der sinn der aporien in den dialogen platons (Übungsstücke zur anleitung im philosophischen...

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Laches (178 AI -190 C6) Nikias und Laches haben gemeinsam mit Lysimachos und Melesias, den Söhnen des Aristeides und des Politikers Thukydides, einem Kampf in voller Rüstung zugesehen. Sie konnten dabei Stesilaos, einen Meister in der Waffenkunst (183 C 8), bewundern (178 A 2). Lysimachos und Melesias haben zum Zuschauen aufgefordert, weil sie von Nikias und Laches Rat für die Erziehung ihrer Söhne erhoffen (178 B 5). Von der Erziehung, die sie selbst genossen haben, halten sie nicht viel. Ihre Söhne sollen es besser haben. Da ihnen jemand die Waffenkunst als besonders geeignetes Mittel genannt hat, die Söhne zu möglichst guten Menschen zu machen (179El), möchten sie das Urteil zweier so erfahrener Feldherren wie Nikias und Laches einholen. Die beiden sind bereit, an der Beratung über den Nutzen der Waffenkunst und anderer Fertigkeiten für die Erziehung der Söhne des Lysimachos und Melesias teilzunehmen (l 80 A 4). Auf Wunsch von Laches und Nikias wird auch Sokrates hinzugezogen, der dabeisteht (180C1 ). Sowohl für Laches als auch für Nikias gilt er nämlich als Experte in Fragen der Erziehung. Oft habe er Umgang mit jungen Leuten, die sehr positiv über ihn sprächen (l 80 E 5). Laches selbst hat Sokrates' Charakter auf der Flucht nach der Schlacht beim Delion zu schätzen gelernt (181 Bl). Dem Nikias hat Sokrates sich als Fachmann in Fragen der Erziehung erwiesen, weil er ihm für seinen Sohn den Musiklehrer Dämon empfohlen und dieser die Erwartungen des Nikias voll erfüllt hat (180 Dl). Sokrates ist auch durchaus bereit, an der Unterredung mitzuwirken. Doch möchte er aus Altersgründen und weil er lieber von Nikias und Laches als Fachleuten lernen möchte, diesen den Vortritt lassen. Deshalb trägt als erster Nikias seine Meinung über den Nutzen der Kunst des Waffenkampfes für die Erziehung vor (181 D 8-182 D 5). Nach seiner Auffassung ist diese Kunst sehr nützlich. Denn sie trainiere den Körper, sei einem Freien angemessen und bedeute gute Vorbereitung für den Krieg (182 A4) und hier besonders für den Einzelkampf. Wer sich auf diese Kunstfertigkeit verstehe (l 82 B 2 ) könne einem Angriff auch vieler Gegner widerstehen. Ein anderer Nutzen der Waffen- kunst besteht nach Nikias darin, daß sie ein Verlangen nach weiterem Wissen weckt: Man will etwas über die Kunst erfahren, wie Schlachtord- Brought to you by | St. Petersburg State University Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 11/19/13 3:34 PM

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Page 1: Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons (Übungsstücke zur Anleitung im philosophischen Denken) || 1. Laches

Laches

(178 AI -190 C 6)

Nikias und Laches haben gemeinsam mit Lysimachos und Melesias,den Söhnen des Aristeides und des Politikers Thukydides, einem Kampfin voller Rüstung zugesehen. Sie konnten dabei Stesilaos, einen Meister inder Waffenkunst (183 C 8), bewundern (178 A 2). Lysimachos und Melesiashaben zum Zuschauen aufgefordert, weil sie von Nikias und Laches Ratfür die Erziehung ihrer Söhne erhoffen (178 B 5). Von der Erziehung, diesie selbst genossen haben, halten sie nicht viel. Ihre Söhne sollen es besserhaben. Da ihnen jemand die Waffenkunst als besonders geeignetes Mittelgenannt hat, die Söhne zu möglichst guten Menschen zu machen (179El),möchten sie das Urteil zweier so erfahrener Feldherren wie Nikias undLaches einholen. Die beiden sind bereit, an der Beratung über den Nutzender Waffenkunst und anderer Fertigkeiten für die Erziehung der Söhnedes Lysimachos und Melesias teilzunehmen (l 80 A 4). Auf Wunsch vonLaches und Nikias wird auch Sokrates hinzugezogen, der dabeisteht(180C1 ). Sowohl für Laches als auch für Nikias gilt er nämlich alsExperte in Fragen der Erziehung. Oft habe er Umgang mit jungen Leuten,die sehr positiv über ihn sprächen (l 80 E 5). Laches selbst hat Sokrates'Charakter auf der Flucht nach der Schlacht beim Delion zu schätzengelernt (181 Bl). Dem Nikias hat Sokrates sich als Fachmann in Fragender Erziehung erwiesen, weil er ihm für seinen Sohn den MusiklehrerDämon empfohlen und dieser die Erwartungen des Nikias voll erfüllt hat(180 Dl).

Sokrates ist auch durchaus bereit, an der Unterredung mitzuwirken.Doch möchte er aus Altersgründen und weil er lieber von Nikias undLaches als Fachleuten lernen möchte, diesen den Vortritt lassen. Deshalbträgt als erster Nikias seine Meinung über den Nutzen der Kunst desWaffenkampfes für die Erziehung vor (181 D 8-182 D 5).

Nach seiner Auffassung ist diese Kunst sehr nützlich. Denn sie trainiereden Körper, sei einem Freien angemessen und bedeute gute Vorbereitungfür den Krieg (182 A4) und hier besonders für den Einzelkampf. Wer sichauf diese Kunstfertigkeit verstehe (l 82 B 2 ) könne einemAngriff auch vieler Gegner widerstehen. Ein anderer Nutzen der Waffen-kunst besteht nach Nikias darin, daß sie ein Verlangen nach weiteremWissen weckt: Man will etwas über die Kunst erfahren, wie Schlachtord-

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nungen aufgestellt werden, dabei aber nicht stehenbleiben. Schlie lichwird man zur allgemeinen Kunst des Feldherren gef hrt (l 82 B f.). Damitliegt die N tzlichkeit der Waffenkunst auf der Hand. Denn nach Nikias'Auffassung ist alles Wissen f r die Menschen wertvoll und sch n (182 Cl).Hinzu kommt, da dieses Wissen die Menschen k hner und tapferer imKampf macht als sie eigentlich sind (182C5 προσθήσομεν δ' αύτφ ουσμικράν προσθήκην, ότι πάντα άνδρα εν πολεμώ και θαρραλεώτερον καιάνδρειότερον αν ποιήσειεν αυτόν αύτοϋ ουκ όλίγω αυτή ή επιστήμη).

Nikias' Worte verraten den Wissensoptimismus, der bei Sophisten soh ufig zu finden ist1. Wissen (μάθημα), verstanden als ein technisches Sich-Auskennen auf einem Gebiet, gilt als Wert an sich. In der positiven Beur-teilung, die Nikias bietet, fallen bereits Begriffe, die in der sp teren Untersu-chung wichtig werden. Nikias setzt Wissen (επιστήμη) mit technisch ver-standener Kenntnis gleich. Diese Art von Wissen soll in der Lage sein,Menschen anst ndiger und tapferer zu machen, wobei ,tapfer' und ,k hn'ungeschieden nebeneinander verwendet wird. Schon hier sei darauf hinge-wiesen, da Nikias diese Gleichsetzung sp ter aufheben wird (197 B f.). Erbleibt also nicht bei seiner hier vertretenen Meinung. Man wird fragenm ssen, ob die sp tere Trennung nur ad hoc Geltung hat oder Nikias' wirk-liche Meinung darstellt. Interessant f r den Kenner platonischer Lehre istder von Nikias geschilderte Aufstieg vom speziellen Wissen vom Waffen-kampf zum allgemeinen Wissen, das zur Feldherrenkunst geh rt (l 82 B f.).Hier wird n mlich die von Platon vertretene Lehre eines Aufstiegs vomeinzelnen k rperlich Sch nen ber sch ne Handlungen hin zum Sch nenselbst angedeutet2. Dieser Aufstieg kann allerdings nicht mit Hilfe einesinnerweltlich, technisch orientierten Denken bew ltigt werden. Mag alsoPlatonisches anklingen, wie das auch sp ter bei Nikias festzustellen seinwird, so bleibt dieser angedeutete Sinn doch im dunkeln.

Nikias gibt sich als einer zu erkennen, der Wissen und Bildungdurchaus aufgeschlossen gegen ber steht. Gleichwohl ist es fraglich undbedarf genauer Betrachtung, ob man ihm auch eine selbst ndige Verar-beitung des erworbenen Wissens zuschreiben darP. Schon jetzt sei darauf

1 Vgl. J. Kube, ΤΕΧΝΗ und ΑΡΕΤΗ, Berlin 1969 (im folgenden: Kube, ΤΕΧΝΗ), 48 ff.und 89 ff.; F. Heinimann, Eine vorplatonische Theorie der τέχνη, MusHelv 18, 1961,105 ff., dort 127 ff. und 130 ff. Nach Meinung der Sophisten gleichen Wissen undtechnisches K nnen die Unterlegenheit der Menschen gegen ber den G ttern aus.Solches Wissen kann Leben retten (Plat. Prot. 312 B 6; Politic. 299 E) und gestaltet dasLeben selbst erst ertr glich (Prot. 323 A); vgl. auch Anaxagoras (59 B 21 b Diels-Kranz)und Demokrit (68B144 Diels-Kranz). Dazu F. Solmsen, Intellectual experiments of theGreek enlightenment, Princeton 1975; Graeser, Die Philos. d. Antike 19 ff.

2 Conv. 210 AI. Vgl. Dieterle, a. O. 35 Anm. 1.3 So urteilt W. Nagel (Zur Darstellungskunst Platons insbesondere im Dialog .Laches',

Innsbr. Beitr. zur Kulturw. VI1/VIII 1962, 119 ff., dort 135). Gegen eine zu hohe

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hingewiesen, da Nikias dieses Wissen sp ter wieder entgleiten wird: eindeutliches Zeichen darf r, da er zwar Richtiges gelernt hat und dies auchreproduzieren kann, da er das Gelernte aber nicht in seinen Konsequenzendurchschaut und also nicht verstanden hat4.

