das nicht nur durchdas allgemeine Persönlichkeitsrecht. Es ist vor allenDingen der allgemeine Gleichheitsgrundsatz des Art. 3Abs. 1 des Grundgesetzes, der vor Diskriminierungschützt.

Auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungs-gerichts ist der Schutz vor Diskriminierungen aufgrundder sexuellen Identität in den letzten Jahren konsequentausgebaut worden. Sie alle kennen die Urteile, mit deneninsbesondere die Gleichstellung von eingetragenen Le-benspartnerschaften und der Ehe forciert wurde. Ohne indie juristischen Details zu gehen, können wir unter demStrich festhalten, dass das Bundesverfassungsgericht denSchutzinhalt von Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz bereits jetztgenau so bestimmt, als ob das Merkmal der sexuellenIdentität in Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz ausdrücklich ge-nannt wäre.

Insofern ist das, was Sie hier mit Ihren Anträgen er-reichen wollen, nämlich dass der einfachrechtliche Ge-setzgeber durch das Grundgesetz eine klare und verbind-liche Vorgabe erhält, bereits immanenter Bestandteil derVerfassung.

Was schlussfolgern wir daraus? Ich für meinen Teilglaube, dass Sie mit Ihren Anträgen nichts weiter alsSymbolpolitik betreiben. Sie wissen sehr genau, dass mit

einer solchen Verfassungsänderung unmittelbar garnichts bewirkt würde.

Das hat im Übrigen auch die Anhörung gezeigt, diewir im Rechtsausschuss durchgeführt haben. Die ganzüberwiegende Auffassung der Sachverständigen war inihrem Meinungsbild klar: Es gibt bereits einen umfas-senden verfassungsrechtlichen Schutz. Kein einzigerSachverständiger hat ausgeführt, dass in den Bundeslän-dern, in denen das Merkmal der sexuellen Orientierungin der Verfassung verankert ist, die rechtliche oder tat-sächliche Situation von Homosexuellen besser ist. Wenndas aber der Befund ist, wieso sollten wir dann dasGrundgesetz ändern?

Was wir brauchen, sind nicht theoretische Debatten,sondern praktische Ansätze. Gewalt beginnt mit Vorur-teilen im Kopf; an die müssen wir heran und gerade beijungen Menschen und oftmals auch Menschen mit Mi-grationshintergrund für Toleranz und Akzeptanz andererLebensweisen werben. Deswegen brauchen wir Aufklä-rungsarbeit in den Schulen. Und wir müssen diejenigenstärken, die Zivilcourage zeigen, wenn sie sich für Men-schen erheben, die wegen ihrer sexuellen Identität ange-feindet werden.

Deswegen sind zum Beispiel auch Veranstaltungenwie das lesbisch-schwule Stadtfest in Schöneberg, dasMotzstraßenfest, so wichtig. Es spricht für sich, dass da-ran mehrere Hunderttausend Menschen teilgenommenund es damit zum größten homosexuellen Straßenfest inEuropa gemacht haben.

Auch der Christopher Street Day letztes Wochenendemit seinem Motto „Fairplay für Vielfalt“ – an dem ichwie auch beim Motzstraßenfest selber teilgenommenhabe – war ein eindrucksvolles Signal für Gleichstellungund gegen Diskriminierung. Über eine halbe MillionMenschen haben friedlich gemeinsam gefeiert, getanztund diskutiert, und das waren bei weitem nicht nurSchwule.

Solche Veranstaltungen, die öffentlich auf bestehendeDefizite hinwiesen und für Toleranz und Akzeptanz wer-ben, bewirken weit mehr, als es eine Verfassungsände-rung jemals könnte.

Lassen Sie mich abschließend festhalten: Durch un-sere Verfassung wird bereits ein umfangreicher Schutzgegen Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identitätgewährleistet. Es gibt eine Fülle von einfachrechtlichenVorschriften, mit denen solchen Diskriminierungenwirksam begegnet wird. Auch durch das Unionsrechtwerden Ungleichbehandlungen verbindlich verboten.

Wir haben unsere Verfassung seit ihrem Inkrafttreten1949 fast 60-mal geändert – manches Mal mit gutenGründen, aber nach meiner Auffassung insgesamt deut-lich zu oft. Unser Grundgesetz ist immer noch eine sehrgute, eine bewährte Verfassung. Die Union will, dass dasauch so bleibt. Wir wollen deshalb keine Verunklarungdes Verfassungstextes durch neue Inhalte, durch die keinMehr an Schutz geboten wird und die daher nicht erfor-derlich sind. Deswegen spricht sich die Union gegen dievorliegenden Gesetzesentwürfe zur Änderung desGrundgesetzes aus.

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Norbert Geis (CDU/CSU): Die Gesetzentwürfe wol-len in Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz nach den Wörtern „we-gen seines Geschlechtes“ die Wörter „seiner sexuellenIdentität“ einfügen. Durch die Verankerung in der Ver-fassung soll der Schutz vor Diskriminierung und Un-gleichbehandlung verstärkt werden. Dieser Versuch ei-ner Verfassungsänderung muss nach meiner Auffassungscheitern, weil die Voraussetzungen für eine Verfas-sungsänderung fehlen. Es besteht kein Regelungsbedarf.Die Bestimmtheit des Begriffes „sexuelle Identität“ istnicht gegeben. Durch eine solche Verfassungsänderungwürde Art. 6 GG, der Schutz von Ehe und Familie, zu-rückgedrängt.

Erstens: kein Regelungsbedarf. Die Verfassung istkein Instrument, um persönliche Befindlichkeiten einerbestimmten Gruppe zu berücksichtigen. Sie ist kein Bil-derbuch. Sie ist kein Sammelsurium von Wunschvorstel-lungen. Die Verfassung ist die Grundlage unseres gesell-schaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenlebens. Siemuss einen festen Rahmen geben, auf den Verlass ist, dernicht ständig geändert werden kann. Es dürfen auchnicht zu viele spezielle Regelungen in die Verfassung ge-packt werden, weil sonst eine zu starke Beschränkungdes Gesetzgebers, der ausführenden Gewalt und der Jus-tiz gegeben ist.

Die Verfassung bleibt nur dann Grundlage unseres ge-sellschaftlichen und staatlichen Zusammenlebens, wennsie von einem großen Konsens getragen wird. Deshalbmuss bei jeder Verfassungsänderung die Frage gestelltwerden, ob dadurch nicht die Integrationsfunktion derVerfassung, der Zusammenhalt der Gesellschaft, gestörtwird und ob dadurch nicht eine erhöhte Distanz weiterBevölkerungsteile zu der Verfassung geschaffen wird.Diese Fragen sind an den vorliegenden Entwurf zu rich-ten.

In der Bevölkerung besteht zweifellos eine großeAchtung vor der Privatsphäre und insbesondere vor demIntimbereich eines jeden Einzelnen. Deshalb reagiert dieÖffentlichkeit auch empfindlich auf Diskriminierungen.Eine eigene Absicherung der Rechte der Homosexuellenin der Verfassung ist daher nicht erforderlich. Der Schutzdes allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Art. 2 Abs. 2in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und im Gleichheitssatzdes Art. 3 Grundgesetz reicht aus. Dies betont ja auchdas Verfassungsgericht in seinem Urteil vom 7. Juli2009. Durch einfachrechtliche Regelungen ist es mög-lich, das verständliche Bedürfnis der Homosexuellenbe-wegung nach Sicherheit und Gleichheit zu erfüllen. Diesist ja auch schon weithin geschehen. Eine eigene Eintra-gung in die Verfassung ist nicht erforderlich.

Dies bestätigen ja auch die fast gleichlautenden Be-gründungen der drei Gesetzentwürfe. Dort wird ausge-führt, dass die gesellschaftliche Toleranz gegenüber Les-ben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern, transsexuel-len und intersexuellen Menschen in den letzten Jahr-zehnten deutlich zugenommen hat. Toleranz heißt abernicht Akzeptanz. In der Gesellschaft wird immer einegewisse Distanz zu dieser Gruppe bestehen bleiben,gleichgültig, was in der Verfassung steht. Solche Aktio-

nen wie diese Gesetzesvorschläge vergrößern eher dieDistanz, als dass sie sie verringern.

Es kann im Übrigen durchaus sein, dass viele die Ver-ankerung in der Verfassung nicht nur als überflüssig,sondern auch als aufdringlich empfinden. Der Bogenkann auch überspannt werden. Das wäre kontraproduk-tiv.

Zweitens: mangelhafte Bestimmtheit. Zu dem fehlen-den Regelungsbedarf kommt die mangelhafte tatbe-standliche Bestimmtheit der Formulierung „sexuelleIdentität“. Was heißt sexuelle Identität? Mit dieser For-mulierung wird der Unterschied zwischen sexuellerOrientierung und sexueller Identität vermischt. Die ge-schlechtliche Identität ist durch die Natur vorgegeben.Es gibt die geschlechtliche Identität des Mannes und diegeschlechtliche Identität der Frau. Eine dritte ge-schlechtliche Identität gibt es nicht. Das, was die Geset-zesentwürfe unter Identität meinen, ist als sexuelleOrientierung zu verstehen. Auch das Verfassungsgerichtverwendet in seinem Urteil vom 7. Juli 2009 nicht denBegriff der sexuellen Identität, sondern ausschließlichden der sexuellen Orientierung. Der Schutz der sexuel-len Identität ist schon in Art. 3 Abs. 3 gewährleistet. DerSchutz der sexuellen Orientierung dagegen ist schlech-terdings in der Verfassung nicht regelbar. Dann würdedarunter ja auch die Pädophilie als eine Art sexuellerOrientierung fallen. Dies aber wollen alle drei Entwürfenicht. Sie wollen nicht alle sexuellen Orientierungendurch die Verfassung geschützt wissen. Dies käme auchleicht einer Trivialisierung unserer Verfassung gleich.Eine klare, unmissverständliche Formulierung ist nichtmöglich.

Drittens: Verletzung von Art. 6 GG. Auch deshalb istdie geplante Verfassungsänderung abzulehnen, weil da-durch der Schutz von Ehe und Familie und deren beson-dere Förderung durch den Staat ins Hintertreffen geratenkönnten. Die schon jetzt gegebenen Abgrenzungs-schwierigkeiten zwischen dem Gebot, Ehe und Familiezu fördern, und dem Diskriminierungsverbot würden zu-lasten von Ehe und Familie verstärkt. Das Urteil des Ver-fassungsgerichtes vom 7. Juli 2009 hat dazu beigetragen,dass die besondere Verpflichtung des Staates, Ehe undFamilie zu fördern, mehr und mehr nivelliert wird. Eineweitere Egalisierung ist nicht hinnehmbar. Die Wertent-scheidung der Verfassung zugunsten von Ehe und Fami-lie darf nicht konterkariert werden.

Aus diesen drei Gründen – der mangelnden Erforder-lichkeit, der fehlenden präzisen Formulierung und derBeschädigung der Wertentscheidung der Verfassung hin-sichtlich von Ehe und Familie – sind diese Gesetzent-würfe abzulehnen.

Sonja Steffen (SPD): Nach Art. 3 Abs. 3 des Grund-gesetzes darf niemand wegen seines Geschlechtes, sei-ner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seinerHeimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösenoder politischen Anschauungen oder wegen seiner Be-hinderung benachteiligt oder bevorzugt werden. Die An-träge der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und derFraktion der Grünen, über die wir heute reden, zielen da-

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rauf ab, Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes zu bereichernum den Zusatz der sexuellen Identität. Wir wollen, dassdie sexuelle Identität zukünftig grundgesetzlich ge-schützt wird.

Überall auf der Welt gibt es Menschen, die sich einemanderen Geschlecht zugehörig fühlen als dem, das siemit ihrer Geburt erhalten haben. Und überall auf derWelt gibt es Menschen, die mit Geschlechtsmerkmalengeboren werden, die nicht eindeutig weiblich odermännlich zuzuordnen sind. Es gibt überall Menschen,die Menschen gleichen Geschlechts lieben und begeh-ren.

Der Europarat veröffentlichte vor kurzem den wichti-gen Bericht „Discrimination on grounds of sexual orien-tation and gender identity in Europe“. Er liefert eine um-fassende Übersicht zu tatsächlichen und rechtlichenDiskriminierungen aufgrund der sexuellen Identität inEuropa. Zudem enthält der Bericht konkrete Empfehlun-gen an alle Mitgliedstaaten zur Beendigung der Diskri-minierungen und zur Steigerung der Akzeptanz unter-schiedlicher sexueller Orientierungen. Er machtdeutlich, dass das Recht auf sexuelle Identität ein Men-schenrecht ist. Denn weltweit sind Menschen aufgrundihrer sexuellen Orientierung permanent Menschen-rechtsverletzungen ausgesetzt, die in vielen Formen auf-treten: der Aberkennung des Rechts auf Leben, der Fol-ter, der Diskriminierung beim Zugang zu sozialen undkulturellen Rechten wie Gesundheit, Unterkunft, Bildungund Arbeit, der Nichtanerkennung persönlicher Bindun-gen und Familienverhältnisse, der Unterdrückung ver-schiedener Geschlechteridentitäten und dem gesellschaft-lichen Zwang, still und unerkannt zu bleiben.

Sexuelle Identität darf in unserem Staat nicht länger einGrund für Diskriminierung sein. Auch Ingrid Sehrbrock,die stellvertretende DGB-Vorsitzende, hat sich anlässlichdes Christopher Street Day dafür eingesetzt, den Art. 3des Grundgesetzes entsprechend zu ändern. Sie wies da-rauf hin, dass homosexuelle und transsexuelle Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer Diskriminierung am Ar-beitsplatz erfahren – sei es in Form von Mobbing,Versetzung oder gar Kündigung. Noch immer ver-schweigen deshalb viele Menschen ihre sexuelle Identi-tät im Beruf.

Ein weiteres Beispiel: Immer noch ist es in Deutsch-land nicht möglich, dass gleichgeschlechtliche Paaregemeinsam ein Kind adoptieren. Wir hatten hier imDeutschen Bundestag erst vor kurzem eine Expertenan-hörung, die – zumindest aus unserer Sicht – gezeigt hat,dass es keine vernünftigen Gründe gibt, gleichge-schlechtlichen Paaren dieses Recht zu verweigern.Wichtiger Grund für die unterschiedliche Behandlungvon Eheleuten und Lebenspartnern scheint für konserva-tive Verfassungsrechtler immer noch die unterschied-liche Wertung im Grundgesetz zu sein.

Ich halte die These, das Grundgesetz sei nicht dierichtige Stelle für einen besonderen Schutz der sexuellenIdentität, für falsch. Richtig ist natürlich, dass wir tun-lichst vermeiden sollten, das Grundgesetz mit Normenzu überfrachten, die auch durch eine einfachgesetzlicheRegelung ausreichende Bedeutung erlangen.

Aber: Das Grundgesetz erlaubt und ermöglicht, ja,verlangt sogar von uns als Gesetzgeber eine behutsameFortentwicklung und Fortschreibung der Grundrechte.Insbesondere dann, wenn die Menschenwürde und diegleiche Freiheit der Bürgerinnen und Bürger ganz grund-sätzlich in Gefahr ist, ist die Verfassung genau die rich-tige Ebene. Der Verfassungsgesetzgeber hat genau ander Stelle des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes dieMöglichkeit, grundlegende Zeichen zugunsten der Min-derheiten zu setzen, also zugunsten derjenigen, die zurGeltendmachung ihrer Rechte nicht die erforderlichenMehrheiten erreichen können.

Was das abgegriffene Argument betrifft, dass man mitder Aufnahme der sexuellen Identität in den Art. 3 desGrundgesetzes der Pädophilie Tür und Tor öffnet: DerBegriff der „sexuellen Identität“ ist ein unbestimmterRechtsbegriff, der bereits heute juristische Verwendungfindet. Hinsichtlich der Auslegung dieses Rechtsbegriffsdürfen wir dem Verfassungsgericht und der rechtswis-senschaftlichen Dogmatik vertrauen. Es ist im Übrigenzu erwarten, dass eine eher enge, konservative Deutungdes Grundrechts erfolgen wird.

Deutschland wäre keineswegs das erste Land, das einVerbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Iden-tität in seine Verfassung schriebe. Die EU-Grund-rechtecharta enthält in Art. 21 ein Diskriminierungsver-bot aufgrund von sexueller Ausrichtung. In Kanada,Portugal, Schweden, in der Schweiz und in Brasilienschützen die Verfassungen Bürgerinnen und Bürger aus-drücklich vor Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellenOrientierung. Bereits fünf Bundesländer, zuletzt dasSaarland im April 2011, haben den Schutz der sexuellenIdentität in ihre Landesverfassungen aufgenommen.

Deshalb appelliere ich an dieser Stelle an die Regie-rungskoalition: Schließen Sie sich dem Antrag an, berei-chern wir gemeinsam das Grundgesetz um den Schutzder sexuellen Identität! Wir würden damit ein wichtigesZeichen gegen die Diskriminierung der betroffenen Bür-gerinnen und Bürger und für eine moderne, offene undtolerante Gesellschaft setzen.

Marco Buschmann (FDP): Wir debattieren heutedarüber, ob es geboten ist, die sexuelle Identität in Art. 3Abs. 3 des Grundgesetzes aufzunehmen.

Die Debatte wird in diesen Tagen besonders aufmerk-sam verfolgt. In den Monaten Juni und Juli finden tradi-tionell die Christopher Street Days statt. Was in denSiebzigerjahren in den USA als kleine Protestdemons-tration gegen die Diskriminierung von Homosexuellenbegonnen hat, ist mittlerweile in der Mitte der Gesell-schaft angekommen. Zum Berliner CSD am letzten Wo-chenende kamen mehr als 700 000 Menschen. BeimCSD in Köln waren in den letzten Jahren jeweils zwi-schen 650 000 und 1 Million Besucher. Im Vergleichdazu protestierten in Köln nach der Reaktorkatastrophevon Fukushima circa 10 000 Menschen gegen die Atom-kraft. Und selbst in Stuttgart zählte der CSD 2010 über200 000 Besucher. Damit ließ er die größte Demonstra-tion gegen Stuttgart 21 mit 50 000 Demonstranten klarhinter sich.

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Diese Zahlen zeigen eines sehr deutlich: Die kleinenProtestveranstaltungen sind heute große Volksfeste. Hierfeiern Jung, Alt, Homo, Hetero und ihre Familien mitei-nander. Das ist die Wirklichkeit in unserem Land. Abersie kommt nicht von ungefähr. Diese Offenheit baut aufvielen Maßnahmen in der Rechts- und Gesellschaftspoli-tik unseres Landes auf.

Die FDP-Bundestagsfraktion hat für die Gleichstel-lung von Schwulen und Lesben schon viel erreicht:

Wir haben 1973, zusammen mit der SPD, den An-wendungsbereich des berüchtigten § 175 StGB mini-miert und diesen dann 1994 mit der Union vollständigabgeschafft.

Wir haben die volle Gleichstellung bei der Erb-schafts- und Grunderwerbsteuer sowie beim BAföG er-reicht.

Wir werden heute die Initiative der Koalition verab-schieden, um die ehe- und familienrechtlichen Regelun-gen im Beamtenrecht auf die gleichgeschlechtlichen Le-benspartnerschaften zu übertragen.

Wir werden die Magnus-Hirschfeld-Stiftung einrich-ten, die durch interdisziplinäre Forschung und Bildungder Diskriminierung Homosexueller entgegenwirkensoll.

Und wir werden, wie im Koalitionsvertrag mit derUnion vereinbart, die Diskriminierung im Steuerrecht fürgleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften abbauen.

All diese Initiativen der FDP-Fraktion sind Beiträgedazu, dass Schwule und Lesben in unserem Land in ei-nem toleranten und offenen Klima leben können. Welt-weit gibt es wenige Länder, die eine solche Offenheitund Selbstverständlichkeit im Umgang mit der Vielfaltsexueller Identitäten an den Tag legen. Für all dieseDinge haben wir uns vehement und aus Überzeugungeingesetzt, weil sie den Schwulen und Lesben inDeutschland etwas gebracht und konkrete Diskriminie-rungen abgebaut haben.

Zu diesem Klima haben viele kleine Schritte beigetra-gen, ohne dass es dafür je einer Grundgesetzänderungbedurfte. Bei aller Sympathie für das Anliegen müssenwir uns alle die Frage stellen, was die beantragte Grund-gesetzänderung denn konkret bringen soll? Wir müssenuns fragen, ob es überhaupt eine Schutzlücke gibt, diedurch eine Grundgesetzänderung geschlossen werdenmuss. Genau eine solche Schutzlücke gibt es aber nicht.Denn in Deutschland fehlt es nicht am verfassungsrecht-lichen Schutz der sexuellen Identität.

Sie alle kennen die entsprechende Entscheidung desBundesverfassungsgerichts vom 7. Juli 2009. Es leitetaus Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz einen grundrechtlichenSchutz der sexuellen Identität ab, und zwar auf demsel-ben Schutzniveau wie bei Art. 3 Abs. 3. Diesen Befundhat auch die Mehrheit der Sachverständigen in der öf-fentlichen Anhörung des Rechtsausschusses bestätigt.

Kurzum: Die beantragte Grundgesetzänderung hättelediglich symbolische Wirkung. Wir wollen aber keineSymbolpolitik, sondern das alltägliche Leben von Men-

schen, ganz gleich welcher sexuellen Identität, verbes-sern. Wir müssen eins tun: konkrete Diskriminierungenidentifizieren und beseitigen, damit Schwule und Lesbendie gleichen Chancen in unserer Gesellschaft haben, wiealle anderen auch!

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Es passiert selten,dass die Oppositionsparteien drei nahezu gleichlautendeGesetzentwürfe zur Grundgesetzerweiterung vorlegen.Dies ist gut so.

Die Linke, die SPD sowie Bündnis 90/Die Grünenwollen die Merkmale, die zu einer Diskriminierung füh-ren können, im Grundgesetz vervollständigen, damit sieeinem verfassungsrechtlichen Verbot unterliegen. UnserGesetzentwurf unterscheidet sich an einer kleinen, aberwichtigen Stelle. Wir haben ausdrücklich betont, dassder Schutz der sexuellen Identität keine pädophilen Ori-entierungen beinhaltet. Dies ist eigentlich eine Selbst-verständlichkeit. Aber notwendig, denn von konservati-ver Seite wurde ein vermeintlicher Schutz dieseskriminellen Vergehens als Argument gegen die Grund-gesetzerweiterung ins Feld geführt.

Doch bei diesem gemeinsamen Anliegen geht es umeine Kernfrage: Wer ist ein Mensch und welche Eigen-schaften eines Menschen dürfen niemals zu einer Beein-trächtigung seiner Würde führen? In Art. 3 Abs. 3 GGheißt es: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, sei-ner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seinerHeimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösenoder politischen Anschauungen benachteiligt oder be-vorzugt werden.“ So lautet das Allgemeine Gleichbe-handlungsgebot im Grundgesetz seit 1949.

Erst 1994 wurde noch das Verbot aufgrund einer Be-hinderung mit aufgenommen. Das Verbot aufgrund dersexuellen Identität wurde 1994 zwar bereits diskutiert,dies war aber leider nicht mehrheitsfähig.

Auch die Anfänge der Demokratie, der Polis, be-schäftigten sich mit der Frage, welche Menschen bzw.welchen Bürgern verbriefte Rechte zukommen sollten.Die griechische Polis schränkte die ersten demokrati-schen Rechte auf freie, männliche Athener ein. Bürger-rechte, und damit einen Schutz vor Willkür, erhielt somitnur eine sehr kleine Minderheit.

Die Französische Revolution trat mit der Losung an:Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Erst als Olympe deGouges „Die Rechte der Frau und Bürgerin“ prokla-mierte, wurde auch die Schwesterlichkeit zum Themader Bürgerrechte. Doch Olympe de Gouges sollte diesauf das Schafott bringen.

In Deutschland sollte es lange dauern, bis Frauen glei-che Rechte erhielten. Das Recht, zu wählen, zu studie-ren, oder auch die Gewalt des Ehemanns anzeigen zudürfen. Der berühmte Satz „Frauen und Männer sindgleichberechtigt“ in Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes,war keine Selbstverständlichkeit. Die wenigen Frauenim Parlamentarischen Rat mussten ihn in einem hartenRingen durchsetzen. Doch bis 1957 konnten Männer ih-

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ren Ehefrauen die Aufnahme eines Jobs untersagen. Underst 1997 wurde die Vergewaltigung in der Ehe strafbar.

Schauen wir nochmals zurück: Die französische Re-volution trug trotz alledem den Wind der Freiheit in dieWelt: Bürgerrechte. Der Code Napoléon sorgte unter an-derem für die Trennung von Kirche und Staat, für dasEherecht, der Straflosigkeit homosexueller Handlungenund vieles mehr. Am napoleonischen Vorbild orientiertesich auch Bayern, und so waren von 1810 bis 1854,nämlich bis zur Einführung des preußischen Strafgesetz-buch in Bayern, einvernehmliche sexuelle Handlungenzwischen Männern straflos.

Ab 1854 war die männliche Homosexualität dann inganz Deutschland strafbar. Die Nationalsozialisten ver-schärften die Gesetzgebung gegen schwule Männer mas-siv. Viele Tausend schwule Männer starben in Haft oderin Konzentrationslagern. Diese Gesetzgebung, der § 175in der Fassung der Nationalsozialisten, bestand in derBundesrepublik bis 1969. Erst 1994 wurde er endgültigaus dem Strafgesetzbuch gestrichen.

Die sexuelle Identität ist ein Merkmal, das jedemMenschen eigen ist. Niemand kann sich dem entziehen.Noch heute werden Menschen wegen ihrer sexuellenIdentität im Alltagsleben, auch hier in Deutschland, dis-kriminiert. Lesben und Schwule sind selbst rechtlichnicht gleichgestellt. Die Ehe wird ihnen verweigert. DieVerpartnerung bleibt eine Ehe zweiter Klasse.

Aus dem Bewußtsein der Geschichte und in dem Wis-sen, dass wir den Diskriminierungsschutz der Zeit fort-während anpassen müssen, sollten wir ein deutlichesZeichen gegen die Diskriminierung von Lesben, Schwu-len, Transsexuellen, Transgendern und Intersexuellensetzen. Deshalb sollte der Bundestag in seiner Gesamt-heit dieser Grundgesetzerweiterung zustimmen.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Die Achtung vor der Würde des Menschen und die ge-sellschaftliche Pluralität bedingen, dass die heterose-xuelle Identität der Mehrheit der Gesellschaft nicht mehrlänger als die einzige akzeptable Identität eines seinePersönlichkeit frei entfaltenden Menschen angesehenwird. Dennoch sind homosexuelle Frauen und Männerebenso wie bisexuelle, transsexuelle oder intersexuelleMenschen weiterhin rechtlichen und gesellschaftlichenDiskriminierungen ausgesetzt. Im Grundgesetz werdensie aber mit ihrer sexuellen Identität ignoriert.

Als Konsequenz aus der nationalsozialistischen Ver-folgungs- und Selektionspolitik hatte sich der Parlamen-tarische Rat 1948/49 dafür entschieden, neben dem all-gemeinen Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GGin Art. 3 Abs. 3 zu verankern, welche persönlichenMerkmale als Anknüpfungspunkt staatlicher Differen-zierung schlechthin ausscheiden: „Niemand darf wegenseines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse,seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seinesGlaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauun-gen benachteiligt oder bevorzugt werden.“

Zwei der im nationalsozialistischen Deutschland sys-tematisch verfolgten Personengruppen fehlten in dieser

Aufzählung: Behinderte und Homosexuelle. Bei der Ver-abschiedung des Grundgesetzes galt Homosexualitätnoch als sittenwidrig und war in § 175 StGB mit einemstrafrechtlichen Verbot belegt. Eine Anerkennung vonLesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender, transse-xuellen und intersexuellen Menschen als verfassungs-rechtlich vor Benachteiligung zu schützenden Personenwar zu dieser Zeit jenseits der Vorstellungswelt über alleParteigrenzen hinweg.

Im Rahmen der Überarbeitung des Grundgesetzesnach der deutschen Einheit wurde 1994 in Art. 3 Abs. 3Satz 2 Grundgesetz das Verbot der Benachteiligung auf-grund der Behinderung aufgenommen. In der Gemeinsa-men Verfassungskommission von Bundestag und Bun-desrat sprach sich zwar eine Mehrheit für die Aufnahmeeines Diskriminierungsverbots aufgrund der sexuellenIdentität aus, die erforderliche Zweidrittelmehrheit wurdejedoch nicht erreicht, Bundestagsdrucksache 12/6000,S. 54.

Aber nicht nur aus Verantwortung vor der Geschichteder Verfolgung und Unterdrückung vor und nach 1945sollte der Katalog der Diskriminierungsverbote ergänztwerden. Vielmehr würde damit auch die folgerichtigeKonsequenz aus den Tendenzen der internationalenMenschenrechtspolitik gezogen und damit eine neue,verfassungsrechtliche Grundlage und Legitimität für dieUmsetzung der Politik auf nationaler Ebene geschaffen.Nachdem nichtheterosexuelle Menschen vom Schutz derinternationalen Menschenrechtsübereinkommen jahre-lang ausgeschlossen waren, widmet sich die aktive Men-schenrechtspolitik seit den 90er-Jahren auch dem Pro-blem der Diskriminierung aufgrund sexueller Identität.Der Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse und diezunehmende Akzeptanz führten dazu, dass gerade auchin Europa die Bekämpfung der Diskriminierung auf-grund sexueller Identität eine breitere Resonanz fand.

Und gerade vor zwei Wochen hat der UN-Menschen-rechtsrat in Genf in einem historischen Votum eine Re-solution zu Menschenrechten und sexueller Identitätverabschiedet. Kriminalisierung und Diskriminierungaufgrund der sexuellen Identität wurden dort klipp undklar verurteilt. Eine deutsche Außenpolitik, die sichweltweit für Minderheitenrechte einsetzen will, würdedurch die vorgeschlagene Grundgesetzänderung deutlichan Glaubwürdigkeit gewinnen.

Die vorgeschlagene Ergänzung des Art. 3 Abs. 3Satz 1 würde ferner eine objektiv-rechtliche Funktionhaben. Die neue Formulierung würde dementsprechendeine neue verfassungsrechtliche objektive Norm schaf-fen, die den Wert der Toleranz gegenüber Homo-, Bi-und Transsexuellen im Grundgesetz zum Ausdruckbringt. Und nicht zuletzt würde sie eine Richtungsent-scheidung für alle Bereiche des Rechts darstellen unddamit Impulse für Gesetzgebung, Verwaltung und nichtzuletzt Rechtsprechung geben.

Schließlich zeigen die deutschen sowie europäischeErfahrungen, dass Diskriminierungsverbote ein wesent-licher Bestandteil einer wirksamen Strategie sein kön-nen, mit der ein Wandel der Einstellungen und Verhal-tensweisen erreicht werden kann. Solche Leitlinien

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machen nämlich deutlich, welches Verhalten in der Ge-sellschaft akzeptiert wird und welches nicht.

Deshalb rufe ich die Koalitionsfraktionen dazu auf:Folgen Sie Ihren Parteikolleginnen und -kollegen ausdem saarländischen Landtag und stimmen Sie der Ergän-zung der verfassungsrechtlichen Diskriminierungsver-bote um das Merkmal „sexuelle Identität“ zu. Ich binnämlich sicher, dass Sie, liebe CDU-Abgeordnete, IhremLandtagskollegen Thomas Schmitt nicht widersprechenwerden, der in der Debatte über Ergänzung der Diskri-minierungsverbote in der saarländischen Verfassung umdas Merkmal „sexuelle Identität“ feststellte: „Wir wollenaber, dass unsere Verfassung eine klare Entscheidung füreine tolerante und akzeptierende Gesellschaft zum Aus-druck bringt. Ich bin der festen Überzeugung, dass einesolche Ergänzung mittlerweile gesellschaftlichen Kon-sens wiedergibt. Sie wird auch Bestätigung für diejeni-gen sein, die sich gegen Benachteiligungen einsetzen,und sie wird ein Zeichen für Respekt und Anerkennungsein.“ Genauso ist es.

Sie haben schon die Wehrpflicht abgeschafft, sie stei-gen aus der Atomkraft aus, sie wollen die Hauptschuleabschaffen. Noch ein Richtungswechsel hin zu richtigenWeichenstellungen kann Ihnen doch nicht mehr viel aus-machen. Tun Sie das nicht zuletzt für die in der Unionengagierten Schwulen, Lesben und Transgender, die ge-rade heute Abend in der Vertretung des Saarlands einSommerfest veranstalten.

Anlage 17

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: Barrierefreie Mobi-lität und barrierefreies Wohnen – Vorausset-zungen für Teilhabe und Gleichberechtigung(Tagesordnungspunkt 14)

Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): Mit ih-rem Antrag zur barrierefreien Mobilität und zum barrie-refreien Wohnen folgt die SPD in vielen Punkten dem,was wir in der Regierungskoalition bereits konsequentbearbeiten. Was uns unterscheidet, ist die Praktikabilitätder Herangehensweise durch die christlich-liberale Ko-alition.

Doch erlauben Sie mir zunächst einen kurzen Blickzurück: Wenn es um Mobilität und um eigenständigesHandeln geht, dann gehören unsere Mitbürger mit einerBehinderung mit Gewissheit zu den Gewinnern der deut-schen Einheit. In kürzester Zeit war es dank besserertechnischer Hilfsmittel und dank der breiteren Schulternder Sozialverbände möglich, dass behinderte Menschenwieder am öffentlichen Leben teilnehmen konnten. So-zialkassen und staatliche Fördersysteme flankierten die-sen Prozess.