Wie Nikias ist Laches grunds tzlich der Meinung, da man Kenntnissein vielen K nsten erwerben soll. Gleichwohl ist seinen Worten Skepsisdar ber zu entnehmen, da es sich bei der Fechtkunst wirklich um eineKenntnis (μάθημα) handelt5. Geh rt ein Wissen zu dieser Kunst, dannmu es nach Laches' Ansicht in der Tat gelernt werden. Bedenklich stimmtaber nach Laches' Ansicht, da die Fechtk nstler in Sparta nichts gelten(l83 B), das doch so viel auf jedwede Kriegskunst gibt. Auch ist esseltsam, da keiner, der sich dieser Kunst gewidmet hat, im Krieg ber hmtgeworden. Im Gegenteil! Der in dieser Kunst ber hmte Stesilaos hat sichvor Laches' Augen unsterblich blamiert (l83 E). Deshalb sind f r ihnZweifel am Nutzen dieser Kunstfertigkeit angebracht. Sie f hrt nur dazu,da ein feiger Mann k hner wird (l 84 B 3 και γαρ ούν μοι δοκεϊ, εί μενδειλός τις ων οΐοιτο αυτό έπίστασθαι, θρασύτερος αν δι' αυτό γενόμενοςεπιφανέστερος γένοιτο οίος ην). Dem Tapferen aber helfe sie nicht.

Auch f r Laches spielt das Wissen bei der Beurteilung des Waffen-kampfes eine Rolle, wobei die N tzlichkeit der vorherrschende Gesichts-punkt ist. Er kommt daher zu einem anderen Ergebnis als Nikias. DerNutzen scheint ihm zu gering, zumal es f r ihn gar nicht feststeht, da essich bei der Kunst des Waffenkampfes um ein μάθημα handelt (l 84 B).Festzuhalten ist, da Laches anders als Nikias zwischen K hnheit undTapferkeit unterscheidet (l 84 B 5). Anzumerken ist auch f r Laches, daer wie Nikias nicht bei seiner Auffassung bleiben wird, sondern sp tereiner der hier getroffenen Unterscheidungen widerspricht (197C3). ImVerlaufe des Dialoges werden sich also Nikias' und Laches' Meinung berdas Verh ltnis von Tapferkeit und K hnheit umkehren. Beide sind offenbarin ihren Auffassungen schwankend.

Sokrates wird nun als Richter aufgerufen (184 D 4)6. Er weist jedochdaraufhin, da nur mit Sachverstand zu urteilen sei (l 84 E 8). Folglich seizuerst zu pr fen, ob einer der Mitunterredner sachverst ndig in dem sei,

Einsch tzung des Nikias durch Interpreten H. G. Ingenkamp, Laches, Nikias undPlatonische Lehre, RhM 110, 1967, 234 ff. Nikias hat allerdings von Sokrates' Lehreschon geh rt (Lach. 194 D), wie offenbar auch Kleinias im ,Euthydem' und Kritias im,Charmides'. Das besagt aber noch nicht, da er dies auch verstanden hat.

4 S.u. S. 157f.5 Er ist aber nicht gegen eine hohe Einsch tzung der πολυμαθία eingestellt, wie Dieterle

annimmt (a. O. 36). Laches bezweifelt nur, da zum όπλομαχεΐν ein Wissen geh rt. Vgl.Kube, ΤΕΧΝΗ 153.

6 Ein .Fachmann* als Schiedsrichter wird auch Gorg. 473 E und Prot. 319 D gesucht. Einesolche Rolle ist Sokrates aber nicht willkommen, Prot. 338 B 2.

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wor ber geurteilt werden soll. Es sei noch nicht recht deutlich, was derGegenstand der anstehenden Beratung sei (185 B 3). Da es letztlich um dieSeele der jungen Leute gehe, sei ein Fachmann f r die Behandlung derSeele gesucht (l 85 E 4 ει τις άρα ημών τεχνικός περί ψυχής θεραπείαν/.../» τούτο σκεπτέον). Ein geeigneter Lehrer aber, der beansprucht, dieMenschen besser zu machen, mu sich sowohl durch seine eigenen Lehrerals auch durch die Ergebnisse seiner T tigkeit, also durch Sch ler aus-weisen k nnen7. Wegen Geldmangels habe er, Sokrates, keine Lehrergehabt (186C1). Nikias und Laches aber seien als reiche Leute durchausin der Lage gewesen, die Seelentherapie zu erlernen (186C6). Irritierendsei allerdings, da Nikias und Laches bei der Beurteilung der f r jungeLeute n tzlichen Besch ftigungen, verschiedener Meinung seien(l 86 D 4)8. Deshalb sei es notwendig, sowohl Nikias als auch Lachesdaraufhin zu pr fen, ob sie wirklich Fachleute f r das zur Diskussionstehende Problem sind. Der Vorschlag trifft auf allgemeine Zustimmung(187 Dl), wobei besonders hervorzuheben ist, da Nikias mit den Untersu-chungsmethoden des Sokrates vertraut scheint. Dem von Sokrates ausge-henden Zwang, Rede und Antwort zu stehen, will er gerne folgen (l 89 B 4)und sein Leben auf den Pr fstand stellen9. Laches begr ndet seine Zu-stimmung erneut10 mit Sokrates' beim Delion erwiesener T chtigkeit(l 89 B 2). Sokrates bernimmt also die Leitung des Gespr chs.

(190C6-191C6)

Es geht also um die Erziehung. Um ber sie sprechen zu k nnen, muman nach Sokrates' Ansicht wissen, was die T chtigkeit, das Ziel derErziehung, denn ist. Wer wiederum das wei , der mu auch sagen k nnen,

7 Vgl. Gaiser, Protreptik 35. Vgl. Dieterle, a. O. 37.8 Isokrates z hlt aus diesem Grunde in der ,Antidosis-Rede' eine Reihe von Sch lern auf

(15, §93 ff.). Zum Anspruch der Sophisten, es besser machen zu k nnen, vgl. Gorg.515 AI; Prot. 319 A. Ein Widerspruch von Fachleuten ist ein Zeichen, da etwas nichtstimmt (Men. 96 A f.; (Pl.) Alk. I 111 B 3). Andererseits setzt die im Bereich des Meinensnotwendig gegebene Widerspr chlichkeit das Streben nach Erkenntnis in Gang (Gorg.523 D). Vgl. Goldschmidt, a. O. 19 f. Zur Homologie als wesentlichem Bestandteil desdialektischen Gespr ches s. u. S. 270 Anm. 9.

9 Vgl. Prot. 333 C 8, wo es hei t, da beim Pr fen des Logos auch die Person derUnterredner selbst vielleicht mitgepr ft wird (συμβαίνει μέντοι ίσως και έμέ τον ερωτώντακαι τον άποκρινόμενον έξετάζεσθαι).

10 Vgl. 181B1. Vgl. zu seiner Auffassung Solon, frg. 11,7f. West είς γαρ γλώσσαν ορατέκαι είς έπη αίμύλου άνδρός/είς Ιργον δ' ουδέν γιγνόμενον βλέπετε. Vgl. Dieterle, a. O.42 f. Sokrates ist also nicht in der Gefahr der άδολεσχία, wie man sie den Sophistenvorwarf, vgl. Aristoph., Ran. 1446 ff. und Nub. 316. 334, wozu Plat., Apol. 19 Cheranzuziehen ist. Vgl. W. Steidle, Der Dialog Laches und Platos Verh ltnis zu Athen,MusHelv 7, 1950, 129 ff., dort 131 Anm. 19.

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wie T chtigkeit zu bestimmen ist (190C6)11. Sollte sich also herausstellen,da die beiden Fachleute Nikias und Laches nicht sagen k nnen, wasT chtigkeit ist, dann, so darf man folgern, haben sie auch kein Wissendar ber.

Da aber die Behandlung der gesamten T chtigkeit vielleicht ein zugro es Unternehmen ist (190C9 πλέον γαρ ίσως έργον), schl gt Sokratesvor, nur einen Teil von ihr zu besprechen, wenn sie t chtig genug dazusind (190C9 αλλά μέρους τινός περί πρώτον ΐδωμεν ει ίκανώς εχομενπρος το είδέναι). Auf diese Weise, so Sokrates, sei die Untersuchungwahrscheinlich leichter (190 CIO και ήμϊν, ως το εΙκός, βφων ή σκέψιςεσται)12. Laches stimmt zu, das Thema zu behandeln, wie Sokrates vorge-schlagen hat. Als passendsten Teil der T chtigkeit wird die Tapferkeitausgew hlt. Denn zu dieser strebt nach Meinung der Menschen die Kunstdes Waffenkampfes hin (l 90 D 3). Deshalb soll gefragt werden, was dieTapferkeit ist.

Laches findet das nicht schwer zu beantworten (l 90 E 4)13 und bieteteine Definition an. Tapferkeit sei dann gegeben, sagt er, wenn einer in derSchlachtreihe verharrend die Feinde abwehren will und nicht flieht (190 E 5εί γαρ τις έθέλοι εν τη τάξει μένων άμύνεσθαι τους πολεμίους και μηφεύγοι, ευ ϊσθι δτι ανδρείος αν εΐη). „Wohl gesprochen", lobt Sokrates,ist aber noch nicht zufrieden. Er hat es auf eine andere Antwort abgesehen(l 90 E 7). Daher wiederholt er Laches' Definition, um sie sich best tigenzu lassen. Tapfer sei, wer in der Schlachtreihe bleibend mit den Feindenk mpft (191 AI ανδρείος που ούτος, δν και συ λέγεις, δς αν εν τη τάξειμένων μάχηται τοις πολεμίοις).

Betrachtet man die von Sokrates wiederholte Version der Definition,dann f llt auf, da Sokrates den Aspekt des Wollens (έθέλειν) beiseitegelassen hat14. Laches protestiert jedoch nicht. Dies l t darauf schlie en,da f r ihn der Gesichtspunkt des Wollens keine gro e Rolle spielt. Nachseinen eigenen Worten ist ja mit Tapferkeit kein Wissen in Verbindung zu

11 Vgl. Charm. 159 A.12 Mit diesem Vorschlag stellt sich Sokrates auf die g ngige Vorstellung ein. Anderes w rde

der an innerweltlicher .Realit t' orientierten Denkweise paradox erscheinen; vgl. Dieterle,a. O. 50 f. Betrachtet man die Tugenden (άρεταί) als nat rlich (φυσικαϊ άρεταί), wie esLaches offenbar tut (Dieterle, a. O. 42), dann folgt daraus, da sie sich voneinanderunterscheiden (Politic. 306 B 3 και μην σωφροσύνην γε ανδρείας μεν έτερον, εν ούν καιτούτο μόριον ης κάκεΐνο). Diese Teile k nnen miteinander befreundet oder entgegenge-setzt sein (307 A). Es ist die Aufgabe des wahren Politikers, sie zu verweben (308Dl).Vgl. Kr mer, Arete 148 ff.

13 Vgl. Men. 71 El.14 Dazu vgl. Dieterle, a. O. 64 f. Es handelt sich nicht um einen „geschickten Plan zur

berwindung des Gegners" (Dieterle, a. o. 64), sondern Sokrates stellt sich auf seinenPartner ein (Friedl nder, Platon II 38). Laches legt n mlich, wie sich zeigen wird, aufdas .Wollen* keinen gro en Wert.

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bringen (195 A 4 χωρίς δήπου σοφία εστίν της ανδρείας), das eventuelleinen Willen leiten k nnte. Auch die weitere Diskussion wird ergeben,da der Wille f r Laches offenbar nicht von Bedeutung ist. Deshalb sollteman in dem Fortlassen dieses Aspektes weniger eine Hinterlist des Sokratesals vielmehr einen Hinweis f r den aufmerksamen Leser sehen, der auf-grund der schriftlichen Gestaltung des Gespr ches die M glichkeit einergenauen Analyse hat.

Sokrates konfrontiert Laches nun mit der Frage, wie es sich dennmit demjenigen verhalte, der beim Fliehen, nicht im Ausharren k mpft(191 A 5). Damit wird Laches' These umgekehrt und die Frage gestellt,ob man nicht auch beim Fliehen tapfer k mpfen kann. Als" Beispiel f reine solche M glichkeit werden die Skythen angef hrt15. Von denen wirdgesagt, da sie sowohl bei der Verfolgung als auch auf der Flucht k mpfen(191 A 8). Weiter wird Homer aufgeboten, der Aineas' Pferde lobt, weilsie kundig seien zu verfolgen und zu fliehen (191 A10)16. Als Lachesausweichen will, f hrt Sokrates zuletzt noch die Spartaner bei Plat insFeld17, die ebenfalls nicht gegen die Perser k mpfen wollten, indem sie inder Schlachtreihe ausharrten (191 Cl), sondern sich umwendeten, als sichdie Schlachtreihe der Perser aufgel st hatte und die Perser besiegten. Hierstimmt Laches schlie lich zu (191C6). Damit ist Sokrates der Nachweisgelungen, da Tapferkeit auch bei denen zu finden ist, die Laches' Defi-nition entgegengesetzt handelten. Diese Art der Widerlegung, die zuzeigen versucht, da auch das Gegenteil einer gebotenen Definition vomzu definierenden Begriff umfa t wird, ist h ufig in den Dialogen zu finden.Goldschmidt bezeichnet dieses Argument als ,et oppositum'18.

15 Nach Herodot waren die Skythen nicht an feste Wohnsitze gebunden und konnten daherdurch taktische Flucht die Gegner berrumpeln (IV 126 ff.). Furcht ist nicht der Grund,wenn sie fliehen (IV 126). Vgl. auch Plut. Vit. Crassi 24 und Horaz, carm. I 35, 9 mitPorphyrios Kommentar „quod scilicet etiam fugiendo proeliaretur".

16 II. 5, 221 αλλ' &Y έμών δχεων έπιβήσεο, δφρα ΐδηαι/ οίοι Τρώιοι ίπποι, επισταμένοιπεδίοιο/ κραιπνά μάλ' ένθα και Ινθα διώκεμεν ήδέ φέβεσθαι. Homer als Lehrer Griechen-lands (Resp. 606 E und Xenophanes 21 B10 Diels-Kranz) galt auch als Fachmann imKriegshandwerk (Resp. 599 C 6 περί δε ων μεγίστων τε καλλίστων επιχειρεί λέγεινΌμηρος, πολέμων τε περί καϊ στρατηγιών). Vgl. auch Plat. Ion 541 B und Aristoph. Ran.1036.

17 Pausanias lie seine Truppen bei Plat abziehen, als er sah, da die Perser das Lagerverlassen hatten (Hdt. IX 53, 1). Allein Amompharetos wollte nicht freiwillig dieSchande der Flucht auf sich nehmen (IX 53, 2). Laches' Haltung gegen ber der betontverstandesm igen des Nikias l t sich vergleichen mit der Einstellung der Peloponnesierim Gegensatz zu Phormion, wie sie Thukydides im 2. Buch (bes. II 87 und 89) schildert.Dazu vgl. J. de Romilly, Le courage chez Thucydide et Platon, REG 93, 1980, 307—323.

18 Der Gespr chspartner hat einen Einzelfall vorgetragen, um damit eine Definition zubieten. Er handelt nach der volkst mlichen Definitionsmethode „tapfer ist, wenn ...".Vgl. Graeser, Die Philos. d. Antike 89. Dabei werden Beispiel und das, wof r etwas

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Hat Laches' Bestimmung auch als widerlegt zu gelten, so hat Sokratessie doch nicht v llig zu Unrecht gelobt. Der Definitionsversuch bietetimmerhin einen Aspekt der Tapferkeit, der allgemein akzeptiert wird. Dieszeigen z. B. Sokrates' Worte in der Apologie, wo er, wohl mit Blick aufdie Vorstellung seiner Richter, f r sich in Anspruch nimmt, in denSchlachten von Poteidaia, Amphipolis und Delion auf seinem Platz ge-blieben zu sein und Todesgefahr auf sich genommen zu haben (Apol.28 D)19. Er hat sich also auf eine Weise verhalten, wie es Laches' Auf-fassung von Tapferkeit entspricht. Dabei ist allerdings von Interesse, daLaches die vorbildliche Haltung auf der Flucht von Delion beobachtenkonnte (181 Bl εν γαρ τη άπο Δηλίου φυγή μετ' έμοΰ συνανεχώρει), ineiner Situation also, wo es entsprechend seiner Definition Tapferkeit nichtgeben kann.

Da dieses Verhalten des Sokrates in der Tat positiv empfunden wurde,zeigt die Schilderung durch Alkibiades im .Symposium*. Gemeinsam mitSokrates sei er geflohen. Dieser habe sich auf der Flucht vern nftig,ruhig und kampfbereit gezeigt (Conv. 220 E ff.). Neben den von ihmvorgebrachten Beispielen darf also Sokrates selbst als ein Beweis dienen,da man sich auch auf der Flucht in einer Weise verhalten kann, die alstapfer zu bezeichnen ist. Indem Laches Sokrates wegen dieses Verhaltenslobt, zeigt er indirekt und ohne es zu wollen, wie problematisch seineDefinition ist.

Gleichwohl ist auch hervorzuheben, da der Aspekt des Verharrensden Laches hervorgehoben hat, nicht nur die Meinung der Vielen wider-spiegelt, sondern in gewisser Weise auch bei Platons Auffassung eine Rollespielt. Sokrates hat n mlich nicht nur in den Schlachten f r Athen seineStandfestigkeit bewiesen, sondern hat vor allem nicht den Ort verlassen,den ihm der Gott zugewiesen hat: den des Philosophen, der sich und seineAthener Mitb rger best ndig pr ft (Apol. 28E4ff.). Auch bei diesemphilosophischen πράγμα beweist Sokrates also durch Beharrlichkeit seine

Beispiel ist, nicht richtig auseinander gehalten. Abbild und Urbild werden verwechselt(vgl. Resp. 476 A ff.). Diesem Fehler begegnet Sokrates in den Dialogen auf drei Weisen:Er zeigt, da a) der angef hrte Fall sich in einer anderen Situation und bei andererHinsicht nicht als die gesuchte Tugend erweist (et idem non); (vgl. Hipp, maior 289 B f.),oder b) da auch das Gegenteil den Namen dieser Tugend beanspruchen kann (etoppositum); (hier im ,Laches'), oder c) da es andere Einzelf lle gibt, welche ebenfallsals die gesuchte Tugend gelten k nnen (et alia); vgl. Euthyphr. 6 D 6 και δλλα πολλάφής είναι δσια. Zu diesen von Platon oft verwendeten Argumentationsweisen vgl.Goldschmidt, Les dialogues de Platon 38 ff. (dort auch die Terminologie); Dieterle, a. O.61 ff.; H. Teile, Formen der Beweisf hrung in den Platonischen Fr hdialogen, Bonn1975, 6 ff. Das Argument ,et oppositum' erkl rt Aristoteles in der ,Topik' (151 a 32 ff.πάλιν εί ομοίως 6νι τινι πέφυκεν ύπάρχειν τάναντία, ώρισται δε δια θατέρου, δήλον δτι ούχώρισται).

19 Vgl. Dieterle, a. O. 59 Anm. 3.

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Tapferkeit bis in den Tod. Ja, der ,Kriton' macht deutlich, da bei dieserAufgabe ein taktisches Ausweichen wie in einer Feldschlacht nicht in Fragekommt. In Fragen der Ethik bleibt Sokrates bei den einmal gewonnenenErkenntnissen (Crit. 46 B).

Sokrates verh lt sich also auf eine Weise tapfer, wie Laches sie billigt.Gleichwohl ist aber festzustellen, da er dabei von einem Wissen geleitetwird. Da ein Wissen f r tapferes Verhalten notwendig ist, wird demaufmerksamen Leser von Platon angedeutet. Wie schon gesagt, nimmtSokrates die Umkehrung von Laches' Definition der Tapferkeit in einerum den Aspekt des Wollens verk rzten Form dieser Bestimmung vor.Vollst ndig h tte die Negierung besagen m ssen, Tapferkeit bedeutefliehend k mpfen zu wollen und nicht verharrend k mpfen zu wollen.