In kaum einem anderen sozialen Bereich wurde deut-licher, dass das von manchen verherrlichte DDR-Sozial-system tatsächlich nur die Grundversorgung sicherte undoft die Verwahrung für unsere behinderten Mitbürger be-deutete. Lediglich die Hilfsbereitschaft und die mensch-

liche Wärme des Pflegepersonals – und natürlich derAngehörigen – konnten dies mildern. Breite Schultern inForm vieler karitativer Einrichtungen haben hier gleichAnfang der 90er-Jahre Hervorragendes geleistet.

Für uns sind Barrierefreiheit und Zugänglichkeit unddie Teilhabe von Menschen mit Behinderung an allenLebensbereichen selbstverständliche Grundrechte. Darinsind wir uns sicherlich alle einig. Das bedarf keiner Dis-kussion. Gerade in den letzten 20 Jahren ist im Bereichder Mobilitätsverbesserung für behinderte Menschenauch durch unsere beiden Konjunkturprogramme sehrviel geschehen, zum Beispiel die Schaffung der Barrie-refreiheit auf vielen kleinen Bahnhöfen.

Dennoch – auch darin sind wir uns einig – können wiruns mit den Gegebenheiten nie zufrieden geben. Deshalbarbeiten die christlich-liberale Koalition und die Bundes-regierung intensiv an der ständigen Verbesserung der Si-tuation.

Welches sind nun die Herausforderungen für die Zu-kunft? Im Gegensatz zum Antrag der SPD muss mandies einer differenzierten Betrachtung unterziehen: Wirhaben da zum einen den öffentlichen Bereich mit seinenöffentlichen Einrichtungen und dem umfassenden Ver-kehrsbereich und zum anderen den riesigen privaten Le-bensbereich mit der eigenen Wohnung im Mittelpunkt.

Klar ist für uns, dass eine barrierefreie Nutzung deröffentlichen Einrichtungen aus eigener Kraft – wo im-mer möglich – für die Menschen sichergestellt werdenmuss. Das gilt übrigens nicht nur für die Bundesrepu-blik; vielmehr muss Mobilität heute weltweit möglichsein.

Anders sieht es in unserem privaten Bereich aus: Esist klar, dass Barrierefreiheit mit einem hohen konstruk-tiven Aufwand und hohen Kosten verbunden ist. Daskönnen sich nur wenige leisten. Auch der Staat und dieSozialkassen können das nicht in Gänze ausgleichen.Der demografische Wandel führt dazu, dass mehr ältereMenschen mit körperlichen Gebrechen Wohnraum nut-zen. Deshalb sollten wir – mehr als bisher – Möglichkei-ten von barrierearmen und altersgerechten Wohnraum-zuschnitten in den Fokus setzen. Das ist finanziellgünstiger und kann auch von Hauseigentümern mit klei-nem Geldbeutel und einer geringen staatlichen Unter-stützung geschultert werden.

Bestes Beispiel hierfür ist das KfW-Programm „Al-tersgerecht Umbauen“. Durch dieses Förderprogrammerhalten vor allem ältere oder behinderte Menschen dieChance, dank reduzierter Wohnbarrieren so lange wiemöglich in ihren eigenen vier Wänden zu leben. DasProgramm definiert erstmals einen bundesweit einheitli-chen Standard für Barrierereduzierung im Wohnungsbe-stand. Es bietet wahlweise ein zinsgünstiges Darlehenoder einen Investitionszuschuss – sowohl für selbstge-nutztes als auch für vermietetes Wohneigentum.

Die KfW bietet durch ihre Förderprogramme ein gu-tes, nachahmenswertes Beispiel, wenn es darum geht, in-telligent die Kopplungsfunktion zwischen Demografie-wandel – sprich Barrierearmut – und Energieeffizienz –sprich CO2-Gebäudesanierungsprogramm – herzustel-

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len. Die Nachhaltigkeit beim Bauen wird zukünftig einegrößere Rolle spielen. Das gilt für den öffentlichen Be-reich ebenso wie für den privaten.

Die Betrachtung eines Gebäudes über den gesamtenLebenszyklus hinweg muss auch mögliche Neunutzun-gen berücksichtigen. Wer privat nicht von Anfang anbarrierearm baut, sollte, wenn möglich, zumindest dieVoraussetzung dafür schaffen, diesen Umbau späternachholen zu können – vielleicht auch schon, wenn derKinderwagen zum Einsatz kommt.

Für mich hat es sich bewährt – und das vermisse ichebenfalls im Antrag der SPD –, engen Kontakt zu denVerbänden aus dem Bereich der Behindertenbetreuungzu halten. Es sind doch oftmals die kleinen Dinge desLebens und die einfachen Lösungen, die auch unserenMitmenschen mit Behinderung helfen, mobil zu bleiben.Dieser Erfahrungsaustausch – dafür kann ich bei allenKollegen nur werben – sollte noch intensiver geführtwerden. Dasselbe gilt natürlich für die Architekten undBauplaner.

Nichtsdestotrotz wird nicht jedes Handicap im Ver-kehrs- oder im Baubereich für unsere behinderten Mit-bürger zu beseitigen sein. Wenn ich auf meine Eingangs-worte zurückkommen darf, dann sprechen wir hier auchstets von technischen Hilfsmitteln. Auch das kommt imAntrag der SPD zu kurz, wird aber von der christlich-li-beralen Koalition – weniger durch uns Verkehrs- undBaupolitiker als vielmehr durch unsere Kollegen ausdem sozialen Bereich – intensiv beackert. Denn die di-rekte Hilfe für die Betroffenen durch ausgereifte Prothe-tik, hochwertige Orthopädie und Hightechmedicare istdie allerbeste Lösung, um mit den Gegebenheiten klar-zukommen. In diesen Bereichen gehört Deutschland zuden Weltmarktführern: Mittelständische Familienunter-nehmen wie die Hans B. Bauerfeind AG aus dem thürin-gischen Zeulenroda und die Duderstädter Otto BockHealthCare GmbH sowie viele weitere Global-Player-Firmen spiegeln wider, dass sich soziales Empfindenund wirtschaftliche Interessen eben nicht ausschließenmüssen.

Barrierefreie Mobilität und barrierefreies Wohnenwerden niemals abschließend oder endgültig geregeltwerden können. Entgegen dem Antrag der SPD – der imÜbrigen viel Richtiges enthält, aber nichts, was wir nichtbereits umsetzen – kommt es aus unserer Sicht daraufan, den öffentlichen und privaten Bereich differenzierterzu betrachten, einen engen Informationsaustausch zuden entsprechenden Verbänden zu pflegen und nebenden organisatorischen und baulichen Umsetzungen diedirekte Hilfe für die Betroffenen durch moderne, innova-tive Hilfsmittel nicht aus dem Fokus zu lassen.

Karl Holmeier (CDU/CSU): Liest man den hier zurDiskussion stehenden Antrag der SPD-Fraktion, könnteman den Eindruck gewinnen, die SPD sei selbst nie inRegierungsverantwortung gewesen.

Viele der Forderungen des Antrages haben ja durch-aus ihre Berechtigung, und tatsächlich besteht beim Aus-bau der Barrierefreiheit noch vielerorts Nachholbedarf.

Aber mit der Länge und Ausführlichkeit ihrer Forderun-gen erwecken die Kollegen der SPD den Eindruck, inden letzten Jahren sei kaum etwas geschehen.

Dies ist erstens nicht der Fall. Zweitens frage ichmich, weshalb Sie in elf Jahren Regierungsverantwor-tung nicht längst die hier von Ihnen aufgestellten zahlrei-chen Forderungen für mehr Barrierefreiheit umgesetzthaben. Insofern halte ich den Antrag der SPD-Fraktionschlichtweg für scheinheilig.

Doch nun zur Sache. Ich habe bereits angedeutet, dasssich, entgegen dem mit dem SPD-Antrag vermitteltenEindruck, im Bereich Barrierefreiheit in den letzten Jah-ren durchaus viel getan hat.

Im Verkehrsbereich sind mit dem Gesetz zur Gleich-stellung behinderter Menschen und zur Änderung ande-rer Gesetze wichtige gesetzliche Regelung getroffenworden, die die Möglichkeiten der Teilhabe behinderterund mobilitätseingeschränkter Personen am gesellschaft-lichen Leben erhöhen. Dies gilt für den ÖPNV, den Ei-senbahn- und Luftverkehr sowie den Straßenbau. Geradefür die Erhöhung der Mobilität von Menschen mit Be-hinderungen gab es in den vergangenen Jahren erhebli-che Verbesserungen. Es werden beispielsweise jedesJahr rund 100 Bahnhöfe der Deutschen Bahn barrierefreigestaltet. Dahinter steckt ein enormer Kosten-, Zeit- undOrganisationsaufwand.

Im Baubereich setzt die christlich-liberale Bundesre-gierung mit dem KfW-Förderprogramm „AltersgerechtesBauen“ bereits seit 2009 gezielte Investitionsanreize zuraltersgerechten und barrierefreien Anpassung der Woh-nungen und des Wohnumfeldes. Darüber hinaus werdenbundesweit Modellvorhaben für eine ganzheitliche Ver-besserung des Wohnumfeldes älterer Menschen durchge-führt sowie wissenschaftlich begleitet. Über die sozialeWohnraumförderung der Länder, für die der Bund bis2019 jedes Jahr Ausgleichszahlungen in Höhe von518,2 Millionen Euro zahlt, werden außerdem Maßnah-men zur Barrierereduzierung im Wohnungsbestand ge-fördert. Unterstützt wird die Beseitigung von Barrierenim Wohnbereich zudem durch die steuerliche Abzugs-fähigkeit von Renovierungs-, Erhaltungs- und Moderni-sierungsmaßnahmen mit bis zu 20 Prozent der Lohnkos-ten.

Die christlich-liberale Koalition ruht sich aber keines-wegs auf dem bisher Erreichten aus. Mit dem NationalenAktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenkon-vention gehen wir einen wichtigen Schritt nach vorn undsetzen damit zugleich ein weiteres wichtiges Vorhabenunseres Koalitionsvertrages um. Sollten Sie diesen Ak-tionsplan noch nicht kennen, meine sehr verehrten Op-positionskollegen, so kann ich Ihnen diesen sehr zurLektüre empfehlen.

Mit dem Nationalen Aktionsplan haben wir ein In-strument geschaffen, das die Umsetzung der UN-Behin-dertenkonvention in den nächsten zehn Jahren systema-tisch vorantreiben soll. Er ist ein Maßnahmen-, keinGesetzespaket, mit dem bestehende Lücken zwischenGesetzeslage und Praxis geschlossen werden sollen.

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Der zentrale Leitgedanke des Nationalen Aktionspla-nes und der UN-Behindertenkonvention ist die Inklusionbehinderter und mobilitätseingeschränkter Menschen inallen Lebensbereichen. Eine der wesentlichen Heraus-forderungen hierfür ist natürlich die Barrierefreiheit. Indiesem Rahmen greift zum Beispiel das Dachprogramm„Soziales Wohnen“ von 2010 bis 2014 mit 3,85 Millio-nen Euro Themen wie mobile Beratung, Qualifizierungvon Handwerksbetrieben, technikunterstütztes Wohnenund inklusiver Sozialraum auf. Darüber hinaus plant dieBundesregierung gemeinsam mit den Ländern und derÄrzteschaft im nächsten Jahr ein Gesamtkonzept für ei-nen barrierefreien Zugang und die barrierefreie Ausstat-tung von Arztpraxen und Kliniken. Der weitere mobili-tätsgerechte Ausbau des ÖPNV steht ebenfalls auf derAgenda des Aktionsplanes. Hier werden wir dafür Sorgetragen, dass die bisherigen Modernisierungsmaßnahmenfortgeführt werden. Außerdem plant die Bundesregie-rung, den Anspruch auf unentgeltliche Beförderung zuerweitern und die im Nahverkehr geltende Einschrän-kung auf 50 Kilometer um den Wohnort zu streichen.

Sie sehen, wir legen keinesfalls die Hände in denSchoß. Wir haben nicht nur in den letzten Jahren bereitsviel zum Abbau von Barrieren für behinderte und mobi-litätseingeschränkte Menschen getan, sondern wir wer-den unsere erfolgreiche Arbeit auch weiter fortsetzen.Ich lade die Kollegen von der Opposition selbstverständ-lich recht herzlich ein, uns dabei zu unterstützen.

Kirsten Lühmann (SPD): Um die Bahngleise imBahnhof Unterlüß, in meinem Heimatort in Niedersach-sen, zu erreichen, muss man 42 Stufen hoch- und herun-tersteigen.

Ein Bekannter, der im Rollstuhl sitzt, wollte michschon öfters mit dem Metronom in Berlin besuchen. Lei-der war das bisher jedoch nicht möglich, eben weil derBahnhof in Unterlüß nicht barrierefrei ist.

Das bedeutet, Menschen im Rollstuhl oder Eltern mitKindern im Kinderwagen können ohne fremde Hilfenicht mit dem Zug von Unterlüß aus fahren.

Die Regierungskoalition begründet das damit, dassBahnhöfe nur im Rahmen der zur Verfügung stehendenHaushaltsmittel barrierefrei gestaltet werden können.Und da gibt es eben Bahnhöfe, für die das Geld nichtreicht. Denn die Regierungskoalition gibt das Geld lie-ber für andere Dinge aus: Steuersenkungen zum Bei-spiel, die nur einigen wenigen wirklich etwas bringenwürden und angesichts der Haushaltslage sowieso um-stritten sind. Barrierefreiheit dagegen ist für 100 Prozentder Bevölkerung komfortabel, für 30 Prozent hilfreichund für 10 Prozent zwingend erforderlich.

Die UN-Behindertenrechtskonvention, die im De-zember 2008 mit den Stimmen aller Fraktionen im Bun-destag verabschiedet wurde und damit auch für Deutsch-land völkerrechtlich verbindlich geworden ist, fordert,dass jedem Menschen der volle Genuss seiner Rechteund Freiheiten ohne Diskriminierung garantiert werdenmuss.

Mobilität ist für alle da! Das sagen wir, und das sagtauch die Regierungskoalition; aber sie sagt eben auch:Barrierefreiheit ja, aber bitte nur im Rahmen der zur Ver-fügung stehenden Haushaltsmittel. – Diese Aussage fin-den Sie im Antrag der Regierungskoalition zur Umset-zung der UN-Behindertenrechtskonvention.

Das bedeutet also, dass 71 Prozent aller Bahnhöfe wiein Unterlüß weiterhin für viele Menschen nur sehrschwer zugänglich bleiben werden und dass Mobilitäteben nicht für alle da ist. So können die Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention, der auch Sie verpflichtetsind, nicht erreicht werden.

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten füh-len uns diesen Zielen verpflichtet. Als Regierungsparteiund auch in der Opposition gilt der Teilhabe aller an un-serer Gesellschaft unser besonderes Augenmerk. Dennwir wollen Vielfalt von Anfang an.

Deutschland hat auf dem Weg zur barrierefreien Ge-sellschaft in den letzten Jahren viel erreicht. Ich nennehier nur drei wichtige Meilensteine, die wir als Regie-rungspartei beschlossen haben: das Neunte Buch Sozial-gesetzbuch, SGB IX, im Jahre 2001, das Behinderten-gleichstellungsgesetz des Bundes, BGG, im Jahre 2002und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz im Jahre2006.

Wir sind der Meinung: Die Umsetzung von Men-schenrechten darf nicht an dem Verweis auf die Belas-tung der öffentlichen Haushalte scheitern. Barrierefrei-heit ist ein Grundrecht. Sie bildet einen wichtigenBestandteil der Teilhabe von Menschen mit Behinderun-gen am gesellschaftlichen Leben und ist ein wichtigerSchritt auf dem Weg zu ihrer Gleichberechtigung.

In unserem Positionspapier zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention setzen wir uns als SPD-Bundestagsfraktion klar dafür ein, notwendige und ange-messene Vorkehrungen mittel- und langfristig zu etablie-ren. Dabei können viele notwendige Maßnahmen durcheine Umstrukturierung oder Anpassung vorhandenerMittel finanziert werden. Schon heute ist beispielsweisedie barrierefreie Planung von Bauvorhaben – ob Ge-bäude oder Straßen, Tief- oder Hochbau – keine notwen-digerweise kostenintensive Maßnahme. Denn es gehtvor allem darum, ein Bewusstsein zu schaffen, sowohlfür Bauprofis als auch in der Bevölkerung.

Unser Ziel ist: Barrierefreiheit muss selbstverständ-lich werden! Bereits bei der Planung und Ausführungmuss sie mitberücksichtigt werden, genauso wie Statikund Brandschutz heute. Dies gilt ganz besonders fürBaumaßnahmen der öffentlichen Hand.

In unserem Antrag „Barrierefreie Mobilität und bar-rierefreies Wohnen – Voraussetzungen für Teilhabe undGleichberechtigung“ fordern wir, dass die staatliche För-derung auch im Rahmen der KfW-Programme zur CO2-Gebäudesanierung zum Beispiel stärker an die Kriteriender Barrierefreiheit gekoppelt werden. Wir sind der Mei-nung, dass die Förderung für Neubauten nur unter denVoraussetzungen der Barrierefreiheit gewährt werdensoll. Geschieht dies nicht, entstehen die Kosten im Nach-hinein. Dann muss der Staat Geld in die Hand nehmen

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und Förderprogramme auflegen oder weiterentwickeln,um zum Beispiel den Wohnbestand, das Wohnumfeldund die Infrastruktur altengerecht anzupassen. DennWohnungen, die barrierefrei gebaut werden, kommennicht nur Menschen mit Behinderungen zugute, sondernerleichtern oder ermöglichen älteren Personen, Familienmit Kindern und zeitweise mobilitätseingeschränktenMenschen den Alltag. Wohnungen, die barrierefrei ge-baut werden, müssen also später nicht mit Fördergeldernaltengerecht umgebaut werden. Das ist nicht nur ausgrundsätzlichen Erwägungen anzustreben. Vielmehr ent-lastet es die Sozialsysteme von Unterbringungskosten.

Angesichts des demografischen Wandels wird der Be-darf an einem barrierefreien Umfeld stetig wachsen.Heute sind nach Schätzungen der Wohnungswirtschaftnur 1 Prozent des Wohnungsbestandes barrierefrei undnur weitere 4 Prozent barrierearm ausgestaltet. Dabei istBarrierefreiheit für 10 Prozent der Bevölkerung zwin-gend erforderlich, für über 30 Prozent hilfreich und für100 Prozent komfortabel.

Wir fordern, dass Barrierefreiheit ein Standard in derAusbildung von Ingenieurinnen und Ingenieuren wird.Bereits im Studium sollen angehende Bauprofis diesesThema verinnerlichen. Dafür werden wir uns gegenüberder Wirtschaft, den Kammern und den Hochschulen ein-setzen.

Wir wissen: Politik auf Bundesebene ist nicht unein-geschränkt zuständig. Deshalb ist es sehr wichtig, dasswir auf die zum Beispiel für die Bauüberwachung zu-ständigen Länder einwirken, sich der Aufgabe zu stellenund eindeutig zugunsten von Barrierefreiheit zu agieren.

Barrierefreie Mobilität erfolgt grundsätzlich auf zweiEbenen: Erstens sollen Menschen mit Behinderung dis-kriminierungsfrei befördert werden; zweitens müssenVerkehrsmittel barrierefrei gestaltet werden. Wir verste-hen Mobilität nicht nur im Sinne räumlicher Mobilität,sondern auch im Sinne der Erreichbarkeit von und desZugangs zu Arbeitsstätten, Einkaufsmöglichkeiten oderzum Beispiel ärztlicher Versorgung.

Wir fordern daher einen integrierten Ansatz derRaum-, Stadt- und Verkehrsplanung, der kompakte Sied-lungsstrukturen mit einer verbesserten Nahversorgungfördert, besonders im ländlichen Raum ergänzt durchflexible und möglichst barrierefreie öffentliche Ver-kehrsangebote. Im öffentlichen Personenverkehr musssich Barrierefreiheit auf die gesamte Reisekette bezie-hen. Es reicht hier nicht aus, einzelne Stationen wie zumBeispiel Haltestellen barrierefrei und familienfreundlichzu gestalten, wenn es im Bus keine ausreichenden Plätzefür Rollstuhlfahrer gibt.

Wir fordern, dass von der Haustür bis zum Ziel dergesamte Weg für mobilitätseingeschränkte Menschenzugänglich gemacht wird. Dazu müssen sich die Akteurebesser vernetzen, und es muss das Bewusstsein geschaf-fen werden, dass Barrierefreiheit niemandem schadet,aber jedem Kunden zugutekommen wird.

Wir brauchen längere Grünphasen für Fußgänger, da-mit ältere Menschen, Kinder und mobilitätseinge-schränkte Menschen ohne Gefahr die Straße überqueren

können, und ebenso brauchen wir Mindeststandards fürdie barrierefreie Gestaltung von Flugzeugen.

Wir müssen umdenken, um von Anfang an in derStädteplanung, im Verkehrsmanagement, im Baubereichund im Ingenieurwesen das Recht behinderter Men-schen, am Alltag teilzunehmen, zu berücksichtigen.Sonst werden Menschen vom täglichen Leben ausge-schlossen werden.

Herr Hüppe, Beauftragter der Bundesregierung fürdie Belange behinderter Menschen, schreibt im Vorwortzur deutschen Übersetzung der UN-Behindertenkonven-tion:

Ich wünsche mir die Mithilfe aller, damit der Textder UN-Konvention so schnell wie möglich Wirk-lichkeit wird.

Dazu wird unser Antrag einen Beitrag leisten.

Petra Müller (Aachen) (FDP): Der Diskriminierungvon Menschen mit Behinderungen entgegenzutreten undihnen darüber hinaus die Teilhabe am öffentlichen, ge-sellschaftlichen Leben zu ermöglichen, ist eine hohe undselbstverständliche Verpflichtung aller politisch Han-delnden in unserem Land. Deutschland setzt dabei hohenormative Standards: Seit 2002 gibt es das Behinderten-gleichstellungsgesetz; im selben Jahr trat das Allge-meine Gleichbehandlungsgesetz in Kraft. Ob in denSGB, im BGB oder in den Prozessordnungen, ob im Ur-heberrechtsgesetz, im Allgemeinen Eisenbahn- oder imLuftverkehrsgesetz – ich könnte die Liste noch fortset-zen –: Deutschland wird der hohen Verantwortung fürbenachteiligte und behinderte Menschen gerecht undstellt diese Verantwortung auf eine breite und sichere ge-setzgeberische Basis. Dabei handelt es sich nicht um ei-nen Gnadenakt der Politik, sondern uns leitet das Be-nachteiligungsverbot nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Grund-gesetzes.

Den gesetzlichen Regelungen stehen immer die kon-krete Umsetzung und Anwendung gegenüber. Die Barri-erefreiheit zum Beispiel in öffentlichen Gebäuden einer-seits festzuschreiben und andererseits umzusetzen, istzweierlei. Das verlangt Planung und administrative Be-schlussfassung, es verlangt finanzielle Investitionenebenso wie bauhandwerkliche Ausführung. Fragen derRentabilität und Haushaltsplanung sind ebenso zu be-rücksichtigen wie es gilt, die Verhältnismäßigkeit vordem Hintergrund von Kosten-Nutzen-Relationen zu be-achten. Kurz gesagt: Wollen ist nicht immer Können,und manche Dinge brauchen ihre Zeit.

Trotzdem ist Deutschland in den 17 Jahren seit derVerankerung des Benachteiligungsverbots gegenüberMenschen mit Behinderung im Grundgesetz weit voran-gekommen. Sowohl im öffentlichen Bewusstsein alsauch in der administrativen Umsetzung beweist Deutsch-land auch im internationalen Vergleich ein hohes Ni-veau. Aber Diskriminierung findet weiterhin statt; dasgehört zur Wahrheit dazu. Die meisten Fälle liegen nachwie vor im Verborgenen. Die Beispiele, die in den Be-richten der Bundesbeauftragten für die Belange behin-derter Menschen beschrieben werden, reichen von der

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Verweigerung der Mitnahme in einem Taxi über dieNichtbedienung in Restaurants bis hin zu schwerwiegen-den und folgenreichen Diskriminierungen im Berufsle-ben oder beim Abschluss privater Versicherungsver-träge. Auch an der Arbeitslosenquote lässt sich leidernoch immer ein Missverhältnis für Menschen mit Behin-derung ablesen.

Es sind also vor allem Beispiele aus dem direkten in-terpersonellen Kontakt behinderter Menschen oder ausdem Arbeitsleben, an denen sich akute soziale oder ge-sellschaftliche Diskriminierung manifestiert und wo siebekämpft werden muss.

Auch in den Bereichen Mobilität und Wohnungsbauist sich die christlich-liberale Koalition der Bedeutungder Themen Barrierefreiheit und Teilhabe bewusst. ZuRecht beschreiben Sie in Ihrem Antrag ambitionierteZiele und bestehende Entwicklungspotenziale aus städ-teplanerischer und wohnungsbaulicher Sicht. Die Aufga-ben, die hier noch vor uns liegen, sind gewaltig, werdenjedoch kontinuierlich, nach Maßgabe der Verhältnismä-ßigkeit und entsprechend den zur Verfügung stehendenHaushaltsmitteln erfüllt.

Die Hauptlast tragen dabei die Länder und Kommu-nen. Dem Bund obliegt es nach § 8 BGG, seine Neubau-ten oder große Um- und Erweiterungsbauten seiner An-stalten, Körperschaften etc. barrierefrei auszuführen. Daaber ansonsten das Bauordnungsrecht nicht in die Zu-ständigkeit des Bundes fällt, präzisieren die Landes-gleichstellungsgesetze die Verpflichtungen für den Bau-bereich und werden in den Ländern in unterschiedlichemUmfang ausgestaltet, etwa durch Verordnungen, Einfüh-rungserlasse oder Richtlinien, insbesondere aber durchdie bauaufsichtliche Einführung spezieller DIN-Nor-men.

Weiterhin besteht sowohl im Miet- als auch im Eigen-tumsrecht ein Anspruch auf Herstellung von Barriere-freiheit. Im Wohnungseigentumsrecht haben behinderteWohnungseigentümer aufgrund ihres (Mit-)Eigentumseinen Anspruch auf Zustimmung der anderen Miteigen-tümer zu Baumaßnahmen für einen barrierefreien Zu-gang zu ihrer Wohnung. Eine ausdrückliche Regelunggibt es im Wohnungseigentumsgesetz jedoch nicht, undman könnte hier im Hohen Hause über einen entspre-chenden Passus nachdenken.

Die Förderung des Wohnungsbaus, auch des Bausoder Umbaus von Wohnungen für behinderte Menschen,ist in Deutschland Sache der einzelnen Bundesländer.Der Bund stellt diesen zwar im Rahmen des Wohnraum-förderungsgesetzes sowohl für den Neubau als auch fürModernisierungsmaßnahmen Finanzmittel zur Verfü-gung; deren Vergabe sowie die Vergabe der landeseige-nen Mittel sind jedoch Sache des einzelnen Landes. ImRahmen des KfW-Förderprogramms „AltersgerechtUmbauen“ wird die Reduzierung von Barrieren im Miet-und Eigentumswohnbereich ausdrücklich bezuschusstund gefördert. Dieses Programm wird die christlich-libe-rale Koalition erfolgreich fortführen. Für die FDP ist je-doch eine quartiersbezogene Weiterung des Programmsunabdingbar. Damit lassen sich infrastrukturelle Ge-samtlösungen anstreben und Fragen der Mobilität im ei-

gentlichen Wohnumfeld integrierter berücksichtigen.Das ist Ziel liberaler Stadtentwicklungspolitik unter be-sonderer Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnissebehinderter Mitbürger und einer insgesamt älter werden-den Gesellschaft.

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Die Errichtung neuerBarrieren muss – strafbewehrt! – verboten werden. Fürdie Beseitigung vorhandener Barrieren brauchen wirFörderprogramme. Der Allgemeine Behindertenver-band in Deutschland, ABiD, schlug jüngst beispiels-weise vor, ein spezielles zehnjähriges Konjunkturpro-gramm von 1 Milliarde Euro pro Jahr allein für dieBarrierenbeseitigung im Baubereich aufzulegen. Für denVerkehrsbereich wird nicht weniger nötig sein. Das wäresinnvolle Wirtschaftsförderung.

Was haben Franz Müntefering, Reinhard Klimmt,Kurt Bodewig, Manfred Stolpe und Wolfgang Tiefenseegemeinsam? Drei Dinge: Erstens sind sie alle Mitgliedder SPD, zweitens waren sie von 1998 bis 2009 nachei-nander als Bundesminister für die Verkehrs-, Bau- undStadtentwicklungspolitik zuständig, und drittens habensich alle fünf hinsichtlich ihres Engagements für die Ver-meidung neuer und die Beseitigung bestehender Barrie-ren in ihrem Verantwortungsbereich nicht mit Ruhm be-kleckert.

Hätten sie das Sozialgesetzbuch IX, das Behinderten-gleichstellungsgesetz, das Allgemeine Gleichbehand-lungsgesetz und die 2006 in der UNO beschlossene Be-hindertenrechtskonvention zu ihrer Arbeitsgrundlagegemacht, wären viele der im nun vorliegenden SPD-An-trag aufgeführten Punkte überflüssig bzw. erledigt. Weres nicht glaubt, sollte sich nur einmal die Antworten ausdem Bundesverkehrs- und -bauministerium auf meine inForm von Anfragen gegebenen Denkanstöße in der Zeitvon 2005 bis 2009 noch einmal ansehen.

Ich sage das auch, weil Sie, liebe Kolleginnen undKollegen von der SPD, in Ihrem Antrag im dritten Ab-satz mit Verweis auf die einstimmig verabschiedete UN-Behindertenrechtskonvention schreiben: „Dem muss diePolitik der Bundesregierung jetzt Rechnung tragen.“ Na-türlich muss die Bundesregierung auch jetzt und heutefür die Schaffung einer barrierefreien Umwelt im Sinneder UN-Behindertenrechtskonvention wirken, aber ebennicht erst ab jetzt. Insofern sind Sie an vielen bestehen-den Barrieren mitschuldig.

Leider erweist sich der derzeitige BundesministerPeter Ramsauer von der CSU auch nicht als Verfechtereiner barrierefreien Umwelt. 599 Presseerklärungen fin-det man auf der Homepage des Bundesministeriums fürVerkehr, Bau und Stadtentwicklung seit Amtsantritt vonHerrn Ramsauer vor 20 Monaten. Nur in zweien davon –hier geht es um Bahnhöfe – spielen Fragen der Barriere-freiheit eine Rolle. Schaut man sich seine Reden undsonstigen Aktivitäten an, kommt man auch hier zu demSchluss, dass die Belange von Menschen mit Behinde-rungen diesem Minister ziemlich gleichgültig sind.

Insofern unterstützt die Linke den Antrag der SPD –enthält er doch eine Reihe von Denkanstößen für die

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Bundesregierung, um ihren salbungsvollen Worten zurUN-Behindertenrechtskonvention auch konkrete Tatenzu deren Umsetzung im wirklichen Leben folgen zu las-sen.

Leider erweckt der vorliegende Antrag wie schon dervor drei Wochen diskutierte SPD-Antrag zum barriere-freien Tourismus den Eindruck, dass hier im Schnellver-fahren aufgeschrieben wurde, was einem gerade so ein-fiel, egal, ob hier Bund, Länder, Kommunen oder anderein der Verantwortung stehen. Und leider mogelt sich dieSPD auch in diesem Antrag um klare Positionen zuwichtigen Verkehrsbereichen herum. Wird sich denn nundie SPD – nachdem wir Linke vorangingen – für Barrie-refreiheit bei Fernbuslinien und für barrierefreie Taxenengagieren, zum Beispiel durch entsprechende verbind-liche Regelungen bei der anstehenden Novellierung desPersonenbeförderungsgesetzes?

Zu Recht verweist die SPD in ihrem Antrag auf Art. 9der Behindertenrechtskonvention, welcher korrekt über-setzt „Barrierefreiheit“ und nicht „Zugänglichkeit“heißt. Aber ich verweise für all diejenigen, die sich mitder Konvention noch nicht so intensiv beschäftigt haben,auch auf den Art. 3, in dem die „Barrierefreiheit“ als ei-nes der Grundsätze der Konvention benannt wird, aufArt. 4 „Allgemeine Verpflichtungen“, auf Art. 19 „Selbst-bestimmt leben und Einbeziehung in die Gemeinschaft“und auf Art. 20 „Persönliche Mobilität“.

Seit 14 Tagen liegt uns auch der Nationale Aktions-plan der Bundesregierung zur Umsetzung der Konven-tion vor. Was hier hinsichtlich der Aufgaben für dieSchaffung barrierefreier Mobilität und Wohnungen vor-geschlagen wird, ist – so auch die übereinstimmende Re-aktion der Behindertenbewegung – äußerst dürftig.