Die verk rzte Form bietet Sokrates nun Gelgenheit, an unwiderleg-baren Beispielen zu zeigen, da auch eine Flucht tapfer sein kann. Dabeizeigt sich, da in allen Beispielen von einer Alternative Flucht und/oderVerharren die Rede ist20. Die Handelnden k nnen beides gleich gut undwenden ihr K nnen je nach Lage an. Bei den Pferden des Aineas istausdr cklich von einer Kenntnis die Rede (191 Bl έπίστασθαι). Im letztenBeispiel findet sich dann wieder das Wort .Wollen' (192 B 2).

Der Leser soll also merken, da in den vorgef hrten F llen einermit Flucht verbundenen Tapferkeit Wissen und Wille eine Rolle spielen.Offenbar ist an eine blo e F higkeit — wie bei den Pferden — und antaktisches Kalk l — wie bei den Spartanern — gedacht. Zu fragen istallerdings, ob es sich bei der durch die Beispiele illustrierten Kenntnis umdie gleiche Art von Wissen handelt, das Sokrates im Gef ngnis tapferausharren und trotz aller Risiken seine Pr fungen der Mitb rger durch-f hren l t. Es wird im weiteren Verlauf des Dialoges deutlich werden,da es sich um ein anderes Niveau von Wissen handeln mu , in demSokrates Verhalten gr ndet. Dem kundigen Leser allerdings ist hier schonklar, da allein das an den Ideen als dem letzten Ma ethischen Verhaltensorientierte Denken gemeint sein kann.

Festzuhalten gilt, da Sokrates sich in der Diskussion nach demVerst ndnishorizont des Partners richtet. Dabei macht er nicht z. B. durchdas zeitweise Fortlassen des willentlichen Aspektes, die Definition desLaches „auf ein flaches Verst ndnis hin eindeutig"21. Vielmehr liegt dieden Willen nicht ber cksichtigende Vorstellung des Laches schon vor. F rden Leser aber bedeutet Sokrates' Verhalten einen Hinweis. Greift mandiesen auf, dann kann man mit Hilfe einer Denkweise, die an das Gute

20 Vgl. 191 A8 φεύγοντες ή διώκοντες; 191 Bl διώκειν ήδέ φέβεσθαι; 191 C4 φεύγειν /.../αναστρεφόμενους sc. τους Λακεδαιμονίους.

21 Boder, Die sokratische Ironie 47; hnlich Dieterle, a. O. 63. Vgl. aber N. Hinske, ZurInterpretation des platonischen Dialogs Laches, Kant-Studien 59, 1968, 62—79, bes. 69.

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gebunden ist und eine auf reinen Lebenserhalt ausgehende Entscheidungverbietet, dem nachgehen, was angedeutet wird. Man wird erkennen, daTapferkeit zwar mit einem Wissen zusammenh ngt, da es sich aber umein Wissen handeln mu , das nicht in einer blo technischen Kenntnis,wie z. B. der der Skythen, bestehen kann. Diese Kenntnis lehnt Laches zuRecht als Voraussetzung f r Tapferkeit ab.

(191C6-193D11)

Die Schuld f r das Mi lingen der Definition nimmt Sokrates auf sich(191 C8). Die Bestimmung hat sich als zu speziell erwiesen. Sokrates weistmit Recht darauf hin, da es auch gegen ber den Gefahren des Meeres(D 7), bei Krankheit und in der Politik Tapferkeit gebe. Beharrlich k mpfenk nne man gleicherma en in Leid, Furcht und bei Lust (El). Da man inallen diesen Situationen und Zust nden tapfer sein k nne, m sse eineDefinition diese F lle alle umfassen (191 E10 πάλιν ούν πενρώ είπεΐνάνδρείαν πρώτον τί ον εν πασι τούτοις ταύτόν εστίν).

Sokrates wendet durch die Wahl seiner Beispiele den Blick des Lesersbehutsam von u eren Umst nden wie Politik, Krieg und Meer auf dasInnere der Menschen, in eine Richtung also, in die der aufmerksame Leserschon durch die von Sokrates geleitete Argumentation bei der Widerlegungvon Laches' erster Definition gewiesen war. Dort konnte er die Erkenntnisgewinnen, da zu einer richtigen Bestimmung dessen, was Tapferkeit ist,ein Wissen geh rt.

Am Beispiel des Begriffes , Schnelligkeit' wird Laches nun vorgef hrt,wie man eine allgemein g ltige Definition aufstellt. Sokrates bestimmtSchnelligkeit als Verm gen, in kurzer Zeit viel bewerkstelligen zu k nnen,und zwar in bezug auf Stimme, Lauf und alles andere (192 AI Ο εΐποιμ' αναύτω ότι την εν όλίγω χρόνω πολλά διαπραττομένην δύναμιν ταχύτηταεγωγε καλώ και περί φωνήν και περί δρόμον και περί τάλλα πάντα). Durchden Ausdruck „und in allem anderen" ist die gew nschte Allgemeinheitgewahrt. Sokrates' Beispiel stellt also eine kleine bung im Aufstellenvon Definitionen f r Laches, aber auch f r den Leser dar. hnliche, bungen' finden sich auch im ,Euthyphron'22 und im ,Menon' (76 D f.).

Laches ist aufgefordert, dies nachzumachen. Er bietet deshalb eine neueDefinition an und bezeichnet Tapferkeit als eine gewisse Beharrlichkeit derSeele (192 B 9 καρτερία τις /.../ της ψυχής). Mit diesem Versuch greift eroffenbar auf den Aspekt des Verharrens zur ck, der bei der ersten Be-stimmung eine wichtige Rolle gespielt hat (μένειν). Sokrates ist aber nochnicht zufrieden und m chte den Begriff der Beharrlichkeit pr zisiert haben.

22 S.u. S. 150.

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Durch Befragen bringt er Laches dazu zuzugeben, da Beharrlichkeit nurin Zusammenhang mit Vernunft als Tapferkeit bezeichnet werden kann(192D10 ή φρόνιμος δρα καρτερία κατά τον σον λόγον ανδρεία αν εΐη)23.Tapferkeit ist n mlich als etwas Sch nes anzusehen, wohingegen Beharr-lichkeit ein neutraler Begriff ist, der erst durch das Hinzutreten vonVernunft eine positive Qualit t erh lt. Die Erkenntnis, da die Vernunftauch bei der Tapferkeit eine wichtige Rolle spielt, ist also nicht aus Laches„herausgefragt"24, sondern wird an diesen gleichsam herangetragen, ganzauf dieselbe Weise, wie das im ,Euthyphron' mit der Gerechtigkeit bei derBestimmung der Fr mmigkeit geschieht25. Schon die erste Gespr chsrundehat ja deutlich gemacht, da f r Laches tapferes Verhalten nicht mit Wissenzu tun hat.

Wie die von Sokrates angef hrten Beispiele zeigen, ist unter der f rdie Tapferkeit notwendigen Vernunft hier ein praktisches Sich-Auskennenund die F higkeit gemeint, durch Kenntnisse problematische Lagen mei-stern zu k nnen. Die Erg nzung ,τις', die Laches der Beharrlichkeit anf gt,darf nicht als ein Zeichen „leichter Unsicherheit" gewertet werden26.Vielmehr bedeutet sie eine Einschr nkung. Laches fa t das Wort καρτερίαoffenbar als einen Oberbegriff, dem die Tapferkeit untergeordnet ist27.

Die neue, mit Sokrates' Hilfestellung gefundene Formulierung ist nunoffenbar richtig. Sie gen gt dem Anspruch auf Allgemeinheit und gleichtsehr einer Bestimmung, die Sokrates im ,Phaidon' gleichfalls von derTapferkeit gibt. Dort wird bei einer Besprechung der Tugenden hervorge-

23 Indem Sokrates betont, da es sich um Laches' Definition handelt (κατά τ6ν σον λόγον),zeigt er, da er sich auf ihn einstellt.

24 So urteilt Dieterle, a. O. 71; richtiger Hinske, a. O. 70.25 S.u. S. 159.26 W. Detel, Zur Argumentationsstruktur im ersten Hauptteil von Platons Aretedialogen,

Arch. f. Gesch. d. Philos. 55, 1973 1-29, dort 8.27 Vgl. A. Graeser, Zur Logik der Argumentationsstruktur in Platons Dialogen Laches und

Charmides, Arch. f. Gesch. d. Philos. 57, 1975, 172—181, dort 174. Zu dem einschr n-kenden Gebrauch von τις bei Platon ist der ,Menon' zu vergleichen, wo die Gerechtigkeitals eine bestimmte Art von Arete bezeichnet wird (73 D 9 ff. πότερον αρετή, ώ Μένων, ήαρετή τις). Das sei sie auf eben die Weise, wie die Rundung nicht die Gestalt, sondernnur eine Art von Gestalt sei (73 E 3 οίον, ει βούλει, στρογγυλότητος περί είποιμ" αν εγωγεδτι σχήμα τί εστίν, ούχ ούτως απλώς δτι σχήμα). Auch hier bedeutet die Rundung als.gewisse' Gestalt zu ,Gestalt' einen Unterbegriff. Aber auch im ,Laches' selbst l t sichan anderer Stelle der einschr nkende Gebrauch von τις feststellen. Sokrates verabredetmit Nikias, da Tapferkeit ein Teil der Tugend sei (194 D). Sokrates formuliert das(l94 D 8): αλλ' εγώ δοκώ μανθάνειν, καί μοι δοκεΐ άνήρ σοφίαν τινά την άνδρείαν λέγειν.Das wird im Sinne von ,irgendein Wissen' verstanden: bezeichnet eine Art des Allgemein-begriffes Wissen (vgl. 198 A). Bei seinem zweiten Definitions versuch wird Laches alsonicht von Sokrates widerlegt, wie Detel (a. 0.9) meint. Vielmehr f llt Sokrates die„Blankostelle" (Boder, Die sokratische Ironie 47) (τις) nur mit Inhalt, indem er das Wort,vern nftig' (φρόνιμος) ins Spiel bringt.

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hoben, daß allein die Vernunft die rechte „Münze"' ist (69 A 9), gegen dieeingetauscht werden soll. Allein in Verbindung mit dieser ist Tapferkeit,so Sokrates' Worte im ,Phaidon', eine wahre Tugend (69 B). Darf manalso die Bestimmung, Tapferkeit sei ein mit Vernunft verbundenes Ver-harren, als für Platon durchaus akzeptabel ansehen, so bleibt zu bezweifeln,ob Laches selbst die Konsequenz dieser Bestimmung auch durchschaut.Es stellt sich sofort die Frage nach der Art der verlangten Vernunft.Worauf, so will Sokrates wissen, bezieht sich das für die Tapferkeitnotwendige Wissen? Betrifft es alle Dinge, die großen wie die kleinen(192 El)?

Es folgt wieder eine Reihe von Beispielen28. Wer beharrlich auf ver-nünftige Weise viel Geld ausgibt, im klaren Bewußtsein, daß er mehrerhalten wird, der ist nach Laches' Meinung nicht tapfer (l 92 E 2). Dasgleiche gilt von einem Arzt, der seinem lungenkranken Sohn beharrlichSpeise und Trank verweigert (l92 E 6). Sokrates ändert nun die Frage-stellung und kommt auf das schon angesprochene Problem (l 90 E) deskämpfenden Soldaten zurück. Ist der tapferer, fragt er, der weiß, daß seinePosition günstig und Verstärkung nahe ist und der mit diesem Wissenausgestattet kämpft, oder derjenige, der in ungünstiger Position beharrlichkämpfen will (193 A3)? Erwartungsgemäß entscheidet sich Laches für denletzteren. In gleicher Weise sei ein Reiter weniger tapfer, der mit großerReitkunst begabt in der Schlacht bleibe, als derjenige, der aushält, obgleicher nicht über eine solche Kunstfertigkeit verfügt (l 93 B), fährt Sokratesim Sinne von Laches fort. Dasselbe gelte für Schleuderer, Bogenschützenund alle, die eine derartige Kunst besitzen.

Aus diesen Beispielen folgt, daß nach Laches' Meinung diejenigen, dieohne Kunstfertigkeit, also ohne Wissen ausharren und Gefahr auf sichnehmen, tapferer sind als diejenigen, die es mit Kunstfertigkeit tun(193 CIO ). Wie sich oben gezeigt hat,entspricht das ja Laches' eigentlicher Auffassung. Der Aspekt des Wissensstammt von Sokrates. Laches kann mit ihm offenbar nicht viel anfangen,so daß in der Diskussion wieder seine ursprüngliche Auffassung zumTragen kommt29, ungeachtet der Tatsache, daß sich dadurch ein Wider-spruch ergibt.

Ohne Wissen tapfer zu sein, war zu Beginn der Gesprächsrunde alsschlecht bezeichnet worden (191 Dl), wird aber jetzt von Laches offenbarakzeptiert. Das Gespräch ist also wieder gescheitert. Gleichwohl wollenLaches und Sokrates bei der Untersuchung verharren und tapfer weiter-

28 Zum Argumentationsverlauf vgl. Teile, a. O. 19ff. Ähnliches Charm. 159B5-160D3;Charm. 160E2-161 A; vgl. auch Teile, a.O. 137 Anm. 34.

29 Auch hier widerlegt der Elenchos nicht nur eine „nivellierende Auslegung", wie Boder,Die sokratische Ironie 47 und Gundert, Dialog und Dialektik 24 verstehen.

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suchen (l 94 AI καί ημείς επί τη ζητήσει έπιμείνωμέν τε και καρ-τερήσωμεν). Obgleich Laches trotz der Aporie zu wissen meint30, wasTapferkeit ist, ist ihm diese Erkenntnis im Gespr ch, wie er meint,abhanden gekommen (194 Bl νοεϊν μεν γαρ έμοιγε δοκώ περί ανδρείαςδτι εστίν, ουκ οίδα δ' δπη με άρτι διέφυγεν). Dem Leser dr ngt sichjedoch die Bef rchtung auf, da der General Laches niemals wirklichgewu t hat, was Tapferkeit ist, auch wenn er glaubt, f r diese Tugendvon berufswegen zust ndig zu sein. Anzumerken ist, da mit Sokrates'Aufforderung zu beharrlichem und tapferem Suchen gleichsam nebenbeiangedeutet wird, da Tapferkeit und Beharrlichkeit doch zusammenge-h ren. Wir haben oben schon darauf hingewiesen. Laches' Bestimmungist also nicht v llig widerlegt. Unklar bleibt allerdings, was f r eineArt von Wissen den Beharrenden leiten soll: eine nicht unl sbareAufgabe f r den Leser.

Betrachtet man n mlich die vorgetragenen Beispiele, so f llt auf, dasie alle aus dem Bereich stammen, in dem unter Wissen eine technischeKenntnis zu verstehen ist. Der angesprochene Gelderwerb, die Arzt-kunst31, die Soldatenkunst oder das Tauchen sind Kunstfertigkeiten(τέχναι). Sokrates selbst bezeichnet ein verst ndiges Handeln in diesemBereich als ein Handeln mit Hilfe von technischem K nnen (l93 CIO oiμετά τέχνης αυτό πράττοντες). Vom dritten Beispiel an, dem Soldaten-kampf, werden dann je zwei Personen einander gegen bergestellt, diedasselbe tun, der eine mit, der andere ohne eine derartige Kenntnis. Hierwird das Unwissen wichtig (l93 B 2 άφρονεστέρα). Laches entscheidet sichdaf r, da derjenige, der ohne Kenntnis und Ausr stung etwas tut, tapferist. Damit ist die Unkenntnis auf die Seite der Tapferkeit ger ckt, wasschlie lich zur Aporie f hrt. Der entscheidende Schritt liegt also dort vor,wo die Alternative einer Tapferkeit mit oder ohne Vernunft gestellt wird(193 A7)32. Laches' Entscheidung entspricht allgemeiner Anschauung. Einmit besonderen F higkeiten ausgezeichneter Mensch tr gt geringeresRisiko und gilt daher im Zweifelsfall als der weniger Tapfere. Tapferkeitwird in dieser Sicht als eine nat rliche Anlage verstanden33. Die Gegenpo-sition, die einen gro en Nutzen des Wissens gerade in der von ihm

30 Derselbe Zustand findet sich bei Euthyphron (Euthyph. 11 B; dazu s.u. S. 157). DieVerwirrung ist aber dort wie hier nicht Schuld des Sokrates (vgl. Hinske, a. O. 71),sondern die Folge der .Meinung' seines Gespr chspartners. Es ist ein Irrtum, wenn dieVielen glauben, von Sokrates nur auf Grund ihrer geringen Erfahrung im Fragen undAntworten an der Nase herumgef hrt zu werden (Resp. 487 Bl ff.). Der Irrtum istvielmehr schon da, und Sokrates deckt ihn nur auf.

31 Dieterlea.O. 76 ff.32 Dieterle a. O. 81 f.33 Vgl. lg. 963 E 6; 791 B; Prot. 351 B; Politic. 305 E ff. Vgl. Kr mer, Arete 148 ff.; G rge-

manns, Beitr ge zur Interpretation von Platons Nomoi 114 ff.

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gebotenen Möglichkeit sieht, Risiko zu meiden und das eigene Leben zubewahren, wird von den Sophisten vertreten34.

Wir haben oben gesehen, daß Sokrates selbst vor Gericht und imGefängnis das Beispiel für eine Art von Tapferkeit bietet, die einerseitszwar auf Wissen beruht, andererseits aber als Resultat ein Verhalten be-wirkt, das Laches' Erwartungen entspricht. Gleichzeitig war vermutetworden, daß es sich dabei um eine andere Art von Wissen als der derSophisten handeln muß. Diese Vermutung wird hier durch einen Hinweisdes Sokrates an den kundigen Leser gestützt. Der Hinweis liegt in derscheinbar harmlosen Frage des Sokrates, worin man denn beim Verharrenvernünftig sein soll, in großen oder kleinen Dingen (192 El)35.

Um den Hinweis aufgreifen zu können, muß man beachten, daß nachPlatons Ansicht Geld und Gesundheit nur bei gewöhnlicher Denkweiseals etwas Gutes angesehen werden (Men. 78 C 5)36. Wirkliche Güter werdensie erst durch einen vom Ideendenken gelenkten Gebrauch. Das gilt auchfür das Leben selbst. Lebensbewahrung um seiner selbst willen zähltnichts. Allein ein gutes (Gorg. 512 E 5) und gerechtes (Apol. 28 B) Lebenhat als Gut zu gelten. Daraus folgt, daß es vernünftig ist, wenn z. B. eindes Schwimmens Unkundiger einen Ertrinkenden zu retten versucht. Zwarheißt das aus der Sicht eines technisch-risikoabwägenden Denkens ohneVerstand zu handeln. Nach Laches wäre es gerade deshalb als tapfer zubezeichnen. Als tapfer würde solches Verhalten auch Platon bezeichnen,aber nicht zugeben, daß ein solcher Retter ohne Verstand gehandelt habe.Vielmehr folgt er nach Platons Ansicht einem Wissen, das sich an demBereich des Gerechten, Guten und Schönen orientiert (Phdr. 276 C). Dieserethische Bereich beinhaltet nach Platons Worten die ,großen' Dinge (Phdr.274 A)37. In der ,Apologie' ist von den ,wichtigsten' Dingen in ähnlichemZusammenhang die Rede (Apol. 22 D 7). Die größten Dinge sind alleindem dialektischen Denken des Platonischen Philosophen möglich. Ein derWelt des Werdens verhaftetes Denken hingegen muß, wie es ebenfalls inder ,Apologie' heißt, an den ,wichtigsten' Dingen scheitern (22 D 4). NachPlaton ist also der Philosoph aus einem anderen Denken heraus tapfer alsdie Vielen (Phaed. 83 E 5).