Mit einem Weiter-so ohne verbindliche Regelungenim Verkehrs- und Baurecht in Bund und Ländern undambitionierte Förderprogramme werden wir den riesigenMangel an barrierefreien Wohnungen nicht ernsthaft be-seitigen. Ich war schon sehr erstaunt, als unlängst Ber-lins Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer,SPD, auf einem Forum des Berliner Behindertenverban-des zum Thema „Berlin barrierefrei“ auf die Frage nachbarrierefreien Wohnungen antwortete, dass sie erst aktivwerden könne, wenn sie den Bedarf kenne. Einmal abge-sehen davon, dass ich mehr Kenntnis von verantwortli-chen Politikern erwarte, meine ich, dass langfristig derBedarf mit 100 Prozent zu definieren ist. Wenn das ge-länge, muss niemand mehr aus seiner Wohnung auszie-hen, weil bestehende Barrieren im Haus und/oder in derWohnung ein selbstbestimmtes und würdiges Leben un-möglich machen, und man kann einander auch uneinge-schränkt besuchen. Auch das gehört zur Teilhabe am Le-ben in der Gesellschaft.

Dass dies nicht von heute auf morgen zu schaffen ist,ist einleuchtend, zumal bestehende Barrieren zu beseiti-gen aufwendig und teuer ist. Warum lassen wir aber zu,dass täglich neue Gebäude mit Barrieren entstehen?Auch hinsichtlich der Barrierefreiheit könnte man dochim Baurecht ebenso verbindliche Regelungen treffen wiezum Beispiel bezüglich der energetischen Ausstattungoder des Brandschutzes.

Wichtig ist eine engere Verzahnung von vorhandenenProgrammen und Initiativen. Ich unterstütze ausdrück-lich diesbezügliche ökologische Aktivitäten, zum Bei-spiel Programme zur energetischen Sanierung von Ge-bäuden und dem Einsatz erneuerbarer Energien. Aberdiese Programm sind bisher nicht bzw. kaum mit demZiel der gleichzeitigen Schaffung von Barrierefreiheitverbunden. Dass es geht und dass man es zusammenden-ken kann, wird unter anderem durch den Antrag der Lin-ken „Grundrecht auf Wohnen sozial, ökologisch und bar-rierefrei gestalten“ in der Bundestagsdrucksache 17/3433vom 26. Oktober 2010 deutlich. Diese Dreieinigkeit vonsozial, ökologisch und barrierefrei sollten wir als durch-gängiges Prinzip in der Bau- und Verkehrspolitik be-rücksichtigen. Nur dann werden wir eine zukunftsfähigePolitik zum Wohle der Menschen mit und ohne Behinde-rungen gestalten.

Die Beratung des vorliegenden Antrags in den Aus-schüssen sollten wir nutzen, um über Sinn und Unsinnder einzelnen Vorschläge zu diskutieren, ihn um weiterenotwendige Vorschläge ergänzen, um im Ergebnis wirk-liche Veränderungen im Alltagsleben zu erreichen.

Lassen Sie uns – wie es der ABiD vorschlägt – Teil-habeermöglichung als Wirtschaftsförderung – Konjunk-turprogramm, Investitionsförderung – gestalten.

Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Mobilität ist ein entscheidender Faktor im Leben jedesMenschen: Wer mobil ist, hat mehr Möglichkeiten, kannunabhängig sein. Er hat mehr Chancen bei der Arbeits-platzwahl oder bei der Entscheidung, wie und wo er le-ben möchte. Viele Menschen sind hier eingeschränkt –und ihnen wird damit ein entscheidender Teil der persön-lichen Freiheit genommen. Nichts anderes sind deswe-gen die Barrieren, welche der SPD-Antrag behandelt:eine Freiheitsbeschränkung zu vieler. Der demografischeWandel gibt uns die Gewissheit, dass es immer mehrwerden.

Es ist deswegen richtig und wichtig, dass sich derBundestag mit der Barrierefreiheit im Alltag immer wie-der beschäftigt. Zu viele Probleme sind hier noch unge-löst, und bei zu vielen Aspekten können wir noch nichtabsehen, wie sich dies auf unsere Gesellschaft im Wan-del auswirkt. Der SPD-Antrag geht auf vieles ein. Be-sonders hervorheben möchte ich die detaillierte Behand-lung der Regelungen zum ÖPNV und zum Bahnverkehr.Hier muss in Zusammenhängen gedacht werden. Nach-haltige Mobilität bedeutet immer seltener, mit einem ein-zigen Verkehrsmittel von A nach B zu kommen. DieMobilität von morgen braucht die optimale Verbindungverschiedener aufeinander abgestimmter Verkehrsträ-ger. Deswegen brauchen wir nicht nur einen deutsch-landweit getakteten Bahnfahrplan, sondern müssen auchberücksichtigen, dass Menschen mit Mobilitätsein-schränkungen diesen gesamten Weg in der gleichenQualität nutzen können wie Menschen ohne Einschrän-kungen. Nur wenn wir diese Beschränkungen undBarrieren abbauen, werden mehr Menschen öffentlicheVerkehrsmittel nutzen.

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Der vorliegende Antrag macht viele und umfassendeVorschläge. Hervorzuheben ist, dass der Antrag die Kon-flikte nicht ausspart: Es ist gewiss nicht einfach, Barrie-refreiheit, Denkmalschutz und Stadtbildpflege unter ei-nen Hut zu bekommen. Gleichzeitig ist natürlich dieFrage berechtigt, was die Bundespolitik hier zur Befrie-dung dieser Konflikte beitragen kann und soll. Notwen-dig sind sicher vor allem lokale Ansätze, bei denen Bür-gerinnen und Bürger frühzeitig – und auf die jeweiligeMaßnahme bezogen – mitentscheiden können.

Der Antrag verfolgt eine Linie, der wir Grünen sichergrundsätzlich folgen können. Dennoch gibt es Punkte,über die in den Ausschussberatungen noch debattiertwerden sollte. So wird sehr pauschal darauf hingewie-sen, dass Billigflieger Behinderte abweisen. Es sindzwar solche Fälle bekannt, jedoch sollten wir nicht soweit gehen, darin ein System zu erkennen. Das führtmeines Erachtens zu einer unberechtigten Vorverurtei-lung. Hier sollten wir die bekannten Fälle genau untersu-chen und mit den Airlines nach einer Lösung suchen.

Zwei Aspekte will ich ansprechen, die nach meinerAnsicht noch präzisiert werden sollten. Erstens. Der An-trag fordert, dass sich die Barrierefreiheit im öffentli-chen Personennahverkehr auf die gesamte Reisekette be-ziehen soll. Hier müssen wir sicherstellen, dass nicht nurdie Verkehrsmittel, sondern auch die Fahrplangestaltunggemeint ist. Bisher ist etwa für die Deutsche Bahn eineReise auch dann barrierefrei, wenn ein Rollstuhlfahrervon A nach B kommt – obwohl er oder sie zum Beispielfür eine Fahrt von Berlin nach Erfurt wegen der knappenUmsteigezeit in Leipzig eine Stunde länger braucht.Hierüber sollten wir gemeinsam nachdenken und Vor-schläge erarbeiten.

Der zweite Punkt betrifft die Mobilität von Men-schen, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung die öffentli-chen Verkehrsmittel auch dann nicht nutzen können,wenn alle heute bekannten Rahmenbedingungen undMaßnahmen zur Herstellung von Barrierefreiheit umge-setzt sind. Diese kleine Gruppe wird langfristig auf ei-gene, speziell umgebaute Pkw angewiesen sein. Leidersteht diese Gruppe oft vor dem Problem, dass möglicheKostenträger die Finanzierung der Fahrzeuge und Um-bauten verweigern. Hier ist bisher nicht absehbar, waswir für diese Gruppe mobilitätseingeschränkter Personentun könnten.

Ich hoffe, dass wir diese Fragen in den Ausschussbe-ratungen aufgreifen und Lösungen erarbeiten. Hier sindauch unsere für Sozialpolitik zuständigen Kolleginnenund Kollegen gefragt.

Anlage 18

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: Effektive Regulie-rung der Finanzmärkte nach der Finanzkrise(Tagesordnungspunkt 15)

Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Gestern hat dieCDU/CSU-Bundestagsfraktion einen Kongress zum

Thema „Finanzmarktregulierung nach der Krise – EineZwischenbilanz“ veranstaltet. Neben der Bundeskanzle-rin und dem Bundesfinanzminister haben sich der Bun-desbankpräsident, nationale und internationale Aufseher,Banker und Wissenschaftler zu aktuellen Finanzmarkt-fragen geäußert. Es wurde ausführlich über die Dingediskutiert, die regulatorisch auf den Weg gebracht wor-den sind. Es wurde festgestellt, dass die Finanzmarkt-maßnahmen von Regierung und Parlament dazu beige-tragen haben, dass Deutschland schnell aus derWirtschaftkrise herausgekommen ist, und es wurden Lü-cken in der Regulierung aufgezeigt sowie weitere Lö-sungswege analysiert.

Fazit: Viel wurde getan – meistens das Richtige –,aber es gibt auch noch sehr viel zu tun.

Genau darum geht es auch in unserem Antrag mit derÜberschrift „Effektive Regulierung der Finanzmärktenach der Finanzkrise“. Zum einen ziehen wir damit eineBilanz über die seit Bestehen der christlich-liberalen Ko-alition geleistete Arbeit im Bereich Finanzmarktregulie-rung. Zum anderen bringen wir aber auch zum Aus-druck, dass trotz aller gelungenen Aktivitäten und Maß-nahmen im Regulierungsbereich noch ein weiter Wegvor uns liegt, um den Beschluss der G 20, dass zukünftigkein Finanzmarkt, kein Finanzmarktakteur und kein Fi-nanzmarktprodukt ohne angemessene Regulierung undAufsicht sein darf, Realität werden zu lassen.

Im Einzelnen: Generalnorm unseres Handelns ist undwar der soeben erwähnte Beschluss der G 20 und dieVorgabe in unserem Koalitionsvertrag, dass kein Finanz-markt, kein Finanzmarktakteur und kein Finanzmarkt-produkt ohne angemessene Regulierung und Aufsichtsein darf. Deswegen haben wir in den letzten 18 Mona-ten folgende Projekte auf den Weg gebracht:

Erstes Stichwort: Fehlervermeidung. Eine Ursacheder Finanzkrise war, dass die Akteure auf dem Finanz-markt in ihren Instituten falsche Entscheidungen getrof-fen haben. Nun liegt es im Wesen der Marktwirtschaft,dass in Unternehmen Entscheidungen getroffen werdenund dass diese Entscheidungen auch falsch sein können.Wenn aber falsche Entscheidungen dazu führen, dass einganzes Wirtschaftssystem gefährdet wird, dann bestehtHandlungsbedarf. Aus diesen Gründen haben wir auf na-tionaler und europäischer Ebene folgende Regulierungs-maßnahmen auf den Weg gebracht, die dazu beitragensollen, dass auf Institutsebene weniger Fehler gemachtwerden: Bessere Beaufsichtigung der Ratingagenturen;Vermeidung von Fehlanreizen in den institutsinternenVergütungsstrukturen; Verbot bzw. Einschränkung vonLeerverkäufen; erhöhte Anforderungen im Bereich derVerbriefungen; weitere Begrenzungen im Bereich derGroßkredite.

Zweites Stichwort: Fehlertragfähigkeit. In der Krisehat sich gezeigt, dass Finanzinstitute nicht stark genugwaren, um die Folgen einer falschen Entscheidung zuabsorbieren. Deswegen haben wir – im Übrigen zusam-men mit unseren europäischen Partnern – Maßnahmenzur Erhöhung der Fehlertragfähigkeit von Instituten ein-geführt bzw. werden sie einführen:

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Die Eigenkapital- und Liquiditätsanforderungen anInstitute wurden bzw. werden erhöht – im Rahmen derUmsetzung der Kapitaladäquanzrichtlinie und in der abSommer anstehenden Umsetzung von Basel III.

Der nicht über Börsen abgewickelte Derivatebereich,der sogenannte OTC-Sektor, wird ab Herbst dieses Jah-res grundsätzlich reformiert werden; die entsprechendeneuropäischen Vorschläge liegen auf dem Tisch.

Offene Immobilienfonds wurden durch das Anleger-schutzgesetz stabilisiert.

Drittes Stichwort: Finanzaufsicht. Wir haben aus derKrise aber auch gelernt, dass die Finanzaufsicht nicht inder Lage war, die Fehlentwicklungen rechtzeitig zu be-nennen und diesen entgegenzusteuern. Das lag nach un-serer Analyse zum einen an der Struktur und Organisa-tion der Aufsicht, zum anderen aber auch daran, dasswesentliche Bereiche des Finanzmarktes nicht oder nurteilweise unter staatlicher Aufsicht standen. Darauf ha-ben wir mit folgenden Regulierungsmaßnahmen rea-giert:

Wir haben die europäischen Aufsichtsstrukturen kom-plett neu organisiert und dadurch erheblich gestärkt.

Die Zusammenarbeit der nationalen Aufsichten wirddurch das Umsetzungsgesetz zur Omnibus-I-Richtlinie,das wir im Herbst verabschieden werden, erheblich in-tensiviert.

Einen Vorschlag zur Neuordnung der deutschen Auf-sichtsstrukturen wird die Bundesregierung noch imSommer dieses Jahres vorlegen.

Bisher nicht regulierte Bereiche wie zum Beispiel derBereich der geschlossenen Fonds und Hedgefonds wer-den durch das Finanzanlagenvermittlergesetz bzw. durchdie Umsetzung der AIFM-Richtlinie erstmals in die Auf-sicht einbezogen; beide Maßnahmen werden in dennächsten Monaten abgeschlossen werden.

Viertes Stichwort: geordnete Abwicklung. Eine we-sentliche Erkenntnis der Finanzkrise war, dass uns keinInstrumentarium zur Verfügung stand, um große syste-mische Finanzinstitute im Insolvenzfall so abzuwickeln,dass nicht das gesamte Finanzsystem ins Wanken gerät.Dieser Mechanismus ist aber dringend notwendig, dennwir haben auch gesehen, dass trotz aller Regulierungs-maßnahmen nicht verhindert werden kann – und im Üb-rigen auch gar nicht verhindert werden soll –, dass Ban-ken durch unternehmerische Fehlentscheidungen vomMarkt verschwinden. Wir haben darauf reagiert – inDeutschland übrigens als eines der ersten Länder über-haupt – und haben ein Restrukturierungsgesetz für Ban-ken verabschiedet. Dieses Gesetz ist die Blaupause fürdie Anstrengungen, einen europäischen Restrukturie-rungsmechanismus für europaweit tätige systemischeBanken zu schaffen. Die Koalitionsfraktionen und dieBundesregierung haben hier Pionierarbeit geleistet.

Fünftes Stichwort: Verbraucherschutz. Eine weitereErkenntnis aus der Finanzkrise war, dass wir im Finanz-dienstleistungsbereich Defizite im Bereich des Verbrau-cherschutzes haben. Wie gesagt, es war eine weitere Er-kenntnis und nicht die große Erkenntnis. Ich sage das

deswegen, weil ich darauf aufmerksam machen möchte,dass wir aus gutem Grund den Schwerpunkt unserer Re-gulierungsaktivitäten auf die Systemstabilisierung gelegthaben; die Finanzkrise im Herbst 2008 war in erster Li-nie eine Systemkrise und keine Verbraucherschutzkrise.Trotzdem konnten wir im Bereich des Verbraucherschut-zes in den letzten Monaten signifikante Verbesserungendurchsetzen:

Im Anlegerschutzgesetz haben wir die Qualität derAnlageberatung im Bankenbereich verbessert.

Die Verbesserung der Beratungsqualität bei den freienVermittlern ist Gegenstand des Finanzanlagenvermittler-gesetzes, das wir im Herbst auf den Weg bringen wer-den.

Im Rahmen des OGAW-IV-Umsetzungsgesetzes ha-ben wir entsprechend den europäischen Vorgaben dieRechte von Fondsanlegern gestärkt.

Wir verfolgen darüber hinaus mit großem Interessedie Ideen und Konzepte zur Stärkung von nachhaltigenGeldanlagen und sehen daher diesem Teil der Anhörungam Montag mit Spannung entgegen.

Insgesamt haben wir im Bereich Finanzmarktregulie-rung und Verbraucherschutz in den letzten 18 Monatenacht Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen; das neunteund das zehnte sind bereits im parlamentarischen Ver-fahren. Weitere Vorhaben, wie zum Beispiel die Neuord-nung der Finanzaufsicht, werden nach der Sommerpausefolgen. Nun ist Quantität alleine kein Erfolgskriterium;aber ich möchte schon darauf hinweisen, dass wir mitdem Restrukturierungsgesetz oder dem Gesetz zur Vor-beugung gegen missbräuchliche Wertpapier- und Deri-vategeschäfte neue innovative Wege gegangen sind undim positiven Sinne auch im internationalen VergleichMaßstäbe gesetzt haben.

Wir wissen aber auch, dass das noch nicht reicht, umdie Finanzmärkte nachhaltig sicherer und stabiler zu ma-chen. Deswegen arbeiten wir intensiv an weiteren vonuns als relevant identifizierten Themen.

Eines dieser Themen sind die großen, internationalvernetzten Finanzinstitute, von denen wir annehmen,dass sie für das gesamte System von Bedeutung sind.Diese Institute beherrschen wir als Regulatoren definitivnoch nicht. Ein Scheitern eines dieser Institute würde er-heblichen Schaden verursachen. Letztlich müsste dafürwieder der Steuerzahler geradestehen. Deswegen ist eswichtig, dass an diese Institute besondere Maßstäbe an-gelegt werden. Wir begrüßen daher, dass im Rahmen desBasel-III-Prozesses von diesen Instituten höhere Eigen-kapitalbeträge als von nichtsystemrelevanten Institutennachgewiesen werden müssen. Wir werden uns dafüreinsetzen, dass dies schnell umgesetzt wird. Was nochfehlt – das habe ich bereits erläutert –, ist ein Restruktu-rierungsmechanismus für diese Institute – sozusagen dasauf internationale, mindestens aber auf europäischeEbene erweiterte deutsche Restrukturierungsgesetz.

Wir sehen des Weiteren Handlungsbedarf bei den Ra-tingagenturen. Sie waren zentraler Bestandteil der Krise.Es ist darüber hinaus bedenklich, dass der gesamte Ra-

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tingmarkt im Wesentlichen von drei nichteuropäischenAgenturen beherrscht wird. Die Maßnahmen, die wirbisher zur Regulierung der Ratingagenturen auf den Weggebracht haben, waren gut und zielführend; sie reichenaber nicht. Weitere Maßnahmen, die darauf abzielen, dieRatingqualität weiter zu verbessern, den Wettbewerb imRatingmarkt zu stärken sowie zivilrechtliche Haftungs-regelungen für Ratingagenturen einzuführen, müssenfolgen.

Darüber hinaus haben wir in den letzten Monaten in-tensiv darüber diskutiert, wie die Finanzmärkte an denKosten der Krise beteiligt werden können. Die EU-Kommission hat hierzu Untersuchungen durchgeführtund wird Vorschläge erarbeiten. Wir werden die Umset-zung dieser Vorschläge auf europäischer Ebene, wieauch in der Vergangenheit, unterstützen – so lange, wiekeine originäre EU-Steuer entsteht. Ich möchte in die-sem Zusammenhang daran erinnern, dass es Vertreterder Bundesregierung waren, die dafür gesorgt haben,dass das Thema Finanztransaktionsteuer auf der europäi-schen Agenda weiter vorangetrieben worden ist.

Zu einer Zwischenbilanz gehört aber auch eine kriti-sche Analyse der Dinge, die noch nicht erreicht wordensind, der Dinge, für die noch keine befriedigenden Lö-sungen erarbeitet worden sind. Ich möchte an dieserStelle drei Punkte nennen:

Wir beobachten mit Sorge, dass parallel zur Anhe-bung der Aufsichts- und Regulierungsstandards Finanz-marktakteure Geschäftstätigkeiten in den nicht oder we-nig regulierten Bereich auslagern. Hierzu zählen zumBeispiel die Aktivitäten von Zweckgesellschaften, Geld-marktfonds und Hedgefonds. Dabei gilt es zu vermeiden,dass ein großer Teil der Kredit-, Fristen- und Liquiditäts-intermediation außerhalb des Bankensektors stattfindetund in diesem Bereich Risiken entstehen, denen gerademit den umgesetzten Regulierungsmaßnahmen im Ban-kensektor entgegengewirkt wurde.

Wir sehen, dass es auch nach der Krise Länder gibt, indenen keine oder nur eine schwache Regulierung des Fi-nanzmarktes erfolgt. Es ist eine große Herausforderung,die jeweiligen Regierungen davon zu überzeugen, dasnationale Regulierungswerk an internationale Standardsanzupassen, um hierdurch die Nutzung von Regulie-rungsgefällen einzudämmen.

Der dritte Punkt, zu welchem wir noch keine ab-schließende Lösung anbieten können, ist die CorporateGovernance im Finanzdienstleistungsbereich. Dabeigeht es nicht nur darum, dass die Kontrollorgane in denFinanzinstituten genügend Sachkenntnis haben, um dieProdukte und das Risikoprofil des Unternehmens zu ver-stehen und gegebenenfalls eingreifen zu können; daslässt sich politisch und aufsichtsrechtlich lösen. Es gehtvielmehr darum, dass wir in vielen Teilen der Finanz-dienstleistungsbranche eine andere Unternehmenskulturbrauchen. Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bankhat auf unserem Finanzmarktkongress gestern sinnge-mäß gesagt, dass es kein Geschäft wert sei, der Reputa-tion der Bank zu schaden. Das höre ich wohl, und ichwürde mich freuen, wenn das eine oder andere Institutdies mehr als in der Vergangenheit beherzigen würde.

Damit meine ich weniger die regional tätigen Banken,bei denen Mitarbeiter und Management mit ihren Kun-den in engem Kontakt stehen, im gleichen Dorf wohnenund im gleichen Verein feiern. Die Akteure in der Fi-nanzwirtschaft haben neben ihren Verpflichtungen ge-genüber ihren Kapitalgebern auch eine gesellschaftlicheVerantwortung. Wenn ich dann aber auf den Konferen-zen und Kongressen, auf denen ich zu diesem Themaspreche, sinngemäß Aussagen höre wie: „Wenn ihrwollt, dass wir etwas nicht tun, dann müsst ihr es explizitverbieten, denn sonst sind wir es unseren Aktionärenschuldig, dass wir unser Ergebnis optimieren“, dann istdies nicht nur sehr kurzfristig gedacht, sondern nachhal-tig verantwortungslos. Regulierung wird zum bürokrati-schen Monster; Regulierung wird nicht funktionieren,solange viele intelligente Menschen ihre Zeit damit ver-bringen, den ganzen Tag darüber nachzudenken, wie siediese Regulierung umgehen können. Um das klarzustel-len: Dies ist kein Pauschalvorwurf an die Finanzindus-trie. Wir wissen, dass dort der überwiegende Teil derMitarbeiter eine mehr als hervorragende Arbeit leistet;aber der eine oder andere sollte sich schon angesprochenfühlen.

Wir fordern daher die Bundesregierung auf:

Erstens: Bei der effektiven Regulierung der Finanz-märkte weiterhin konsequent und mit Augenmaß vorzu-gehen und dauerhaft für ein stabileres und widerstands-fähigeres Finanzsystem zu sorgen.

Zweitens: Die Einhaltung neuer regulatorischer Vor-gaben aufgrund bereits beschlossener Reformvorhabenzu überwachen und regelmäßig zu überprüfen, ob die an-gestrebten Regulierungsziele erreicht werden.

Drittens: Sich dafür einzusetzen, dass die auf interna-tionaler, europäischer und nationaler Ebene noch nichtvollendeten Reformvorhaben zügig abgeschlossen wer-den; insbesondere die Arbeiten der G 20 und des Finanz-stabilitätsrates zu den systemrelevanten Instituten sowiezur Regulierung des Schattenbankensystems müssenweiter vorangetrieben werden.

Viertens: Sich dafür einzusetzen, dass die bereits ver-abschiedeten internationalen Beschlüsse zur verstärktenFinanzmarktregulierung in allen beteiligten Staaten voll-ständig und international konsistent umgesetzt werden,um Wettbewerbsverzerrungen und die Nutzung von Re-gulierungsgefällen zu vermeiden; dies betrifft unter an-derem die Einführung der Beschlüsse des Baseler Aus-schusses in weiteren Ländern und die Umsetzung derinternationalen Vorgaben zu den Vergütungsstandards.

Fünftens: Unter Berücksichtigung der seit der Finanz-krise und der Staatsschuldenkrise gewonnenen Erkennt-nisse eine umfassende und systematische Folgebewer-tung der Ursachen für eingetretene und potenzielleInstabilitäten der Finanzmärkte vorzunehmen und diebisher umgesetzten und eingeleiteten Regulierungsmaß-nahmen im Hinblick auf die Ergebnisse dieser Folgebe-wertung zu evaluieren.

Der letzte Punkt ist mir dabei besonders wichtig. Erist mir deswegen wichtig, weil es fast drei Jahre nach derFinanzkrise ein guter Zeitpunkt ist, zurückzuschauen,

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unter Berücksichtigung von gegebenenfalls neuen Er-kenntnissen die eingeleiteten Regulierungsmaßnahmenzu bewerten und die entsprechenden Schlussfolgerungenzu ziehen.

Viel getan, viel erreicht, noch viel zu tun – am bestengemeinsam, gemeinsam mit der Opposition und, wassehr hilfreich wäre, gemeinsam mit der Finanzindustrie.Nehmen Sie das Angebot an!

Dr. Carsten Sieling (SPD): Gerade gestern Nach-mittag hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu einemKongress geladen, der die Überschrift „Finanzmarktre-gulierung nach der Krise – eine Zwischenbilanz“ trug. Insalbungsvollen Worten wird im Vorwort der Einladungder Leserschaft offenbart, dass „nationale wie internatio-nale Märkte einen stärkeren Ordnungsrahmen brau-chen“. Ich vermute, man hat sich dort gegenseitig auf dieSchulter geklopft und versichert, dass ja alles nicht soschlimm gewesen sei und man im Übrigen schon eineMenge geschafft habe.

Nur leider ist dem nicht so. Weder war die Finanz-und Wirtschaftskrise, die zu einer Staatsschuldenkrisegeworden ist, ein Betriebsunfall, noch reichen die bishe-rigen Reformen im Finanzsektor nur ansatzweise aus,um künftige Krisen zu verhindern.

Wer allerdings erwartet hat, mit dem vorliegendenAntrag der Regierungsfraktionen ein Gesamtkonzeptoder zumindest einen Eindruck darüber zu bekommen,mit welchem Anspruch sich die Regierungsfraktionender größten Volkswirtschaft Europas und eines G-8- undG-20-Mitgliedes an den laufenden und harten internatio-nalen Regulierungsdebatten einbringen wollen, der wirdbitter enttäuscht. Selten habe ich bei einem so wichtigenThema einen so nichtssagenden und unambitioniertenText gelesen. Und auch der Umstand, dass wir diesenAntrag nach Mitternacht beraten, spricht Bände. Aberum die Finanzpolitik ist es eben ähnlich dunkel bestellt,wie es im Moment draußen ist.

Aber nicht nur das. Weil man sich aufseiten der Ko-alition wahrscheinlich durchaus der dürftigen Bilanz inSachen Finanzmarktregulierung bewusst ist, wird sicheinfach dreist mit fremden Federn geschmückt. Nichtanders ist es sonst zu verstehen, dass sämtliche Regulie-rungsvorhaben der europäischen Ebene, die Deutschlandsowieso umsetzen muss, hier als Erfolg dargestellt wer-den. Das gilt zum Beispiel für die Regulierung der Ra-tingagenturen, die Kapitaladäquanzrichtlinie, die Neure-gelung der EU-Finanzaufsicht oder die geplante Deri-vateneuregelung.

Im Bereich des Verbraucherschutzes ist es offenbarallein die Quantität, die überzeugen soll. Denn nicht an-ders ist es zu verstehen, dass das Anlegerschutz- undFunktionsverbesserungsgesetz und das Finanzanlagen-vermittler- und Vermögensanlagengesetz hier als zweigetrennte Gesetzesinitiativen dargestellt werden. Wasdabei aber gern vergessen wird: Diese beiden Gesetze– mit dem Gesetz zur Vorbeugung gegen missbräuchli-che Wertpapiergeschäfte – waren noch Anfang 2010 alsgemeinsamer Entwurf in einem Gesetz vorgelegt worden

bis Herr Brüderle mit der freien Vermittlerlobby sichdurchsetzte und ein neuer, eigener – und natürlich abge-schwächter Vorschlag notwendig war.

Stichwort Bankenrestrukturierungsgesetz: Auch hierhat die Koalition dankbar auf die guten Vorarbeiten dersozialdemokratischen Minister Steinbrück und Zyprieszurückgegriffen. Und das in diesem Zusammenhang ei-gene Vorhaben der Bankenabgabe stockt nach der Blo-ckade im Bundesrat.

Die Reihe ließe sich fortsetzen: Stockende Reformder nationalen Finanzaufsicht oder ein fehlendes klaresVotum zur Finanztransaktionsteuer: überall Stillstand.

Auch die Neuregelung der Vergütungsstrukturen beiAktiengesellschaften hin zu einer stärkeren Ausrichtungam langfristigen und nachhaltigen Unternehmenserfolghat die SPD-Bundestagsfraktion gegen den massivenWiderstand des Koalitionspartners 2009 auf den Weg ge-bracht.

Ich sehe keinen Vorschlag, wie künftig das Problemder systemrelevanten Banken, die „too big to fail“ sind,zu lösen ist. Die USA, die Schweiz und Großbritanniengehen hier neue und eigene Wege. Deutschland bleibtZaungast.

Aber ich fürchte, der Anspruch ist schon gar nicht,hier Akzente zu setzen. Das zeigt sich auch an dem For-derungskatalog der Koalition am Ende des Antrags:„Prüfen, beobachten, evaluieren“ ist offensichtlich derReformanspruch der Koalition, der mich verdächtig an„nichts sehen, nichts hören, nichts sagen“ erinnert.

Anders ist es auch zu verstehen, dass auf der gestrigenFinanzmarktkonferenz das „Who is who“ der deutschenFinanzlobby auftreten darf, von Verbraucherschützernoder geschädigten Anlegern dagegen weit und breitnichts zu sehen ist.

Herr Ackermann darf dann mit dicken Krokodilsträ-nen davon berichten, dass ihn die mickrige Bankenab-gabe in Höhe von 70 Millionen doch angesichts einesUnternehmensgewinnes der Deutschen Bank für 2011 inHöhe von geplanten 10 Milliarden Euro hart trifft.

Herr Blessing von der Commerzbank darf darüberklagen, dass die Öffentlichkeit gar nicht genug positivwahrnimmt, dass er immerhin einen Großteil der StillenEinlage des Bundes in Höhe von 16,4 Milliarden Eurozurückgezahlt hat. Ohne dabei aber zu erwähnen, dass erdie geplanten Zinsen darauf nie zahlen wird.

Und schließlich wird Herr Francioni im Namen derDeutschen Börse verkünden, dass sämtliche Bestrebun-gen, eine Finanztransaktionsteuer nur auf europäischerEbene einzuführen, zu nicht kompensierbaren Abwande-rungsbewegungen führen wird.

Aber man muss sich auch nicht wundern, wenn mandie Frösche fragt, ob man ihren Teich trockenlegensollte. So wird das nicht gelingen. Die SPD hat dazu eineReihe eigener Vorschläge eingebracht.

Wir wollen eine Finanztransaktionsteuer. Gerade dieFinanzmarktakteure haben in der Finanz- und Wirt-

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schaftskrise von umfangreichen Rettungsmaßnahmendes Staates profitiert. Es ist somit ein Gebot der Gerech-tigkeit, den Finanzsektor auch durch die Erhebung einerFinanztransaktionsteuer höher zu besteuern. Dadurchwürden die Finanzmarktakteure nicht zuletzt auch an derFinanzierung der von ihnen selbst wesentlich mit verur-sachten Kosten zur Krisenbewältigung beteiligt.

Wir wollen höhere – weit über die Basel-III-Vor-schläge hinausgehende Eigenkapitalzuschläge für sys-temrelevante Finanzinstitute.

Wir kämpfen für eine Bankenabgabe, die sich an denwirklichen Risiken des Geschäftsmodells einer Bankorientiert und so aufkommensstark ist, damit nicht in dernächsten Krise wieder die Steuerzahlerinnen und Steuer-zahler zur Kasse gebeten werden.

Schließlich brauchen wir zwingend auch ein umfas-sendes Maßnahmenpaket, das alle Akteure im Bereichder Finanzdienstleistungen einschließt. Im Sinne eines„Finanz-TÜV“ brauchen die Anleger baldmöglichst zu-verlässige, detaillierte und verständliche Informationenüber die am Markt angebotenen, teilweise hochriskantenFinanzprodukte. Nur so können die Verbraucherinnenund Verbraucher bei ihrer Vermögensanlage die Sicher-heit erreichen, die sie selbst für angemessen erachten.

Die nur kurze Reihe ließe sich fortsetzen. Und siezeigt, dass wir mehr brauchen als einen ziemlich lustloszusammengeschriebenen Antrag zur Finanzmarktregu-lierung, den uns die Koalition hier heute vorlegt.

Björn Sänger (FDP): Mit dem vorliegenden Antraglegt die christlich-liberale Koalition eine Zwischenbilanzder Regulierung der Finanzmärkte nach der Finanzkrisevor, die sich sehen lassen kann. Selbstverständlich istdas große Haus der neuen Rahmenbedingungen auf denFinanzmärkten noch nicht vollständig errichtet. Wir sindaber deutlich weiter als im Rohbau. Das Haus bietet– selbst nach doch recht kurzer Bauzeit – Schutz, und eswärmt.

Bei allen Regulierungsfragen, vor denen wir standen,geht es im Kern um die Wiedereinführung der Prinzipiender sozialen Marktwirtschaft. Es mussten – undmüssen – Sachverhalte geregelt werden, bei denen Pro-bleme aufgetaucht sind, die es, würde das Prinzip des„ehrbaren Kaufmanns“ konsequent durchgehalten wer-den, nicht gegeben hätte. Als Liberaler bedauere ichdiese Tatsache, muss mich ihr jedoch stellen.

Was ist nun die Aufgabe einer effektiven Regulierungder Finanzmärkte? Effektive Regulierung schafft einenRechtsrahmen, der mit marktwirtschaftlichen Mittelnversucht, künftige Krisen – egal, woraus sie sich entwi-ckeln können – zu vermeiden und ausgebrochene Krisenlokal zu begrenzen. Das ist der christlich-liberalen Ko-alition mit den hierzu bislang vorgelegten Gesetzen undInitiativen gelungen, und damit sind wir deutlich weiterals andere, die elf Jahre an den Schalthebeln des Bundes-finanzministeriums sträflich untätig haben verstreichenlassen.

Gleichwohl gibt diese erfolgreiche Zwischenbilanzkeinen Anlass, sich auf Erreichtem auszuruhen. Sie istvielmehr Motivation, den hohen qualitativen Level unse-rer nationalen Regulierung auch auf die anstehenden in-ternationalen Regulierungsvorhaben auszudehnen. Dennes gibt nach wie vor Baustellen, und der Bau geht nichtin der Geschwindigkeit voran, die wir uns als christlich-liberale Regierungskoalition wünschen.

Wir wollen die Finanzmärkte effektiv regulieren. Dasbedingt, dass wir die Internationalität der Märkte beach-ten und daher zu globalen Lösungen kommen müssen.Gleichzeitig müssen wir die Besonderheiten, die wir inallen Bereichen im deutschen Markt haben, berücksich-tigen. Denn wir wären doch mit dem Klammerbeutel ge-pudert, wenn wir zum Beispiel das erfolgreiche Drei-Säulen-Modell unserer Bankenlandschaft, das uns – imGegensatz zu anderen Ländern – gut durch die Krise ge-bracht hat, durch unpassende Regulierung gefährdenwürden. Aber dieser Anspruch, den ja auch alle Fraktio-nen dieses Hauses glücklicherweise teilen, sorgt natür-lich dafür, dass es mit der internationalen Regulierungnicht so schnell vorangeht, denn die notwendigen Ver-handlungen brauchen Zeit.

Dabei haben wir Deutsche schon Rahmenbedingun-gen in Kraft gesetzt, die Vorbild für die internationaleRegulierung sind – unser Bankenrestrukturierungsgesetzetwa, das es ermöglicht, Banken kontrolliert vom Marktzu nehmen und durch die Absicherung eines Fonds, dendie Branche über die Bankenabgabe selbst speist, dieSchockwellen, die auf den Märkten entstehen können,abzublocken. Dieses Gesetz sollte meines Erachtens dieBlaupause für die EU-Regulierung werden. Und das be-trifft ausdrücklich auch die Bankenabgabe, denn hier isteine Harmonisierung auf europäischer Ebene dringenderforderlich, um unnötige Doppelzahlungen zu vermei-den. Aber ich denke auch an unser Leerverkaufsverbot.Für diese intelligente Lösung, die über eine zeitlicheFrist die unerwünschten Effekte zielgerichteter Spekula-tion von den durchaus gewünschten Aspekten, wie zumBeispiel der Liquiditätssicherung oder der Informationüber Blasenbildung im Markt, trennt, interessieren sichunsere amerikanischen Freunde.

Wir haben des Weiteren bei der Frage des Selbstbe-halts bei Kreditverbriefungen eine von der EU-Regulie-rung abweichende Lösung gewählt, weil wir – mit derWissenschaft – der Auffassung sind, dass ein höherer Ei-genbehalt auch eine höhere Gewähr dagegen bietet, dassfaule Kredite über das Verbriefungsinstrument dieMärkte großflächig infizieren. Wir gehen davon aus,dass es unserer Bundesregierung auch gelingt, über dievereinbarte Evaluierung unsere europäischen Partnervon der hohen Güte unserer Lösung zu überzeugen, sodass wir keine Regulierungsarbitrageverluste für dendeutschen Markt befürchten müssen.

Neben der Regulierung der Ratingagenturen und derSchaffung eines Rechtsrahmens, der an die Vergütung inInstituten schärfere Bedingungen stellt, haben wir auchden Schutz der Anleger entscheidend gestärkt. Hierbeisind die Produktinformationsblätter nur ein Aspekt. Ent-scheidend sind die Erfassung der Anlageberater in einem

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Register und die Möglichkeit, dass die Aufsicht bei ge-häuften Beschwerden eine weitere Tätigkeit untersagenkann. Zukünftig wird dies auch die im sogenanntenGrauen Kapitalmarkt Tätigen betreffen, was ein Novumin Deutschland darstellt. Wichtig ist, dass der Anlegerdie wesentlichen Informationen, die für ihn und seineAnlagen von entscheidender Bedeutung sind, direkt be-kommt, ohne dass er auf die ergänzenden Informationenverzichten muss, auf die er bei Bedarf zugreifen kann.Diese Regelungen tragen zur Vereinfachung des Ver-braucherschutzes bei, helfen, den Anleger nicht zu ver-wirren, und dämpfen natürlich die Kosten, was am Endedes Tages auch dem Anleger zugutekommt.

Neben all den Erfolgen, die die Bundesregierung mitder Unterstützung der christlich-liberalen Regierungs-koalition auch auf internationaler Ebene erreicht hat, in-dem deutsche Interessen in die Vereinbarungen einge-flossen sind, bleibt noch einiges zu tun. Ich denke hieran die Regulierung der außerbörslichen Derivatemärkte,den von Hedgefonds und Zweckgesellschaften domi-nierten sogenannten Schattenbankensektor und die Spe-kulation auf den Rohstoffmärkten. Es gilt bei all diesenFragen der von uns mit Nachdruck unterstützte Grund-satz, dass kein Finanzmarkt, kein Finanzmarktakteur undkein Finanzmarktprodukt zukünftig unreguliert bleibensoll! Dabei sollen bewährte Regeln, wie etwa unser deut-sches Einlagensicherungssystem, nicht gefährdet, son-dern in die neue Welt überführt werden. Ein solides undfestes Gebäude reißt man nicht ohne Not ab, sondernnutzt es zur Stabilisierung des neuen Hauses.

Gleichzeitig nutzt die christlich-liberale Koalition dieRegulierung, um auch den Finanzplatz Deutschland zustärken. Ein sehr gutes Beispiel ist hier das Pension Poo-ling, also die länderübergreifende Verwaltung von Al-tersvorsorgeeinrichtungen. Hier können wir für die An-leger und unseren heimischen Markt Gutes tun, unddaher freut es uns Liberale besonders, dass die Bundes-regierung zugesagt hat, sehr zeitnah – wahrscheinlichschon bis Ende dieses Jahres – einen ersten Gesetzent-wurf zur Realisierung dessen vorzulegen.

Es freut mich, festzustellen, dass die christlich-libe-rale Koalition und die von ihr getragene Bundesregie-rung auf einem sehr guten Weg bei einer effektiven Re-gulierung der Finanzmärkte nach der Finanzkrise sind –ein Weg, bei dem das Ziel erkennbar ist und der kraftvollbeschritten wird. Die Geschwindigkeit ist angemessen.Wir rennen nicht planlos durch die Gegend, nur um Ak-tivität vorzutäuschen, wie das vom einen oder anderenAntrag derer, die elf Jahre die Möglichkeit gehabt hät-ten, gefordert wird. Nein, wir haben alle Regulierungs-aktivitäten im Kopf und bedenken deren Auswirkung aufdie Finanzakteure. Denn die Summe der einzelnen Teileergibt erst den Mechanismus. Wir wollen, dass dieserMechanismus funktioniert und er Krisen vorbeugenhilft, und nicht, dass er durch eine zu hohe Gesamtbelas-tung krisenverursachend wirkt oder die Akteure aus demLand treibt. Damit wäre niemandem geholfen. Wir brau-chen die dienende Rolle der Finanzwirtschaft für die Un-ternehmen der Realwirtschaft. Dabei sind wir ganzselbstverständlich bereit, nach einer Evaluierung an dereinen oder anderen Stelle Veränderungen vorzunehmen,

wenn wir feststellen, dass eine Maßnahme nicht sowirkt, wie angenommen. Aber dazu muss man die Maß-nahmen auch erst mal wirken lassen. Das tun wir, diechristlich-liberale Koalition, und wir tun dies erfolg-reich, wie man in unserer Zwischenbilanz zweifelsfreilesen kann.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Mit dem unsvorliegenden Antrag der Koalition, „EffektiveRegulierung der Finanzmärkte nach der Finanzkrise“,versucht die Bundesregierung den Eindruck zuerwecken, dass erstens die Finanzkrise vorbei sei, wassie nicht ist. Mit der Euro-Krise setzt sich dieFinanzkrise fort. Laut jüngsten Pressemeldungen, wirdeine Reihe von Banken, darunter auch eine deutsche, deneuropäischen Bankenstresstest nicht bestehen. Auch sinddie in die Bad Banks ausgelagerten Giftpapiere nichtverkäuflich, das Risiko bleibt. Dass zweitens dieBundesregierung bereits auf vielen Gebieten zahlreicheund natürlich allesamt richtige Maßnahmen ergriffenhätte und drittens die Bundesregierung bitte soweitermachen soll wie bisher, um, ich zitiere aus IhremAntrag „bei der effektiven Regulierung der Finanz-märkte weiterhin konsequent und mit Augenmaß vorzu-gehen und dauerhaft für ein stabiles und widerstandsfä-higes Finanzsystem zu sorgen“.

Aber die Bundesregierung ist nicht konsequentvorgegangen und tut es bisher weiterhin auch nicht!Sicher wurde unter dem Druck der ausgebrochenenKrise einiges eingeleitet, um die Finanzmärkte ein wenigzu regulieren, zum Beispiel das auf den Euro unddeutsche Aktien beschränkte Leerverkaufsverbot. Aberinsgesamt ist nicht viel passiert, was tatsächlich zukünf-tigen Krisen vorbeugt.

Immerhin sind Sie von ihrem neoliberalen Credo, deralternativlosen Notwendigkeit die Finanzmärkte zu deregu-lieren, welches die Finanzpolitik aller Bundesregierungender letzten Jahrzehnte bestimmte, abgewichen. Aber diesesUmschwenken war und ist zögerlich und wird gerade nichtden Anforderungen gerecht, um tatsächlich ein Bankensys-tem zurecht zu stutzen, welches seinen eigentlichen Aufga-ben gerecht wird, die ich Ihnen gerne nochmal ins Gedächt-nis rufe: erstens Sicherstellung eines zuverlässigen undkostengünstigen Zahlungsverkehrs, zweitens Zurückfüh-rung der Banken auf ihre Rolle als Kapitalsammelstellenund drittens Erfüllung ihrer Finanzierungsfunktion, indemsie die Investitionen der Unternehmen, der Privathaushalteund des Staates zu annehmbaren Bedingungen über Kreditfinanzieren.

Banken sind nicht zum Selbstzweck da. Diese ebengenannten Kernaufgaben können auch kleine und mittel-große Banken tun. Es braucht dazu keine gigantischgroßen Finanzinstitute. Diese erreichen ihre Größe oftnur unter anderem durch Spekulation, bei gleichzeitigerVernachlässigung ihrer eigentlichen Kernaufgaben. Undsie haben durch ihre Systemrelevanz das Potenzial, dieFinanzmarktstabilität insgesamt zu gefährden und damitauch die Funktionsweise ganzer Staaten zu bedrohen.Daher müssen diese systemrelevanten Banken, durchregulatorische Maßnahmen, auf ein Maß zurechtgestutztwerden, dass keine Gefahr mehr von ihnen auf die

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Finanzmarktstabilität ausgeht. Dies stünde noch nichteinmal im Widerspruch zur europäischen Kapitalver-kehrsfreiheit. Denn diese darf immer dann eingeschränktwerden, wenn die Aufrechterhaltung der öffentlichenOrdnung gefährdet ist. Und systemrelevante Bankenstellen zweifelsohne eine Bedrohung der öffentlichenOrdnung dar. Auch sollten Privatbanken in einen gegen-seitigen Haftungsverbund gezwungen werden, wie ihnSparkassen und Genossenschaftsbanken längst haben.Das würde Risiken wirklich deutlich minimieren und imFalle eines Crashs müsste nicht die Allgemeinheit fürden Schaden geradestehen.

Wichtig ist auch das Thema Ratingagenturen. DieEU-Ratingverordnung ist kaum das Papier wert, auf dassie geschrieben wurde. Wir alle kennen das Problem mitden wenigen, nicht unabhängig agierenden Ratingagen-turen und ihren oft falschen Bewertungen, welche durchfehlende Transparenz der angewendeten Verfahren über-haupt nicht nachvollziehbar sind. Sie versuchen ernst-haft die bloße Registrierung dieser Orakel als Regulie-rung zu verkaufen.

Was wir brauchen ist eine europäische, öffentlicheRatingagentur, deren Finanzierung durch eine Gebüh-renordnung – vergleichbar mit Notaren – sichergestelltwird. Wo ist da Ihre Initiative, frage ich Sie?

Sie haben ein Restrukturierungsgesetz installiert, dasnicht mehr als Blendwerk ist. Sogar die KanzleiFreshfields, die bisweilen selbst Gesetzentwürfe für Sieformuliert, bezeichnet das Sanierungsverfahren als zahn-los. Dazu kommt, dass das Restrukturierungsverfahrennicht auf das Insolvenzrecht anderer Staaten abgestimmtist und es darf bezweifelt, dass bei seiner Einleitung dieGläubiger die Füße still halten. Für die Restrukturierungeiner großen systemrelevanten Bank wird auf Jahrzehntehinaus schlicht das Geld fehlen, weil sie eine Bankenab-gabe eingeführt haben, die viel zu gering ausfällt. BeiBeibehaltung der mickrigen Bankenabgabe dürfte einenächste Krise erst wieder in einigen Jahrzehnten auftre-ten, das wissen Sie, trauen sich aber nicht eine angemes-sene Bankenabgabe durchzusetzen.

Auch ich frage Sie, wo Ihr Engagement für eine Fi-nanztransaktionsteuer ist? Und die Frage der Kosten derjetzigen Krise wird von Ihnen überhaupt nicht, oder nursehr zaghaft gestellt.

Das Problem ist, es bleibt bei Ihnen bei altenneoliberalen Denkmustern und Leitbildern. So auchbeim Thema Finanzaufsicht. Zwar halten auch wir Linkedie Errichtung verbindlicher europäischer Aufsichts-strukturen für richtig und wichtig. An allen Institutionendes neuen EU-Aufsichtssystems ist aber gemeinsam zukritisieren, das ihnen keine makroökonomischen undmakroprudenziellen Leitsätze auferlegt wurden, um dievon den Finanzmärkten ausgehenden Risiken wirkungs-voll zu bekämpfen. Es wird immer noch die Effektivitätder Finanzmärkte hervorgehoben, die es zu gewähr-leisten gilt. Die Folge wird sein: Die Banken kassierenund wenn Not am Mann ist, dann hilft doch wieder derStaat. All das, was weiter geschehen soll, soll mit„Augenmaß“ geschehen. Genau das heißt im Klartext,die Banken und diejenigen zu verschonen, die zulasten

der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler spekulieren. Ichsage Ihnen: mit uns nicht! Wenn Sie hier nicht endlichumdenken und Ihre alten und überholten neoliberalenLeitsätze effizienter Kapitalmärkte über Bord werfen,dann kommt die nächste Krise sicherlich.

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Als unbedarfter Leser könnte man bei der Lektüre desAntrags der Regierungsfraktionen beinahe zu dem Ein-druck gelangen: alles kein Problem mehr mit den Ban-ken und den Finanzmärkten. Das ist leider überhauptnicht so. Ihr Antrag ist in vielen Bereichen schlicht Lob-hudelei. Er vermittelt ein falsches Bild vom Stand derFinanzmarktregulierung und den ungelösten Problemen,vor denen wir heute, nach vier Jahren Krise, noch immerstehen.

So ist das sogenannte Too-big-to-fail-Problem nochimmer ungelöst. Anders als etwa die Schweiz oderGroßbritannien traut sich Deutschland noch nicht einmalan eine ernste und ehrliche Diskussion heran, wie dasProblem der impliziten Staatsgarantie für Großbankengelöst werden kann. Diese kostenlose Staatsgarantie istunvereinbar mit einer Marktwirtschaft. Die Steuerzahle-rinnen und Steuerzahler werden zwangsweise zu Bürgenund Versicherern ohne Prämienzahlung für Finanzinsti-tute, die aufgrund ihrer Größe eine staatliche Rettungs-garantie besitzen. Zugleich haben solche Institute Wett-bewerbsvorteile, weil sie infolge der staatlichenRettungsgarantie ein besseres Rating und somit bessereRefinanzierungsbedingungen erhalten. So verstärkt sichdas Problem selbst.

Leider ist überhaupt nicht in Sicht, dass Sie oder dieBundesregierung sich ernsthaft um eine Lösung der Too-big-to-fail-Problematik bemühen, im Gegenteil: Basel IIIwird derzeit auch auf deutsche Initiative in der europäi-schen Umsetzung in entscheidenden Bereichen verwäs-sert. So wird nach allem, was wir aus Brüssel hören, eineSchuldenbremse für Banken, die ihre risikoungewichteteBilanzsumme in Relation zum Eigenkapital begrenzt,nicht eingeführt, obwohl die Basel-III-Vereinbarung dasnoch vorsah. Dabei müsste gerade Banken, die bei derKreditvergabe an Unternehmen sehr genau auf die Ei-genkapitalausstattung achten, klar sein: Mit weniger als5 Prozent Eigenkapital zu wirtschaften ist kein seriösesBankgeschäft. Das wird bis heute aber vom Staat akzep-tiert, obwohl man Banken mit einer Leverage Ratio vielstabiler machen könnte, wie beispielsweise die Erfah-rungen in Kanada zeigen.

Auch fehlt bis heute ein echtes EU-Insolvenzrecht fürBanken und ein europäischer Bankenrettungsfonds, mitdenen sich Banken ohne gravierende Marktverwerfun-gen abwickeln ließen. Dabei ist allen Experten schonheute klar, dass mit nationalen Abwicklungsregimen wiedem deutschen es unmöglich ist, grenzüberschreitendagierende Banken abzuwickeln, ohne dass es zu Panik-reaktionen an den Märkten kommt. Den Kennern IhrerPolitik und Brüsseler Interventionen ist ebenso klar, dassSie versuchen werden, die dringende Delegation echterKompetenz auf die europäische Ebene im Bereich desKrisenmanagements zu verhindern.

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Kein Produkt, keine Region und kein Akteur außer-halb der Aufsicht, hieß es vor beinahe drei Jahren beimG-20-Treffen in Washington. Erst gestern hat Ihre Kanz-lerin diesen Spruch bei Ihrer Finanzmarktkonferenz wie-derholt, und Ihr Antrag verklärt dieses ja richtige Mottogar zum Leitmotiv Ihrer Finanzmarktregulierung. Dochbis heute sind billionenschwere Märkte für Derivate wieKreditversicherungen nicht nur unbeaufsichtigt, son-dern auch nach wie vor völlig intransparent. So ist es bisheute für die deutsche Aufsicht nicht möglich, eigen-ständig in Erfahrung zu bringen, welche deutschen Ban-ken zu welchen Volumina Sicherungsgeber oder -neh-mer für Kreditausfallversicherungen beispielsweise aufgriechische Anleihen sind. Ich bin vor diesem Hinter-grund sehr gespannt auf die Umsetzung und Durchfüh-rungsbestimmungen zu den neuen EU-Regulierungen zuDerivaten und den Marktinfrastrukturen. Die Gretchen-frage, an der auch Sie sich werden messen lassen müs-sen, lautet, welcher Anteil von Derivaten letztlich tat-sächlich auf regulierte Handelsplätze überführt wird,oder anders ausgedrückt: wie hoch der Anteil an Deriva-ten sein wird, der auch künftig unreguliert ablaufen wird,weil bestimmte Industrien daran ein massives finanziel-les Interesse haben und weil Sie dem dann nachgegebenhaben. Spätestens dann werden Sie Ihr ja richtiges Mottovon der lückenlosen Regulierung aller Finanzproduktekorrigieren müssen.

Ihr Antrag ist an mancher Stelle ausgesprochen wi-dersprüchlich. So loben Sie auf der einen Seite die neueVersicherungsregulierung Solvency II und die darin vor-genommene „Modernisierung der Risikomanagement-vorschriften“. Das passt aber überhaupt nicht zu IhrerKritik an den Ratingagenturen und ihrem Einfluss. Siebegrüßen vor diesem Hintergrund, dass die EU-Kom-mission derzeit eine Konsultation durchführt, wie dieVerwendung externer Ratings in der Regulierung gemin-dert werden kann, und Sie fordern dringend Maßnahmenzur Verminderung des Einflusses der Ratingnoten ein. IstIhnen eigentlich klar, dass Solvency II die Bedeutungvon Ratings in der Versicherungsregulierung nochmalsdeutlich stärken wird und dass deshalb Ihre Positionenund Forderungen an dieser Stelle einfach nicht zusam-menpassen?

Ja, es sind viele Gesetze erlassen worden. Ja, es sindweitere Gesetze auf dem Weg. Aber es ist nicht dieMasse an Regeln, die Länge der Gesetze, die einen stabi-len Finanzmarkt ausmachen, sondern ihr Inhalt und ins-besondere ihr Zusammenwirken. Viele Wissenschaftlerbeklagen, dass die entscheidenden Regeln nicht gesetztwerden. Selbst der IWF warnt davor, dass die Risikenfür eine Finanzkrise eher zu- als abgenommen hätten.Nehmen Sie das eigentlich überhaupt zur Kenntnis? Na-türlich geht es um die Durchsetzung der Regeln. Was Siezum Thema Aufsicht aufgeschrieben haben, erstauntvielleicht am meisten. Glauben Sie wirklich, Sie könnenIhr klägliches Scheitern bei der Reform der Finanzauf-sicht schönreden? Im Koalitionsvertrag wollten Sie nochdie Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht un-ter das Dach der Bundesbank packen. Damit sind Sie ge-scheitert. Jetzt machen Sie nur noch Kleinkram, den Sie

selbst noch vor wenigen Monaten als kläglich bezeichnethätten. So viel Ehrlichkeit muss schon sein.

Anlage 19

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung der Anträge:

– Keine zusätzlichen finanziellen Mittel desBundes oder der Bahn AG für Stuttgart 21

– Stuttgart 21 – kein Weiterbau ohne Nach-weis der Leistungsfähigkeit und ohne Klä-rung der Kosten und Risiken

(Tagesordnungspunkt 16 und Zusatztagesord-nungspunkt 10)

Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU): Eigentlichwurde schon heute Mittag in der Aktuellen Stunde allesWichtige zum Infrastrukturprojekt Stuttgart 21 in mei-nem Wahlkreis gesagt. Winfried Hermann ist zum Ver-kehrsminister in Baden-Württemberg und nicht zumStuttgart-21-Verhinderungsminister gewählt worden. Anseinem Amtsverständnis dürfen erhebliche Zweifel an-gemeldet werden.

Der Umgang von Grünen und Linken mit dem ThemaStuttgart 21 ist aber generell unredlich. Mit Mutmaßun-gen und Tricksereien versuchen Sie, das für Stuttgartund Baden-Württemberg so wichtige Projekt zu diskre-ditieren. Ihre Argumente werden dabei immer schwä-cher, wie das Lavieren von Verkehrsminister WinfriedHermann in den letzten Wochen bei Stuttgart 21 zeigt.

Auch die beiden uns hier zur Diskussion vorliegendenAnträge sind in ihren Begründungen gespickt mit Speku-lationen und einer unredlichen Interpretation desSchlichterspruchs von Heiner Geißler. Mit der Wahrheitnehmen Sie es in Ihren Anträgen nicht ganz so genau.

Das möchte ich gerne zunächst zum Antrag der Grü-nen genauer ausführen: Jeder Lokaljournalist in Stuttgartkennt den Schlichterspruch inzwischen besser, als Sie esuns in Ihrer Antragsbegründung weismachen wollen:Nirgendwo im Schlichterspruch ist festgehalten, dass dieBahn zu irgendeinem Zeitpunkt die Bauarbeiten zu un-terbrechen hätte, weder während noch nach dem Stress-test. Der Stresstest dient im Übrigen nicht dazu, das Pro-jekt zu verhindern, sondern es zu optimieren. Nachallem, was wir bisher wissen, wird dies auch mit über-schaubaren Ergänzungen funktionieren.

Es war ein Entgegenkommen der Bahn, die Bauarbei-ten nach dem Regierungswechsel in Baden-Württem-berg zunächst ruhen zu lassen, bis sich die neue Regie-rung konstituiert hat. Eine Verlängerung des Baustoppsbis zu einer möglichen Volksabstimmung im Herbst kos-tet 410 Millionen Euro. Nach Ihrem Antrag müsste derSteuerzahler diese Summe zahlen, weil sich SPD undGrüne in Baden-Württemberg nicht einig sind und sichauf eine verfassungswidrige Volksabstimmung geeinigthaben, um dieses Dilemma zu lösen. Die Kosten müsstedann aber bitte schön auch die baden-württembergische

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Landesregierung tragen. Dazu ist sie natürlich nicht be-reit.

Über die angeblichen Detailforderungen des Schlich-ters Heiner Geißler, die Sie in der Begründung Ihres An-trags auflisten, wundere ich mich doch sehr: EntwederSie haben den Schlichterspruch nicht gelesen oder Sieversuchen, mit Ihrem Antrag darüber hinwegzutäuschen,dass die meisten angemahnten Verbesserungen nur dannerforderlich werden, wenn das Ergebnis des Stresstestsdies notwendig macht. Heiner Geißler hat eben nicht ge-fordert, dass es zwangsläufig zu einer Erweiterung desTiefbahnhofs um ein neuntes und zehntes Gleis, zu einerzweigleisigen westlichen Anbindung des Flughafens andie Neubaustrecke, zu einer Anbindung der bestehendenFerngleise von Zuffenhausen an den neuen Tunnel vonBad Cannstatt zum Hauptbahnhof sowie zu einer Aus-rüstung aller Strecken von Stuttgart 21 bis Wendlingenzusätzlich mit konventioneller Leit- und Sicherungstech-nik kommen muss.

Absolut unglaubwürdig wird Ihre Antragsbegründungaber dann, wenn Sie befürchten, dass die Überführungder frei werdenden Flächen in eine Stiftung Mehrkostenfür das Projekt verursacht. Diese frei werdenden Flächengehören der Stadt Stuttgart und haben rein gar nichts mitden Projektkosten zu tun. Also wird es auch nicht zuMehrkosten kommen, wenn man weniger für diese Flä-chen einnimmt. Das weiß inzwischen jede Stuttgarterinund jeder Stuttgarter. Sie wissen das wohl nicht!

Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen:Auch für Sie wird es Zeit, den Tatsachen ins Auge zu se-hen. Bei einem erfolgreichen Testat des Stresstests durchdie SMA geht Ihnen Ihr zentrales Argument verloren:die angeblich mangelhafte Leistungsfähigkeit von Stutt-gart 21, die nur mit derart teuren Nachbesserungen zu lö-sen sei, dass der 4,5 Milliarden Euro Kostenrahmen ge-sprengt wird.

Dann werden Sie Ihren Wählern in Baden-Württem-berg erklären müssen, warum Sie im Wahlkampf trotzder allseits bekannten Vorbehalte den Eindruck erweckthaben, Sie könnten als baden-württembergische Regie-rungspartei Stuttgart 21 stoppen.

Zum Antrag der Linken möchte ich nur eine kurzeBemerkung abgeben: Sie beziehen sich auf den Stern-Journalisten Arno Luik. Seit Monaten zitiert Herr Luikbeim Thema Stuttgart 21 aus angeblichen Geheimdoku-menten der Bahn, aus denen hervorgeht, dass das Projektwahlweise viel teurer wird, Tunnelwände einstürzenwerden oder das Stuttgarter Mineralwasser versiegenwird. Leider haben die Öffentlichkeit und auch ich selbstbisher nicht eines dieser Geheimdokumente auch nur inAnsätzen zu Gesicht bekommen, so auch beim Artikel,auf dem Ihr neuerlicher Antrag beruht. Es handelt sichalso um reine Spekulation, unterfüttert mit Mutmaßun-gen eines offensichtlich übermotivierten, möglicher-weise aber auch überforderten Stern-Journalisten.

Aber wenn Sie ehrlich sind, liebe Kolleginnen undKollegen von der Linken: Eigentlich interessiert Sie dasdoch auch gar nicht. Ihnen geht es sowieso weniger umStuttgart 21 an sich als um den Protest dagegen. Und wo

bleibt eigentlich Ihre Distanzierung von der Gewalt amvergangenen Montag?

Abschließen möchte ich mit einem Zitat des UlmerOberbürgermeisters Ivo Gönner – übrigens mit einemSPD-Parteibuch ausgestattet. Er sagte im Zuge der Er-eignisse der vergangenen Wochen: „Die Zeichen stehennach allem, was zu hören ist, auf Realisierung des Ge-samtprojektes Stuttgart–Ulm. Deshalb sollte der Ver-kehrsminister des Landes seine peinlich anmutendenVersuche einstellen, das Projekt zu hintertreiben.“

Zunächst einmal würde es mich sehr freuen, wennmehr Sozialdemokraten den Mut aufbringen würden,solche deutlichen Worte zu finden. Die Sozialdemokratiefindet aber auch beim Thema Stuttgart 21 nicht statt –wie bei vielen anderen Themen in ganz Deutschlandauch. Offiziell zwar für Stuttgart 21, taucht die SPD seitMonaten ab.

Den Appell Ivo Gönners an den ehrenwerten Ver-kehrsminister in Baden-Württemberg richte ich heutezudem auch an die Fraktionen von Grünen und Linken:Stellen Sie auch hier im Bundestag Ihre peinlich anmu-tenden Versuche ein, das Projekt zu hintertreiben! Ba-den-Württemberg und Stuttgart haben etwas Besseresverdient.

Ich schließe mit der Wiederholung meines Appellsvon heute Nachmittag: Setzen Sie sich dafür ein, dassStuttgart 21 und die Neubaustrecke Stuttgart–Ulm ge-baut werden, und sichern Sie damit die Zukunft unseresLandes! Stuttgart 21 ist ein Infrastrukturprojekt von na-tionaler Bedeutung und darf nicht grüner Parteitaktikoder linker Technologiefeindlichkeit zum Opfer fallen.

Wir lehnen Ihre Anträge daher ab.

Ulrich Lange (CDU/CSU): Eigentlich hatte ich er-wartet, dass die Linken ihren Antrag zu Stuttgart 21 zu-rückziehen würden, einmal angesichts des Ergebnissesdes Stresstests und zum anderen angesichts der durchge-führten Aktuellen Stunde zum Stresstest zu Stuttgart 21.Aber vielleicht ist es auch noch nicht zu Ihnen durchge-drungen: Auch wenn es noch nicht von der Gutachter-firma SMA bestätigt wurde, sieht alles danach aus, dassder Stresstest für S 21 positiv ausgegangen ist.

Das allein ist eine sehr positive Nachricht. Wichtig istaber auch, dass der Tiefbahnhof Stuttgart 21 ohne grö-ßere Veränderungen funktionieren wird, vor allem ohnedas ins Spiel gebrachte neunte und zehnte Gleis. Damitkann der Tiefbahnhof ohne erhebliche Mehrkosten ge-baut werden. Damit wird der Kostenrahmen von bis zu4,5 Milliarden Euro eingehalten.

Spätestens mit diesem Wissen müssten Sie Ihren An-trag zurückziehen, weil er überholt ist. Aber es geht Ih-nen ja nicht um die Sache an und für sich. Dass Sieschlecht und schlampig recherchieren, ist offensichtlich.Sie begründen Ihren Antrag damit, dass viele Unsicher-heitsfaktoren beim Bau bestehen würden und befürch-ten, dass der Kostenrahmen von 4,5 Milliarden Euro imschlechtesten Fall um zusätzliche Kosten von 2 Milliar-den Euro erhöht wird. Sie kommen dann zu demSchluss, dass „die Steuerzahler dann über 7 MilliardenEuro aufbringen“ müssten. 4,5 Milliarden Euro plus

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2 Milliarden Euro sind 6,5 Milliarden Euro und nichtüber 7 Milliarden Euro. Mit solchen Finanzierungsküns-ten haben Sie schon die DDR ruiniert.

Aber nicht nur die Linken, sondern auch und beson-ders die Grünen haben fest damit gerechnet, dass esnicht gelingen wird, die Effektivität des neuen Tiefbahn-hofs um 30 Prozent auf 49 Züge pro Stunde in denHauptverkehrszeiten zu steigern. Damit ist das letzte Ar-gument gegen den Tiefbahnhof gefallen. Aber leidersind die Grünen schlechte Verlierer. Vielleicht haben siesich auch in ihrer populistischen Art und Weise zu weitaus dem Fenster gelehnt, als sie angekündigt haben, mitihnen sei der Tiefbahnhof auf keinen Fall zu machen.