Hat man erkannt, daß auch für Platon ein Wissen für die Tapferkeitmaßgebend ist, dann kann man die Aporie lösen. Diese entsteht, weilLaches unter Wissen nur das Resultat eines innerweltlich-technischen

34 Vgl. Gorg. 511 B (von der Rhetorik gesagt). Dieterle, a. O. 80 f.; vgl. Heinimann, Einevorplatonische Theorie der 117 ff.

35 Als .Wegemarke' bezeichnet das Pohlenz (Aus Platons Werdezeit 25) mit Recht: „Damitist der Weg angedeutet, den die Untersuchung hätte nehmen sollen".

36 Vgl. auch Euthyd. 279 A; Gorg. 451 E; Ig. 631 B.37 Vgl. Krämer, Retraktationen 150 f.; ders. Grundsätzliche Fragen 126 f.

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Denken versteht und deshalb — aus Platons Sicht zu Recht — einenZusammenhang mit Tapferkeit leugnet. Folgt man jedoch Platons Hinweis,dann erkennt man, da die nach Laches sich ausschlie ende Alternative:Wissen oder Tapferkeit, falsch ist38. Wissen geh rt in der Tat zur Tap-ferkeit. Darin ist Nikias Recht zu geben. Es ist aber der Unterschied zubeachten zwischen einem Denken, das sich auf die kleinen Dinge der unsumgebenden Welt richtet, und dem platonischen, das auf die gro enDinge: das Gute, Sch ne und Gerechte im nur dem dialektischen Denkenerreichbaren geistigen Bereich zielt. Ohne dieses Wissen ist Tapferkeit einblo es Schattenspiel, wie Platon im ,Phaidon' sagt (69 A f.). Man kannalso sagen, da in Laches' Argumentation Richtiges und Falsches gemischtist39.

(193D11-196C2)

Das Gespr ch mit Laches ist also gescheitert. Gleichwohl m chteSokrates weitersuchen, weil der Logos es befiehlt (194 AI). Es bestehe jadie Gefahr, da der Logos die Gespr chspartner auslache, wenn sichTapferkeit doch als ein Beharren erwiese (l 94 A 3). Damit wird indirektdie M glichkeit angedeutet, da Beharrlichkeit trotz der Wiederlegungenetwas mit Tapferkeit zu tun haben kann40. Doch da Sokrates und Lachesin der Untersuchung in einen Sturm geraten sind, wird Nikias gebeten,zu Hilfe zu kommen (194 C 2 άνδράσι φίλοις χειμαζομένοις εν λόγφ)41.

Nikias ist zur gew nschten Hilfe bereit und bietet eine Bestimmungvon Tapferkeit an, die nach seinen Worten nicht von ihm selbst stamme,sondern die er oft von Sokrates geh rt habe (194 C 8 δ γαρ εγώ σου ήδηκαλώς λέγοντος άκήκοα). Nach Sokrates' Meinung sei ein jeder darin gut,worin er klug sei, und darin schlecht, worin er ohne Wissen sei (l 94 Dlπολλάκις άκήκοα σου λέγοντος δτι ταΰτα αγαθός έκαστος ημών απερσοφός, α δε αμαθής, ταϋτα δε κακός)42. Nikias setzt dies nun in Bezug

38 Da man das Wort φρόνησις auch anders verstehen kann, sagt mit Recht Teile (a. O. 20).Sie unterstellt Sokrates aber offenbar B swilligkeit, wenn sie ihn das Wort „einseitig"interpretieren l t. Denn im platonischen Sinn, als Ideendenken, h tte es Sokrates'Partner doch nicht verstanden! Zum Wort vgl. H. J. Schaefer, Phronesis bei Platon,Bochum 1981.

39 Sokrates zeigt das falsche Verst ndnis nur auf; er stellt sich nicht borniert an (Schulz,Das Problem der Aporie in den Tugenddialogen Platons 264). Die Beispiele stammenaus dem Bereich der σμικρά (Dieterle, a. O. 88 Anm. 1),

40 Es gibt n mlich ein richtiges Verharren: das tapfere Suchen beim Logos (Men. 81 D).Sokrates macht seine eigene Widerlegung wieder fraglich (Boder, Die sokratische Ironie48).

41 Vgl. Resp. 472 A 4 und Prot. 338 A.42 Dieterle, a. O. 101 Anm. 2.

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zum Problem der Tapferkeit, indem er folgert: Wenn der Tapfere gut ist,dann ist er auch kundig (l 94 D 4 οόκοΰν εϊπερ ό ανδρείος αγαθός, δήλονότι σοφός εστίν). Mit dieser Folgerung greift Nikias einen Teil vonLaches' gescheiterter Definition wieder auf. Auch f r Nikias besteht einZusammenhang zwischen Tapferkeit und Wissen. Nat rlich stellt sich dawieder die Frage nach der Art dieses Wissens. Nikas spricht nur unbe-stimmt von einer „gewissen Weisheit" (σοφία τις), was Laches mit Rechtzur Frage nach einer n heren Bestimmung veranla t.

Um der Art des gesuchten Wissens n herzukommen, z hlt Sokrateseinige Beispiele auf. Es handele sich doch wohl nicht um die Kunstfer-tigkeit von Fl tenspielern und Kitharaspielern (194 E 4 ff.), wie Nikias ihmbest tigt. Er liefert auch gleich eine eigene Definition. Das gesuchteWissen erstrecke sich auf das Gef hrliche und Furchtbare im Krieg undin allem anderen (194 El l ταύτην έγωγε, ώ Λάχης, την των δεινών καιθαρραλέων έπιστήμην και εν πολεμώ και εν τοις άλλοις απασιν).

Hier mu nun ganz deutlich gesagt werden, da diese Definitionrichtig ist. Das gilt zun chst f r ihre Form. Diese gen gt den Anspr chen,die Sokrates an eine Definition gestellt hat, indem sie vollst ndig denBereich angibt, auf den Tapferkeit sich erstreckt43. Ein Blick auf die,Politeia' belehrt aber auch dar ber, da Nikias' Bestimmung des dieTapferkeit ausmachenden Wissens mit dem bereinstimmt, was Platon

ber Tapferkeit sagt44. In der ,Politeia' n mlich l t Platon Sokrates dieTapferkeit als eine Macht und als immerw hrende Rettung richtiger undgesetzlicher Meinung dar ber bestimmen, was furchtbar ist und was nicht(430 B 2 την δη τοιαύτην δύναμιν και σωτηρίαν δια παντός δόξης ορθής τεκαι νομίμου δεινών τε περί και μη άνδρείαν έγωγε καλώ).

Doch Laches will sich nicht f gen und insistiert auf einer Trennungvon Wissen und Tapferkeit, wie er das schon zu Beginn des Gespr chesgetan hat. Er versucht, seine Auffassung durch Beispiele zu untermauern.Bauern und Handwerker, so gibt er zu bedenken, seien doch nicht schondeshalb tapfer, weil sie auf ihrem jeweiligen Gebiet Gef hrliches undUngef hrliches zu unterscheiden wissen (l95 B 8)! Man sieht, er hat ausdem Scheitern seiner Definitionsversuche nichts gelernt. Immer nochpolemisiert er gegen Wissen in Zusammenhang mit Tapferkeit, weil erdarunter eine technische Kunstfertigkeit versteht.

Nikias hingegen sieht offenbar weiter und wird mit Laches Einwandleicht fertig. Zuzugeben sei, da Handwerker Kenntnis vom Furchtbaren

43 Schulz, a. O. 264: „Sagen wir es ohne Z gern: diese Definition ist richtig". Es bleibt dieFrage, ob er das .Richtige' auch richtig versteht.

44 Vgl. Prot. 360 D 4 ή σοφία δρα των δεινών καϊ μη δεινών ανδρεία εστίν. Zur Schwierigkeit,das Verh ltnis von .Laches' und .Protagoras' zu bestimmen, vgl. de Romilly, a. O. 320 ff.und besonders H. Thesleff, Studies in Platonic chronology 40 ff., bes. 46 ff.

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auf ihrem jeweiligen Gebiet h tten. Keine Kenntnis aber h tten sie davon,ob auch die Anwendung ihrer Kunstfertigkeit f r den, den sie betrifft,gut sei. Ein Arzt wisse eben nicht, ob es nicht f r einen Patienten vielleichtdoch gut sei zu sterben (195C7)45. ber ein solches Wissen verf gtennicht einmal die Seher, wie Nikias gegen einen entsprechenden Einwanddes Laches zu bedenken gibt. Denn Seher k nnten zwar Zeichen deuten,nicht aber sagen, ob gut oder schlecht ist, was sie da deuten (l95 E 8).

Auch Sokrates scheint es, da ein Wissen, wie Nikias es verlangt,nicht jedermann zukommt, sondern nur sehr wenigen (l 96 E 5). Damitist zugleich die grunds tzliche M glichkeit zugegeben, da Menschen

berhaupt ber ein solches Wissen, das ber das ,Wozu' der Anwendungeiner Kunstfertigkeit Auskunft geben kann, verf gen k nnen. Eine der-artige Gespr chssituation, in der trotz gro em Zweifel an dem Gesagtendoch vage von der M glichkeit gesprochen wird, da das Gesuchteexistiert, ist oft in den aporetischen Dialogen zu finden46. Und immerwird sich ergeben, da darin ein Hinweis auf platonische Lehre zu sehenist. Das gilt auch hier.