Der Stresstest hat, auch wenn es noch nicht offiziellvon der Gutachterfirma SMA bestätigt wurde, gezeigt,dass der Tiefbahnhof die geforderte Leistungssteigerungvon 30 Prozent erreicht, und zwar ohne neuntes und zeh-netes Gleis, ohne gravierende Mehrkosten. Fachleute ge-hen davon aus, dass das positive Ergebnis darauf zurück-zuführen ist, dass die Zu- und Abfahrten wie in einemKreisverkehr stattfinden, sodass Züge dicht getaktet ein-und ausfahren können, ohne sich gegenseitig zu behin-dern: ein Meisterstück deutscher Planung. Dank an dieDB AG für diese Leistung.

Die Verwirrung, ja Verzweiflung bei den Grünen wirdin dem jetzigen Antrag deutlich, in dem gefordert wird:kein Weiterbau ohne Nachweis der Leistungsfähigkeitund ohne Klärung der Kosten und Risiken. Meine liebengrünen Kolleginnen und Kollegen, mit dem erfolgreichdurchgeführten Stresstest sind diese Forderungen erfüllt,auch wenn Sie dies wie ein trotziges Kind einfach nichtwahrhaben wollen.

Die Modalitäten des Stresstests waren festgeschrie-ben: anerkannte Standards des Bahnverkehrs für Zugfol-gen, Haltezeiten und Fahrzeiten müssen angewendetwerden. Selbst für den Fall, dass der S-Bahn-Tunneloder der Fildertunnel gesperrt werden, muss ein funktio-nierendes Notfallkonzept vorgelegt werden. Der Leis-tungstest betraf nicht nur die Kapazität der Schienen undGleise, sondern auch die der sonstigen Infrastruktur wieSignale und Leit- und Sicherungstechnik. Auf Wunschder neuen – ich betonte: der neuen – grün-roten Landes-regierung hatte die Bahn Ende Mai noch mehr als70 Signale, 30 Weichen und 55 Kilometer Gleise zusätz-lich in das System eingegeben.

Den Stresstest hat die Gutachterfirma SMA entwi-ckelt, ihm liegt der vom Land Baden-Württemberg ge-forderte Fahrplan zugrunde. Die Arbeiten werden vonder Deutschen Bahn AG durchgeführt. Die SMA beglei-tet die Simulation und bewertet das Ergebnis. Dabeiführt sie eine detaillierte Reisezeitanalyse durch, um denheutigen Fahrplan mit dem zu simulierenden Fahrplanzu vergleichen.

Insgesamt wurden 100 Betriebstage simuliert. Offi-ziell will die Bahn die Ergebnisse den Projektpartnernam 11. Juli 2011 zur Verfügung stellen und am 14. Juli ineiner unter der Leitung von Schlichter Heiner Geißlergeplanten öffentlichen Sitzung diskutieren.

Auch wenn das Endgutachten der Firma SMA nochnicht vorliegt, gehe ich fest davon aus, dass S 21 reali-siert werden wird. Beenden Sie Ihre destruktive Kritik,mit der Sie gewaltbereite Demonstranten zu Krawallbür-gern aufstacheln. Verwenden Sie Ihre Energie nicht ge-gen Stuttgart 21, sondern geben Sie beim kommendenBau Tipps und Ratschläge, bringen Sie Ihr Fachwissenein, damit wir in Stuttgart einen zukunftsorientiertenTiefbahnhof erhalten, der weltweit Anerkennung findet.

Ute Kumpf (SPD): Die heute zur Debatte stehendenAnträge der Linken und Grünen kommen zu einer Zeit,zu der man in Stuttgart gespannt auf das Ergebnis desStresstests wartet. Am 14. Juli 2011 wird er vorgestellt,danach erst wird sich zeigen, ob der Stresstest bestandenist und wie es weitergeht mit Stuttgart 21.

Je näher die Entscheidung um das heftig umstritteneBahnprojekt rückt, umso mehr ändert sich die Stimmungin der Stadt. Man spürt dieser Tage die Anspannung inStuttgart. Nicht zuletzt die Eskalation nach der Montags-demonstration am 20. Juni, bei der es erstmals gewalttä-tige Ausschreitungen einiger weniger gab, zeigt, wie vielauf dem Spiel steht.

Die Gegner glauben, dass der politische Protest Tau-sender Bürger nur dann ein Erfolg war, wenn der Tief-bahnhof nicht gebaut wird. Es besteht die Gefahr, dassder offene, kritische Austausch von Argumenten, den dieSchlichtung ermöglicht hat, als gescheitert angesehenwird, wenn der unterirdische Durchgangsbahnhof gebautwird.

Schwarz-Weiß-Denken, ein Automatismus, der in denKöpfen vieler entstanden ist. Richtig oder falsch, gutoder schlecht, Befürworter oder Gegner, auch das gehörtzum Konflikt um Stuttgart 21. Auch das hat sich in denvergangenen Monaten in öffentlichen Äußerungen undPressemitteilungen festgesetzt. Für Stuttgart ist es wich-tig, dass dieser Automatismus aufgebrochen wird.

S 21 ist ein Infrastrukturprojekt. Es geht bei der Aus-einandersetzung um unterschiedliche Auffassungen, wiein Stuttgart und Baden-Württemberg Stadtentwicklungund Mobilität nachhaltig gestaltet werden.

Es geht darum, wie wir in Zukunft mehr Verkehr vonder Straße auf ein modernes europäisches Schienen-Ver-bundnetz bringen. Wie wir die Verkehrsträger bessermiteinander vernetzen, wie wir neu gewonnene Flächein Stuttgart in ein nachhaltiges Innenstadtquartier entwi-ckeln.

Die Faktenlage für die Finanzierungsbeteiligung desBundes ist klar: Bei Stuttgart 21 handelt es sich nicht umein Projekt des Bedarfsplans des Bundes. Es ist ein ei-genwirtschaftliches Projekt der Deutschen Bahn AG.

Der Bund übernimmt mit einem Festbetrag in Höhevon 563,8 Millionen Euro aus Mitteln des Bedarfsplansfür das Projekt Stuttgart 21 den Anteil, der für die Ein-bindung der Neubaustrecke Wendlingen–Ulm in denKnoten Stuttgart auch ohne Verwirklichung von Stutt-gart 21 erforderlich gewesen wäre.

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Über den genannten Betrag hinaus übernimmt derBund keine Kostensteigerungen. Das wurde bisher im-mer wieder betont. Der Antrag der Linken geht dahervöllig in die falsche Richtung. Weitere Mittel des Bun-des für Stuttgart 21 standen und stehen nicht zur De-batte.

Der Antrag der Grünen greift Punkte auf, die manrichtig finden kann. Aber es muss auch klargestellt wer-den, wer die Kosten für einen Baustopp trägt. Wer be-stellt, der hat auch zu bezahlen. Und das wäre die Lan-desregierung und nicht der Bund, daher lehnen wir denAntrag ab.

Heiner Geissler hat in seinem Schlichterspruch am30. November Folgendes deutlich gemacht: „Dennochhalte ich die Entscheidung, Stuttgart 21 fortzuführen, fürrichtig.“ Und weiter: „Bei einem Ausstieg ausStuttgart 21 entstünden den Projektträgern [...] hoheKosten. Eine der (Wirtschaftsprüfungs-)Gesellschaftenkommt zu der Auffassung, dass ein Ausstieg rund1 Milliarde Euro kosten würde, die beiden anderen ge-hen sogar von Kosten in Höhe von 1,5 Milliarden Euroaus. Das ist viel Geld dafür, dass man am Ende nichtsbekommt.“

Sicher ist: Die Entscheidung über den Erfolg desStresstests hängt vom Gutachten der SMA ab. DieSchweizer Firma, die von Projektbefürwortern und Pro-jektgegnern als Instanz benannt wurde, gibt den Prü-fungsbericht ab.

Alle – Gegner und Befürworter, die Bahn und dieLandesregierung in Baden-Württemberg – müssen Inte-resse daran haben und die Verantwortung dafür überneh-men, dass die Situation in Stuttgart nicht erneut eskaliert.Dass das Ergebnis des Stresstests nicht im Krawall en-det, nicht erneut Menschen bei Demonstrationen verletztwerden.

„Stresstest“ und „Wutbürger“ sind inzwischen bun-desweit Inbegriff für den Protest. Wir alle sind gut bera-ten, neue Wege der Beteiligung zu gehen und dafür dierechtlichen Grundlagen zu schaffen. Wir müssen Ant-worten auf die Frage geben, wie wir künftig Bürgerbe-teiligung bei Großprojekten gestalten.

Zustimmung zu Großprojekten kann gewonnen wer-den, wenn frühzeitig, umfassend und nachvollziehbar in-formiert wird, Beteiligungsformen neu entwickelt unddie Vorschläge aus der Bevölkerung aufgenommen wer-den.

Die SPD nimmt die Einwendungen und Sorgen derBürgerinnen und Bürger ernst. Gerade als überzeugteProjektbefürworter. Für uns bietet Stuttgart 21 in Verbin-dung mit der Neubaustrecke nach wie vor einmaligeChancen zur Stärkung des Fernbahnverkehrs gegenüberdem Flugzeug, enorme Potenziale im Regionalverkehr,100 Hektar für nachhaltige Stadtentwicklung und neueArbeitsplatzressourcen.

Wir wissen, dass wir die Menschen mit diesenSchlagworten nicht überfordern dürfen, sondern sie mitguten Argumenten überzeugen müssen. Und wir sie di-rekt beteiligen müssen. Dafür stehen wir als SPD. Und

wir stehen zum Volksentscheid, wenn er notwendigwird.

Uwe Beckmeyer (SPD): Zum zweiten Mal wirdheute über Stuttgart 21 debattiert, heute Nachmittag aufAntrag der Koalition in einer aktuellen Stunde und heuteAbend aufgrund der Anträge von den Fraktionen DieLinke und Bündnis 90/Die Grünen.

Mit Verlaub, die beiden heutigen Debatten sind über-flüssig wie ein Kropf. Denn: Erinnern wir uns noch ein-mal an die Vereinbarung des Schlichtungsspruchs vonHeiner Geißler vom 30. November 2011. Darin wurdedie Deutsche Bahn verpflichtet, einen Stresstest für dengeplanten Bahnknotenpunkt Stuttgart 21 anhand einerSimulation durchzuführen. Sie muss dabei den Nach-weis führen, dass ein Fahrplan mit 30 Prozent Leistungs-zuwachs in der Spitzenstunde mit guter Betriebsqualitätmöglich ist. Vereinbart wurde auch, dass erst nach derÜberprüfung der gewonnen Daten aus dem Stresstestdurch das Schweizer Verkehrsplanungsbüro SMA dasErgebnis durch Herrn Geißler vorgestellt wird.

Ich habe mich persönlich bei Bahnchef Dr. Grubeüber die Ergebnisse des Stresstests informiert. Über denVorstand für den Bereich Technik, Herrn Dr. Kefer,wurde mir schriftlich ausgerichtet, dass die Ausarbeitun-gen zu dem Projekt Stuttgart 21 plangemäß am 21. Juni2011 in elektronischer Form an SMA zur Begutachtungüberspielt wurden. Des Weiteren wurde mir mitgeteilt,dass die Fachdokumentation dazu in Papierform am30. Juni 2011 an das Land Baden-Württemberg überge-ben wurde und die Beraterfirma SMA die Begutachtungbis zum 11. Juli 2011 fertigstellen und im Anschluss al-len Beteiligten überreichen wird.

Die abschließende öffentliche Diskussion der Ergeb-nisse des Stresstests und der Zertifizierung durch dieSMA erfolge in einer gemeinsamen Sitzung am 14. Juli2011.

Irgendwelche Vorabmeldungen, Zwischenergebnissevonseiten der Deutschen Bahn AG, aus dem Büro des ba-den-württembergischen Verkehrsministers oder des Ver-kehrsplanungsbüros SMA sind hier völlig irrelevant undtragen nur zur weiteren Verunsicherung bei. Wer auchimmer vorab bewusst Infos an die Medien streut, darfnicht auch noch damit belohnt werden, dass man soge-nannten Sensationsmeldungen Aufmerksamkeit schenkt.Das sollten Sie, meine Damen und Herren, von der Ko-alition, einmal beherzigen.

Das, was ich heute Nachmittag in der aktuellenStunde erwähnt habe, kann man nur oft genug wiederho-len: Entemotionalisierung ist angesagt! Das gilt sowohlfür Demonstranten und Polizei, aber auch für vorlautePolitiker, die damit die Stimmung nur noch anheizen.

Gerade die Auseinandersetzungen im letzten Jahr,aber auch vor einigen Wochen lassen nur einen Appellzu: Die gewalttätigen Ausschreitungen müssen unver-züglich aufhören, und es muss alles unternommen wer-den, um bereits im Vorfeld zu deeskalieren und verant-wortungsvoll zu handeln.

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Fazit: Lassen Sie uns die Ergebnisse des 14. Juli ab-warten. Danach muss die Deutsche Bahn AG die Ergeb-nisse respektieren und entsprechende Entscheidungentreffen.

Zu dem Antrag der Linken. Ihre Forderungen nach ei-nem Kostenstopp für den Bund gehen in die falscheRichtung. Das stand und steht ohnehin nicht zur Debatteund verunsichert nur die Bevölkerung. Vereinbart war,dass der Bund sich lediglich an den Sowieso-Kosten von563,8 Milliarden Euro für die Einbindung der Neubau-strecke Wendlingen–Ulm in den Knoten Stuttgart betei-ligt. Über den genannten Betrag hinaus übernimmt derBund keine Kostensteigerungen. Der Antrag der Linkengeht daher völlig in die falsche Richtung. Weitere Mitteldes Bundes für Stuttgart 21 standen nie zur Debatte.

In dem Antrag der Grünen sind einige akzeptablePunkte genannt. Die Frage der Finanzierung eines Bau-stopps bleibt aber für sie ungeklärt. Da können wir nichtzustimmen. Wir fordern für das gesamte Projekt eineKostentransparenz und einen seriösen Finanzierungs-plan. Dies muss natürlich auch für Einzelmaßnahmengelten.

Auch ist wenig hilfreich, dass immer wieder vonsei-ten der Grünen suggeriert wird, dass das Land Baden-Württemberg seine Kosten notfalls auf den Bund abwäl-zen könnte. Auch die Audienz von MinisterpräsidentKretschmann beim Bundesverkehrsminister zur Abla-dung der Sorgen, die das Projekt Stuttgart 21 so im All-tagsgeschäft mit sich bringt, war hier fehl am Platz.

Dabei sind einige Punkte im Antrag der Grünendurchaus akzeptabel, wie die Offenlegung der Kostenri-siken in einem transparenten Verfahren. Die SPD-Bun-destagsfraktion hat hierzu bereits im letzten Jahr in ih-rem Antrag „Kein Weiterbau von Stuttgart 21 bis zurVolksabstimmung“ (Drucksache 17/2933) gefordert,dass die Bundesregierung als Eigentümer der DeutschenBahn AG umfassend über die Planungsstände undKostenentwicklungen informiert.

Dies ist bislang unterblieben. Die Bundesverkehr-minister duckt sich grundsätzlich weg, als ob ihn diesesThema überhaupt nichts angeht. Nur einmal ergriff eraus Sao Paulo doch das Wort. Darin droht er nach derWahlniederlage in Baden-Württemberg, den Geldhahnfür wichtige Verkehrsprojekte in den Ländern Rhein-land-Pfalz und Baden-Württemberg zuzudrehen (SpiegelOnline, 28. März). Beleidigt sein und nicht verlierenkönnen ist keine hilfreiche Politik, mit der Infrastruktur-projekte in allen Regionen Deutschlands gemeistert wer-den können. Auch hier ist Augenmaß angesagt.

Werner Simmling (FDP): Wir befinden uns nicht imbaden-württembergischen Landtag, dennoch befassenwir uns heute mit zwei Anträgen, die besser im dortigenLandtag aufgehoben wären.

Wenn ich im Antrag der Grünen lese, dass die DB AGbis zur Volksabstimmung nicht weiterbauen soll, derWeiterbau bei nicht bestandenem Stresstest nicht durch-geführt wird oder der Bund keine Kostensteigerungenübernehmen soll, dann muss ich sagen: Das sind As-

pekte, die mit der Landesregierung in Baden-Württem-berg diskutiert werden sollten und nicht mit uns hier.

Zum Thema Baustopp lassen Sie mich ausführen:

Das Land Baden-Württemberg hatte in der Lenkungs-kreissitzung am 10. Juni 2011 die Möglichkeit, im Len-kungskreis einen Antrag auf einen Baustopp zu stellen.Das hat es nicht getan! Da muss ich mich schon fragen:Was soll dann der Deutsche Bundestag mit diesem An-trag?

Zudem sind auch die weiteren Forderungen wie„keine Beteiligung des Bundes an den Mehrkosten“ hierdeplatziert. Der Bund hat mit eventuellen Kostensteige-rungen bei S 21 überhaupt nichts zu tun. Der Bund istmit einem Festbetrag von 563,8 Millionen Euro beteiligt.Mehrkosten bzw. Kostensteigerungen werden vom Bundnicht übernommen. Derzeit wird der Kostenrahmen ein-gehalten. Es gibt sogar noch einen Risikofonds von438 Millionen Euro.

Was die Kostenrisiken betrifft, erinnere ich an dieAusschusssitzung vom 11. Mai 2011, in der HerrDr. Volker Kefer von der DB AG persönlich zu den Kos-tenrisiken Stellung bezogen hat. Er hat genau diese Fra-gen erläutert. Die DB AG führt für die Projektkosteneine kontinuierliche Überprüfung durch, um dann die in-ternen Auftraggeber über mögliche Risiken zu informie-ren. Natürlich werden alle erdenklichen Risiken in demZusammenhang aufgeführt, auch Risiken, deren Ein-trittswahrscheinlichkeit weit unter 50 Prozent liegenwird. Die Risiken werden so lange als Risiken geführt,bis deren Umsetzung gesichert ist. Es besteht aus jetzi-ger Sicht kein Anlass, dass der noch verbleibende Risi-kopuffer von 438 Millionen Euro überschritten wird.

Auch beim Thema Stresstest bin ich über Ihren An-trag sehr verwundert. Sie stellen den Stresstest als etwasdar, dass sich allein die DB AG ausgedacht hätte. Faktist aber, dass der Stresstest das Ergebnis des Schlich-tungsverfahrens ist und er sich an den in der Schlichtungvereinbarten Regeln orientiert. Auch dass die FirmaSMA den Stresstest im Nachhinein kontrolliert, war aus-drücklich Wunsch der Grünen. Und der Schlichterspruchhat auch besagt, dass, wenn der Stresstest positiv aus-geht, das heißt die gewünschte Steigerung um 30 Pro-zent der Leistungsfähigkeit gegenüber der des heutigenBahnhofs erbracht wird, der neue Tiefbahnhof gebautwird. Nun lese ich, dass Verkehrsminister WinfriedHermann den Stresstest komplett ignorieren will. Das er-staunt mich sehr. Diese Haltung interpretiere ich alsgrobe Missachtung gegenüber dem sehr erfolgreichenSchlichtungsverfahren und der Leistung des SchlichtersDr. Geißler. Dieses Verhalten enttäuscht und lässt michmehr und mehr an dem Verantwortungsbewusstsein derGrünen in der BW-Landesregierung zweifeln.

Den Antrag der Linken schließe ich in die vorange-gangene Kritik mit ein. Aus diesen Gründen erübrigtsich eine weitere Debatte zu dem Antrag der Linken. Wirlehnen daher beide Anträge ab.

Nachdem in der öffentlichen Debatte eher eine Gut-achterschlacht um die Kosten und Risiken von S 21stattfindet, möchte ich an dieser Stelle einmal mehr die

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Vorteile des Bahnhofprojektes S 21 hervorheben. Natür-lich sind 4,1 Milliarden Euro eine gewaltige Summe,aber wir dürfen nicht vergessen, dass der Umbau des Ei-senbahnknotens eine Investition für die nächsten Jahr-zehnte, ja, wenn nicht für die nächsten 100 Jahre ist. Un-ter dieser Betrachtungsweise ist dies ein sehr gutesInvestment. Wenn ich dann daran denke, dass allein derAusstieg 1,5 Milliarden Euro kosten und nichts erreichtwürde, dann muss ich mich schon fragen, wie das be-triebswirtschaftliche Verständnis der Grünen ist.

Wir haben derzeit einen Bahnhof, der im Jahr 2020fast 93 Jahre alt ist, und alle, die jemals in Stuttgart wa-ren, werden mir beipflichten, dass das, was wir dort ha-ben, eine Bausünde ist. Dieser Bahnhof teilt die Stadt,verschandelt durch sein Gleisbett den Blick in die Stadtund ist darüber hinaus nicht leistungsfähig.

Ich für meine Person und die überwiegende Zahl der600 000 Stuttgarter freuen sich, dass nach einer erfolg-reichen Präsentation des Stresstests mit dem Bau desneuen Bahnhofs in Stuttgart endlich begonnen werdenkann. Die Gesamtarchitektur, die im Zusammenhang mitdem neuen Bahnhof entsteht, wird ein Schmuckstückwerden, um das uns viele andere Städte beneiden wer-den.

Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):In Stuttgart stehen seit über einem Jahr jeden MontagTausende auf der Straße, um gegen das BahnhofsprojektStuttgart 21 zu demonstrieren. Und sie werden es wohlweiter tun. Kein Wunder, denn Stuttgart 21 ist das um-strittenste Infrastrukturprojekt der DB AG und des Bun-des. Bis heute hat die Deutsche Bahn AG (DB AG) nichtden Nachweis der höheren eisenbahntechnischen Leis-tungsfähigkeit von Stuttgart 21 gegenüber dem beste-henden Kopfbahnhof erbringen können. Das gilt auchfür alle prüfbaren Kosten- und Baurisiken. Denn nachwie vor ist Stuttgart 21 ein Projekt mit tausend Unbe-kannten. Bereits frühere Schätzungen der Bahn musstenimmer wieder nach oben korrigiert werden. Einen über-prüfbaren Projektbericht über Kosten- und Risikenent-wicklung hat die DB AG bis heute nicht vorgelegt unddamit den Nachweis verweigert, dass das Kostenlimitvon 4,5 Milliarden überhaupt eingehalten werden kann.Stattdessen wurde ein interner Bericht mit 121 Kosten-risiken bekannt, die sich auf deutlich über eine MilliardeEuro summieren.

Die Entwicklung der letzten Tage und Wochen hat dieSituation weiter verschärft. Bereits Anfang Juni hat dieDB AG deutlich gezeigt, dass sie dem Stresstest keineBedeutung beimisst. Laut Schlichterspruch muss dieserbelegen, dass durch den geplanten Tiefbahnhof zur Spit-zenzeit ein Drittel mehr Züge fahren können als im letz-ten Fahrplanjahr im Kopfbahnhof fuhren. Dass derKopfbahnhof vor mehr als vier Jahrzehnten schon fastdas Doppelte an Zügen bewältigte, belegen alte Fahr-pläne. Ein Drittel mehr Züge ist also eine sehr moderateAnforderung und doch scheint sie es in sich zu haben.Nicht umsonst wurde vereinbart, die Leistungsfähigkeitdes geplanten Tiefbahnhofes und die Kapazität der

Schienen per Computersimulation zu testen; dem soge-nannten Stresstest.

Zu den Behauptungen, der Stresstest läge dem Minis-terium für Verkehr und Infrastruktur in Stuttgart vor: Of-fensichtlich haben einige Landtagsabgeordnete in Ba-den-Württemberg den Unterschied zwischen demErgebnis des Stresstests und den Eingabedaten sowieArbeitsständen zu dem Stresstest nicht verstanden. Nachden gestrigen Aussagen der Landesregierung liegt einErgebnis bis heute nur der Bahn selbst und der Bera-tungsfirma SMA und Partner zur Bewertung vor.

Ungeachtet des ausstehenden Ergebnisses hat die DBAG die Arbeiten zur Tieflegung des Stuttgarter Bahnho-fes wieder aufgenommen. Am letzten Wochenende istdann – unwidersprochen durch die DB AG – bekannt ge-worden, dass die Bahn den Stresstest angeblich bestan-den habe, ohne dass dieses von der unabhängigen Bahn-beratungsfirma SMA und Partner testiert worden ist, wiees in der Schlichtung vereinbart worden war. Auch eineDiskussion mit den Projekt- und Vertragspartnern überdie Bewertung der Ergebnisse ist offensichtlich nicht ge-wünscht, denn schon am 15. Juli 2011, einen Tag nachder offiziellen Bekanntgabe der Ergebnisse des Stress-tests, will die DB AG Großaufträge im Volumen von750 Millionen Euro für Tunnelarbeiten vergeben. DieIdee der Schlichtung, Transparenz zu schaffen und in ei-nem offenen und fairen Prozess mit allen Projektbetei-ligten einen Stresstest durchzuführen, wird damit vonder DB AG massiv hintertrieben. Es ist einfach schlicht-weg falsch, wenn Bahnchef Grube immer wieder ver-sucht, den Eindruck zu erwecken, als handele es sichbeim Stresstest nur um eine lästige Formalie, die nurmarginale Änderungen am Projekt zur Folge hat. Nein,der Stresstest muss – unabhängig überprüft – erstmaligden Nachweis erbringen, dass Stuttgart 21 auch ein klei-nes bisschen zukunftsfähig ist und wenigstens ein Drittelmehr Züge abgefertigt werden können. Und dabei gehtes um einen qualitätsvollen Fahrplan. Denn es kann dochniemand ernsthaft wollen, dass Milliarden Euro für ei-nen neuen Bahnhof ausgegeben werden, der keine we-sentlichen Verbesserungen für die Fahrgäste bringt. Vondaher geht es um das „Ob“ und nicht nur um das „Wie“von Stuttgart 21.

Stuttgart braucht einen qualitätsvollen Fahrplan. Dasbedeutet Änderungen, die sich auf die bisherigen Pläneund Genehmigungen für Stuttgart 21 auswirken. Nichtvergessen darf man dabei, dass auch die laufenden bzw.anstehenden Planänderungsverfahren im Grundwasser-management und Tunnelvortrieb zu weiteren Projektver-zögerungen führen werden. Eine präzise Darlegung derKostenentwicklung einschließlich aller Risiken mussdeshalb oberste Priorität haben. Wir fordern die Bundes-regierung und die DB AG auf, mit Abschluss des Stress-tests darzulegen, welche Planungen sie ergänzend durch-führen, welche Genehmigungen sie beantragten und vonwelchen realen Mehrkosten auszugehen ist. Solange diesnicht geschehen ist und eventuell erforderliche Geneh-migungen nicht erteilt sind, lässt sich nicht feststellen,ob die genannten Verbesserungen im Rahmen der beste-henden Planungen überhaupt möglich und finanziell ab-gesichert sind.

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Anlage 20

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: Moratorium jetzt –Dringliche Fragen zu Mehrkosten des ITER-Projekts (Tagesordnungspunkt 18)

Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU): Heute diskutie-ren wir wieder einmal einen Dagegen-Antrag der Grü-nen. Diesmal wird ein Moratorium für das ITER-Projektverlangt – letztlich mit dem Ziel, einen unilateralen Aus-stieg Deutschlands aus ITER vorzubereiten. Warum?Weil es teurer wird als geplant und weil es technischeProbleme gibt. Anders formuliert: Es wird gerade einbisschen holprig, und die grüne Reaktion folgt prompt:Raus aus dem Projekt. Weglaufen. In die Büsche.

Wer jedoch in der Regierung ist, der muss Verantwor-tung übernehmen und sich an geschlossene Verträge hal-ten. Diesen Zusammenhang, liebe Grüne, lernen Sie ge-rade in meiner Heimatstadt Stuttgart kennen.

Dass Sie sich Ihrer Verantwortung nicht stellen, zeigtschon Ihr Antrag. Darin heißt es, der ITER-Vertrag seiim Oktober 2007 in Kraft getreten. Das ist richtig. Solange hat die Ratifikation durch die zahlreichen Partner-länder gedauert. Ausverhandelt wurde der Vertrag je-doch vor 2006, also unter rot-grüner Regierungszeit. Siehätten damals Ihre Chance zum Ausstieg gehabt. Zumin-dest aber hätten Sie verhindern können, dass der Vertraggar keine Ausstiegsmöglichkeiten für EURATOM vor-sieht. Stattdessen haben Sie diesem Vertrag zugestimmt.Heute wollen Sie nichts mehr von ihm wissen. So gehtes nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grü-nen!

Mit Ihrer Forderung nach einem Moratorium für dasITER-Projekt wären vier Konsequenzen verbunden:

Erstens. Sie verunsichern die Partnerländer des Pro-jektes und fördern Zweifel an der ZuverlässigkeitDeutschlands als internationalem Partner. Dass Sie sichinnerhalb Deutschlands mit der Ablehnung vieler Pro-jekte als Dagegen-Partei profilieren wollen, ist eine Sa-che; aber dass Sie jetzt auch international vereinbarteKooperationen wieder rückgängig machen wollen unddamit die Glaubwürdigkeit Deutschlands aufs Spiel set-zen, das ist auch uns neu.

Zweitens. Mit der Forderung nach einem Moratoriumversuchen Sie den Eindruck zu vermitteln, dass Deutsch-land mit einem kurzen Telefonanruf aus dem ITER-Pro-jekt aussteigen könne und damit alle Probleme gelöstseien. Dabei wissen Sie sehr genau, dass dies nicht mög-lich ist. Es handelt sich also um ein weiteres Projekt, beidem Sie einen Ausstieg niemals werden durchsetzenkönnen. Sie selbst, Frau Sager, nennen in einer Presse-mitteilung gleich zwei Gründe, die Ihrem Ausstiegs-wunsch widersprechen: Deutschland ist nur mittelbar andem ITER-Projekt beteiligt, Vertragspartner ist EURATOM.Das heißt, ein einseitiger Ausstieg Deutschlands ist garnicht möglich.

Außerdem schreiben Sie:

Auch die innerhalb der EU verbreiteten Annahmenüber die Ausstiegskosten in Höhe von 4,5 Milliardenwirken natürlich abschreckend.

Wie Sie dennoch einen Ausstieg ermöglichen bzw.rechtfertigen wollen, ist nicht nachvollziehbar.

Es scheint mir eher, dass hier wieder einmal Ankündi-gungen gemacht werden, die Sie in der Regierung nichthalten könnten. Deshalb ist folgender Satz Ihres Frak-tionsvorsitzenden Jürgen Trittin zum ITER-Projekt un-freiwillig komisch:

Wir können es uns nicht leisten, soviel Geld in einenBereich zu stecken, der bisher nur versprochen und nichtgehalten hat.

Was haben Sie uns nicht schon alles versprochen?

Drittens: die Nebenwirkungen. Auf die Nebenwirkun-gen Ihrer Forderungen gehen Sie in Ihrem Antrag mitkeinem Wort ein. Auch das Projekt „Wendelstein 7-X“in Greifswald wäre von dem Moratorium betroffen – unddamit mehrere Hundert Spitzenarbeitsplätze in einemstrukturschwachen Umfeld. Auch die deutsche Fusions-forschung insgesamt wäre durch einen AusstiegDeutschlands nachhaltig beeinträchtigt. VerantwortlichePolitik sieht für uns anders aus.

Viertens. Ein Moratorium für das ITER-Projekt wärenichts anderes als eine weitere Kostensteigerung. EinProjekt zu verzögern, spart nie Geld; im Gegenteil, eswird nur immer teurer.

Statt sich also falschen Illusionen hinzugeben, ist esgrundsätzlich hilfreich, sich nüchtern und sachlich mitdem Thema auseinanderzusetzen. Gibt es Problemebeim ITER-Projekt? Ja, definitiv. Der Ansatz der CDU/CSU-Fraktion besteht aber nicht darin, vor den Proble-men wegzulaufen, sondern darin, sich der Probleme an-zunehmen und diese zu lösen.

Seit Bekanntwerden der erheblichen Kostensteigerun-gen beim ITER-Projekt ist viel passiert. Es wurde eineKostendeckelung für den EURATOM-Anteil auf6,6 Milliarden Euro beschlossen, und es wurden zahlrei-che Verbesserungen in der Struktur und beim Kostenma-nagement erreicht. Das Management von ITER wird abjetzt regelmäßig evaluiert. Strenge Aufsichtskommissio-nen wurden eingerichtet, die die Finanzsituation kritischbeobachten und alle Prüfungsberichte kritisch begleitensollen. Treibende Kraft hinter diesen Verbesserungen istdie deutsche Bundesregierung. Dementsprechend laufenSie mit Ihrem Antrag der Regierung hinterher.

Berechtigt sind dagegen die Fragen nach den Auswir-kungen der Erdbebenkatastrophe in Japan auf den Zeit-plan für das ITER-Projekt und die Vergabepraxis durchdie europäische Agentur Fusion for Energy (F4E). Der-zeit wird versucht, die Verzögerung des ITER-Projektesdurch die Erdbebenkatastrophe in Japan zu minimieren.Die Lieferung und Produktion der Magnetspulen sollzum Beispiel nicht mehr abwechselnd zwischen Japanund Europa erfolgen, sondern nacheinander, das heißt,Europa liefert zunächst neun Spulen und anschließend

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Japan die anderen neun. Dadurch können die Zeitverzö-gerungen deutlich reduziert werden.

Bei der Vergabepraxis durch die europäische AgenturFusion for Energy sind wir leider noch ein ganzes Stückvon transparenten und offenen Verfahren entfernt. Aberauch hier konnten zuletzt die Ausschreibungsbedingun-gen für deutsche Unternehmen zum Beispiel in Haf-tungsfragen verbessert werden. Die Strategie der Bun-desregierung, die Defizite konstruktiv zu beseitigen, istallemal erfolgversprechender als die der Grünen, gleichalles hinzuschmeißen.