Was von Laches polemisch allein den Sehern zugesprochen und vonNikias bestritten wird, verlangt Platon in der ,Politeia' ausdr cklich vonden Philosophen. Sie sollen einen berblick ber alle Dinge und die ganzeZeit haben (Resp. 486 A 8 ή ούν υπάρχει διάνοια μεγαλοπρέπεια καιθεωρία παντός μεν χρόνου, πάσης δε ουσίας, οίον τε οϊει τούτω μέγα τιδοκεϊν είναι τον άνθρώπινον βίον)47. Das Denken der Philosophen ist aufdie berzeitlichen Ideen gerichtet. Sie sind deshalb in der Tat ,Seher',wie Laches verlangt. Denn auch die G tter erhalten nach Platon ihreG ttlichkeit erst durch die Ideen (Phdr. 249 C 5). Aus dieser Sichtweiseerscheint das Wissen von Handwerkern gering (Resp. 486 A 4). Tapfer im

45 Die Argumentation l t sich vergleichen mit dem, was Sokrates im ,Gorgias' zu Kalliklessagt (Gorg. 511 ff.).

46 Vgl. Dieterle, a. O. 115; Friedl nder, Platon II 41. Laches steht auf Seiten der Vielen vgl.197 A3.197B6. 197C3. Im ,Kriton' sind es nur .wenige', welche wissen, da Unrechtzu tun schlimmer ist, als es zu leiden (49 D). In gleichem Zusammenhang spricht auchIsokrates von .wenigen' und meint die Akademiker (s.o. S. 88f.).

47 Zukunft und Vergangenheit zu sehen, ist Aufgabe von Sehern. Da Seher bei Platon ineinem geringen Ansehen standen (vgl. Phaedr. 248 D), mag das eine Polemik gegen eineg ngige Hochsch tzung der Mantik sein (vgl. Xen. Mem. I 1, 2—9), wie Gigon vermutet(O. Gigon, Kommentar zum ersten Buch von Xenophons Memorabilien, Basel 1953,l Of.). Zu bedenken ist aber, da Sokrates sich selbst als Seher bezeichnet (Phaed. 85 B)und E. Wolff (Platons Apologie, Berlin 1929, 80 ff.) gezeigt hat, da er in der .Apologie'als der wahre Seher dargestellt ist. Der Seher ist im .Laches' auf einer Ebene mit denHandwerkern angesiedelt. M glicherweise h ngt also die Verurteilung mit der falschenDenkorientierung zusammen, der Seher auf der handwerklichen Ebene unterliegen.Sokrates hat oft .Ahnungen', die nur aus innerweltlicher Sicht paradox erscheinen, sichaber im Blick auf die Ideenlehre als weitsichtig erweisen, vgl. G. M ller, GGA 227,1975, 169.

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von Nikias bestimmten Sinne k nnen also letztendlich allein die plato-nischen Philosophen sein. Denn sie verf gen ber ein Wissen, das denHorizont technischer Problembew ltigung bersteigt. Nikias hat mit seinerDefinition also durchaus Richtiges gesagt und nicht, wie Laches ihmvorwirft, sein Unwissen durch ein Hin- und Herwenden zu verbergenversucht (196 Bl). Allerdings stellt sich auch hier die Frage, ob Nikiasrichtig versteht, was er sagt.

(l 96 C 2-Ende)

Auch Nikias mu sich also einer Probe unterziehen lassen. Denn esist ja m glich, da er nur Angelerntes wiedergibt, ohne es sich als Wissenwirklich angeeignet zu haben (196 Cl). Nikias hatte schon zu Beginn derUnterredung seine Bereitschaft zu einer solchen Pr fung erkl rt (l 88 B 4).

Aus Nikias' Definitionsvorschlag folgert Sokrates, da Tiere nicht indem Sinn tapfer sein k nnten, wie Nikias das Wort bestimmt. Denn sieh tten nicht die M glichkeit, weise zu sein. Nikias trifft deshalb dieUnterscheidung zwischen K hnheit und Tapferkeit. Ohne ein Wissen seienauch die Menschen blo k hn und nicht tapfer, wie allgemein angenommenwird (l97 B 2). Bei der Vielzahl der Menschen gebe es K hnheit, Verwe-genheit und einen mit Mangel an Voraussicht verbundenen Wagemut(197 B 3 θρασύτητας δε καί τόλμης καί του άφοβου μετά άπρομηθίας πάνυπολλοίς sc. μετεΐναι). An der Tapferkeit hingegen h tten nur wenigeAnteil (B 2 εγώ δε ανδρείας μεν καί προμηθίας πάνυ τισίν ολίγοις οΐμαιμετεΐναι). Seine unterschiedliche Wertung der beiden Eigenschaften machtNikias klar, indem er Umsicht auf die Seite der Tapferkeit stellt, Wagemuthingegen zur K hnheit rechnet. Schon vorher hatte Sokrates angedeutet,da eine solche Wertung in seinem Sinne ist, als er davon sprach, einvernunftloses Beharren sei h lich (l93 Dl ούκοΰν αισχρά ή αφρών τόλματε καί καρτέρησις)48. Und die Unterscheidung selbst zwischen K hnheitund Tapferkeit ist, wie der ,Menon' zeigt49, ganz im Sinne Platons.

Gleichwohl stellt Sokrates diese Differenzierung in Frage, indem ersie zu den Lehren D mons in Beziehung setzt (l97 D 2), der zum Kreisum Prodikos zu rechnen ist. Mit diesem Bezug wird indirekt die Frageaufgeworfen, ob Nikias nur oberfl chlich, vom Wortgebrauch her, seine

48 In der Verbindung αίσχρά ή δφρων τόλμα τε και καρτερία qualifiziert Sokrates eineTapferkeit ohne Wissen ab. Das Wort τόλμα hat negativen Unterton (Resp. 575 A; Apol.38 D). Es wurde im 5. Jahrhundert diskutiert, wie Thuc. III 82 und VI 59 zeigen. NachEuripides (frg. 1031 2N.) ist die τόλμα eine Folge von Unkenntnis eigener Fehler. Vgl.auch Soph. Ant. 370 ff. und Gaiser, Protreptik 113 Anm. 117. Indem Nikias Mut undK hnheit trennt, tr gt er eine durchaus verbreitete Meinung vor, vgl. Eur. Suppl. 508 ff.

49 Vgl. Men. 88 B.

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Unterscheidung trifft, oder ob ein inhaltliches Verst ndnis dahinter steht.An anderer Stelle (Euthyd. 278 B 2) mu sich n mlich Prodikos' Unter-scheidungskunst von Sokrates den Vorwurf gefallen lassen, da sie 2uminhaltlichen Verst ndnis nichts beitrage, sich vielmehr nur an der Wort-oberfl che orientiere, zum eigentlichen Verst ndnis aber nichts beitrage50.Sokrates m chte deshalb wissen, im Blick worauf Nikias das Wort ,Tap-ferkeit' bestimmt (197 E 2).

Zu Beginn der sich anschlie enden Diskussion ruft Sokrates demNikias — und auch dem Leser — die Hypothese in Erinnerung,'die amAnfang der gesamten Untersuchung stand. Man hatte sich darauf geeinigt,aus praktischen Gr nden nur einen Teil der αρετή zu betrachten (198 AI)51.Laches hatte diesem Ansatz zugestimmt, und auch Nikias gibt jetzt zuverstehen, da nach seiner Ansicht die Tapferkeit ein Teil der αρετή sei,neben dem es noch weitere Teile gebe (l98 A 4). Ausdr cklich schlie t ersich der vorher mit Laches getroffenen Vereinbarung ber die Anfangs-hypothese an (198 B 2)52. Damit ist die erste von drei bereink nften (A)getroffen, aus denen sich im Folgenden die Schlu aporie ergeben wird.

Eine weitere bereinkunft soll n mlich dar ber getroffen werden, wasSokrates und Nikias unter dem ,Gef hrlichen und Unbedenklichen' (δεινάκαΐ θαρραλέα) verstehen. Hierin mu Einigung erzielt werden, damit nichtjeder etwas anderes darunter versteht (198 B 3). Unter Zustimmung vonLaches bestimmt Sokrates »gef hrlich' als etwas, das Furcht einfl t(l 98 B 6), wobei mit Furcht die Erwartung eines zuk nftigen bels ge-meint ist (l 98 D 8 δέος γαρ είναι προσδοκίαν μέλλοντος κακού)53. Darausfolgt, da es sich gem Nikias' Definition bei Tapferkeit um ein Wissenzuk nftiger bel handeln mu (198 C 6). Nikias ist damit einverstanden,so da eine weitere bereinkunft der Unterredner gewonnen ist (B).

Als drittes einigen sich die Gespr chspartner darauf, da Wissen sichimmer auf alles zu richten habe: auf Gegenw rtiges, Vergangenes undZuk nftiges (199A7), wie das z.B. f r das Wissen des Arztes und desLandwirtes gilt (C).

Zu beachten ist, da auch diese bereinkunft mit Laches getroffenwird (199 A 4). Die Beispiele, mit denen Sokrates seine These von einerimmerw hrenden Dauer des Wissens illustriert, entsprechen denen, dieLaches selbst verwendet hat: Arztkunst, Landwirtschaft und Kriegs-

50 Dieser Hinweis auf D mon ist nicht „b sartig" (so Schulz, Das Problem der Aporie inden Tugenddialogen Platons 265; richtiger Dieterle a. O. 117), sondern eher als einHinweis aufzufassen. Auch ist die Erw hnung des D mon durchaus im Sinne des Nikias,der ihn sp ter gegen Laches verteidigt (200 B 5).

51 Vgl. 190 C.52 Zum folgenden vgl. Dieterle, a. O. 188 ff.53 Vgl. Prot. 358 D 6 προσδοκίαν τινά λέγω κάκου τούτο, είτε φόβον είτε δέος καλείτε.

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kunst54. Wenn sich Nikias nun dieser letzten bereinkunft anschlie t, somu sich der Leser daran erinnern, da Nikias eine andere Vorstellungvon Wissen zum Ausdruck gebracht hat als Laches55, so da die Gefahrbesteht, da die Gespr chspartner trotz der getroffenen Verabredungenaneinander vorbeireden.