Folglich ist das von Ihnen geforderte Moratorium ab-zulehnen.

Wer regieren will, der muss gestalten, Chancen nut-zen und Zukunft ermöglichen. Immer nur dagegen sein,Moratorien verhängen und neue Technologien abzuleh-nen, damit, meine Damen und Herren von den Grünen,lässt sich kein Staat machen.

Wir von der CDU/CSU-Fraktion sind davon über-zeugt, dass die Fusionstechnologie viele Zukunftschan-cen bietet, und wollen sie daher zum Erfolg führen. Las-sen Sie uns deshalb weiter konstruktiv, aber kritisch dasITER-Projekt begleiten.

Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Liebe FrauSager, Sie rufen die Bundesregierung in Ihrem Antrag zueinem sofortigen Moratorium des ITER-Projektes auf.Macht das zu diesem Zeitpunkt wirklich Sinn? Wie rea-listisch ist solch ein Vorstoß? Dient er der Sache?

Ich glaube, man muss sich diesen Fragestellungenvon drei Seiten nähern:

Die erste Frage dazu: Wie stehen wir zur Kernfusion?Wollen wir an der Fusionsforschung grundsätzlich fest-halten?

Nun, die Vorteile der Kernfusion sind uns allen – oderzumindest den meisten – bis auf einige wenige Grüne,die immer noch meinen, es handele sich hier um eine„Art Atomkraft“ – wohlbekannt. Wenn diese TechnikMarktreife erlangt, ist die Kernfusion eine sichere, sau-bere, nahezu unerschöpfliche und nachhaltige Energie-quelle, die zudem noch grundlastfähig ist.

Dies ist eine großartige Chance. Auch wenn es wahr-scheinlich noch einige Zeit brauchen wird, bis dieserZeitpunkt erreicht ist, so sind wir es unseren Kindernschuldig, diese Technologie so lange zu erforschen, so-lange wir die Chance sehen, diese eines Tages als si-chere, saubere und bezahlbare Energiequelle nutzen zukönnen. Denn für unsere Kinder und Kindeskinderkönnte die Kernfusion tatsächlich einen wichtigen Bei-trag zu ihrer Energieversorgung leisten.

Deswegen ist es mir absolut unverständlich, wennGrüne wie zum Beispiel auch Ihr ehemaliger Parteivor-sitzender Herr Bütikofer, aber auch andere, die Kernfu-sion per se als „absurd“ bezeichnen. Ich meine, das istverantwortungslos und generationenungerecht.

Nein, wir in der CDU/CSU sehen in der Fusionsfor-schung eine wichtige Chance und wollen diese weiter er-forschen.

Nun zur zweiten Frage: Sollen wir weiterhin ein ver-lässlicher und respektierter ITER-Partner bleiben, odersollen wir einseitig aussteigen – und mit Ihrem Antragwollen sie ja gerade einen ersten großen Schritt zumAusstieg machen.

Der ITER-Forschungsreaktor ist ein weltweit einma-liges Projekt, an dem Deutschland im Übrigen ja nur in-direkt beteiligt ist, nämlich über seine Beteiligung anEURATOM.

Wir arbeiten hier also nicht nur mit unseren europäi-schen Partnern zusammen, sondern auch mit Russland,China, Indien, Japan, Korea und den USA. In den Län-dern der sieben Vertragsparteien leben mehr als3,6 Milliarden Menschen.

Natürlich wird die Fusionstechnologie auch anderenLändern zur Verfügung stehen. Wir sind ein Partner imTeam. Das ist doch auch in unserem nationalen Inte-resse. Schließlich sind wir eine führende Industrie- undExportnation.

Das ITER-Projekt ist auch ein wichtiger Meilensteinim Bereich internationaler Forschung und Entwicklung.Wir Europäer sind aufgefordert, dieses Projekt verant-wortungsvoll zu führen. Dabei kommt Deutschland tat-sächlich eine wichtige Rolle zu, die von der Bundesre-gierung auch wahrgenommen wird.

Denn es war unsere Ministerin Schavan, die schonfrühzeitig auf ein stärkeres Projektmanagement und hö-here Transparenz gedrängt und sich dabei auch durchge-setzt hat.

Aber eine Strategie nach dem Motto „rein in die Kar-toffeln – Moratorium – raus aus den Kartoffeln“ wäre fa-tal. Denn wir sind hier Partner – und Partnerschaftbraucht Verlässlichkeit.

Das Übereinkommen für ITER hat eine Laufzeit von35 Jahren und trat erst vor etwas mehr als drei Jahren inKraft. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,da kann ich Ihnen nur eines sagen: Kooperative Grundla-genforschung ist kein Sprint. Kooperative Grundlagen-forschung ist ein gemeinsamer Marathonlauf, und ichsage Ihnen eines: Wenn Deutschland – und damit auchEuropa – sich aus dem Projekt zurückzieht, dann werdendie Chinesen und die Koreaner alleine weitermachen.Unsere Kinder werden uns dann eines Tages fragen: Washabt ihr da gemacht?

Die deutschen Forschungseinrichtungen sind welt-weit – noch – führend auf dem Gebiet der Fusionsfor-schung. Wir sollten alles daransetzen, damit das sobleibt.

Nun aber zur dritten Frage – und ich gebe zu, diese istderzeit nicht einfach zu beantworten –: Können wir unsITER heute leisten?

Natürlich dürfen wir nicht die Augen davor verschlie-ßen, dass beim ITER-Projekt und dabei vor allem beiden Kosten nicht alles nach Wunsch läuft. Man kann

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nicht damit zufrieden sein, wenn Kostenrahmen nichteingehalten werden können.

Das ist bei Großprojekten leider immer wieder einmalder Fall, denn die Kosten der Zukunft sind eben schwerabzuschätzen, noch dazu wenn es sich um vielfältigeForschungsleistungen handelt, um neue Materialien, umneue Methoden und eben um einen sehr langen Zeit-raum.

Ich habe im Plenum schon einmal deutlich gemacht,dass auch wir ITER nicht um jeden Preis haben können.Das ist doch klar. Aber ein Moratorium hilft da nichtweiter. Im Gegenteil, es schwächt unsere Position, umdie Dinge voranzutreiben.

Die polnische EU-Präsidentschaft wird im Herbst in-tensiv an der ITER-Finanzierung arbeiten und sich umeine einvernehmliche Lösung bemühen. Wir sollten ihrdazu eine Chance geben.

Ich bin tatsächlich zuversichtlich, dass wir durchITER in der nächsten Dekade die Kraftwerktauglichkeitder Kernfusion demonstrieren können, und das aus zweiGründen.

Die kritischen technischen und wissenschaftlichenHerausforderungen sind bereits gelöst worden.

Seit den 1970er-Jahren ist die Leistung aus der Kern-fusion um mehr als das Milliardenfache gestiegen unddamit deutlich schneller als etwa die Zahl der Schalt-kreise auf Computerchips, die sich nach demMoore’schen Gesetz etwa alle 18 Monate verdoppeln.

Zum Schluss bleibt uns also die Bewertung der Er-gebnisse der drei Fragen und was daraus folgen sollte:

Erstens. Es lohnt sich, die Kernfusion zu erforschen,denn Sie kann große Chancen für die nächsten Generatio-nen eröffnen.

Zweitens. Partnerschaft braucht Verlässlichkeit, auchbei ITER. Eine einseitige „Anstiftung zum Ausstieg“ be-lastet die Kooperation. Es müssen gemeinschaftliche Lö-sungen gesucht und gefunden werden.

Drittens müssen die Kosten weiterhin eng betrachtetund verfolgt werden. Das Projektmanagement muss wei-ter verbessert, und der Anteil deutscher Lieferungen undLeistungen muss erhöht werden. Die Bundesregierungmuss hier weiterhin eng am Ball bleiben und hat dafürunser vollstes Vertrauen.

Wir, die christlich-liberale Koalition, begreifen For-schung und Entwicklung als Chance für Deutschlandund für Europa. Wir sind offen für neue Dinge und wirhaben die Kraft und Inspiration, diese auch anzugehen.

Wir meinen es ernst mit der „Bildungs- und For-schungsrepublik Deutschland“. Das ist gut für den Inno-vations- und Technologiestandort Deutschland und da-mit auch gut für unsere heimische Wirtschaft.

Ich kann Ihnen von den Grünen nur raten: Seien Sienicht ideologisch. Haben Sie Mut und zeigen Sie Verant-wortungsbewusstsein.

René Röspel (SPD): Wieder einmal dürfen wir unshier im Bundestag mit dem Thema ITER beschäftigen.Dabei handelt es sich um ein gemeinsames Projekt derEU, Japans, Russlands, der USA, Chinas, Indiens undSüdkoreas zum Bau und Unterhalt eines Fusionsfor-schungsreaktors. In diesem Reaktor sollen Abläufe, diein der Sonne stattfinden, in einem Kraftwerk nachemp-funden werden. Als Standort wurde das französischeCadarache gewählt. Die EU trägt 45,5 Prozent der Kos-ten. Nach letzten Informationen werden die Baukostenfür ITER auf über 15 Milliarden Euro steigen, was eineVerdreifachung der ursprünglichen Kosten bedeutet. EinTeil der Mehrkosten ist durch Inflation und steigendeRohstoffpreise bedingt. Weitere Gründe für die Kosten-steigerungen sind neue Erkenntnisse, insbesondere zurSteigerung der Sicherheit des ITER, sowie die Komple-xität der internationalen Kooperation. Für die EU heißtdies einen Kostenanstieg auf circa 7,2 Milliarden Euro,im Vergleich zu den 2,7 Milliarden Euro, die bei Ver-tragsunterzeichnung vereinbart waren. Woher innerhalbdes europäischen Haushalts diese Gelder kommen, da-rüber wird in Brüssel bereits seit Monaten gestritten.

Für uns Sozialdemokraten ist die Fusionsforschungein spannendes Forschungsthema der Grundlagenfor-schung. Ob und, wenn ja, wann jemals mit dieser Tech-nologie kommerziell Energie gewonnen werden kann, istnoch komplett unklar.

Selbst wenn, wie angekündigt, 2050 ein erster Kern-fusionsreaktor zur Strombereitstellung in Betrieb ge-nommen werden könnte, wovon bereits jetzt immer we-niger Experten ausgehen, käme dies als Beitrag fürunsere Energieversorgung viel zu spät. Denn die Ener-giewende müssen wir bis dahin längst geschafft haben.Insofern müssen wir uns schon fragen, wie viel Geld wirin diesen Forschungszweig geben wollen und können.Aktuell besteht leider die Gefahr, dass Finanzmittel ausanderen Forschungsbereichen, wie zum Beispiel der er-neuerbaren Energien, abgezogen werden, um die ständiggrößer werdenden Haushaltslöcher bei ITER zu stopfen.Das halten wir Sozialdemokraten für falsch.

Zu den bisher bekannten Kostenexplosionen kommtbei ITER jetzt ein weiteres Problem. Das diesjährigeschwere Erdbeben in Japan hat auch eine Testanlage derjapanischen Atomenergiebehörde in Naka beschädigt.Hier sollten supraleitende Magnete und eine Vorrichtungzur Heizung des Plasmas für ITER getestet werden. Der-zeit sind die Forschungsgebäude nicht betretbar. LautPresseberichten rechnet der technische Direktor vonITER aufgrund dieser Beschädigungen bereits jetzt miteiner Verzögerung des ITER-Projekts um weitere zweiJahre. Welche Folgekosten das haben könnte, ist bishernoch unklar. Eine Arbeitsgruppe soll jetzt bis Novemberklären, welche genauen finanziellen und wissenschaftli-chen Auswirkungen die Folgen des Erdbebens auf dasITER-Projekt haben werden.

Im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-folgenabschätzung diskutieren wir die Probleme beiITER regelmäßig. Im Antrag „Für eine Stärkung derbreit aufgestellten europäischen Grundlagenforschung –Keine finanziellen Einschnitte beim Europäischen For-

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schungsrat zugunsten des Einzelprojekts ITER“ habenwir als SPD-Bundestagsfraktion zu dem Thema bereitsklar Stellung bezogen. Der uns jetzt vorliegende Antragder Grünen fasst nun den aktuellen Informationstand gutzusammen und greift offene Fragen auf.

Auch wird dort unter anderem die Verhängung einesMoratoriums gefordert. Das klingt bei all den beschrie-benen Problemen beim Bau von ITER erst einmal ein-leuchtend. Offen lässt der Antrag aber, was denn mitMoratorium gemeint ist und wie das genau umgesetztwerden soll. Denn Deutschland ist gar kein direkter Ver-tragspartner, sondern allein über seine Mitgliedschaft inEURATOM an ITER beteiligt. Jegliche Vertragsände-rung benötigt aber erst einmal einen Konsens zwischenallen europäischen Mitgliedstaaten. Und danach musseine Einigung mit den internationalen Partnern gefundenwerden. All dies wird ziemlich schwierig und langwierigwerden, wenngleich wir große Sympathie dafür haben.

Unklar ist, welche Auswirkung ein solches Morato-rium im Detail haben kann und soll. Auch in Deutsch-land arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlerim Bereich der Fusionstechnologie. Deren Erkenntnisseund Produkte sollen ebenfalls in das Projekt von ITERfließen. Bedeutet Moratorium, dass diese Arbeiten ein-gestellt werden sollen? Sollen Arbeiten auf der Baustellein Cadarache dann unterbrochen werden? Ist das recht-lich überhaupt machbar? Leider bleibt der Antrag derGrünen bei den Lösungsansätzen zeimlich schwammig.

Deshalb zusammenfassend: Liebe Kolleginnen undKollegen der Grünen, Ihre Analyse zu ITER teilen wirweitgehend. Aber bei ITER handelt es sich um ein inter-nationales Projekt, aus dem man leider eben nicht ein-fach ein- bzw. aussteigen kann. Auch wenn ich mit IhrenLösungsansätzen durchaus sympathisiere, so halte ichsie doch leider für nicht praktikabel. Dennoch solltensich alle Interessierten zusammensetzen und überlegen,auf welchem Weg und mit welchen Konsequenzen dieweitere Kostensteigerung begrenzt werden kann.

Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Das ITER-Projekt ist Teil der weltweiten Fusionsforschung, diesich in den letzten Jahrzehnten aus der plasmaphysikali-schen Grundlagenforschung heraus mit der Klärung derFrage beschäftigt, ob die Fusion unter kraftwerksähnli-chen Bedingungen Energie liefern kann. Dabei warendas ITER-Projekt und der Bau des Experimentalreaktorsbei der Vertragsschließung keineswegs ausgeplant. Viel-mehr stand der Bau noch vor einigen zu lösenden For-schungs- und Entwicklungsaufgaben. UnterschiedlichsteWissenschaftsdisziplinen, angefangen von der Elektro-technik über das Bauingenieurwesen bis zum Maschi-nenbau, mussten auf ganz neue Weise kombiniert wer-den. Dieser Umstand führte zu neuen Erkenntnissen undStandards, die in das laufende Projekt eingearbeitet wer-den mussten, und trug wiederum dazu bei, dass die Pla-nungen im Prozess ausgefertigt wurden. Neben derKostensteigerung der Baumaterialien im Zuge der Welt-wirtschaftskrise war dies sicherlich ein Hauptaspekt, derzu der erheblichen Kostensteigerung des ITER-Projektsbeitrug. Doch ein Moratorium kann nicht die Antwort

darauf sein, wie man die Mehrkosten und die Belastungfür den EU-Haushalt bewältigt. Gerade die Verlängerungvon Projekt- und Bauphasen sowie ein Aussetzen undVerschieben von Aufträgen würde erst recht zu einerweiteren Kostensteigerung führen. Der anspruchsvolleUmfang wie auch die hohe Komplexität des ITER-Pro-jekts bedürfen ein Handeln, dass das Projekt nicht in Ge-fahr bringt. Dass Sie, geehrte Kolleginnen und Kollegenvon Bündnis 90/Die Grünen, aber genau die Gefährdungdes Projekts mit Ihrem Antrag in den Blick nehmen wol-len, zeigen die Argumente und die Punkte, die Sie zurBegründung und als Forderung vorbringen.

Als besonders unredlich empfinde ich dabei die vonihnen konstruierte Verbindung zwischen dem Erdbebenmit der folgenden nuklearen Katastrophe von Fukushimaund der Sicherheit des Fusionsreaktors ITER und der Fu-sionsforschung im Allgemeinen. Es dürfte auch Ihnenbekannt sein, dass katastrophale Unfälle wie bei der Fis-sion bei der Fusion unmöglich sind. So hat die europäi-sche Kraftwerksstudie „European Fusion Power PlantConceptional Study“ 2005 festgestellt, dass bei einemsofortigen und totalen Ausfall der Kühlung sowie ohnedas Einsetzen einer Gegenmaßnahme der Brennvorgangsofort zum Erliegen kommt und ein Schmelzen ausge-schlossen ist. Diese unabhängige Studie, erstellt vonüber 100 Experten aus Europa, bestätigt damit die Si-cherheitseigenschaften von Fusionsreaktoren aus frühe-ren Studien. Insofern halte ich es für eine Verirrung,einen Vergleich zu Sicherheitsanforderungen bei Fis-sionskraftwerken zu ziehen.

Leider ist Ihr gesamter Antrag, sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, in derSumme lediglich eine Zusammenfassung der im Aus-schuss für Bildung und Forschung bereits besprochenenund erörterten Fragen, die darüber hinaus nicht nur wei-testgehend von den Sachstandsberichten und Unterrich-tungen durch die Bundesregierung beantwortet wurden,sondern die auch von der Bundesregierung aufgenom-men wurden und mit denen sie sich auseinandergesetzthat. Ein Moratorium halte ich auch in diesem Zusam-menhang für verfehlt, setzt sich die Bundesregierungdoch bereits mit der Problematik auseinander. Die Fra-gen bezüglich der angesprochenen noch strittigen Finan-zierung zwischen Rat und EP sowie die Etablierung vonKontrollmechanismen werden nicht gelöst, indem manein Moratorium verhängt und die Arbeit am Projekt un-terbricht. Die Probleme und Lösungsvorschläge sind be-kannt und erfordern von den direkten ITER-Partnern eingemeinsames Handeln.

Das ITER-Projekt, in dem die Europäische Atomge-meinschaft EURATOM als ein einheitlicher europäi-schen Partner vertreten ist, wird für die zukünftige wis-senschaftliche Zusammenarbeit in der EU und mitaußereuropäischen Staaten zum Prüfstein. Meiner Auf-fassung nach wird Ihr Antrag, sehr geehrte Kolleginnenund Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, dem nichtgerecht, weil er der internationalen und insbesondere dereuropäischen Verpflichtung nicht Rechnung trägt. ImAusschuss können wir die Fragen gerne nochmals inten-siv diskutieren, die Sie uns in Ihrem Antrag vorgelegt

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haben. In der jetzigen Form können wir Ihrem Antrag inkeiner Weise zustimmen.

Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Die Debatte um denFusionsreaktor ITER ist im Bundestag etwa so ein Dau-erbrenner, wie das Plasmafeuer im Reaktor in ferner Zu-kunft einmal werden soll.

Während die Debatte mit einer notwendigen und ingreifbare Nähe gerückten Energiewende in diesem Landverknüpft werden muss, kann der Fusionsreaktor damitnicht verknüpft werden. Er vermag dazu in absehbarerZeit keinen Beitrag zu leisten. Stattdessen entzieht dasgesamte Projekt Jahr um Jahr dem Energieumstieg Mil-liarden an dringend benötigten Mitteln. Dieses Geldfehlt sowohl bei der Forschung an Speichertechnologienals auch in Bezug auf Energieeffizienzsteigerung undneuen Erzeugungsformen.

Dieses Mal diskutieren wir das ITER-Projekt unterverschärften Rahmenbedingungen, nicht nur, weil im-mer noch keiner genau weiß, zu wessen Lasten die pro-gnostizierten Mehrkosten zu decken sind, nicht nur, weildas Management diesem Megaprojekt nicht gewachsenscheint, nicht nur, weil immer neue Forschungsergeb-nisse die Realisierung des Projektes nach hinten ver-schieben, nicht nur, weil unklar ist, welchen Nutzen dieGesellschaft daraus ziehen wird, nachdem sie ja mit densteuerfinanzierten Forschungsmilliarden in Vorleistunggegangen ist, nicht nur, weil dieses Projekt eine erhebli-che Zentralisierung von Energieerzeugungsstrukturenbedingt; vielmehr steht die Gesamtrechnung, die ITERverursacht, in keinerlei vernünftigem Verhältnis zu demheute Machbaren und Notwendigen.

Die Zeit drängt, wenn man dem Klimawandel erfolg-reich und verantwortbar für nachfolgende Generationenbegegnen will. Aber eines verträgt ITER nun ganz undgar nicht: Zeitdruck. Im Gegenteil, ITER wird mehr Zeitbeanspruchen, weil Japan als eines der beteiligten Län-der nach Fukushima eben nicht mehr in der Lage ist, inden geplanten Zeitfenstern seine Zulieferungen zu reali-sieren, was zugleich zu weiteren Kostensteigerungenführen wird.

Das ist der Ausgangspunkt der verschärften Rahmen-bedingungen. Nach Fukushima darf ITER aber auchnicht mehr mit Atomkraftwerken verglichen werden.Dieser Maßstab hat sich definitiv überlebt! Zudemkommt zu den Kosten von ITER auch eine milliarden-schwere staatliche Begleitfinanzierung für die Sicherungsowie den Rückbau von Kernkraftwerken und die Er-schließung von Endlagern.

Der gesellschaftliche Nutzen von ITER muss sich anden Möglichkeiten erneuerbarer Energien messen lassen,insbesondere zu einem Zeitpunkt, da ganz Europa voneiner Krise der öffentlichen Haushalte erschüttert wird.Es geht also vor diesem Hintergrund auch um nichts Ge-ringeres als um das Bestimmen von Ausgabeprioritätenim Energieforschungsbereich. Damit steht auch die Exis-tenz von EURATOM infrage. Meine Fraktion hat dazueinen Antrag gestellt.

Die geplanten 15 Milliarden Euro Gesamtkosten füreinen noch nicht einmal gebauten Testreaktor stehen ineinem krassen Missverhältnis zu bereits praktizierten Er-zeugungsformen erneuerbarer Energien wie auch zu rea-listischen Forschungsoptionen in diesem Bereich. Sokann es auch nicht verwundern, dass erste, aber deutli-che Absetzbewegungen stattfinden. Österreich forderteine Neuorientierung des EURATOM-Programms, des-sen Budget großteils in die Fusionsforschung fließt.Noch will Österreich bisherige Kompromisse nichtgänzlich infrage stellen. Aber so weitermachen wie bis-her will es auch nicht. Das übrigens spürt man auch beiPositionen anderer Länder wie etwa Luxemburg. Jetzt for-dert unser südlicher Nachbar Österreich, die EURATOM-Mittel sollen auf Strahlenschutz, Nuklearmedizin, Risi-koforschung und Non-Proliferation konzentriert werden.Andere europäische Länder gehen noch nicht so weit.Ich halte das allerdings nur für eine Frage der Zeit.

Der Bundesrat seinerseits hat in seiner Stellungnahmedie Kostensteigerungen bei ITER erneut höchst kritischbewertet. Auch er lehnt die Kostensteigerung zulastenwichtiger Zukunftsinvestitionen aus dem nationalen undeuropäischen Forschungsetat ab. Wie das gehen soll, istebenso unklar wie der Erfolg des Fusionsprojektes. Wirunterstützen die Forderung nach einem Moratorium,denn wir müssen unsere drängenden energiepolitischenAufgaben von heute und morgen lösen, eben weil wirkeine Zeit mehr haben, schon gar nicht bis nach 2050. Inder Verantwortung der heute lebenden Generationen ste-hen zeitnah umsetzbare Alternativen zu einer ökono-misch, ökologisch und sozial zerstörerisch wirkendenEnergieproduktion. ITER kann dazu keinen Beitrag leis-ten.

Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Der Deutsche Bundestag hat heute, als Antwort auf Fu-kushima, den deutschen Atomausstieg – diesmal inklu-sive schwarz-gelb – beschlossen. Der nächste Schrittmuss sein, die Förderung der Atomindustrie durch deut-sches Steuergeld europaweit einzudämmen. Bündnis 90/Die Grünen schlagen, mit unserem nunmehr drittenITER-Antrag, in dieser Legislatur vor, damit beimITER-Projekt anzufangen und die weitere Geldver-schwendung durch Euratom infrage zu stellen. Mag dieAusrichtung des EURATOM-Vertrages von 1957 mitdem Ziel der „Entwicklung einer mächtigen Kernindus-trie“ im Nachkriegsdeutschland gesellschaftlich zustim-mungsfähig gewesen sein – im Lichte von Naturkata-strophen und Staatskrisen ist eine ernsthafte Überprü-fung und Neubewertung auch hier notwendig.

Die Hoffnung den Forschungsreaktor im erdbebenge-fährdeten französischen Cadarache mit einem europäi-schem Anteil von gedeckelten 6,6 Milliarden Eurobauen zu können, hat sich abermals durch die Verzöge-rung bei der Bereitstellung der japanischen Komponen-ten zerschlagen. Die Forschungsgebäude im Naka Fu-sion Institute nördlich von Tokio wurden nach schwerenBeschädigungen gesperrt, die Magnete für den ITERkönnen frühestens mit einem Jahr Verzögerung geliefertwerden. Schon vor Fukushima war der ITER das nachder internationalen Raumstation ISS weltweit teuerste

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Kooperationsprojekt. Die Finanzierung ist nach wie vornicht gesichert, der Großteil der Finanzlücke zum Wei-terbau soll mit Mitteln aus dem Etat für ländliche Raumegestopft werden, die ansonsten an die Mitgliedstaatenzurückflössen.

Die Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima las-sen die Mär vom „billigen Atomstrom“ zynisch erschei-nen. Atomunfälle zeigen weltweit, dass alle Anstrengun-gen auf Risikobeherrschung und auf den Umgang mitden Folgeproblemen der Atomkraft umzulenken sind.Auch aus Gründen des effektiven und verantwortungs-vollen Umgangs mit Steuergeldern müssen die Mittel,die bislang für den ITER vorgesehen sind, dringlicherfür Sicherheitsaspekte, die Folgenbewältigung der Kern-kraft, aber auch vorausschauend für die Klimaforschung,die erneuerbaren Energien und die Energiewende einge-setzt werden. Deutschland alleine finanziert den ITERüber die EURATOM-Verträge mit etwa 1,32 MilliardenEuro. Es kann nicht sein, dass die europäische Atom-industrie nach dem deutschen Atomausstieges-Beschlussmit neuen, staatsfinanzierten Großprojekten befriedetwird. Das betrifft auch die 960 Millionen Euro EU-Gel-der, die für die Transmutationsforschung vorgesehensind, zumal diese Atomtechnologie neue Partitionie-rungs- und Wiederaufbereitungsanlagen in bisher unbe-kannten Größenordnungen notwendig machen würde.

Immer weitere Verzögerungen und Baukostensteige-rungen werden auch neue Zeitpläne und Finanzrahmensprengen – die Höhe der Kosten für den europäischenFusionstraum sind nicht absehbar. Klaffende Finanzie-rungslücken werden sich angesichts der Finanzkrise ineinigen Mitgliedstaaten der EU nur schmerzlich füllenlassen. Die Entnahmen aus dem Etat für natürliche Res-sourcen und ländliche Räume werden bis an die Grenzedes Erträglichen schmerzen. Alleine das Versprechen,dass ein Super-Gau bei der Kernfusion nicht passierenkönne, hilft wenig. Auch die Kernfusion – sollte sie ein-mal tatsächlich funktionieren – produziert Atommüll,der Jahrtausende endgelagert werden muss. Höchste Zeitalso aus dem Projekt auszusteigen, da die Kernfusionauch nach optimistischen Prognosen vor 2060 keinenStrom wird liefern können. Bis dahin aber decken dieErneuerbaren längst europaweit den Strombedarf.

In der am 29. Juni 2011 ohne Debatte verabschiedetenErklärung des Rates der Europäischen Union heißt es,das EURATOM-Rahmenprogramm für Forschungs- undAusbildungsmaßnahmen, das den zusätzlichen ITER-Fi-nanzbedarf decken soll, sei überdies „als Beitrag zurNeuausrichtung der Forschung im Nuklearbereich“ zusehen, das einer „stärkeren Betonung der nuklearen Si-cherheit“ bedürfe. Im Jahr 2013 soll ein „Symposium …zu der Debatte über Nutzen und Grenzen der Kernspal-tungsenergie in einer emissionsarmen Wirtschaft“ statt-finden. Darüber hinaus wird die „Europäische Gruppefür Ethik der Naturwissenschaften und der neuen Tech-nologien“ ersucht, „eine Studie über die ethischen Aus-wirkungen der Energieforschung auf das menschlicheWohlbefinden … durchzuführen.“

Es ist zu hoffen, dass die Risiken und das Leid durchAtomkraft bis dahin nicht in Vergessenheit geraten.

Anlage 21

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung der Anträge

– Übermittlung von Fluggastdaten nur nacheuropäischen Grundrechts- und Daten-schutzmaßstäbenhier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 desGrundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4EUZBBG zum RichtlinienvorschlagKOM(2011) 32 endgültig

– Gutachten über die geplanten EU-Fluggast-datenabkommen mit den USA und Austra-lien beim Gerichtshof der EuropäischenUnion einholen

(Tagesordnungspunkt 21 und Zusatztagesord-nungspunkt 13)

Clemens Binninger (CDU/CSU): Wir diskutierendas Thema Fluggastdaten wahrlich nicht zum erstenMal. Und wir sind uns weitestgehend einig, dass erstensfür die Bekämpfung des internationalen Terrorismus ne-ben Informationen zu Finanztransaktionen und zumKommunikationsverhalten von Terrorverdächtigen auchKenntnisse über deren Reisebewegungen unverzichtbarsind. Zweitens dürfte Einigkeit darüber bestehen, dasswir den internationalen Terrorismus – das gilt genausoauch für grenzüberschreitende organisierte Kriminalität –nur in Kooperation mit unseren ausländischen Partnernerfolgreich verfolgen und bekämpfen können. Genaudeshalb sprechen wir über eine EU-Richtlinie zur Ver-wendung von Fluggastdatensätzen.

Die Europäische Kommission hat dazu einen Entwurfzur Weitergabe, Speicherung und Nutzung von Fluggast-daten vorgelegt, der nach Meinung von SPD und Grünenkeinesfalls tragbar ist, weil er die hier geforderten Da-tenschutzstandards nicht einmal im Ansatz erfüllenkann. Trotzdem haben SPD und Grüne genau einem sol-chen Entwurf zugestimmt. Dabei handelt es sich nichtum die aktuell vorliegenden Entwürfe, sondern um dasPNR-Abkommen mit den USA aus dem Mai 2004, dasdie rot-grüne Bundesregierung seinerzeit im Rat unter-stützt hat. Verglichen mit diesem Abkommen haben wirseither zahlreiche Verbesserungen beim Datenschutz er-reicht, die auch in der Praxis bei der Nutzung von Flug-gastdatensätzen eingehalten werden. Die Entwürfe derEuropäischen Kommission für eine PNR-Richtlinie unddie Abkommen mit Australien und auch mit den USAenthalten weitere Fortschritte beim Datenschutz, dieauch auf die Initiative der CDU-geführten Bundesregie-rung zurückzuführen sind.

Vielleicht hätten die Grünen vor mehr als sieben Jah-ren ihre eigene Regierung einmal auffordern sollen,beim Datenschutz und den EU-Grundrechten etwas ge-nauer hinzuschauen oder ein Gutachten beim Europäi-schen Gerichtshof einzuholen.

Wir waren uns bereits bei der Debatte über den letztenGrünen-Antrag zum Thema PNR im April einig, dass im

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Rahmen der Verhandlungen und Nachverhandlungen aufeuropäischer und internationaler Ebene Fragen des Da-tenschutz- und Grundrechtsstandards weiterhin groß ge-schrieben werden müssen.

Das PNR-Abkommen, wie es jetzt im Entwurf vor-liegt, soll einen einheitlichen Rahmen innerhalb der EUschaffen. Die Verhandlungen dazu sind noch lange nichtabgeschlossen. Die Richtlinie hat drei wesentliche Ziele.

Erstens: Es soll – ich glaube, noch nicht einmal dieOpposition ist da anderer Meinung – verhindert werden,dass Terrorverdächtige, die einen Anschlag planen, über-haupt erst ein Flugzeug besteigen. Gegen die Forderungkann es keine ernsthaften Einwände geben.

Zweitens: Es soll gelingen, schwere Straftaten auf-zuklären.

Drittens: Es soll gelingen, durch die Auswertungder Daten Verdächtige zu erkennen. Wenn wir den Ent-wurf der Richtlinie bewerten, stellen sich natürlicheinige – auch datenschutzrechtliche – Fragen, die imLaufe der Verhandlungen noch geklärt werden müssen.

Eine Frage, die sich für mich stellt, ist, ob die Spei-cherdauer – 30 Tage offen, dann pseudonymisiert fürfünf Jahre – notwendig oder zu lang ist. Dieses Themaspricht auch der SPD-Antrag an. Ich bin durchaus derAuffassung, dass sehr genau überlegt und begründetwerden muss, ob es fünf Jahre sein sollen. Aus meinerSicht könnten es auch weniger sein. Ehrlicherweise istaber auch festzuhalten: Diese Daten werden nicht ge-speichert, weil der Staat es will. Diese Daten sind alleschon heute bei den Fluggesellschaften vorhanden undwerden dort auch heute schon mehrere Jahre gespei-chert. Es geht also in erster Linie um die Frage, ob wirunter bestimmten Voraussetzungen den Sicherheits-behörden diese Daten zur Verfügung stellen, um An-schläge zu verhindern, schwere Straftaten aufzuklärenoder Verdächtige zu identifizieren. Wem die Sicherheitder Bürger etwas wert ist, der kann diese Frage nicht mitNein beantworten.

Eine weitere Frage: Sollen nur Flüge von außerhalb indie EU erfasst werden oder auch Flüge innerhalb derEU? Der Antrag der SPD spricht sich hier gegen eineAusweitung aus. Diese Argumentation ist unlogisch;denn wir müssen uns darüber klar sein, dass die Gefähr-lichkeit von Terrorverdächtigen nicht geringer wird, weilsie von Barcelona nach Berlin fliegen statt von Beirutnach Berlin. Die Beantwortung dieser Frage muss sichmeiner Einschätzung nach an der Gefährlichkeit der Per-sonen orientieren. Aus gutem Grund fordern das Verei-nigte Königreich, unterstützt von einer ganzen ReiheEU-Mitgliedstaaten wie Frankreich, Spanien, Italien,Tschechien, Irland, Niederlande, Estland oder Dänemarkund Zypern, eine sofortige Einbeziehung innereuro-päischer Flüge.

Für mich ganz persönlich stellt sich auch eine dritteFrage, bei der ich auch Bedenken, die in den beidenAnträgen angesprochen werden, ein Stück weit aufgrei-fen möchte. Das oberste Ziel ist, zu verhindern, dass einTerrorverdächtiger ein Flugzeug besteigt. Daran kann eskeinen Zweifel geben. Wer das ablehnt, macht keine

seriöse Sicherheitspolitik. Auch schwere Straftaten auf-zuklären, halte ich für absolut berechtigt. Deshalb ist eseine wesentliche Zielrichtung bei der Nutzung von Flug-gastdaten, Kriterien zu erkennen, mit denen Verdächtigeidentifiziert werden können, was am Ende einer Art Ras-terfahndung gleichkommt. Hier hat uns das Bundesver-fassungsgericht ganz klar aufgegeben: Die Rasterfahn-dung ist zulässig, sie muss aber an eine konkrete Gefahrgeknüpft sein. Das heißt, eine pauschale Ermächtigung,diese Daten quasi jede Woche auf irgendwelcheAuffälligkeiten hin zu durchleuchten, ist rechtlich nachunserem Verständnis schwer abzubilden. Deshalb ist esnotwendig, dass ein Bezug zu einer konkreten Gefahr,dem begründeten Verdacht auf Terrorismus oderschwere Straftaten besteht.

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass auf ein Instrumentwie die Nutzung von PNR-Daten nicht verzichtet wer-den kann, wenn wir Sicherheit im Luftverkehr wollen,wenn wir verhindern wollen, dass Passagiermaschinenzu Waffen und zu Zielen von Anschlägen werden, undwenn wir wollen, dass die Sicherheitsbehörden in derLage sind, schwere Verbrechen aufzuklären undkriminelle Strukturen zu erkennen. Wer fordert, dasseine Warnlampe angeht, braucht eine Speicherung undAuswertung von Passagierdatensätzen. Alles andere istUnfug und Sand, der den Leuten in die Augen gestreutwird.

Durch die PNR-Richtlinie wird ein einheitlicher Rah-men geschaffen. Es gab und gibt zurzeit zwischen ein-zelnen Staaten einen Wildwuchs bilateraler Abkommen.Es war in der Vergangenheit und teilweise bis heutevöllig unklar, wer wie viele Daten aus welchen EU-Staaten bekommt, wie lange sie gespeichert werden, wiesie genutzt werden und ob sie an Dritte weitergegebenwerden. Insofern ist die Richtlinie, durch die Einheitlich-keit hergestellt wird, sehr zu begrüßen.

Wir sind noch nicht am Ende der Verhandlungen füreine europäische PNR-Richtlinie angelangt. Über man-ches wird noch zu sprechen sein. Wir müssen akzeptie-ren, dass unsere Partner in Europa dabei teilweise unter-schiedlicher Ansicht sind. An den Grundzielen der PNR-Richtlinie gibt es aber nichts mehr zu rütteln.

Wolfgang Gunkel (SPD): Bereits vor zwei Monatenhaben wir den Richtlinienvorschlag der EU-Kommissiondiskutiert. Inhaltlich hat sich für die SPD-Bundestags-fraktion wenig geändert. Unsere Bedenken haben wirnun in dem heute vorliegenden Antrag formuliert.

Ich will es gleich vorwegschicken: Als realistischerMensch weiß ich, dass ein völliger Verzicht auf die Wei-tergabe von Fluggastdaten in der Europäischen Unionderzeit nicht durchsetzbar ist. Zudem wird ein legitimesAnliegen verfolgt: Die Mitgliedstaaten der EuropäischenUnion müssen terroristische und strafrechtliche Bedro-hungen abwehren. Doch müssen sie dabei die grund-und menschenrechtlichen Garantien beachten, die zu denRechtstraditionen der Mitgliedstaaten zählen und in derGrundrechtecharta der Europäischen Union verankertsind. Dies ist durch die im Entwurf vorgesehenen Rege-lungen noch nicht ausreichend gewährleistet.

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Die SPD fordert deshalb die Bundesregierung auf, un-ter dem Gesichtspunkt des Datenschutzes einige Punktein den Beratungen zu dem Richtlinienentwurf dringendnachzuverhandeln.

Insbesondere spielt die Entscheidung des Bundesver-fassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung bei derBewertung der Richtlinie eine wichtige Rolle. Das Bun-desverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 2. März2010 (1 BvR 256/08) hohe Anforderungen an die soge-nannte Vorratsdatenspeicherung gestellt. Hierzu zähltdas Gericht die Datenspeicherung „ohne Anknüpfung anein zurechenbar vorwerfbares Verhalten, eine – auch nurabstrakte – Gefährlichkeit oder sonst eine qualifizierteSituation. Die Speicherung bezieht sich dabei auf All-tagshandeln, das im täglichen Miteinander elementarund für die Teilnahme am sozialen Leben in der moder-nen Welt nicht mehr verzichtbar ist.“ (BVerfG, a.a.O.,Rn. 210).

Diese Definition trifft auf die Speicherung von PNR-Daten zu. Sie werden allein deshalb erhoben, weil Rei-sende das Flugzeug wählen, also ein sozial ebenso gebil-ligtes wie unverzichtbares Alltagshandeln an den Tag le-gen.

Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-richts ergeben sich auch im Hinblick auf den Umfangder abzurufenden Daten verfassungsrechtliche Grenzen(BVerfG, a.a.O., Rn. 237).

Vor drei Jahren war beim Thema europäische PNRschon klar, dass man umfangreichere PNR nicht braucht,wenn die bisher genutzten Datenspeicher sinnvoll einge-setzt werden. Konkret bedeutet dies, dass beispielsweisedie API-Daten den gleichen Zweck erfüllen könnten.Auch diese Daten werden von Fluggästen erhoben.Zweck der Speicherung ist die Verbesserung der Grenz-kontrolle und die Bekämpfung der illegalen Migration.In Paragraf 31 a Bundespolizeigesetz ist ausführlich ge-regelt, welche Daten erhoben werden. Es handelt sichhier um zehn Datensätze; dazu gehören persönliche An-gaben, aber auch Abflugsort und -zeit sowie Details überdie Reisedokumente. Gespeichert werden diese Daten24 Stunden, es sei denn, sie werden für Grenzkontrollenoder zur Strafverfolgung wegen illegaler Einreise benö-tigt.

Diese Daten können ohne Weiteres auch für die Ter-rorismusbekämpfung oder Fälle schwerer Kriminalitätverwendet werden.

Die Europäische Kommission hat nicht ausreichendbegründet, warum dieser Datenbestand ungenügend seinsoll. Zwar erlaubten es die API-Daten der KOM zufolgenicht, „,unbekannte‘ Verdächtige so zu identifizieren,wie dies mit einer Auswertung von PNR-Daten möglichist“ (KOM(2011) 32 endg., S. 5). Diese Aussage wird je-doch nicht näher belegt.

Ich dagegen denke nicht, dass der Verwendung derAPI-Daten ein plausibler Grund entgegensteht. So istauch der Bundesrat in seinem Beschluss zum Richtli-nienvorschlag vom 18. März 2011 zu dieser Schlussfol-gerung gekommen.

Die Speicherfrist ist zu lang und sollte ebenfalls drin-gend nachverhandelt werden. Sie beträgt grundsätzlich30 Tage und soll dann noch einmal mit Verschlüsselungum fünf Jahre verlängert werden. Tatsächlich kann aberauf diese Daten unter bestimmten Voraussetzungen imKlartext zugegriffen werden.

Die bisher bekannt gewordenen Ergebnisse der aufeuropäischer Ebene erfolgten Evaluierung haben erge-ben, dass eine Speicherfrist von sechs Monaten zurStrafverfolgung nicht erforderlich ist. Circa 70 Prozentder Abfragen von Daten erfolgen in den ersten drei Mo-naten; der Anteil steigt auf 85 Prozent, wenn die Datenmaximal sechs Monate alt sind. Dieses Ergebnis decktsich mit den Erfahrungen auf nationaler Ebene.

In den USA, wo die Speicherung der PNR-Daten nunschon seit gut drei Jahren erfolgt, gab es genau einenFall, in dem die Überprüfung sämtlicher Passagiere zueinem Gerichtsverfahren führte. Wenn man das an denMillionen Daten misst, die seitdem abgespeichert wur-den und weiterhin werden, muss man die Sinnhaftigkeitdieses Verfahrens stark bezweifeln.

Die Speicherdauer muss deshalb dringend überarbei-tet werden, um die Verhältnismäßigkeit der Richtlinie zuwahren.

Die SPD-Bundestagsfraktion fordert weiterhin, dasskein automatisierter Datenabgleich stattfindet und dassdie Daten nur bei einem begründeten Verdacht aufschwere oder terroristische Straftaten erfolgen. Weiter-hin darf der Abruf nur unter Richtervorbehalt erfolgen.

Auch hinsichtlich der Weitergabe der Daten an Dritt-länder gilt es dringend nachzubessern. Art. 8 RL-E er-laubt die Weitergabe der Daten an Drittstaaten. Nebenanderen Voraussetzungen müssen sich diese bereiterklä-ren, die Daten ausschließlich zu den im RL-E vorgesehe-nen Zwecken zu nutzen. Darüber hinaus ist eine Weiter-gabe an einen weiteren Drittstaat durch den Drittstaatmöglich, sofern der übermittelnde Mitgliedstaat zu-stimmt. Diese Ermächtigung ist ebenso unbestimmt wieweitreichend. Die Weitergabe darf hier nur zulässig sein,sofern dies in internationalen Abkommen, die ein ausrei-chendes Datenschutzniveau gewährleisten, vorgesehenist.

Ich bitte die Bundesregierung, diese Punkte bei denanstehenden Beratungen umfassend zu beachten.

Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, denwir an dieser Stelle mitberaten, greift einen wichtigenPunkt auf. Der Europäische Gerichtshof hat bereits ein-mal ein PNR-Abkommen gestoppt. Wenn bei den ge-planten Abkommen mit den USA und Australien die da-tenschutzrechtlichen Bedenken so umfassend sind, dannsind auch hier unbedingt Nachbesserungen vorzuneh-men.

Gisela Piltz (FDP): In der Antwort auf eine KleineAnfrage meiner Fraktion antwortete die damalige rot-grüne Bundesregierung am 15. Januar 2004 auf dieFrage:

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Zu welchem Zeitpunkt soll eine Pflicht zur Weiter-gabe von Passagierdaten auch innerhalb der EUeingeführt werden?

Und nun die Antwort:

Innerhalb der Europäischen Union hat Spanien eineRatsinitiative eingebracht. Das von der Bundesre-gierung unterstützte Ziel dieser Initiative ist eineverbesserte Kontrolle der Zuwanderungsströme unddie Bekämpfung der illegalen Einwanderung. An-gestrebt wird der Erlass einer Richtlinie des Rates,auf deren Grundlage die Mitgliedstaaten gesetzli-che Regelungen schaffen sollen, mit denen Beför-derungsunternehmen, insbesondere Fluggesell-schaften, verpflichtet werden können, bestimmtePassagierdaten vorab den Grenz- und Einwande-rungsbehörden des jeweiligen EU-Ziellandes zuübermitteln.

In Ihrem Antrag, sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen von der SPD, fordern Sie nun eine „Beschränkungauf terroristische und schwere Straftaten“. Ich frage Siejetzt lieber nicht, ob „eine verbesserte Kontrolle der Zu-wanderungsströme“ unter Ihre Definition von „terroristi-schen und schweren Straftaten“ fällt. Die Antwortkönnte – so oder so – ohnehin nur eines beweisen: DieSPD irrlichtert in der Innen- und Rechtspolitik zwischenLaw and Order und dem untauglichen Versuch, sich denAnstrich einer Rechtsstaatspartei zu geben.

Ich kann hier nur wiederholen, was ich schon in derDebatte zu dem Grünen-Antrag zu dem Vorschlag derEU-Kommission gesagt habe: Wer hat’s erfunden? Daswaren nämlich SPD und Grüne. Unter der rot-grünenBundesregierung hat Joschka Fischer im Rat dem Ab-kommen zwischen EU und USA zur Übermittlung vonFluggastdaten zugestimmt. Ich rufe hier noch einmal inErinnerung, dass in diesem Abkommen damals das Wort„Datenschutz“ ein absolutes Fremdwort war. Zum Glückhatte das Europäische Parlament damals die Notbremsegezogen; SPD und Grüne hier im Bundestag waren es je-denfalls nicht, ebenso wenig die damaligen Minister vonSPD und Grünen.

Wenn genau diese beiden Fraktionen jetzt heute hierso tun, als wäre der von der EU-Kommission vorge-schlagene Speicherzeitraum von 30 Tagen unverhältnis-mäßig lang, dann zeugt das nur davon, dass jedenfallsIhre Erinnerung eher kurz ist: Beim ersten PNR-Abkom-men mit den USA hat Rot-Grün eine Speicherfrist vondreieinhalb Jahren ohne Pseudonymisierung und ohnebesondere Datensicherung und mit dem Zugriff vonzahllosen Sicherheitsbehörden in den USA als daten-schutzrechtlichen Erfolg gefeiert.

Sie wissen und es ist kein Geheimnis, dass die FDP-Fraktion ein EU-System zur Nutzung von Fluggastdatensehr kritisch sieht. Dasselbe gilt für die Übermittlungvon Fluggastdaten in die USA. Es ist aber leider so, dassweder gegen ein EU-PNR-System noch gegen ein Ab-kommen mit den USA oder anderen Ländern im Rat eineMehrheit vorhanden ist. Im Gegenteil. Hier gilt jetzt lei-der nur noch, zu retten, was zu retten ist. Deshalb unter-stützt die FDP-Fraktion die Bemühung der Bundesregie-

rung, sich im Rat für einen hohen Datenschutzstandardeinzusetzen – und zwar sowohl was die PNR-Richtlinieangeht als auch was die Abkommen zu PNR angeht.

Noch ein Wort an die SPD: Sie fordern ja, dass dieSammlung von Fluggastdaten sich insbesondere an denGrundsätzen zur Vorratsdatenspeicherung orientierenmüsse. Nachdem Sie ja die Vorratsdatenspeicherung intäglich lauter werdender Endlosschleife wieder einfor-dern, nachdem das Gesetz Ihrer damaligen Bundesjustiz-ministerin mit Pauken und Trompeten untergegangen ist,verstehe ich natürlich auch, dass Sie hier nicht so sensi-bel sind. In Ihrem Antrag habe ich nämlich vergeblichnach einem Satz aus dem Urteil des Bundesverfassungs-gerichts gesucht:

Umgekehrt darf die Speicherung der Telekommuni-kationsverkehrsdaten nicht als Schritt hin zu einerGesetzgebung verstanden werden, die auf einemöglichst flächendeckende vorsorgliche Speiche-rung aller für die Strafverfolgung oder Gefahren-prävention nützlichen Daten zielte. Eine solche Ge-setzgebung wäre, unabhängig von der Gestaltungder Verwendungsregelungen, von vornherein mitder Verfassung unvereinbar. Die verfassungsrechtli-che Unbedenklichkeit einer vorsorglich anlasslo-sen Speicherung der Telekommunikationsverkehrs-daten setzt vielmehr voraus, dass diese eineAusnahme bleibt.

Damit setzen Sie sich überhaupt nicht auseinander –wie Sie sich generell nicht so sehr mit den rechtlichenund verfassungsrechtlichen Fragen herumplagen. Damuss ich hier ja einmal die Grünen wenigstens dafür lo-ben, dass sie in ihrem Antrag die Gutachten des juristi-schen Dienstes sowohl des Rates zu dem Vorschlag derKommission für ein EU-PNR-System als auch des juris-tischen Dienstes der Kommission zu dem Abkommens-entwurf mit den USA aufgreifen. Die aufgeworfenenFragen, gerade im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit derGrundrechtecharta, müssen von der Bundesregierungernst genommen werden. Ich bin ganz sicher, dass un-sere liberale Bundesjustizministerin hier sehr viel ge-nauer hinschauen wird, als die SPD-Bundesjustizminis-terin das damals getan hat.

Auch der Bundesrat hat – auf Initiative der LänderBaden-Württemberg, wohlgemerkt noch zu Zeiten derschwarz-gelben Koalition im Ländle, und Hessen – ei-nen Beschluss gefasst, in dem die Kommission aufgefor-dert wird, die Verhältnismäßigkeit des Vorschlags füreine PNR-Richtlinie erneut gründlich zu prüfen. Darankönnen Sie sehen, dass bei schwarz-gelben Regierungendiese Frage in guten Händen ist.

Die FDP-Fraktion hier im Bundestag wird daher wieschon bisher auch künftig gemeinsam mit der Bundesre-gierung und der liberalen Fraktion im Europaparlamentdie Entwicklungen in Sachen Fluggastdaten kritisch undgenau betrachten. Zugleich unterstützt sie aber auch dieBundesregierung darin, im Falle einer Mehrheit inEuropa – die es, wie schon gesagt, auf jeden Fall fürPNR in der EU und in Abkommen mit Drittstaaten gibt –sich mit aller Kraft für ein hohes Niveau an Datenschutzund Rechtsschutz einzusetzen und so wenigstens das,

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was nach dem rot-grünen Sündenfall in Sachen PNRnoch zu retten ist, auch tatsächlich im Sinne unseresRechtsstaates zu retten.

Jan Korte (DIE LINKE): Die Vizeministerin für Hei-matschutz der USA, Jane Holl Lute, hat kürzlich in Ber-lin massiv für das amerikanisch-europäische Abkommenzur Übermittlung von Fluggastdaten geworben. Mit demAbkommen, so Frau Lute, sollen angeblich nicht Sicher-heitsbestrebungen der Vereinigten Staaten über Daten-schutzbedenken der Europäer gestellt werden, sondernder US-Administration gehe es einzig „um das Wohl al-ler Reisenden“. Die USA respektierten die europäischeSicht, erwarteten aber auch Respekt für ihren Stand-punkt. Die Vizeministerin sicherte einen verantwor-tungsvollen Umgang mit den Daten zu.

Britische Datenschutzexperten kommen in einer Ana-lyse der geplanten EU-Richtlinie zur Auswertung undWeitergabe von Fluggastdaten – Passenger Name Re-cord, PNR – allerdings zu dem Ergebnis, dass die Richt-linie wenig bis überhaupt keinen Datenschutz garantiere.Die Daten würden stattdessen völlig unkontrolliert undintransparent verbreitet werden. Die britischen Expertenvon Amberhawk gelangen in ihrem Bericht insgesamt zueinem höchst negativen Ergebnis. Ausreichender Schutzbesteht eigentlich nur, solange die Fluglinien über dieDaten verfügen, denn dann kämen die eher strengen Da-tenschutzstandards der EU zum Tragen. Jede Weitergabehebe hingegen Teile des Datenschutzes auf. Wenn dasAbkommen so in Kraft treten würde, dürfte beim Exportder Daten in die USA auch das letzte bisschen Schutz imwahrsten Sinne des Wortes über Bord gehen. Denn wasdie jeweiligen Empfänger mit den Daten anstellen undwohin sie diese als Nächstes transferieren, kann keinerder Passagiere mehr kontrollieren, ebenso wenig wieDatenschützer.

Die Fachjuristen von Amberhawk beschreiben dieAuswirkungen der PNR-Richtlinie als bizarr: Je unkriti-scher die Erhebung und Verwendung von Passagierdatenist, wie zum Beispiel bei der Nutzung der Angaben zurEssens- und Sitzplatzbuchung bei der Fluggesellschaft,desto höher ist der Schutz der Daten. Je kritischer dieVerwendung der Passagierdaten ist, zum Beispiel zurSammlung und Speicherung zu Strafverfolgungszwe-cken, desto niedriger wird der Schutz der Daten. Und dasist nicht das einzige Absurde an diesem Abkommen.Man muss sich hier wirklich einmal die Frage stellen,wer hier die Verhandlungen seitens der EU geführt hatund ob diese Leute noch ein paar Wochenenden Zeit fürWeiterbildungsseminare haben.

Wenn wir überhaupt irgendeinen Wert auf Daten-schutz legen, können wir einem solchen Abkommennicht zustimmen. Da ist sich die Opposition offenbareinmal einig. Es wäre tatsächlich einmal etwas ganz Be-sonderes, die Bundesregierung dazu zu bringen, inEuropa etwas für den Datenschutz und für die Einhal-tung europäischer Datenschutzstandards zu tun. Das warbislang vergebene Liebesmüh. Es lief eher genau anders-herum: Das, was die letzten Bundesregierungen nationalnicht umsetzen konnten, haben sie über den UmwegEuropa hinzubekommen versucht.

Letztendlich bleibt das PNR-Abkommen mit denUSA in den Gedanken vieler nur ein erster Schritt zu ei-ner EU-weiten Vorratsdatenspeicherung von Flugpassa-gierdaten. Wenn es nach dem Willen der EuropäischenKommission ginge, würden künftig sämtliche Passagier-daten zu Flügen zwischen Drittstaaten und EU-Mit-gliedsländern gespeichert. Eine Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten will außerdem auch Daten über alle in-nereuropäischen Flüge sammeln und analysieren. DieseDaten sollen nicht nur zur Strafverfolgung, sondern auchzur präventiven Erstellung von „Risikoprofilen“ heran-gezogen werden. Grundsätzlich ist demnach jeder Flug-gast verdächtig und muss überwacht werden. Manchefantasieren schon über die Erfassung der Reisedaten vonBahnpassagieren und Schiffsreisenden. Das konterka-riert die europäische Idee eines Raumes der Demokratieund der Freizügigkeit.

Die Linke lehnt das Fluggastdatenabkommen mit denUSA genauso ab wie das mit Australien. Die Linke wirdweiter gegen EU-weite Vorratsdatenspeicherungen unddie Überwachung der Bevölkerung kämpfen. Daraufkönnen Sie sich verlassen.

Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Es ist der Bedeutung der geplanten Speicherun-gen von Fluggastdaten angemessen, dass wir hier zumzweiten Mal innerhalb eines Vierteljahres darüber debat-tieren. Denn was hier in der Pipeline ist, stellt die Vorga-ben des deutschen Grundgesetzes und auch der EU-Grundrechte auf den Kopf!

Das Drama hat zwei Teile, die später aneinanderge-fügt werden sollen. Der erste Teil ist die geplante Richt-linie über die Vorratsspeicherung von Fluggastdaten.Dazu gibt es von uns den Antrag vom April und denheutigen der SPD. Der zweite Teil sind die geplantenAbkommen der EU mit den USA und Australien überdie Weiterleitung von Fluggastdaten. Dazu liegt unserheutiger Antrag vor.

Zum ersten Teil, der geplanten Richtlinie über dieVorratsspeicherung von Fluggastdaten: Ich habe das andieser Stelle bereits im April dieses Jahres gesagt: sogeht es nicht! Mittlerweile sind ein Gutachten der EU-Grundrechteagentur und eines des juristischen Dienstesdes Rates zum gleichen Ergebnis gekommen: Es sindkeine behebbaren Kleinigkeiten, die im Richtlinienent-wurf falsch liegen, es ist das Gesamtkonzept des Vorha-bens, das völlig konträr zu deutschen und europäischenGrundrechten liegt.

Ohne den Nachweis der Erforderlichkeit für die Be-kämpfung schwerer Verbrechen sollen nun Fluggastdatensämtlicher internationaler und EU-interner Flüge aufVorrat für über 5 Jahre gespeichert werden. Und zwar beieinem staatlichen Datenpool, aus dem sich dann unzäh-lige Polizei- und Strafverfolgungsbehörden aus ganzEuropa bedienen dürfen. Profilbildung und Rasterungsind ausdrücklich Zweck dieser Vorratsspeicherung. Je-des einzelne der genannten Elemente der geplanten Da-tenspeicherung würde beim Bundesverfassungsgerichtmit Pauken und Trompeten durchfallen.

Ich freue mich daher, dass auch die Kolleginnen undKollegen von der SPD mit ihrem Antrag verdeutlicht ha-

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ben, dass wir hier mehr Grundrechte und mehr Daten-schutz brauchen. Aber, meine Damen und Herren derSPD, es reicht hier leider nicht aus, nur einzelne daten-schutzrechtliche Verbesserungen einzufordern. Denn esfehlt gewissermaßen schon der Grundstein jeglicher ver-fassungsrechtlicher Zulässigkeit: es fehlt an der Erfor-derlichkeit der geplanten Vorratsspeicherung von Flug-gastdaten.

Das muss nun doch endlich zu allen durchgedrungensein: nicht nur die europäischen Datenschutzbeauftrag-ten und die EU-Grundrechteagentur, selbst der juristi-sche Dienst des Rates der EU, also genau des Organesder EU, in dem die Regierungen der Mitgliedstaaten ver-treten sind, kommt in seiner Stellungnahme zum Richtli-nienentwurf im April zu diesem Ergebnis – ich zitiere:„In Anbetracht der einschlägigen Rechtsprechung ist diesystematische und automatische Vorabverarbeitung, […sprich: Profilbildung und Rasterung] des Vorschlags […]äußerst problematisch, was die Verhältnismäßigkeit be-trifft. Damit liefe die Richtlinie (wenn sie in dieser Formangenommen würde, und noch mehr, wenn Flüge zwi-schen Mitgliedstaaten einbezogen würden) nach Ansichtdes juristischen Dienstes eindeutig Gefahr, in einem Ver-fahren nicht nur vor dem Gerichtshof, sondern auch vorden nationalen Verfassungsgerichten oder obersten Ge-richtshöfen beanstandet zu werden, insbesondere deswe-gen, weil nicht hinreichend dargelegt wird, weshalb dieMaßnahmen notwendig sind.“

Ganz Europa argumentiert – politisch und rechtlich –mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.Und genau dieses Bundesverfassungsgericht hat uns un-missverständlich aufgegeben, uns auf europäischerEbene für die Wahrung der verfassungsrechtlichen Da-tenschutzstandards einzusetzen.

Wie sich aus den Verhandlungsergebnissen der rele-vanten Ratsarbeitsgruppe vom 11. Mai 2011 ergibt,zweifelt eine ganze Reihe nationaler Parlamente an derErforderlichkeit der Vorratsspeicherung von Fluggastda-ten.

Wir Grüne lehnen die Vorratsspeicherung von Flug-gastdaten auch weiterhin entschieden ab. Denn eine sol-che Datensammlung ins Blaue hinein löst sich zu weitvon den verfassungsrechtlichen Vorgaben und würde ei-nen Paradigmenwechsel im Sicherheitsrecht zulasten derBürgerrechte einläuten.

Nun zum zweiten Teil, den geplanten Abkommen mitden USA und Australien über die Weitergabe von Passa-gierdaten zu Zwecken der Strafverfolgung:

Die Verhandlungen mit Australien und den USA sindseit kurzem vorläufig abgeschlossen. Die Abkommensollen den Behörden erlauben, die Daten auf Vorrat zuspeichern. Sie setzen also auf die EU-interne Vorrats-speicherung noch eine weitere Vorratsspeicherung in denUSA und Australien drauf. Beide Staaten verfügen aner-kanntermaßen nicht annähernd über Datenschutzstan-dards, die den deutschen oder europäischen vergleichbarwären. Es wurden uferlose Speicherfristen von 5,5 Jah-ren für Australien und 15 Jahren für die USA ausgehan-delt. Auch die in die USA und nach Australien weiterge-leiteten Fluggastdaten dürfen dann für Risikoanalysen

verwendet werden. Dabei sollen die Passagiere aufgrundnicht nachvollziehbarer Risiko-Profile der Sicherheits-behörden elektronisch in Schubladen sortiert werden.

Ebenso wie bei der Vorratsspeicherung von Fluggast-daten in der EU widerspricht ein solches Vorgehen klarden Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, insbe-sondere seiner Rechtsprechung zur Rasterfahndung undzur Vorratsspeicherung von Telekommunikationsverbin-dungsdaten.

Aber nicht nur das. Der juristische Dienst der Europä-ischen Kommission, ja genau, das ist das Organ der EU,das selbst für die Aushandlung dieser Abkommen zu-ständig ist, hat in einem Gutachten vom 18. Mai 2011die Auffassung vertreten, dass die geplanten Abkommenmit den Grundrechten unvereinbar sind. Angesprochenwird hier insbesondere Art. 8 der EU-Grundrechtecharta:das EU-Grundrecht auf Datenschutz, über dessen Ein-haltung der EuGH wacht.

Dass wir als Parlament die verfassungsrechtlichePflicht haben, uns auf europäischer Ebene für die Wah-rung unserer verfassungsrechtlichen Datenschutzstan-dards einzusetzen, habe ich bereits gesagt. Das ist eineparlamentarische Selbstverständlichkeit! Wir haben aberauch die Möglichkeit und die Instrumente dazu. Mit un-serem Antrag fordern wir die Bundesregierung noch ein-mal dazu auf, beim EuGH ein Gutachten über die ge-planten Flugastdaten-Abkommen mit dem USA undAustralien einzuholen.

Der EuGH hätte dann gemäß Art. 218 Absatz 11 desVertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union,AEUV, die Möglichkeit, die Vereinbarkeit dieser geplan-ten Abkommen vorab mit dem EU-Primärrecht und soauch mit den EU-Grundrechten zu überprüfen. DieRechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Teilder deutschen Verfassungstradition ist Rechtserkenntnis-quelle für den EuGH. Deutsche Verfassungsrechtspre-chung hat auf diesem Weg bereits vielfach Eingang indie EuGH-Rechtsprechung gefunden. Deutschland solltedurch die Einholung des Gutachtens beim EuGH seineeuroparechtlichen Möglichkeiten und Pflichten zur För-derung des europäischen Grundrechteschutzes wahrneh-men.

Wir dürfen hier nicht sehenden Auges eine Situationentstehen lassen, in dem die EU grundrechtswidrige Ab-kommen abschließt.

Ich bitte um Zustimmung zu diesem Antrag.

Anlage 22

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: Besonderheiten dernationalen Finanzmärkte bei Umsetzung vonBasel III berücksichtigen (Tagesordnungs-punkt 23)

Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Die neuen interna-tionalen Standards des Baseler Ausschusses für Banken-aufsicht müssen in europäisches Recht umgesetzt wer-den. Dabei wird es nicht zu einer starren, schematischen

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Umsetzung kommen. Vielmehr wird aufbauend auf denBaseler Vereinbarungen und unter Berücksichtigungeuropäischer und deutscher Besonderheiten eine Umset-zung in europäisches Recht erfolgen. Die Kommissionwird dazu voraussichtlich einen Legislativvorschlag vor-legen, der aus einer Verordnung und einer Richtlinie be-steht.

Die Verordnung soll Regelungen zum Eigenkapital,zur Liquidität sowie zur Transparenz enthalten. In derRichtlinie sollen Regelungen für die Zulassung und Be-aufsichtigung von Instituten, Anforderungen an die in-terne Organisation sowie aufsichtsrechtliche Maßnah-men festgeschrieben werden.

Die Kommission möchte, soweit wir wissen, den Wegder Regelung durch eine Verordnung gehen, um sicher-zustellen, dass in den Bereichen Eigenkapital, Liquiditätund Transparenz ein europäisches Level Playing Fieldfür Banken erreicht wird – also einheitliche Bedingun-gen für alle in Europa tätigen Kreditinstitute. Denn eineEU-Verordnung gilt unmittelbar für alle Kreditinstitute,während eine EU-Richtlinie erst durch den deutschen– und 26 weitere – Gesetzgeber in nationales Recht um-gesetzt werden muss. Der aufsichtsrechtliche Teil desRegelwerkes muss zwingend im Rahmen einer Richt-linie umgesetzt werden, da er an nationales Verwaltungs-recht anknüpft.

Die Tatsache, dass so wichtige Felder wie Eigenkapi-tal, Liquidität und Transparenz im Rahmen einer EU-Verordnung und nicht im Rahmen einer Richtlinie gere-gelt werden sollen, stößt in Teilen der deutschen Kredit-wirtschaft auf erhebliche Bedenken:

Es wird befürchtet, dass die mangelnde Beteiligungdes Deutschen Bundestages dazu führt, dass „nationaleBesonderheiten“ zu wenig berücksichtigt werden.