Sokrates kann nun leicht vorf hren, da sich aus eben diesen berein-k nften ein Widerspruch ergibt. Dieser bleibt als Schlu aporie des ge-samten Dialoges stehen und l t die Bestimmung dessen, was Tapferkeitist, offen. Gilt n mlich einerseits, da es sich bei der Tapferkeit um einWissen von dem handelt, was man f rchten mu und was man wagendarf, wobei unter ersterem zuk nftig gute und unter letzterem zuk nftigschlechte Dinge zu verstehen sind (B), dann steht das im Widerspruch zuder bereinkunft, Wissen erstrecke sich immer auf Zuk nftiges, Gegen-w rtiges und Vergangenes (C). Denn obwohl Tapferkeit f r Nikias einWissen ist, erstreckt dieses sich als Wissen des Gef hrlichen nur aufzuk nftige Dinge, also auf ein Drittel von dem, was Wissen allgemeinumfassen mu . Nikias' Definition trifft also nur einen Teil der Tapferkeit,wenn diese ein Wissen ist (199C3 μέρος αρά ανδρείας ήμΐν /.../ σχεδόντι τρίτον). Gefragt war aber nach eine Definition der gesamten Tapferkeit.Nikias' Bestimmung zufolge mu man annehmen, da es sich bei derTapferkeit um ein Wissen aller guten und schlechten Dinge handelt (199 C 4και νυν δη / · . · /> κατά τον σον λόγον ου μόνον δεινών τε και θαρραλέωνεπιστήμη ή ανδρεία εστίν, άλλα σχεδόν τι ή περί πάντων αγαθών τε καίκακών καί πάντως εχόντων, ως νυν αδ σος λόγος, ανδρεία αν εϊη), eineFolgerung, die jedoch ihrerseits im Hinblick auf die erste bereinkunftproblematisch ist (A). Diese besagte n mlich, wie Sokrates in Erinnerungruft (199 E 6), da es sich bei der Tapferkeit um einen Teil der αρετήhandeln soll. Man ist also bei dem Versuch, die Tapferkeit zu bestimmen,zu einer Definition der Arete als ganzer gelangt und damit in eine Aporiegeraten (200 E 6). Das Problem hat sich folgerichtig aus den vorgegebenen

bereink nften ergeben und mu deshalb ernstgenommen werden. Jedochbedeutet das nicht, da eine L sung unm glich ist. Schon an fr herenStellen des Dialoges hat sich gezeigt, da die entstandene Ratlosigkeitdurchaus zu berwinden war. Das gleiche kann auch hier geschehen.

Auff llig ist n mlich, da dem gesamten Gespr ch die fraglos akzep-tierte Hypothese zugrundeliegt, es k nne Teile der Arete geben56. DieTapferkeit wird als einer dieser Teile angesehen. Eine derartige Auffassung

54 Arzt 195 B 3; Bauer B 7; Seher E 9.55 Boder (Die sokratische Ironie 51) weist darauf hin, da in diesem Abschnitt 198Ο-

Ι 99 A das Wort γίγνεσθαι f nfzehnmal vorkommt und damit wohl ein Hinweis sein soll,zu welchem Bereich das besprochene Wissen geh rt.

56 Vgl. Teile, a. O. 89; Dieterle, a. O. 119 ff.

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bildet auch den Hintergrund daf r, da im Anschlu an Nikias' Be-hauptung, Tugend sei Wissen, die Tapferkeit als eine „bestimmte" Art vonWissen (l 94 D 9 σοφίαν τίνα) bezeichnet werden kann. Dabei bleiben derBereich dieser Art von Wissen und sein Verh ltnis zum Tugendwissen alsganzem ungekl rt.

Die beiden anderen bereink nfte (B) und (C) hingegen stellen keineblo en Voraussetzungen dar, sondern werden im Gespr ch entwickelt.Hinzu kommt, da beide f r den Kenner platonischer Lehre akzeptabelsind. Es ist schon darauf hingewiesen worden, da sich das Wissen desPlatonischen Philosophen immer auf Vergangenes, Gegenw rtiges undZuk nftiges richtet. Eindeutig gesagt wird das auch im ,Μεηοη*. Dieunsterbliche Seele, so hei t es da, hat Wiedererinnerung und wei daherimmer schon alles (85 D ff.). Es ist Aufgabe des Dialektikers, die immer-seienden Ideen zu betrachten (Resp. 485 B). Beim Dialog ,Euthydem' wirdsich zeigen lassen, da dort gleichfalls auf berzeitliche Erkenntnisobjekteder Philosophen angespielt wird. Die Bestimmung von Furcht, die So-krates bietet, wird auch an anderer Stelle in Platons Werk vertreten.

Hat man also an den bereink nften (B) und (C) festzuhalten, so muin der Hypothese (A) die problematische Stelle der Argumentation gesehenwerden57. F r diese waren nur praktische Gesichtspunkte ausschlaggebend(190C8). Die Gespr chspartner wollten sich an der Tapferkeit als einemTeil der αρετή erproben, weil das leichter schien (l90 Dl). Doch geradedieses Kriterium ist aus Platons Sicht f r philosophische Untersuchungenabzulehnen. Man mu nach seiner Ansicht vielmehr l ngere Umwege inKauf nehmen, wenn es um wichtige Dinge geht (Phaidr. 274 A 2). Trotzder damit verbundenen M hen kann der Lohn sehr gro sein. berhauptist der Weg, der einem Philosophen angemessen ist, lang und beschwerlich(Resp. 497 D)58. Wenn also im ,Laches' der leichtere Weg nicht zu einemErgebnis f hrt, dann soll sich — so ist zu vermuten — der Leser zu einembeschwerlicheren Weg aufmachen, eine Vermutung, die durch die ,Politeia'indirekt best tigt wird.

Auch dort wird n mlich die Bestimmung der Tapferkeit, die derjenigendes Nikias so sehr gleicht, zuletzt in einer Vorl ufigkeit belassen. Eshandelt sich bei ihr um die Tapferkeit der Staatsw chter. Die Behandlungder philosophischen Tapferkeit hingegen wird ausgespart (Resp. 430 C 4).Wenig sp ter wird dann angedeutet, da die hierf r notwendige Untersu-chung auf einem l ngeren Weg zu erfolgen hat (435 D 3), wobei die

57 Vgl. Hinske, a. O. 69. Da Sokrates vorschlug, die Tapferkeit zun chst als Teiltugend zubetrachten, war nicht unfair, sondern entsprach dem Denkhorizont des Partners, f r denTugenden nat rlich sind (φυσικού άρεταί) und deshalb als Teil existieren.

58 Leicht und schnell zu lernen versprechen die Sophisten und Eristiker, vgl. Euthyd.273 D 9. 304 A. Platons Weg ist l nger (Resp. 435 D μακροτέρα και πλείων οδός).

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Betrachtung im Blick auf das Höchste durchgeführt werden muß. InHinsicht auf dieses Höchste ist nämlich alles in der ,Politeia* Dargelegteeine Skizze (504 C 9).

Auch im ,Laches' ist der Leser also zu einem längeren und beschwer-licheren Weg aufgefordert. Er muß die Hypothese (A) aufheben, dieoffenbar eine Voraussetzung der Aporie war. Entsprechend Platons Vor-schriften muß er sich dann aufmachen, eine festere Grundlage für dieUntersuchung zu finden (Gorg. 461 D 2). Die Betrachtung des Gedanken-ganges hat ergeben, daß es für eine Vermeidung der Aporie nicht genügt,alles in den gleichen Bahnen erneut zu überdenken. Vielmehr muß mandem Text zu Hilfe kommen, indem man an den Stellen, wo etwas offen-bleibt, platonische Lehre ergänzt. Aus dieser Sicht wird nicht nur deutlich,daß vieles, was gesagt wird, richtig ist, sondern auch, warum das Gesprächdennoch scheitert. Wie schon die Anfangshypothese, die offenbar von derAuffassung ausgeht, bei der Tugend handele es sich um Naturanlagen unddeshalb könne man Tapferkeit als einen Teil der Gesamttugend ansehen,so ist überhaupt der Denkansatz von Sokrates' Partnern falsch. Richtigist, daß ein Wissen zur Tapferkeit gehört. Richtig ist auch, wenn Nikiaszumindest andeutet, daß es sich um eine andere Art von Wissen handelnmuß als es Laches vorschwebt. Doch verfügt er über dieses andersartigeWissen nicht. Deshalb kann er seine an sich richtige Auffassung nichtfestmachen, obgleich er das möchte (200 B 7 ). Auch seinWissen macht sich davon. Sowohl Nikias als auch Laches befinden sichalso in einer wirklichen Aporie: Laches, weil er sich von der innerweltlich-technischen Wissensvorstellung überhaupt nicht lösen kann, Nikias, weiler die Konsequenzen seines zu Recht anders verstandenen Wissensbegriffesnicht durchschaut59. Wenn Schulz meint, die Wahrheit sei dagewesen60, sostimmt das nur für den Wortlaut. Es fehlt das diesen Wortlaut begründende,platonische Ideendenken. Deshalb kann Nikias seine Meinung nicht festmachen (200 B 7 ). Festbinden könnte er sie allein, wie der, ' zeigt, mit dem Band platonischer Lehre.

Da das Festbinden im Dialog selbst jedoch nicht gelingen will, hat derLeser die Aufgabe, eine Lösung zu finden. Wie sich ergeben hat, kannihm das nur gelingen, wenn er über das hierfür notwendige ,Band', dasin einer Kenntnis platonischer Lehre besteht, verfügt. Mit deren Hilfeallerdings wird er erkennen, daß nicht alles im Dialog Gesagte falsch warund daß Fehlerhaftes berichtigt werden kann. Damit findet eine Ver-

59 Das bestreitet Schulz (Das Problem der Aporie in den Tugenddialogen Platons 267).Richtiger Hinske (a. O. 77): „Die Aporie ist also in der Tat eine ,echte', in der .Sache'liegende Aporie". Vgl. auch Puster, Zur Argumentationsstruktur Platonischer Dialoge111 ff.

60 A. O. 266 f.

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mutung, die Nikias am Ende des Gespräches äußert (200 B 2), ihre Bestäti-gung-

Die schriftliche Gestaltung der Auseinandersetzung durch Platon er-möglicht dem Leser, ja fordert ihn geradezu dazu auf, alles erneut zuüberdenken und über den Text zu diskutieren. Dabei kann er durchausauf die Spur des von Platon Gemeinten kommen. Allerdings, dies seierneut hervorgehoben, benötigt er hierfür mehr Informationen als derDialog bietet. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, kann man Gleichesauch bei anderen aporetischen Dialogen feststellen.

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