Es wird befürchtet, dass sich die EU-Kommission beider Formulierung der Verordnung nicht am deutschen, inerheblichen Teilen mittelständischen und durch Sparkas-sen und Volksbanken geprägten Bankensystem, sondernam angelsächsischen, von kapitalmarktorientierten Insti-tuten geprägten Bankensystem orientiert.

Es wird befürchtet, dass auf EU-Ebene keine Diffe-renzierung zwischen kleinen, regionalen und großen,internationalen Instituten vorgesehen ist und allen Insti-tuten, unabhängig von ihrer Größe, die gleichen bürokra-tischen Lasten auferlegt werden.

Diese Befürchtungen haben gute Gründe. Wir neh-men sie daher sehr ernst. Für die weitere Diskussion istes, so denke ich, aber hilfreich und wichtig, noch einmaldie Unterschiede zwischen einer Verordnung und einerRichtlinie detailliert zu erörtern. Ich halte dies deswegenfür notwendig, weil in der Diskussion mit einigen Unge-nauigkeiten argumentiert wird.

Beginnen wir mit der Richtlinie:

Die Richtlinie richtet sich an den nationalen Gesetz-geber. Dieser hat die Vorgaben der Richtlinie in nationa-les Recht umzusetzen. Je nach Ausgestaltung der Richt-linie hat er dabei die Möglichkeit, Wahlrechtewahrzunehmen und die europäischen Regelungen unter

Berücksichtigung nationaler Besonderheiten in seine na-tionale Rechtsordnung einzupassen. Er hat gegebenen-falls auch die Möglichkeit, über den Regelungsinhalt derRichtlinie hinauszugehen – im Fall von Basel III zumBeispiel erhöhte Eigenkapitalanforderungen zu stellen;wie gesagt, je nach Ausgestaltung, denn es gibt Richtli-nien, die so formuliert sind, dass viele Freiräume beste-hen, es gibt aber auch Richtlinien, die sehr eng formu-liert sind und die die oben skizzierten Freiräume nichteinräumen.

Die Kritiker der Rechtssetzung durch Richtlinien wei-sen darauf hin, dass die nationalen Wahlrechte undSpielräume dazu führen, dass europaweit 27 unter-schiedliche Regelungen entstehen – 27 Regelungen, indenen Wahlrechte unterschiedlich wahrgenommen wer-den, 27 Regelungen, bei denen es gegebenenfalls zu be-wussten oder unbewussten Umsetzungsfehlern kommt.Sie führen weiter an, dass die Rechtssetzung umso un-einheitlicher wird, je größer die Wahlrechte und je zahl-reicher die Fehler sind. Eine uneinheitliche Umsetzungwürde dazu führen, dass Geschäfte in die Länder verla-gert werden, in denen die Regulierung am schwächstenist; man nennt dies Regulierungsarbitrage.

Eine Verordnung richtet sich dagegen unmittelbar andie nationalen Finanzinstitute; es bedarf keiner Umset-zung in nationales Recht, mit all den daraus resultieren-den Schwierigkeiten.

Kritikpunkt an der Umsetzung durch eine Verordnungist, dass keine weiteren Modifikationen durch nationaleParlamente mehr möglich sind. Eine Berücksichtigungnationaler Besonderheiten durch die nationalen Parla-mente ist nicht mehr vorgesehen; sie müssen bereits indie Verordnung eingearbeitet werden.

Die Befürworter einer Verordnung führen dagegen an,dass Institute, die in mehreren europäischen Ländern tä-tig sind, entlastet werden, da Bürokratiekosten für dieBefolgung von unterschiedlichen nationalen Regelungenentfallen. Rein national und regional tätige Institute ha-ben den Vorteil, dass auch sie von einer gesteigerteneuropaweiten Systemstabilität und einem einheitlichenWettbewerbsumfeld profitieren.

Sowohl eine Richtlinie als auch eine Verordnung ge-ben einen Rahmen vor. Dieser Rahmen wird dann mitDetailregelungen gefüllt, den sogenannten technischenStandards. Die Bedeutung dieser technischen Standardsfür die praktische Anwendung der neuen Regeln darfnicht unterschätzt werden. Sie sind der Hebel, mit denenim Zweifel Politik gemacht werden kann.

Auf europäischer Ebene werden diese technischenStandards, deren Erlass als delegierte Rechtsakte sowohldurch Ermächtigung in einer Verordnung als auch in ei-ner Richtlinie vorgesehen werden kann, von der EBA,der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde, vorgegeben.Hier bestehen erhebliche Defizite, und zwar deswegen,weil die parlamentarische Kontrolle über die technischenStandards faktisch sehr eingeschränkt ist; das heißt, Poli-tik wird durch Beamte gestaltet.

Bei der Abwägung, ob eher eine Richtlinie oder eineVerordnung zur Umsetzung von Basel III geeignet ist,

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sind diese Vor- und Nachteile zu berücksichtigen. EineRichtlinie bietet vermeintlich mehr Spielraum für dennationalen Gesetzgeber. Letztlich hängt das aber sehrvon der konkreten Ausgestaltung im Einzelfall ab. Sokann auch eine Richtlinie keinen oder nur sehr wenigUmsetzungsspielraum lassen. Auf der anderen Seitekann auch eine Verordnung durchaus Wahlrechte belas-sen. Das heißt, wenn eine Richtlinie die entscheidendenPunkte abschließend regelt, kann auch im Rahmen derUmsetzung durch den Bundestag keine Anpassung annationale Besonderheiten mehr erfolgen.

Wesentlich entscheidender als die Form ist daher derInhalt. Wir müssen deshalb daran arbeiten, dass alle unsin Deutschland wichtigen Regelungen und Wahlrechte indem europäischen Rechtsakt – sei es eine Verordnungoder eine Richtlinie – verankert werden. FolgendePunkte sind dabei besonders wichtig:

Erstens. Wir brauchen eine rechtsformunabhängigeDefinition der Eigenkapitalinstrumente, also Prinzipienfür die Zurechnung von Finanzinstrumenten zum auf-sichtsrechtlichen Eigenkapital unabhängig von derRechtsform des jeweiligen Instituts. Dabei darf bei-spielsweise genossenschaftliches Kapital nicht schlech-ter gestellt werden als Aktienkapital.

Zweitens. Es ist besorgniserregend, dass auf nationa-ler, aber insbesondere auf europäischer Ebene der Ge-setzgeber immer mehr Regelungsinhalte an die Exeku-tive, an die Verwaltung, im Fall von Basel III an dieEBA delegiert. Denn die technischen Standards im Zu-sammenhang mit der Umsetzung von Basel III werdeneine entscheidende Rolle hinsichtlich der Qualität desRegelwerkes spielen. Die EBA als neugegründete Be-hörde muss gerade in Deutschland noch viel Vertrauenaufbauen. Das Vorgehen der EBA bei der Implementie-rung der Bankenstresstests wurde von wesentlichenMarktteilnehmern jedenfalls nicht als glücklich empfun-den.

Drittens. Wir müssen verhindern, dass kleine undmittlere Privatbanken, Regionalbanken, Sparkassen undGenossenschaftsbanken vom Umfang der Regulierungüberfordert werden. Es wäre nicht nachvollziehbar,wenn an die Sparkasse Rietberg der gleiche Maßstab an-gelegt würde wie an die Deutsche Bank. Gerade kleinereInstitute beklagen in letzter Zeit sehr glaubwürdig, dassder bürokratische Aufwand der Regulierungsanforderun-gen in keinem Verhältnis mehr zu ihrer Institutsgrößeund ihrem Institutsrisiko steht. Regulierung darf nichtdazu führen, dass große Einheiten gegenüber kleinenEinheiten gestärkt werden.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang, die Art undWeise, wie die Aufsicht geführt wird, adäquat zu gestal-ten. Denn auch im Bereich der nach dem Entwurf durchVerordnung geregelten Rechtsgebiete wird Raum fürAuslegung bestehen und werden Rundschreiben – wiebisher – erforderlich sein. Neben den Vorgaben durch dieeuropäische Rechtssetzung werden daher die Art undWeise der Kontrolle der Regeln durch BaFin und Bun-desbank ganz besonders für die kleineren Institute eineentscheidende Rolle spielen. Hier liegt meines Erachtensein wichtiger Hebel für weniger Bürokratie.

Lassen Sie mich kurz zusammenfassen: Die Frage„Basel III – Richtlinie oder Verordnung?“ bewegt zuRecht viele – gerade kleinere – Kreditinstitute inDeutschland. Die Kommission scheint sehr entschlossenzu sein, den Weg über eine Verordnung zu gehen. UnserePositionierung zu dieser Frage wird maßgeblich vom In-halt des Regelwerkes inklusive der an dem Regelwerkhängenden technischen Standards abhängen.

Das heißt, jetzt ist die Kommission am Zug: Wir wer-den den Prozess auf europäischer Ebene sehr genaubeobachten. Der Deutsche Bundestag hat mit dem ge-meinsamen Entschließungsantrag vom 8. Juli 2010 in-haltliche Positionen formuliert. Die Kommission musszeigen, dass sie es schafft, ein einheitliches Regulie-rungsniveau zu schaffen und dabei die Besonderheitender Bankenmärkte der Mitgliedstaaten zu berücksichti-gen. Der Finanzplatz Deutschland mit all seinen Facet-ten, mit den starken Säulen Genossenschaftsbanken undSparkassen muss sich in der Basel-III-Umsetzung derKommission wiederfinden. Eine Regulierung zulastenunserer Finanzwirtschaft darf es nicht geben, weder ineiner Richtlinie noch in einer Verordnung.

Wir sollten daher die Diskussion – auch und geradeauf europäischer Ebene – insbesondere anhand der In-halte führen und nicht allein anhand des formalen Rah-mens.

Zum Abschluss gestatten Sie mir noch eine Anmer-kung: Beim Studium der Stellungnahmen zu diesemThema und bei vielen Gesprächen, die ich in dieser Sa-che geführt habe, ist mir wieder einmal klar geworden,wie wenig Vertrauen den europäischen Institutionen ent-gegengebracht wird. Wir sollten wirklich einmal dieFrage beantworten, woran das liegt. Denn die Tatsache,dass – ob nun in der Sache gut begründet oder nicht –Parteien, Verbände und Unternehmen eine Richtliniefordern, weil sie nicht glauben, dass die EU-Kommis-sion eine Verordnung vorlegt, die ihnen gerecht wird,und damit in Parlament und Rat auch noch durchkommt,ist ein großes Misstrauensvotum gegenüber den europäi-schen Institutionen.

Hier liegt das eigentliche Problem. Es gilt vorrangig,dieses Problem zu lösen, bevor die anderen in dieserRede aufgeworfenen – ebenfalls sehr wichtigen – Fragenerörtert werden.

Manfred Zöllmer (SPD): Die Europäische Kommis-sion wird in Kürze Entwürfe für Rechtsakte vorlegen,mit denen sie die Vorschläge des Baseler Ausschussesfür Bankenaufsicht zur Neuregelung der Eigenkapital-und Liquiditätsanforderungen für Kreditinstitute – dassogenannte Basel III – in europäisches Recht umsetzt.Mit diesen Neuregelungen sollen Konsequenzen aus denin der Finanzkrise offenbar gewordenen Lücken in derFinanzmarktregulierung gezogen werden.

Die ersten länderübergreifenden Eigenmittelstandardsfür Banken, Basel I, sind bereits 1988 verabschiedetworden. Im Jahr 2004 folgte Basel II, das neue Risikoka-tegorien einführte, aber den großen, international tätigen

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Instituten erlaubte, die jeweiligen Risiken mit eigenenModellen zu bewerten und zu gewichten.

Diese Regelung nutzten die Banken aus, um ihre Ei-genkapitalausstattung anzupassen. Vom Ergebnis hieltensie in der Folge nicht mehr, sondern weniger Eigenkapi-tal. Dies geschah offenbar in der Überzeugung, die zurUmsetzung von Basel II geschaffene Risikomanagement-infrastruktur mache es möglich, Risiken so zuverlässig zuerfassen, dass auch eine Bank mit geringerem Eigenkapi-tal gut geschützt sei.

Die Finanzkrise hat diese Haltung als Illusion ent-larvt, und deshalb ist es gut, wenn unter anderem an die-sem Punkt nachjustiert wird.

Der Großteil der geplanten Basel-III-Änderungen sollnach dem Willen der Europäischen Kommission mittelseiner Verordnung und nicht, wie bisher bei solchen Re-gelungen üblich, durch eine Richtlinie vorgenommenwerden.

Wir Sozialdemokraten sind davon überzeugt, dasseine Umsetzung von Basel III durch eine Verordnungmit großen Nachteilen verbunden wäre. Eine Verord-nung stellt gemäß Art. 249 Abs. 2 EG-Vertrag unions-weit unmittelbar geltendes Recht dar – die sogenannteVerbindlichkeit in allen Teilen. Diese grenzt die Verord-nung von der Richtlinie ab. Die Verordnung ist gänzlichgeltendes Recht, während die Richtlinie nur hinsichtlichder Zielbestimmung verbindlich ist. Die Umsetzung derZielbestimmung bei Richtlinien bleibt jedem einzelnenMitgliedstaat vorbehalten.

Dem Deutschen Bundestag würden somit seine Mit-wirkungsmöglichkeiten genommen, und nationale Be-sonderheiten könnten nicht berücksichtigt werden. EineRichtlinie eröffnet Spielräume bei der Ausfüllung undKonkretisierung der europäischen Vorgaben durch dieMitgliedstaaten, was bei der Bankenregulierung einenwichtigen Punkt darstellt.

Die Wahl des Rechtsinstrumentes ist insoweit einezentrale Weichenstellung, da sie die Beteiligungsmög-lichkeiten nicht nur hinsichtlich der aktuellen Reform,sondern auch hinsichtlich der künftigen Regulierungs-vorhaben bestimmt.

Der Deutsche Bundestag muss die neuen Regelwerkezu Basel III angesichts ihrer hohen Bedeutung sowohlfür die Kreditwirtschaft als auch für die Unternehmenund Anleger aktiv mitgestalten können. Eine bloße Be-gleitung des europäischen Rechtssetzungsprozesseswürde der Verantwortung des Deutschen Bundestagesfür die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Lan-des nicht gerecht.

Die Mitwirkung der Parlamente bietet die beste Ge-währ, dass bei der Anwendung der globalen Basel-III-Vorschriften den spezifischen Bedingungen der jeweili-gen Finanzmärkte ausreichend Rechnung getragen wird.

Es steht fest, dass zwischen den Finanzmärkten erheb-liche Unterschiede bestehen. Für den deutschen Finanz-markt sind eine langfristige Orientierung, eine bankba-sierte Unternehmensfinanzierung und ein dezentralausgerichtetes mehrgliedriges Bankensystem signifikant.

Dem stehen Finanzmärkte mit einer kurzfristigenOrientierung, einer kapitalmarktorientierten Finanzie-rung und einem stärker zentralisierten Bankensystem ge-genüber.

Eine Umsetzung der Basel-III-Vorschriften ohneRücksicht auf diese Unterschiede wäre gerade für dendeutschen Bankenmarkt mit seinem hohen Anteil kleinerund regionaler Institute nicht angemessen. Es bestündedie Gefahr, dass die auf international tätige und kapital-marktorientierte Bankkonzerne ausgerichteten Vorga-ben die Kreditvergabefähigkeit von Sparkassen und Ge-nossenschaftsbanken über Gebühr einschränken und sozu einer Verringerung und Verteuerung der Kreditversor-gung für den Mittelstand führen. Das Ergebnis wärenicht mehr Wettbewerbsgleichheit, sondern eine Verzer-rung des Wettbewerbs zulasten vieler deutscher Institute.

Eine effektive Finanzmarktregulierung setzt gleich-wertige, aber keine uniformen europäischen Vorgabenfür alle Mitgliedstaaten voraus. Es darf keine Regulie-rungsarbitrage zwischen den Mitgliedstaaten geben.Gleichwertige Wettbewerbsbedingungen lassen sichaber auch bei einer Umsetzung der Basel-III-Vorschrif-ten mittels einer Richtlinie erreichen.

Uniforme Regelungen würden sich auf verschiedenstrukturierten Märkten sehr unterschiedlich auswirken.Die bei einer Richtlinie vorhandenen Entscheidungs-spielräume ließen es zu, sich den spezifischen Gegeben-heiten entsprechend anzupassen und dadurch eine wett-bewerbsneutrale Wirkung zu erreichen. Dabei kann essich in bestimmten Fällen als erforderlich erweisen, überdie europäischen Vorgaben hinaus höhere Standards an-zuwenden. Ein Level Playing Field wäre gesichert.

Hierbei gehen wir davon aus, dass eine in Rede ste-hende Richtlinie hinsichtlich ihrer Zielsetzung strikt for-muliert sein muss. Den Mitgliedstaaten muss aber dieWahl der Mittel zu ihrer Umsetzung überlassen bleiben.

Wir fordern daher mit unserem Antrag die Bundesre-gierung auf, sich gegenüber der Europäischen Kommis-sion und den Mitgliedstaaten für eine Umsetzung derBasel-III-Vorschriften durch eine Richtlinie einzusetzen;bei den Beratungen über die Richtlinie für eine Berück-sichtigung der Besonderheiten des deutschen Finanz-marktes einzutreten, insbesondere bezüglich der lang-fristigen Finanzierungsorientierung, der bankbasiertenUnternehmensfinanzierung und der dezentralen Banken-struktur; dem Bundestag frühzeitig und regelmäßig überden Stand der Beratungen auf europäischer Ebene zu be-richten.

Björn Sänger (FDP): Die uneinheitlichen Auf-sichtsregelungen und Eigenkapitalvorschriften für Kre-ditinstitute haben die Finanzkrise begünstigt.

Deshalb begrüßt die FDP-Fraktion die vom BaselerAusschuss für Bankenaufsicht vorgesehenen, umfassen-den Verbesserungen der Finanzmarktregulierung hin-sichtlich der Anforderungen an Kapital, Liquidität undLeverage und spricht sich für eine möglichst zeitnaheund effiziente Umsetzung der neugefassten internationa-len Standards aus.

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Um nun ein möglichst weitreichendes regulatorischesUmfeld mit denselben Anforderungen an alle zu errei-chen, müssen die neuen Bankenstandards so einheitlichwie möglich implementiert werden.

Daher stellt sich die Frage, ob dafür eine EU-Verord-nung oder eine Richtlinie der optimale Weg wäre. EineEU-Verordnung hat sofort rechtsverbindliche Wirkungin den einzelnen Mitgliedstaaten. Das Ziel einer einheit-lichen Bankenregulierung hätte man bei abschließendenRegelungen dann wohl erreicht, aber um den Preis einer„one size fits all“-Regulierung. Nun ist bekannt, dass dasdeutsche Finanzsystem einige Besonderheiten aufweist.Von verschiedenen Seiten werden Befürchtungen geäu-ßert, dass die Eigenheiten und Strukturen der Finanzsys-teme in einzelnen Ländern, besonders in Deutschland, ineiner Verordnung nicht ausreichend Berücksichtigungfinden. Dies lässt sich nicht bestätigen. Im Gegenteil,eine Verordnung lässt durchaus Raum für eine Anpas-sung der Vorschriften an nationale Besonderheiten. Au-ßerdem besteht auch die Möglichkeit, nur einen Teil derVorgaben in einer Verordnung umzusetzen. So ist esgrundsätzlich sachgerecht, die unmittelbar an die Insti-tute gerichteten Bestimmungen für aufsichtsrechtlichesEigenkapital, Liquidität und Transparenz über eine EU-weit geltende Verordnung zu regeln. Die an die Mit-gliedstaaten gerichteten Vorgaben hingegen, etwa hin-sichtlich nationaler Aufsicht, können über eine EU-Richtlinie umgesetzt werden.

Die von der EU-Kommission geplante Umsetzungvon Basel III über eine Verordnung statt über eine Richt-linie erscheint vor diesem Hintergrund sinnvoll. EineVerordnung ist die schnellere Lösung, und ein einheitli-ches Regelwerk liegt im Interesse aller Mitgliedstaaten.

Entscheidend ist, dass bei der Umsetzung die interna-tionalen Wettbewerbsbedingungen gewahrt bleiben undRegulierungsarbitrage weitgehend vermieden wird, wasauch die sozialdemokratischen Kollegen in ihrem Antragfordern. Es überrascht mich, dass den Kollegen diesesWort geläufig ist, und sicherheitshalber möchte ich kurzdie Gelegenheit nutzen, Regulierungsarbitrage einmal zuerklären. Arbitrage kann man durch Preisunterschiede anverschiedenen Märkten erzielen. Kauft man beispiels-weise ein beliebiges Produkt in London, das in Frankfurtteurer ist, lässt sich ein Gewinn erzielen, wenn man die-ses Produkt bei Deckung der sonstigen Kosten in Lon-don kauft und in Frankfurt wieder verkauft.

Gleichermaßen handelt es sich bei Regulierungsarbi-trage um Geschäfte, deren Teilnehmer von Unterschie-den in regulatorischen Bestimmungen profitieren. WennUnternehmen beispielsweise nach den in diesem Landgeltenden Vorschriften weniger Steuern zahlen müssen,bietet dies vielen Unternehmen einen Anreiz, dort dieGeschäfte abzuwickeln. Führt man nun eine aufDeutschland und wenige europäische Länder be-schränkte Finanztransaktionsteuer ein, ermöglicht manUnternehmen Regulierungsarbitrage, die diese Märktemeiden oder ihre Geschäfte von dort in das nichtbetrof-fene Ausland verlagern. Ich hoffe, ich konnte den Kolle-gen damit endlich die Augen öffnen, dass ihre bisherigenForderungen nicht gerade sinnvoll sind.

Aber nun zurück zum Thema Basel-III-Umsetzung.Ich möchte an die Adresse der antragstellenden SPD an-merken: Selbstverständlich muss sichergestellt werden,dass die Basel-III-Regelungen die Gegebenheiten desdeutschen Bankensektors ausreichend berücksichtigen.Auch wollen wir als christlich-liberale Koalition dieUmsetzung der Regelungen aktiv mitgestalten.

Der Deutsche Bundestag hat, auf die Initiative derchristlich-liberalen Koalition und unter Ihrer Mitwir-kung, schon im Mai 2010 einen Entschließungsantrag zuBasel III verabschiedet, der klar absteckt, welche Ver-handlungsziele wir seitens der Bundesregierung auf EU-Ebene erwarten. Die Verhandlungen beobachten wir nunsehr genau und warten ab, wie der Entwurf der CapitalRequirements Directive IV, den die EU-Kommission bisEnde Juli vorstellen wird, aussieht.

Da wir die von den Sozialdemokraten angesprocheneVerantwortung des Deutschen Bundestages für die wirt-schaftliche und soziale Entwicklung unseres Landes, fürdie auch die Funktionsfähigkeit des Finanzsektors nichtunerheblich ist, sehr ernst nehmen, behalten wir uns na-türlich vor, dann durch einen neuen Entschließungsan-trag den Rechtssetzungsprozess in Brüssel zu begleitenund gegebenenfalls darauf hinzusteuern, dass die Umset-zung doch durch eine Richtlinie erfolgt, sollte eine Ver-ordnung sich nicht als tauglich für den deutschen Markterweisen.

Vorher wollen wir nicht über ungelegte Eier grübelnoder über ohnehin – für uns zumindest – Selbstverständ-liches debattieren und lehnen den Antrag der SPD-Frak-tion ab.

Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Wir debattieren heuteüber Basel III, also neue Eigenkapitalvorschriften fürBanken und damit einen Baustein bei der Verhinderungkünftiger Finanzkrisen. Ein abgestimmtes internationa-les Vorgehen ist dabei sinnvoll, vor allem um Regulie-rungsarbitrage zu verhindern. Aber ein abgestimmtes in-ternationales Vorgehen sollte nicht bedeuten, dass derBaseler Ausschuss für Bankenaufsicht einen Vorschlagmachen kann, der dann weitgehend unverändert von derEU-Kommission in eine Verordnung gegossen wird unddann ohne weitere Mitsprache des Bundestags und ande-rer nationaler Parlamente nur noch rechtlich umgesetztwerden kann. Das ist demokratietheoretisch fragwürdig.Dafür bräuchte es also einer besonderen Begründung,die in diesem Fall nicht gegeben wurde.

Wir wissen, dass Banken wie Lehman Brothers vorder Krise auf dem Papier gut kapitalisiert waren unddurchaus Eigenkapitalquoten in Höhe von etwa 10 Pro-zent aufwiesen. Dennoch gab es die Pleite von LehmanBrothers. Basel III allein ist also nur ein Teilbeitrag, umeine erneute Finanzkrise zu verhindern. Derzeit wird derEindruck erweckt, als ob es bei der ganzen Diskussionüber Basel III um die Frage der Wettbewerbsgleichheitin Europa ginge. Darum geht es aber gar nicht, sondernes geht schlicht und einfach darum, Banken sicherer zumachen. Nun gibt es riesige Regelungsvorschriften fürdie kleinen Volksbanken und Sparkassen, die nie Ursa-

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che des ganzen Problems gewesen sind, jetzt aber ebenauch unter diesen europäischen Dampfzug geraten.

Die Krise war in Deutschland primär eine Krise derPrivat- und Landesbanken. Nun orientieren sich die Ei-genkapitalvorschriften nach Basel III am Prototyp sol-cher Banken. Wegen dieser Grundausrichtung ist abzu-sehen, dass die Eigenheiten anderer Banktypen nichtangemessen berücksichtigt werden. Dies schwächt dannunser dezentralisiertes Bankensystem und schadet wie-derum unnötigerweise der Systemstabilität.

Wenn wir nun Hinweise bekommen, dass die Staats-und insbesondere Kommunalfinanzierung durch be-stimmte Bestandteile von Basel III gefährdet wird, müs-sen wir diesen nachgehen. Wir sollten ebenfalls regelndürfen, wie in Basel III deutsche Besonderheiten wiestille Einlagen, stille Reserven oder Pfandbriefe behan-delt werden. Theoretisch ginge dieses natürlich auchdurch Einflussnahme auf die Inhalte einer Verordnung.Eine Verordnung mit Wahlmöglichkeiten kann mögli-cherweise sogar mehr Freiräume enthalten als eine enggefasste Richtlinie. Solange uns aber kein Entwurf vor-liegt, haben wir Grund zur Skepsis und halten die Ein-flussmöglichkeiten des Bundestags bei einer Richtliniefür größer. Wir sollten jedenfalls nicht davon ausgehen,dass die Europäische Kommission die Besonderheitendes dezentralen Bankensystems in Deutschland ausrei-chend berücksichtigt. Das war in der Vergangenheitkaum der Fall und ist bei einer EU mit 27 Mitgliedstaa-ten illusorisch. Deswegen ist für uns der Weg über eineRichtlinie momentan der deutlich vielversprechendere.

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Auch wenn vieles noch nicht überzeugt: Die Basel-III-Vereinbarungen enthalten wichtige und richtige Be-schlüsse, die dazu beitragen können, das Finanzsystemstabiler und widerstandsfähiger als bisher zu machen.Neben den höheren Kapitalanforderungen gehört hierzuganz besonders die Einführung einer Leverage Ratio,also die risikoungewichtete Begrenzung der Bilanz-summe in Relation zum harten Eigenkapital einer Bank.

Für uns Grüne gehört die Einführung einer solchenLeverage Ratio – also einer Schuldenbremse für Banken– zu den wichtigsten Lektionen aus der Krise: Zum einendarf es nicht länger so sein, dass Banken mit weniger als3 Prozent Eigenkapital bezogen auf die Bilanzsummewirtschaften. Das ist schlicht viel zu riskant für die Sys-temstabilität und die Steuerzahlerinnen und Steuerzahlerund darf nicht länger praktiziertes Geschäftsmodell vonBanken sein.

Zum anderen: Das bankaufsichtliche Regelwerk, Auf-seher und die Risikomodelle der Banken haben im Vor-feld der Krise wesentliche Risiken im System gar nichterkannt oder dramatisch unterschätzt, so zum Beispielbei den US-Immobiliendarlehen, die trotz minderer Qua-lität nicht als hochrisikoreiche Investitionen identifiziertwurden – mit dramatischen und bis heute andauerndenFolgen, wie wir alle wissen. Und heute, in Zeiten einersehr ernsten Schuldenkrise in Europa, erleben wir, dassdie aufsichtsrechtliche Einstufung von europäischenStaatsanleihen als risikolose Investments mit der Wirk-

lichkeit nichts tun hat. Vor diesem Hintergrund ist es da-mit aus unserer Sicht unverantwortlich, darauf zu ver-trauen, dass Risiken in der Zukunft stets und aufsKomma genau gemessen und danach die Eigenkapital-unterlegung berechnet werden kann. Eine Leverage Ra-tio, wie sie auch der Basel-III-Beschluss vorsieht, verste-hen wir insofern als elementar wichtige sicherheits- undstabilitätspolitische Ergänzung zum derzeitigen Systemder Eigenkapitalunterlegung von Banken.

Doch nach allem, was wir aus Brüssel hören, wird dieEU-Kommission auch auf Druck aus Deutschland beider Basel-III-Umsetzung darauf verzichten, die Leve-rage Ratio in verbindliche Finanzmarktregulierung zuüberführen. Das kann und darf nicht sein: Wenn dieGunst der Stunde nicht genutzt wird und die Lehren ausder Krise heute nicht in Gesetzestext gegossen werden,dann werden wir auch in ferner Zukunft diesen Schrittnicht schaffen und uns gegen mächtige Bankeninteres-sen durchsetzen können.

Auch in anderen Punkten verwässert die EU-Kom-mission den Basel-III-Beschluss, zum Beispiel bei denneuen Liquiditätsregeln, wie aus diversen Presseberich-ten zu entnehmen war. Wie wir alle wissen, handelt essich bei der globalen Finanzmarktkrise auch um einegravierende Liquiditätskrise: Die ersten Einschläge derKrise im außerbilanziellen deutschen Landesbankensek-tor im Sommer 2007 zeigten sich im Wesentlichen implötzlichen Versiegen von bis dahin nahezu unbegrenztverfügbarer kurzfristiger Liquidität. Und nach der Leh-man-Insolvenz im September 2008 verschwand überNacht die Möglichkeit für sehr viele Banken, sich am In-terbankenmarkt mit Liquidität eindecken zu können. In-sofern ist es richtig und wichtig, dass sich der BaselerBankenausschuss darangesetzt hat, erstmals überhauptin seiner Geschichte Liquiditätsregeln zu verfassen. ImDetail mag ja an diesen neuen Regeln noch das eine oderandere mit guten Argumenten zu diskutieren sein. Wasaber nicht sein kann und darf, ist, dass die EU-Kommis-sion auch an dieser Stelle Basel III einfach ignoriert undsich – wie bei der Leverage Ratio – offenhält, ob be-stimmte Liquiditätsregeln überhaupt eines Tages ver-bindlich eingeführt werden.

Auch teile ich die Sorge vieler Finanzminister in Eu-ropa, die sich im Mai an die Kommission wandten undmahnten, es könne nicht sein, dass die EU-Umsetzungals Maximalharmonisierung gestaltet werde, dass es alsokünftig nicht mehr möglich sein solle, in einzelnen Län-dern höhere Standards in der Bankenregulierung anzu-wenden, als es der EU-Rahmen vorsieht. Für mich istklar: Wir brauchen nach unten europaweite Mindeststan-dards. Aber nach oben muss es auch künftig den Län-dern möglich sein, härtere Standards durchzusetzen. FürDeutschland beispielsweise wünschte ich mir ein solchesVorgehen. Die Schweiz zeigt, dass eben auch nationalnach oben ganz erheblich härtere Standards gesetzt wer-den können, ohne dass daraus Massenabwanderungender Finanzinstitute resultieren.

Was kleinere und regional agierende Institute wieSparkassen und Genossenschaftsbanken betrifft, so soll-ten wir darauf achtgeben, sie vor allem mit den bürokra-

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tischen Anforderungen der EU-Umsetzung von Basel IIInicht zu überfordern. Die in Brüssel verabschiedeten Re-geln müssen möglich machen, dass Spezifika der jewei-ligen Bankensysteme berücksichtigt werden, ohne dasses wie im Vorfeld der Finanzkrise zu einem Regulie-rungswettbewerb nach unten kommen kann.

Für uns Grüne steht der Inhalt des Kommissionsvor-schlags zur Basel-III-Umsetzung im Vordergrund unddie Frage, ob an den richtigen Stellen zusätzliche Regelnnational möglich sind und für regional tätige Bankenpassende Regelungen gefunden werden können. Danachsollte sich die gesetzestechnische Frage richten, ob der

Kommissionsvorschlag als Richtlinie oder als Verord-nung erfolgen sollte. Die SPD entscheidet sich für dieVariante Richtlinie, weil hierin mehr Chancen gesehenwerden, nationale Spezifika durch nationale Gesetzge-bung zu regeln. Ich tendiere ebenfalls zu dieser Ein-schätzung. Was aber keinesfalls geschehen darf, ist, dassalles, was wir aus Brüssel zur Basel-III-Umsetzung der-zeit hören, immer darauf hinausläuft, Basel III abzu-schwächen – ob bei der Leverage Ratio, den neuen Li-quiditätsregeln oder auch der künftigen Hinzurechnungvon stillen Einlagen zum harten Eigenkapital. In diesenChor sollten wir nicht einstimmen.

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